Thesis-Download - Fakultät Digitale Medien

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Thesis-Download - Fakultät Digitale Medien
Bachelorthesis
Populäre Kultur als Selbstthematisierungsform einer Gesellschaft
Erinnerungsmotive im postmodernen japanischen Anime
Absolvent:
Emanuel Schwarz
Ostendstraße 61, 72574 Bad Urach
[email protected], 0170 4419045
Erstbetreuung:
Zweitbetreuung:
Prof. Dr. Stefan Selke
Robert Eikmeyer
Matrikelnummer:
Fachbereich:
Einreichung:
227211
OnlineMedien an der Fakultät Digitale Medien
31. August 2010
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Abstract
Die japanische Populärkultur erfährt durch die digitale Vernetzung eine zunehmende Verbreitung auch außerhalb Japans. Der Anime, japanischer Zeichentrickfilm, stellt hierbei eine authentische kulturelle Ausdrucksform dar. Das zunehmende
Auftreten des Erinnerungsmotivs in unterschiedlicher Form wird dabei in Bezug auf
Gedächtnisfunktionen von Individuum und Gesellschaft betrachtet. Im Anime vermitteln visuelle Konzepte japanischer Ästhetiklehre, Kontext von Erinnerung und kollektives Bildgedächtnis die Wechselwirkung von Erinnerung und Vergessen.
Gedächtnis stellt kommunikative Sinnhaftigkeit bereit; es konstruiert aus dem Unterschied von Erinnerung und Vergessen eine Realität als Handlungsgrundlage. Die
moderne Gesellschaft bezeichnet ihr Gedächtnis mit dem Begriff der Kultur.
Individualität ist ein Merkmal der Moderne, der Wunsch abzuweichen vom Allgemeinen und Vorgegebenen und auf die Ausdifferenzierungen einer modernen Gesellschaft zu reagieren. Die Notwendigkeit dies zu reflektieren führt zur
Selbstthematisierung. Es gibt keine übergeordnete Ordnungsinstanz mehr auf die
sich die Identität stützen kann. Das Populäre erfüllt für die Gesellschaft dabei essenzielle Aufgaben in Bezug auf Selbstthematisierung und Realitätskonstruktion. Als
Kurzzeitgedächtnis einer postmodernen Gesellschaft schafft es temporären, kommunikativen Kontext. Dem Individuum bietet es „Material für die Suche und Reflektion einer eigenen ‚Identität‘.
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Erklärung
Ich erkläre hiermit an Eides statt, dass ich die vorliegende Thesis selbständig und
ohne unzulässige fremde Hilfe angefertigt habe. Alle verwendeten Quellen und
Hilfsmittel sind angegeben.
Emanuel Schwarz, Bad Urach den 31. August 2010
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Inhaltsverzeichnis
1. Populäre Kultur ............................................................................................... 1
1.1. Inspiration und Motivation ...................................................................... 1
1.2. Japans Popkultur .................................................................................... 3
1.3. Methodik und Selektion der Quellen ........................................................ 8
2. Funktion von Erinnern und Vergessen in der digitalen Gesellschaft .................... 10
2.1. Vom Medium zum Gedächtnis .............................................................. 10
2.2. Vergessen in der digitalen Welt............................................................. 12
2.3. Erinnern in der digitalen Welt ............................................................... 14
2.4. Individuum und Kollektiv ....................................................................... 15
2.5. Wechselwirkung von Digitalisierung und Gedächtnis .............................. 17
2.6. Die Rolle der Zeit ................................................................................. 19
3. Erinnerungsmotive des japanischen Animationsfilms ........................................ 22
3.1. Visuelle Konzepte ................................................................................. 22
3.2. Wiederkehrende Motive ....................................................................... 23
3.3. Visuelle Metaphern in 5 Centimeters Per Second ..................................... 25
3.4. Kollektives Gedächtnis in Dennō Coil ..................................................... 26
3.5. Kontextualität von Erinnerung in „Pale Cocoon“...................................... 30
4. Wechselbeziehungen zwischen „Kurzzeit-“ und „Langzeit-Gedächtnis“ der
Gesellschaft....................................................................................................... 34
4.1. Kultur und Gedächtnis nach Luhmann .................................................... 34
4.2. populäre Kultur als „Kurzzeitgedächtnis“ der Gesellschaft ....................... 35
5. Selbstthematisierung einer Gesellschaft ........................................................... 38
5.1. Die Ankunft des Individuums in einer modernen Gesellschaft ................... 38
5.2. Selbstthematisierung als gesellschaftlicher Trend ..................................... 39
5.3. Identität in einer postmodernen Gesellschaft ........................................... 40
6. Popkultur im Kontext von Selbstthematisierung ................................................. 41
Literaturverzeichnis ............................................................................................ 45
Abbildungsverzeichnis ....................................................................................... 47
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1. Populäre Kultur
1.1.
Inspiration und Motivation
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein unbedarfter Zuschauer über den typischen japanischen Zeichentrick namens Anime stolpert, ist zum Zeitpunkt dieser Arbeit vergleichsweise gering. In den 80er und 90er Jahren wurden diverse Animeserien im
öffentlich-rechtlichen Rundfunk ausgestrahlt. Sie umfassten jedoch fast ausschließlich Kinderserien in japanischer Koproduktion. Zum Teil wurden sie aufgrund von
Inhalt oder Darstellung unter Protest wieder abgesetzt. Zu den Bekanntesten Serien
gehörten beispielsweise Die Biene Maja, Speed Racer oder Wickie und die starken Männer. (vgl. ebenso Wikipedia, 2010)
Abb. 1 Wiederkehrende Elemente: Heldin und Roboter (Mahoromatic, 2009)
Wiederholte Versuche diverser Labels Animeproduktionen auf den deutschen
Markt zu bringen lassen sich bis heute beobachten – mit mäßigem Erfolg. Im öffentlichen Privatfernsehen wird eine geringe, nicht repräsentative Auswahl an Kinder- und Jugendserien gesendet, die zum Teil speziell für den ausländischen Markt
konzipiert sind oder in modifizierter Fassung ausgestrahlt werden. Ein wenig mehr
Auswahl bietet der DVD-Markt. Dieser repräsentiert jedoch ebenfalls nur einen
Bruchteil des Verfügbaren. Vereinzelt senden Spartensender wie Arte oder 3sat
Anime als Teil von Themenschwerpunkten über die japanische Kultur oder im
Nachtprogramm. Nur wenige Serien wie Sailor Moon konnten weltweite Verbreitung und Kultstatus erreichen. Sie wurden jedoch ebenfalls inhaltlich modifiziert:
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Dazu zählt beispielsweise der Schnitt von Sterbeszenen eines Protagonisten ebenso wie Umdeutung homosexueller Beziehungen durch weibliche Synchronisationsstimme. Dem geneigten Fan oder interessierten Zuschauer bleibt schließlich neben
dem Import direkt aus Japan oder einem großen Markt wie den USA nur der
„Grauimport“ von im Ausland nicht lizenzierten Filmen und Serien über das Internet.
Der Verfasser dieser Arbeit hat sich nach umfangreichem Konsum japanischer
Popkultur insbesondere in Form von Animationsfilmen auf den Weg nach Japan
begeben. Natürlich wird nun niemand erwarten, in Japan sprechende Bienen oder
auch in Amerika fliegende Menschen anzutreffen. Dennoch erfolgte eine gewisse
mentale Distanzierung, um nicht voreingenommen einer neuen Kultur zu begegnen.
Zur Überraschung stellte sich jedoch schon bald eine merkwürdige Ambivalenz
von Vertrautheit und Fremdheit gegenüber den Normen, Werten und Verhaltensweisen dieser Gesellschaft ein. Es sollte sich herausstellen, dass ein Großteil der
subkommunikativ vermittelten Inhalte von Anime die Kultur durchaus authentisch
repräsentiert. Allerdings ist hier die Sprache von postmodernem, kontemporärem
Anime und nicht von Biene Maja.
Im Anime tritt zunehmend das Erinnerungsmotiv in verschiedenen Formen und Ausprägungen in Erscheinung. Es stellt sich als eine auffällige Parallele zu den Erfahrungen des Verfassers in Japan dar, dass Erinnerung und Gedächtnis eine wichtige
Rolle auch außerhalb des Anime spielen. Dies zeigte sich am Offensichtlichsten
beim Umgang mit Erinnerungsfotos, welche Japaner vergleichsweise häufig anfertigten, beispielsweise auf Reisen. Diese Fotos können sie dann mit ihren Daheimgebliebenen teilen. Denn die japanische Gesellschaft ist gruppen- sowie
kontextorientiert.
Wenn der Einzelne in den Hintergrund rückt, werden die Umgebung, seine Mitmenschen und der Kontext relevant. Nicht das Erinnerungsfoto selbst ist somit wichtig, sondern wie es entstand, wo es entstand, mit wem man es ansieht und welche
Geschichte es zu erzählen hat. Diese und andere Aspekte der japanischen Kultur
werden auch von der Popkultur thematisiert und verbreiten sich mittlerweile zunehmend in der ganzen Welt. Was ist der Grund hierfür? Was hat Gedächtnis damit
zu tun und welche Rolle spielt die Popkultur für die Gesellschaft im Allgemeinen?
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Und ist es Zufall, dass dies zu einer Zeit geschieht, da die globale Vernetzung
rasant fortschreitet? In welchem Zusammenhang stehen Erinnerung, Popkultur und
digitale Vernetzung? Dies sind die Fragen, die sich für den weiteren Verlauf dieser
Arbeit stellen und durch die kontextuelle Integration der folgenden Themengebiete
beantwortet werden sollen.
Das nächste Kapitel vermittelt zunächst einen kompakten Überblick japanischer
Popkultur mit Schwerpunkt auf Anime und erläutert die Selektion der filmischen
Primärquellen. Das zweite Kapitel untersucht Gedächtnisfunktionen im Zusammenhang mit Medien und Wahrnehmung in Bezug auf die digitalisierte Gesellschaft,
anschließend werden am Beispiel japanischer Anime Erinnerungsmotive aufgezeigt.
Im vierten Kapitel erfolgen Betrachtungen zu gesellschaftlichen und kulturellen Formen von Gedächtnis sowie die Einordnung der Popkultur in dieses mögliche theoretische Konstrukt. Mit der Selbstthematisierung und Identität einer Gesellschaft
beschäftigt sich das letzte Kapitel und schließt mit dem Anime als Selbstthematisierungsform einer Gesellschaft.
1.2.
Japans Popkultur
1.2.1. Manga und Anime
Manga bezeichnet den Comic japanischer Herkunft. Manga und Anime gehören
zu den zwei elementaren medialen Ausprägungen der japanischen Popkultur, die
auch in Mode, Musik und Kunst gelebt wird.
Die Bezeichnung Anime umfasst in Japan die Gesamtheit aller animierten
Bewegtfilmformen unabhängig von Produktionstechnik und Herkunftsland. Der ursprüngliche Begriff umfasst alles vom zweidimensionalen Zeichentrickfilm bis hin
zum computergenerierten 3D-Animationsfilm. Er stellt also eine weitestgehend
technische Kategorisierung dar.
Jedoch hat sich außerhalb Japans der Anime als Umschreibung für die spezifisch
japanische Animationsfilmkultur etabliert. Anime nach verbreiteter westlicher Lesart
lässt sich als handgezeichneter, zweidimensionaler und ausschließlich aus Japan
stammender Zeichentrickfilm kategorisieren. Auch wenn diese rein visuelle Beschreibung hinreichend scheint für eine Eingrenzung des Begriffs, erklärt sie noch
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nicht die besonderen Merkmale dieser Erzählform und deren Bedeutung für diese
Arbeit. Auf Diese wird nachfolgend näher eingegangen.
1.2.2. Japanische Popkultur im In- und Ausland
Manga lesen gehört für die meisten Japaner zum Alltag. Anime sind fester Bestandteil des Fernsehprogramms, machen einen großen Teil der Kinofilme aus und
erscheinen auch in Form ausschließlicher Video-Publikation, dann OVA genannt
(„Original Video Animation“). Die Internetdatenbank AniDB listet 5694 Spielfilme,
TV-Serien und OVAs seit 1965 auf (AniDB, 2010) – bei dieser Zählung nicht berücksichtigt sind eher seltene Randformen wie Web- oder TV-Specials.
Insbesondere das 1983 eingeführte OVA-Format als ausschließliche Veröffentlichungsform auf Videokassette und später DVD erlaubte es den Unternehmen Nischenmärkte anzusteuern, neue Konzepte zu testen und auch Innovationen zu
bewerben. Es trug ebenfalls dazu bei, einen Markt für erotische Anime mit einem
Qualitätsspektrum von pornografisch bis literarisch zu schaffen. (vgl. MacWilliams
2008: 54)
Akihabara gilt als das wichtigste Zentrum der japanischen Elektronik- und Popkultur. In diesem Stadtteil des Konglomerats Tokyo drängen sich dicht an dicht schmale Bauten, die in engen Verkaufsräumen über mehrere Etagen ihr Angebot
ausbreiten. An den Fassaden hängen farbenfrohe Plakate spärlich bekleideter
Mangamädchen, welche die neuesten Veröffentlichungen ankündigen. Ein steter
Strom von Menschen schiebt sich durch die klimatisierten Räume und über das
heiße Pflaster. In den Kellergeschossen steht gleichberechtigt die Manga- und
Animepornografie neben den Realfilmen der Ü18-Abteilung. Im Obergeschoss sind
die Dôjinshi untergebracht, hochwertige Manga aus der Szene von Amateurzeichnern und Fans, die hier ihre eigenen Ausdrucksformen – oft in Form von Parodien
auf andere Manga – entwickeln. Die Grenze zwischen Amateurmanga und professioneller Publikation verwischt zunehmend, sowohl qualitativ als auch inhaltlich
sowie im Bereich der Vermarktung (vgl. Berndt 1995).
Waren früher Zen Buddhismus und Kunst zentrale Objekte westlicher Neugier und
Passion hinsichtlich Japan, ist es heute die Popkultur. Die elegante, im japanischen
Garten lustwandelnde Geisha wurde quasi durch großäugige, attraktive Heldinnen
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in einer postapokalyptischen, dystopischen Landschaft ersetzt. (vgl. MacWilliams
2008: 5) Dabei reicht die visuelle und prosaische Qualität vieler Werke dieser
Popkultur an zeitgenössische Kunst heran und wird in Einrichtungen wie dem Tokyo
Ghibli Museum oder dem Kyoto International Manga Museum präsentiert. Die digitale Vernetzung trägt entscheidend zu einer rasanten Verbreitung der japanischen
Popkultur im Ausland bei. Dort tritt sie in Form einer neuen Jugendkultur in Erscheinung. Dazu gehört nicht nur der Konsum von Manga und Anime, sondern insbesondere auch von Popmusik.
1.2.3. Gegenwärtige Entwicklung des Anime
Die direkte Abstammung des Anime vom Manga, dem japanischen Äquivalent des
Comics, ist ebenso hervorzuheben wie die Koexistenz beider Erzählformen. In
seiner Anfangszeit war der Anime nicht viel mehr als animierter Manga. Hintergründe wurden in Schleife animiert um Bewegung zu simulieren. Nicht nur technische Gründe schränkten die Möglichkeiten ein 1 . Mittlerweile bezieht sich das
vorgenannte „handgezeichnet“ und „zweidimensional“ als Eigenschaft des Anime
bisweilen nur noch auf die zentralen Elemente der Charaktere. Der Anime entwickelte sich weg von einer Zweitverwertung des Manga zu einer eigenständigen
Kunstform zwischen Comic und 3D-Animation. Das digitale Storyboard und die
Möglichkeiten im Bereich der visuellen Effekte tragen zur Evolution des Animationsfilms bei – ebenso wie die niedrigen Löhne der Hilfszeichner. Die „digitale Infiltration“ dieser Kunstform findet also statt, nicht nur in Japan. Anders als im Westen
wird allerdings keine strikte Trennung zwischen handgezeichneter 2D-Grafik und
computergenerierter 3D-Grafik vollzogen.
Neue technische Möglichkeiten wie 3D-Grafik werden zunächst nur vereinzelt eingesetzt und untergemischt. An unwichtigen Stellen wie den Hintergründen oder in
vereinzelten Szenen mit Charakteren wird 3D-CG eingesetzt und dann gar nachgezeichnet um neuartige aber komplizierte Perspektiven und Kamerafahrten zu
1
Dazu muss man wissen, dass der japanische Manga im Gegensatz zum westlichen Comic sehr mit
dem Fluss der Bilder arbeitet, sehr viel schneller gelesen werden kann und freieren Umgang mit dem
Storyboard übt. Erzählkonventionen und visuelle Symbole werden dabei in das neue Medium Anime
übernommen.
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ermöglichen. So wird versucht, die ursprüngliche Anmutung gleichzeitig beizubehalten und auf japanische Art schrittweise weiterzuentwickeln. Bisweilen kann diese Weiterentwicklung jedoch sehr schnell vonstattengehen und zu völlig neuartigen
experimentellen Formen des visuellen aber auch inhaltlichen Erzählens führen.
Vergleiche hierzu Telepolis über den Anime Summer Wars (Suchsland, 2010). So
befindet sich auch der Begriff des Anime in einer stetigen Fortentwicklung seiner
selbst.
1.2.4. Besondere Merkmale des Mediums Anime
Anime ist Zeichnung, und Zeichnung ist eine Form der Kunst. Kunst erlaubt besondere Ausdrucksformen und Freiheiten. Auch der Anime macht sich diese Eigenschaften zunutze.
Generell unterliegen die Charaktere einem mehr oder weniger großen Grad der
Stilisierung, insbesondere in Bezug auf die Mimik. Dennoch ist es möglich, eine
überraschend große Anzahl an Gefühlszuständen am Protagonisten darzustellen.
Erreicht wird dies durch visuelle Hilfsmittel, zum Beispiel große, weiße, pupillenlose Augen als Ausdruck von perplexem Unverständnis oder geistiger Hilflosigkeit.
Viele dieser visuellen Mittel funktionieren nur an sehr stilisierten Figuren. Daher
kann es vorkommen, dass innerhalb einer Szene die Zeichnungsart der Figur von
realistisch zu comichaft wechselt, um ein bestimmtes Gefühl auszudrücken. Oft
wird so die Szene aus dem Erzählfluss genommen und als humoristisches Element
markiert.
Abb. 2 Verlegenheit eines Protagonisten (Eden of the East, 2009)
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Menschen aus asiatischen Kulturen konzentrieren sich bei der Wahrnehmung von
Mimik und Emotion besonders stark auf die Augenpartie. Es hat sich gezeigt, dass
dieses kulturell bedingte Dekodierungsverhalten dazu führt, dass bestimmte Emotionen wie Angst und Abscheu im Gesicht eines anderen Menschen kaum unterschieden werden können. (vgl. Jack, 2010)
Die Notwendigkeit in asiatischen Kulturen gewisse Emotionen zeigen zu müssen
und somit auch lesen zu können darf hier bezweifelt werden; doch im Anime werden auch gesellschaftliche und kulturelle Normen gebrochen und somit auch Emotionen dargestellt, die sonst nicht zum Repertoire gehören. Auch ist wie gezeigt die
Darstellung von Emotionen im Anime von sehr viel mehr Faktoren geprägt. Tatsächlich sind aber die Augen im Verhältnis zu Mund und Nase besonders plakativ
dargestellt.
Durch Stilisierung von Mimik kann aber dennoch nicht jeder Aspekt des emotionalen Innenlebens aufgegriffen werden. Daher wird die Gefühlswelt des Protagonisten oft durch die ihn umgebenden Räume ausgedrückt. Im westlichen Film kennt
man diese Ansätze vor allem in Form von plötzlich auftretendem Wetterumschwung. Diese Kontextmalerei wird im Anime auf den Gipfel getrieben, wenn das
unsichtbare Innenleben des Protagonisten in direktem Maß die Umwelt verändert.
Beispielsweise erschafft das Gefühlschaos einer Schülerin in der Serie Kanon
dämonenartige Wesen, die durch das Schulhaus irren und realen Schaden anrichten (vgl. Kanon, 2006). Aber auch durch Form und Farbe wird eine ganzheitliche
Atmosphäre vermittelt. Schließlich stellt die künstlerische Freiheit eines gezeichneten Mediums die Regisseure vor die große Herausforderung mit dieser Freiheit
kreativ umzugehen und sie aktiv zu nutzen.
Ebenso wichtig wie die Umgebung sind für die Akteure professionelle Synchronsprecher, so genannte Seiyu. In Japan wird mit der Stimme auch ein großer Teil
des emotionalen Innenlebens transportiert. Onomatopoesie ist häufiger anzutreffen
als im Westen. Deshalb trägt ein guter Sprecher in höchstem Maße zum Erfolg
eines Anime bei. Er muss in natürlicher Weise den Charakter repräsentieren – abgesehen von einigen Genres wie Comedy.
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Im starken Gegensatz zum westlichen Comic steht die schon frühe Differenzierung
des Manga und Anime auf alle Alters- und Zielgruppen. Es gibt Manga für Jungs,
Manga für Mädchen, Manga für Erwachsene, Manga für Bildungszwecke und
viele mehr. Es gibt kindische Manga, satirische Manga, brutale Manga, erotische
Manga und sämtliche Mischformen die sich aus der Differenzierung ergeben. Es
gibt eigentlich kein Thema, das nicht in irgendeiner Form in einem Manga behandelt wird, denn Manga ist in Japan ein Massenmedium. Erfolgreiche und beliebte
Manga werden zu Anime verfilmt, es gibt aber auch Anime die auf Computerspielen basieren oder experimentelle Anime, die nur als Kaufmedium veröffentlicht
werden.
Ein besonderes Genre des Anime ist der „Slice of Life“. Er zeichnet sich durch die
soziale Interaktion der Protagonisten als zentrales Element der Handlung aus. Findet die Handlung zudem in einer kontemporären und nicht phantastischen Welt
statt wird die Rezeption eines sehr authentischen Bildes der japanischen Gesellschaft weiter unterstützt. Er versucht die Intentionen und Emotionen der Akteure zu
beleuchten, zu hinterfragen und in Beziehung zu setzen. Die Interaktion der Protagonisten innerhalb von Gemeinschaften sowie die Exponierung der Gedanken- und
Gefühlswelt erlaubt es also, die japanische Kultur in destillierter Form wahrzunehmen. „Slice of Life“ tritt häufig als Mischform zusammen mit anderen Genres in
Erscheinung.
1.3.
Methodik und Selektion der Quellen
Die Grundlage dieser Arbeit bildet eine Auswahl von 120 Serien und 40 Filmen.
Eine Serie setzt sich meist aus 12 bis 26 Folgen zu je 20 Minuten zusammen. Filme entsprechen dem Kinoformat von im Schnitt 90 bis 120 Minuten. Für die Selektion der Rezeption kamen verschiedene Positiv- und Negativkriterien zum Einsatz.
Diese hatten das Ziel, für eine qualitativ hohe Auswahl mit gewisser kultureller Authentizität zu sorgen. Empirische Kriterien, welche auf Onlinedatenbanken wie
AniDB.net basieren, sind dabei unter dem Aspekt zu berücksichtigen, dass es sich
nicht um Zahlen aus Japan handelt, sondern dem digitalen Netz entsprechend um
Nutzerbewertungen aus der ganzen Welt.
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Positivkriterien für die Selektion waren: a) Eine hohe zeichnerische Güte bei einigen Genres. Beispielsweise erfordert eine Parodie nicht unbedingt eine visuell hohe Leistung, ein Drama hingegen aus vorgenannten Gründen der Visualisierung
sehr wohl. b) Die hohe Bewertung in Onlinedatenbanken (AniDB), insbesondere
bei gleichzeitig verhaltener Popularität. c) Auf Tags basierende Typisierungen, so
wurden beispielsweise Anime mit „slice of life“-Anteil bevorzugt rezipiert. d) Persönliche Empfehlungen von Personen mit fundierten Kenntnissen und hohem Interesse an der japanischen Kultur und Sprache. Ebenso positive Erfahrungen in
Hinblick auf Inhalt, Handlung, Charaktere und Artwork bestimmter Produktionsstudios wie Gainax, Kyoto Animation oder Ghibli. e) Bei Serien eine geringe Anzahl
an Episoden (12-26). Dies ist ein Indiz für einen durchgehenden und in sich geschlossenen Handlungsstrang. Bei Serien mit mehr Episoden besteht die Gefahr,
dass viele Folgen nicht zur Entwicklung der Handlung beitragen. f) Serien, die keine weiteren Staffeln erhalten haben und dennoch gut bewertet sind. Dies deutet
ebenfalls auf einen geschlossenen Handlungsbogen hin.
Negativkriterien waren hingegen: a) Die niedrige Bewertung in Onlinedatenbanken, insbesondere bei gleichzeitig hoher Popularität. b) Stereotype oder unkreative
Darstellungen in Beschreibungen des Inhalts, bei Tags oder auf dem Artwork des
Titels. c) Die Produktion durch ein Studio, mit dem der Verfasser schlechte Erfahrungen gemacht hat. d) Weitere Staffeln einer Serie bei abnehmender Bewertung.
Durch die Abwägung von Bewertungen im Verhältnis zur Popularität lassen sich
Rückschlüsse auf die Über- und Unterbewertung von Animes ziehen. Da jedoch
jeder Nutzer eigene Beweggründe für die Bewertung eines Anime hat und subjektive Kriterien anwendet, kann die Gesamtheit der Benotung nur ein Faktor unter
Vielen sein, um über die Qualität eines Anime sowie die kulturelle Authentizität zu
entscheiden. Im Rahmen dieser Arbeit, die das gehäufte Auftreten von Erinnerungsmotiven im Anime untersucht, werden solche Produktionen im weiteren Verlauf vorgestellt (vgl. auch Cavallaro 2009). Zunächst wird jedoch im Folgenden
Kapitel Erinnerung und Gedächtnis für sich betrachtet.
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2. Funktion von Erinnern und Vergessen in der digitalen Gesellschaft
2.1.
Vom Medium zum Gedächtnis
Bezeichnet man den Animationsfilm als Medium, denkt man sofort an die anderen
Medien der heutigen Gesellschaft. Fotos, Bücher ebenso wie Radio und Fernsehen
bis hin zum Internet als eine Art Metamedium. Ernst Wolfgang Orth beschreibt
einen sehr viel umfassenderen Medienbegriff, wenn er sich auf Untersuchungen
von Marshall McLuhan und Vilém Flusser stützt. Seiner Interpretation zu Folge kann
jede menschliche Gesellschaft als Mediengesellschaft angesehen werden, unabhängig von Alter oder Entwicklungsstand. Medien sind somit seit jeher Teil menschlicher Gesellschaften mit langer geschichtlicher Tradition. (vgl. Orth 2005: 10)
Schon bevor es den Buchdruck gab, haben Menschen ihre Gedanken niedergeschrieben, selbst in der Steinzeit war die Zeichnung an der Höhlenwand Medium
mit den Funktionen von Kommunikation und Informationsvermittlung.
Das bedeutet aber auch, dass der Medienbegriff letztlich nicht an den Eigenschaften von Medien festgemacht werden kann, sondern an ihrer Funktion. Diese funktionelle Umschreibung trifft auch auf den Begriff der Massenmedien zu, „alle[n]
Einrichtungen der Gesellschaft […], die sich zur Verbreitung von Kommunikation
technischer Mittel der Vervielfältigung bedienen“ (Luhmann 1996: 10) mit einer
noch unbekannten Anzahl an Empfängern, die diese Kommunikation wahrnehmen
werden. „Medien sind Teil der Gesellschaft und Gesellschaft ‚macht‘ Medien, indem Individuen sie in Gebrauch nehmen.“ (Selke 2009: 13). Natürlich unterscheiden sich Medien untereinander in ihren Eigenschaften durchaus, Kracauer
beschreibt dies so, „daß jedes Medium einen spezifischen Charakter hat, der bestimmte Arten von Mitteilungen begünstigt, während er sich gegen andere
sperrt“ (Kracauer 1964: 25).
Unweigerlich kommt man über Medien und Kommunikation auf den Begriff der
Wahrnehmung. Tatsächlich spielt er nicht nur rezeptiv eine zentrale Rolle im Umgang mit Medien. „Medien verändern unser Bewusstsein. Sie verändern unsere
Wahrnehmung von Wirklichkeit, aber vor allem auch die Wahrnehmung von uns
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selbst“ (Selke 2009: 21). Unsere Wahrnehmung ist ebenfalls ein Prozess von Selektion und anschließender Konstruktion einer Realität.
Wahrnehmung passiert ständig, unaufhaltsam. Bereits im Moment des Wahrnehmens als sinnlicher Wahrnehmung von Informationen versuchen wir sie festzuhalten, indem wir sie „über einen möglichst indifferenten Gehalt […] definieren: z.B.
als Auffassung eines körperlichen Dinges, etwa einer metallischen Kugel, eines
viereckigen Klotzes“ (Orth 2005: 15). Es ist also ein Bild der Realität, das wir uns
bereits im Moment der Wahrnehmung schaffen, um ihm anschließend eine Interpretation aufzudrücken. Orth nennt dies Wirklichkeitsmodalisierung, das Herauslösen der Wirklichkeit aus ihrer Wirklichkeit. Man kann sich diesem Prozess zwar
nicht entziehen, aber die Wahrnehmung auf etwas anderes lenken, um anschließend eine Veränderung zum vorherigen Zustand wahrzunehmen oder eben nicht.
„Konstitutiv zum Wahrnehmen gehört also die Zeitlichkeit unseres Auffassens und
damit verbunden die überbrückende Identifizierung (oder auch Differenzierung)
durch Erinnerung (Herv. Im Original, d. V.)“. (vgl. Orth 2005: 15f)
Luhmann thematisiert den Effekt der Wahrnehmung, den nicht vorhandenen Moment der Wahrnehmung sozusagen, wie folgt:
„Nur die Beobachtung ‚digitalisiert‘ das, was geschieht; nur sie hebt das
eine im Unterschied zum anderen hervor. Die Zeit selbst bleibt ein Kontinuum der Transformation; sie modifiziert die Verhältnisse […] nicht digital,
sondern analog.“ (Luhmann 1997: 886)
Es sei „beunruhigend [..] für alle Verfechter von Objektivität und historischer
Wahrheit“ (Osten 2004: 99): Betrachtet man neurobiologische Erkenntnisse, muss
man daran zweifeln, dass die Wahrnehmung darauf ausgelegt sei objektiv Fakten
zu beurteilen und zu erinnern. Schon die Sinnesorgane selektieren in einer komplexen Welt die relevanten Reize vor, um anschließend ein kohärentes Weltbild zu
konstruieren, auf dem auch die Erinnerung basiert. Auch das bewusste Steuern der
Aufmerksamkeit beeinflusst die Wahrnehmung, wie natürlich auch unbewusste
Schlüsselreize die Aufmerksamkeit lenken. Die Zauberei, so Osten, macht es sich
zum Beispiel zu Nutze, wenn erwartete Inhalte eher den Weg in Bewusstsein und
Gedächtnis finden und Unerwartetes ausgeblendet wird. Ungleich fataler ist jedoch
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der Effekt bei Augen- und Zeitzeugen zu beobachten (vgl. ebd.: 100f). Schließlich
weist Osten noch auf die begrenzte Speicherkapazität des Kurzzeitgedächtnisses
hin, „durch die wir überhaupt erst in der Lage sind, zwischen ‚vorher‘ und
‚jetzt‘ zu unterscheiden.“ (ebd.: 101)
Die Entwicklung von Massenmedien und insbesondere die globalisierte vernetzte
Kommunikation führten zu einer Informationsexplosion durch die Aufhebung der
natürlichen Grenzen des Informationsaustauschs. Die jederzeit verfügbare potenzielle Menge an Informationen wächst stetig. Die Entwicklung leistungsfähiger Speichermedien machte es möglich, diese Informationen auch zu bewahren und
abzulegen.
„With our mobile camera phones we capture the ordinary and mundane as
well as the traumatic and newsworthy […]. We post online conversations
and thoughts that become memories on social network sites;” (GardeHansen et al. 2009: 1)
Doch nicht die Speicherung alleine macht bereits aus einem Speichermedium einen
Träger von Erinnerungen oder gar eine Form von medialem Gedächtnis – ein Erinnerungsmedium. Neben der Dialektik von Erinnern und Vergessen als einem „Prinzip fortgesetzten Überschreibens“ (Assmann 2006: 20) spielt auch die Selektion
und der Kontext der Wahrnehmung im Zuge der Speicherung aber auch beim
Abruf eine wichtige Rolle in der Erinnerungsbildung.
2.2.
Vergessen in der digitalen Welt
Paul Arthur beschreibt die zwischenmenschliche Kommunikation in der digitalen
Gesellschaft als zunehmend verteilt, unbeständig und komplex verbunden: Der
klassische Brief richtete sich nur an eine Person und war daher sehr persönlich, die
lange Zustellzeit bedingte in sich geschlossene ausführliche Botschaften. Heute
wird auf Raten kommuniziert. Die Antwort auf eine SMS oder Messengernachricht
kann schon Sekunden später oder erst nach Stunden erfolgen. Kommuniziert wird
nicht mehr nur über Text. Bilder und Videos enthalten kurze kodierte Nachrichten
auf der Metaebene. Sie sind nur für den Sender und Empfänger verständlich.
Arthur sieht darin eine Herausforderung, Kommunikation für die Zukunft zu Bewahren und als Erinnerung für eine Selbstthematisierung des Individuums als auch der
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Gesellschaft nutzbar zu machen. Auch geschlossene Netzwerke und Privatsphärenschutz verhindern langfristig einen Zugriff. Es wird hier insbesondere der Kontextverlust hervorgehoben, der zu Vergessen führen kann. Die Metakommunikation
oder auch der Sinn, den die Nachricht mit sich trägt, kann verloren gehen wenn
sich das gesellschaftliche Gedächtnis verändert und diesen Sinn nicht mehr verstehen oder dekodieren kann (vgl. Arthur 2009: 54f).
Ein mögliches Bild von Vergessen in einer digitalen Gesellschaft zeichnet Manfred
Osten wenn er die Unzulänglichkeit digitaler Systeme beschreibt (Osten 2004:
72ff).
„Mit der paradoxen Problemstellung, dass ausgerechnet die Memorabilien
des kollektiven Langzeitgedächtnisses einem global verfügbaren Speichermedium mit technisch bedingtem Kurzzeit-Gedächtnis anvertraut werden
sollen“ (Osten 2004: 74),
beschreibt er den daraus drohenden Datenverlust. Dieser erfolge aufgrund von
technischem Versagen der Datenträger sowie fehlender Hardware für die Dekodierung der gespeicherten Inhalte aufgrund von rasantem Fortschritt. Osten umreißt
hier eine regelrechte digitale Amnesie.
Dass digitale Datenträger allen Arten von Datenverlust ausgesetzt sind, kann optimistisch als Kinderkrankheit dieser immer noch jungen Technikentwicklung eingeordnet werden. Jedenfalls stellt es eher eine Einzelerscheinung oder Sonderform
des Vergessens dar. So kann auch die Amnesie eines Menschen durch Krankheit
oder Unfall als eine Sonderform des Vergessens angesehen werden, die nicht geplanter und von sich aus entwickelter Teil eines Gedächtnisses ist. Bereits heute
gäbe es Möglichkeiten, solchen ungeplanten Datenverlusten vorzubeugen, demgegenüber jedoch meist wirtschaftliche Faktoren stehen. Organisch-optische Datenträger beispielsweise könnten langlebig produziert werden oder durch das
Ausweichen auf verlässlichere Speichertechniken vermieden werden. Durch die
verteilte und redundante Speicherung von Daten im weltweiten Netzwerk (der
Cloud, wie es ein modischer Begriff zusammenfasst) könnten die technischen Unzulänglichkeiten einzelner Speichermedien bereits heute komplett ausgeglichen werden.
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Dies meint auch Osten, wenn er von „verteilten Kopien“ spricht, ändere aber letztendlich nichts an der Abhängigkeit der Daten von Energie und Infrastruktur (vgl.
ebd.: 88). Er sieht aber auch die Chancen der neuen Medien und denkt dabei an
eine „Bibliothek von Babel“ als eine allumfassende Wissenssammlung im Rahmen
der Buchdigitalisierung. Dieser Utopie standen noch Argumente gegenüber wie
eine nicht ausgereifte Erfassungstechnik und Endnutzerkosten, welche durch die
Tätigkeiten und das Projekt Google Books mittlerweile aber in einem neuen Licht
betrachtet werden müssen. Die Art der Endnutzerkosten muss sich noch zeigen.
Osten macht darauf aufmerksam, dass „von dieser Digitalisierung des kollektiven
Gedächtnisses jenes besonders gefährdete immaterielle Gedächtnis-Erbe immer
noch ausgeschlossen ist […]; die überlieferten Gesänge, Erzählungen, Rituale und
Feste […]“ (ebd.: 75). In der Tat muss man sich dann fragen, ob digitales Vergessen gleichzusetzen ist mit dem digitalen Verlust von Daten auf Speichermedien
oder ob vielmehr die Gedächtnisfunktionen wie Erinnern und Vergessen nicht auf
einer dem Speichermedium übergeordneten Metaebene stattfinden, wo der digitale Einzelverlust nicht ins Gewicht fällt.
2.3.
Erinnern in der digitalen Welt
Die Erinnerung ist ein Prozess, in dem wir Aspekte unserer Vergangenheit mit dem
neuen Kontext der Gegenwart in Verbindung bringen, re–präsentieren und
reimprägnieren, sowie die Erinnerung dadurch ebenfalls verändern. Das Gehirn
konstruiert demzufolge ähnlich wie bei der Wahrnehmung ein stimmiges Bild, so
Manfred Osten. Er zeigt auch, dass nach neuen Erkenntnissen der Neurobiologie
Erinnerungen einem langfristigen Prozess der Speicherung und Stabilisierung unterliegen und dadurch nicht immun sind gegen erneute Veränderung, beispielsweise
durch Wiederabruf und Einbettung in einen neuen Kontext. Somit stellt sich aber
auch die Frage nach der Verlässlichkeit und Authentizität von Erinnerungen im
Allgemeinen. Ebenso muss die Konsistenz einer auf Gedächtnis basierenden individuellen Identität in Frage gestellt werden. (vgl.Osten 2004: 102f)
Erinnerungsmedien als Träger von Erinnerungen und als Medium des Erinnerns in
einer digitalen Welt tauchen in unterschiedlichster Form auf, sei es Taschentuch
oder USB-Stick (vgl. Garde-Hansen et al. 2009: 2). Dabei sollten sie, um diese
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Bezeichnung zu verdienen, wie bereits angeführt auch Gedächtnisfunktionen erfüllen. Jose van Dijck greift ein verbreitetes Konzept der „Mediation of Memory“ (van
Dijck 2007) auf und kritisiert zunächst bisherige Ansätze als monochromatisch und
gegensätzlich:
„First, there is the tendency to discern memory as an internal, physiological
human capacity and media as external tools to which part of this human
capability is outsourced. Adjunct to this distinction is the implicit or explicit
separation of real (corporal) and artificial (technological) memory. Third,
media are qualified either in terms of their private use or of their public
deployment, as mediators of respectively personal or collective memory”
(van Dijck 2007: 15)
Es ist auffallend, so van Dijck, wie neue Generationen von Erinnerungsmedien zu
einer Aufwertung von etablierten Formen wie der Schrift oder des Buchdrucks führen, ihnen dadurch mehr Authentizität zugestehen und ihre Bedeutung für die
Wahrnehmung und Erinnerung unterstreichen. Neue elektronische Techniken der
„kognitiven Auslagerung“ sind dagegen schon immer abneigend betrachtet worden und erhielten stets das Etikett des Künstlichen. Gleichzeitig wird den neuen
Möglichkeiten, die sich beispielsweise durch elektronische Speichermedien ergeben, applaudiert.
Ein Grund für diesen Dualismus ist die Doppeldeutigkeit, mit der der Begriff von
Erinnerungsmedien definiert wird. Da ist zum einen die archivierende Funktion,
das pure Bereithalten von vergangenen Informationen. Zum anderen ihre filternde,
beschreibende Wirkung. Während Erstere vor allem den neuen elektronischen
Medien zugerechnet wird, ist Letztere noch eine Eigenschaft der klassischen Massenmedien. Somit werden Medien gleichfalls als Gedächtnisstütze und als Gefahr
für die Unversehrtheit von Erinnerungen betrachtet. Ein Paradoxon, welches aufzulösen erfordert, Medien und Gedächtnis als eine Einheit zu betrachten. (vgl. ebd.:
16)
2.4.
Individuum und Kollektiv
Die Parallelen zwischen dem Gedächtnis des Individuums und dem des Kollektivs,
der Gesellschaft, beschreibt Assmann wie folgt.
15
„Individuen und Kulturen bauen ihr Gedächtnis interaktiv durch Kommunikation in Sprache, Bildern und rituellen Wiederholungen auf. Beide, Individuen und Kulturen, organisieren ihr Gedächtnis mit Hilfe externer
Speichermedien und kultureller Praktiken.“ (Assmann 2006: 19)
Auch van Dijck umschreibt das kulturelle Gedächtnis, notiert die Bezeichnung „kulturell“ als gleichbedeutend mit „kollektiv“ in Bezug auf Erinnerungen. Das Individuum schließlich ist es, was Kollektivität überhaupt erst konstituiert, so wie das
individuelle Gedächtnis zu einem kollektiven Gedächtnis beitragen muss (vgl. van
Dijck 2007: 14). Seinen Begriff der „Mediated Memories“, übersetzbar als
medialisiertes Gedächtnis und kohärent mit dem Begriff der Erinnerungsmedien im
Rahmen dieser Thesis, umschreibt er als „activities and objects we produce and
appropriate by means of media technologies, for creating and re-creating a sense
of past, present, and future of ourselves in relation to others (Herv. Im Original, d.
V.)” (ebd.: 21). Dabei sei die Beziehung zwischen dem Individuum und der Kultur,
dem Privaten wie dem Öffentlichen zentraler Aspekt dieses medialen Gedächtnisses.
Soziale Netzwerke beispielsweise können als neue hybride Form von Individualund Kollektivgedächtnis, Privatem und Öffentlichem angesehen werden. Obwohl
das postmediale digitale Gedächtnis in mancher Hinsicht vergesslich und sehr anfällig für Informationsverluste ist, könne das Gedächtnis sozialer Netzwerke gerade
dies verhindern. Sogar und insbesondere für das Individuum selbst wird das Entfernen von Informationen oder Erinnerungen durch die dezentralisierte und plurale
Speicherung sowie Modifikation unmöglich (vgl. Garde-Hansen et al. 2009: 6).
Dies setzt allerdings voraus, dass ein privater Betreiber das Netzwerk nicht ohne
Weiteres schließen oder sperren kann. Es muss sich zeigen, ob sich Ansätze dezentralisierte soziale Netzwerke zu entwickeln durchsetzen können.
So fragt auch Gleick „Who, if anyone, will decide which parts of our culture are
worth preserving for the hypothetical archeologists of the future?” (Gleick 1999:
252). Das Internet als ein kollektiver, sammelwütiger Organismus, hat die Fähigkeit
zu
vergessen
verloren.
Als
Yahoo!
2009
beschloss,
seine
kostenlosen
Webhostingaktivitäten namens GeoCities einzustellen und damit Millionen von
Websites mit Inhalten zu löschen, die bis ins Jahr 1994 zurückreichen, formierte
16
sich Widerstand. Die Inhalte wurden von Nutzern gesichert und auf eine neue
Domain portiert, seither steht dieser Teil des Internet quasi konserviert unter Denkmalschutz (Feinmann, 2009). Dass die Archivierung von Spam-Seiten unter Umständen nicht erfolgte, wie es die Projektbeschreibung impliziert, kann als Zeichen
kollektiven Vergessens interpretiert werden aber auch als mangelhaftes Verständnis
von Archivierung.
2.5.
Wechselwirkung von Digitalisierung und Gedächtnis
Mit zunehmender Verfügbarkeit von Speichermedien, Rechenkapazität und multimedialen Technologien ermöglicht der Computer mehr und mehr Aspekte des Lebens zu speichern und wieder abzurufen. Viele Menschen fangen an, diese
Möglichkeiten zu nutzen, stoßen aber dabei auch an die Grenze des Machbaren.
Denn es erfordert Zeit, diese Informationsmengen zu digitalisieren, ebenso aber
erfordert es auch elaborierter Techniken, mit derart großen Datenmengen umzugehen. Dabei sind die Probleme keineswegs alleine dem digitalen Zeitalter zuzuschreiben. Schon früh in der Moderne gab es Vorstellungen von Gedächtnismaschinen, die die vermeintlichen Schwächen des menschlichen Gehirns
auffangen sollten. Zum einen dessen Unfähigkeit, jeden Moment systematisch zu
archivieren, zum anderen der unmodifizierte Abruf dieser Informationen. Diese
Ideen basierten jedoch auf einem überwiegend statischen Modell des Gedächtnisses, das heute als überholt gelten kann. Auch die kommerziellen Anbieter von digitalen „Gedächtnisformen“, dazu gehören digitale Photoalben ebenso wie
Weblogs oder Musikarchive, orientieren sich an den analogen Vorbildern. Sie
richten die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die archivierende Funktionalität, dabei missachtend wie das Gedächtnis wohl wirklich funktioniert. (vgl. van Dijck
2007: 148f)
Auch umgekehrt stellt sich die Frage, welchen Einfluss digitale Technologie, ihre
Konvergenz unterschiedlicher Medien und globale Verteilung persönlicher Daten
auf den Prozess des Erinnerns hat. Die Fähigkeit Geschichten zu konstruieren, die
auf Erinnerungen beruhen, basiert nicht auf dem Anhäufen präziser Fakten. Das
episodische Gedächtnis als Teil des Langzeitgedächtnisses ist in der Lage, Fakt und
Fantasie zu integrieren und somit auch in einem kreativen Prozess aus Geschichten
Erinnerungen zu schaffen. Computer stellen dabei eine Technologie dar, die die17
sen Prozess abbilden und unterstützen könnte. Durch die Veränderung von gespeicherten Inhalten und das Kreieren neuer „Geschichten“ oder Inhalte können wir ein
eigenes Bild der Realität und Gegenwart schaffen. Nach wie vor kommen dabei
Begriffe wie echt und unecht, manipuliert und falsch in Bezug auf digitale Inhalte
zum Einsatz, beherrschen die Konzeption von Software und stehen modernen Theorien des Gedächtnisses gegenüber. Erinnerung ist also nicht nur dem Fluss der
Zeit ausgesetzt, sondern auch den Launen kreativer Umstrukturierung, interpretierter Fakten und narrativer Neuordnung. Aus dem gleichen Blickwinkel kann man
aber auch die neuen Medien als Werkzeuge dieser Eigenschaften betrachten, zusätzlich zu ihrer archivierenden Funktion. Denn, so fragt van Dijck, was spricht
zum Beispiel konkret dagegen multiple Parallelversionen von gespeicherten Dokumenten (oder Bildern oder Daten) anzufertigen, vorzuhalten und zu nutzen während man dem Original ebenfalls Beachtung schenkt? Wieso nicht die
Möglichkeiten digital nutzen, die uns durch unser unstetes und kreatives Gedächtnis als Menschen auszeichnen? (vgl. van Dijck 2007: 162f)
Tatsächlich sind bereits verschiedene Ansätze dieses Weges sichtbar, wie van
Dijck zeigt. Lifelogs als multimediales Aufzeichnungsinstrument des Lebens zum
Beispiel können Menschen helfen, die Entwicklung ihrer Persönlichkeit tagebuchähnlich zu verfolgen. Digitale Fotoretusche kann zur Identitätsformung von Menschen beitragen. Digitalisierte Familienvideos können eine Familienvergangenheit
neu ordnen und kontextualisieren. Daraus können sich durchaus neue kulturelle
Techniken entwickeln, die über das Abspeichern von Dateien auf dem Computer
hinausgehen. (vgl. ebd.)
„As a result, reminiscing may be defined as a lifelong creative project in
which originality is as valuable as authenticity, and in which factual recall
naturally supplements imaginative reconstruction“ (van Dijck 2007: 164)
Es wird weiter argumentiert, dass Erinnerungsmedien in der Regel nicht als vollständige und allumfassende Aufzeichnungen dienen, sondern als kontextueller
Rahmen und mentaler Anker um Erinnerungen und Erfahrungen wachzurufen. Dies
kann ein Musikstück sein, ebenso auch ein Foto oder ein Origamikranich. Früher
bestimmte die Wahl des Mediums die Art der Erinnerung. In Zeiten multimedialer
Aufzeichnungsmöglichkeiten liegt es jedoch nahe, mit den synästhetischen Qualitä-
18
ten dieser Erinnerungsmedien zu experimentieren, ohne dabei die ursprünglichen
Medien zu verdrängen. Die Möglichkeit verschiedene Dimensionen eines Erlebnisses auf einmal zu erfassen, selbst wenn es unbewusst geschieht, könnte zu neuen
kulturellen Gewohnheiten führen. Van Dijck untersuchte dies anhand des Kommunikationsverhaltens junger Menschen über Multimedia-Nachrichten von Mobiltelefonen. Er unterstreicht, dass die wahre „personal memory machine“ nicht in einem
Gerät liegt, das möglichst viele Daten speichern und abrufen kann. Vielmehr ist es
die Kombination aus neuen Möglichkeiten multimedialer Wahrnehmung, ihrer kontextuellen Einordnung als Erinnerungsmedien und einer innovativen Nutzungsweise
in der Gesellschaft. (vgl. van Dijck 2007: 164f)
Für diese neue Art der Mediennutzung spielt auch die Vernetzung eine entscheidende Rolle. Sich in der Topografie des Netzes zu bewegen und die sich verändernden Inhalte in ständig neuer Form zusammenzufügen erinnert nicht ohne
Grund an die bereits aufgezeigten Gedächtnisfunktionen. Der Computer ist hier
Stellvertreter im Akt des Erinnerns. Die Möglichkeit persönliche Erinnerungen mit
dem kollektiven Gedächtnis des Netzes in Verbindung zu bringen ist die Stärke
des digitalen Gedächtnisses. Softwareentwicklungen, die versuchen das Gedächtnis als reines Speichermedium abzubilden, verkennen die komplexe Dimension des
neuen digitalen Milieus. Sie eröffnet einzigartige Chancen, sich selbst verschiedenen Gemeinschaften, Gesellschaften und Geschichten anzuschließen und dafür
auch neue kulturelle Techniken zu entwickeln. Das oft gewünschte Spannungsverhältnis zwischen privaten und kollektiven Erinnerungen, und die damit einhergehende Reflektion durch Andere, kann durch digitale Vernetzung auf eine neue Art
und Weise befriedigt werden. Die Konzepte von Privatsphäre und Öffentlichkeit in
Bezug auf Erinnerungen schließen sich dabei nicht aus. Van Dijck vergleicht dies
mit dem Tagebuch, welches man absichtlich offen liegen lässt (vgl. van Dijck
2007: 167f).
2.6.
Die Rolle der Zeit
Luhmann sieht im Gedächtnis eine Funktion, um Unterschiede zu früheren Zuständen festzustellen oder Ursachen für den gegenwärtigen Zustand zu definieren und
zu verarbeiten. Sie ist unabhängig vom System welches sie trägt, sei es Mensch
oder Gesellschaft. (vgl. Luhmann 1997: 583)
19
Das Gedächtnis schafft Realitäten als Handlungsgrundlagen, indem es vergisst. Da
Gegenwart sich durch den Zustand zwischen Vergangenheit und Zukunft definiert,
schafft sich das Gedächtnis also durch Vergessen der Vergangenheit eine Gegenwart. Luhmann vergleicht dies mit dem Zustand eines fortzuführenden Schachspiels,
dessen bisherige Züge man nicht mehr kennt und kennen muss, doch basierend auf
dem gegenwärtigen Zustand fortführen kann – gegenwärtig im Sinne des Zeitpunktes als aufgehört wurde zu spielen. Auf diese Weise verhindert das Gedächtnis
eine Selbstblockierung durch Vergessen. Die Linearität und Unumkehrbarkeit von
Zeit wird hier unterstrichen, da eine Rückkehr in Vergangenes nicht mehr ohne
Weiteres möglich ist. Gleichzeitig ist aber das Anhäufen dieser Realitäten durch
Wiederholung und Reimprägnierung ebenfalls ein Merkmal der Zeit und zeigt sich
in der Erinnerungsfunktion des Gedächtnisses. Luhmann verweist hier auf die Besonderheit des Beispiels und die Tatsache, dass solche „kondensierten Identitäten
oder Objekte“ der Zeitachse eben gerade die Ausnahme zum Regelfall des Vergessens sind. (vgl. ebd.: 576ff)
Zeit und Zeitverlauf lassen sich jedoch auf viele Arten betrachten. In den asiatischen Kulturen existiert ein völlig eigenes Verständnis von Zeit, welches sich auch
in der traditionellen japanischen Ästhetiklehre widerspiegelt. Mit dem Thema des
Gedächtnismotivs in Bezug auf die japanische Ästhetik setzt sich Dani Cavallaro in
ihrer Studie „Anime and Memory“ auseinander (Cavallaro 2009). Luhmann hat
den Dualismus von Vergänglichkeit und Kumulation bei Gedächtnissen beschrieben, und ein nahezu identisches Konzept findet sich auch bei Cavallaros Untersuchungen des Anime in der Betrachtung der ästhetischen Konzepte.
In der japanischen Philosophie wird die Realität der Gegenwart als im Fluss befindlich und unstet betrachtet. Hierauf basiert auch das Konzept des „mono no aware“.
Es umschreibt die Vergänglichkeit und steht im weiteren Sinne für eine tiefgreifende
Sensibilität gegenüber der Emotionalität des Seins. Bekanntestes Beispiel für dieses
philosophische Konzept ist die Kirschblüte als Symbol für die Vergänglichkeit der
Schönheit. Die Kirschblüte ist nicht zwingend schöner als andere Blüten, doch ihre
Kurzlebigkeit nur wenige Wochen im Jahr unterstreicht ihren Moment (vgl. Parkes,
2005). Im Anime ist es ein beliebtes Konzept, um Erinnerungen und Sehnsüchte zu
assoziieren.
20
Im Gegensatz dazu steht „yugen“ für die Andeutung, den Hinweis auf etwas Unbegreifliches, einhergehend mit Ewigkeit und Stetigkeit. Es umschreibt, wie nur
erahnt werden kann, was nicht greifbar ist. Sei es die bis zum Horizont reichende,
doch im Nebel verborgene Landschaft oder die Ewigkeit, die sich nur im kurzen
Moment der Existenz abzeichnet (vgl. Cavallaro 2009: 5f). Ähnlich dem Augenblick, den wir memoriert haben, aber nicht mehr wissen woher er stammt, wohin er
ging und nur die Andeutung des Ganzen erfassen kann.
Neben „mono no aware“ und “yugen” gibt es noch weitere Konzepte, die nicht
nur im Anime eine wichtige Rolle für das Verständnis der japanischen Kultur spielen. Die ästhetische Lehre des „wabi“ freut sich über eine herabgefallene Kirschblüte ebenso wie über die unvollkommene Knospe oder den warmen Herbstregen. Sie
beschreibt also eine unauffällige, subtile Schönheit.
Die Anmut einer alten Zeder hingegen spiegelt „sabi“ in einer besonderen Art und
Weise wieder. „sabi“ preist die ebenfalls eine Schönheit, die sich jedoch im Gealterten und Unvollkommenen zeigt. Die Furchen eines alten Baumes oder einer Person hohen Alters zeugen hier von Reife und Erfahrung, beinhaltet aber stets auch
die Einsamkeit. (vgl. Parkes, 2005)
Im Zusammenspiel von „mono no aware“ und „yugen“ lässt sich also die Parallele
zum Gedächtnis und seinem Dualismus von Erinnern und Vergessen erkennen. Im
nächsten Kapitel wird dies sowie andere Formen von Erinnerungsmotiven am Beispiel ausgewählter Animes aufgezeigt.
21
3. Erinnerungsmotive des japanischen Animationsfilms
3.1.
Visuelle Konzepte
Das Gedächtnismotiv tritt im kontemporären Anime mit zunehmender Häufigkeit
und in verschiedenster Form in Erscheinung. Gedächtnisthemen und ihr zentrales
Spannungsfeld von Erinnern und Vergessen werden in den unterschiedlichsten Varianten in die Erzählung eingebaut. Häufig sind sie selbst zentrales Element der
Handlung, ebenso oft aber stellen sie nur einen entsprechenden Kontext her oder
sind Teil einer spezifischen Randproblematik. Man trifft auf sie beim Einsatz von
Stilmitteln, Filmtechnik oder sogar filmübergreifend. Zeit, Gedächtnis und Ästhetik
stellen einen Sinnzusammenhang dar.
Van Dijck beschreibt auffällige Parallelen auf metaphorischer Ebene, wenn er Redewendungen mit Bezug auf das menschliche Gedächtnis aufzeigt, die durch die
Medialisierung entstanden sind. Dies drückt sich zum Beispiel in Umschreibungen
wie fotografisches Gedächtnis oder Flashback aus. (vgl. van Dijck 2007: 17) Im
Anime sind es vor allem die visuellen Mittel der Zeichnung, die metaphorisch eingesetzt werden.
Im Zusammenspiel begegnet uns das Konzept des „wabi-sabi“ im Anime in Form
von unfertig gezeichneten Figuren oder Hintergründen, die nicht als Makel angesehen werden, sondern Raum für eigene Projektion, Kreativität und Fantasie lassen.
Auch die wesentlichen Aspekte einer Geschichte werden aus diesem Grund gerne
offen gelassen. In Bezug auf Gedächtnis betont das Konzept die Lückenhaftigkeit
und Unstetigkeit als Chance. Ebenso wie ein Bild des Berges durch die Wolke, die
ihn teilweise verdeckt, attraktiv wird. (vgl. Cavallaro 2009: 6) Ein Beispiel für dieses ästhetische Konzept liefert eine Szene aus dem Science-Fiction-Drama Diebuster.
Eine epische Kampfszene wurde absichtlich durch handgezeichnete monochrome
Zeichnungen dargestellt, da jede „perfekte“ Ausarbeitung der Zeichnung ihrer
Dramatik spotten würde. Kein perfekt gezogener Strich kann den ästhetischen Makel eines zufällig und schnell gezogenen Strichs imitieren.
„Thematically, viewers are invited to engage with shreds and shreds of memory
and evaluate their reliability in the face of a rampant mood of ambiguity. Distinguishing empirical knowledge from paranoid delusion, lived experience
22
from hallucination, and science from magic is thus positioned as the axial –
and never-ending – act”. (ebd.: 7)
Abb. 3 „Wabi-Sabi“-Konzept in Form einer Grobzeichnung (Gunbuster, 1988)
3.2.
Wiederkehrende Motive
Japanische Animationsstudios lieben es, durch die Bildung eines Mem durch wiederholte Nutzung ähnlicher Formen, Charakterdesigns und Animationen im Verlauf
ihrer Produktionen eine Art kollektives Bildgedächtnis zu schaffen. Der Zuschauer
wird sich fortan beim Erkennen des Mem an frühere Produktionen erinnern und
natürlich auch an das ausführende Studio.
Ein exzellentes Beispiel für das Entstehen von Erinnerungen als Mem durch wiederholende Imprägnierung und Nachahmung offenbart das Studio Gainax. Es hat sich
gleich eine ganze Palette an bildnerischen Metaphern zugelegt, die es wohldosiert
in seine Produktionen einstreut und damit ein gemeinsames Bewusstsein der
Wiedererkennung bei den Fans erzeugt. Selbst wenn man nicht jede einzelne Produktion oder die der Bildmetapher zugrunde liegende Serie kennt, fallen die sich
wiederholenden Elemente aus der Masse der Animation heraus.
23
Abb. 4 Wiederkehrende Motive bei Anime
(Evangelion 1.11, 2010 sowie Diebuster, 2006)
Eines der häufigsten Memes im Anime ist das Setting des Schulanime. Dieses
zeichnet sich durch Handlungen aus, die in schulischer Umgebung spielen aber
unter Umständen gar nichts mit Schule zu tun haben. Auch die bekannte Schuluniform gehört zu diesem Mem, genauer gesagt tragen viele Protagonisten zum Teil
aus unersichtlichen Gründen dieses Kleidungsstück. Dies ist nicht nur auf eine verklärte, positive oder herbeigewünschte Erinnerung an die Schulzeit zurückzuführen.
Die Schuluniform ist in Japan ein Kleidungsstück, welches – ähnlich dem Anzug –
gerne auch außerhalb der Schulzeit getragen wird. Sie erscheint durchaus auch
mal auf offiziellen, Japan repräsentierenden Plakatmotiven der Tourismusbranche.
Ebenso gerne wie neue Memes generiert werden, nutzen die Regisseure aber auch
das kollektive Bildgedächtnis der Japaner oder gar der gesamten Menschheit. Oft
werden diese Bildideen als Stilmittel in modifizierter Form verwendet oder mit absolut komplementärer Bedeutung versehen. Dem Zuschauer offenbart sich diese
Technik als ein permanentes Gefühl von Déjà-vu. Es entspricht wiederum der japanischen Tradition, auf Bekanntes und Bewährtes aufzubauen und es für die eigenen Zwecke zu modifizieren und verbessern. Auch in westlichen Filmproduktionen
kann man diese Technik antreffen, sie ist aber auch bedingt durch die darstellerischen Freiheiten des Mediums Anime hier viel häufiger und extremer. Der Atompilz
zum Beispiel als Trauma der japanischen Nation taucht in – zum Teil bis ins Unkenntliche – abstrahierter Form immer wieder als Thema von Animationen auf (vgl.
Abb. 9).
24
3.3.
Visuelle Metaphern in 5 Centimeters Per Second
Oft ist Erinnern wie ein kurzes Aufblitzen, wie ein kurzer Moment der klaren Schärfe zwischen dem Bokeh des Vergessens. Visuell aufgegriffen wird dieser Zustand
von 5 Centimeters Per Second durch Einstellungen mit geringer Tiefenschärfe. Der
Kamerafokus selbst liegt mal auf banalen Objekten des Alltags, mal auf Details,
die für den Kontext der Gesamterinnerung eine wichtige Rolle spielen. Der Film
erzählt selbst in drei Teilen vom Verlust einer Jugendliebe aufgrund von Umzug
und Entfernung (vgl. 5 Centimeters Per Second, 2007).
Abb. 5 „Mono no aware“ und Bokeh (5 Centimeters Per Second, 2007)
Die Darstellung von Detailaufnahmen in schneller Folge, die Aneinanderreihung
von Nahaufnahmen mit schnellem Schnitt dient als Metapher ungeordneter Erinnerungsfetzen. Erst im Zusammenspiel als Gesamtheit ihrer Teile und durch den Kontext zueinander symbolisieren sie den Prozess des Erinnerns und vermitteln einen
übergeordneten Inhalt. Eine Hand, ein Stück vorbeiwehendes Haar, die Stimme
der Hauptdarstellerin und der Schatten auf dem flirrenden Sommerasphalt zeichnen das Bild einer vergangenen Zeit im ersten Abschnitt des Films.
Die Visualität im Werk von Makoto Shinkai vermittelt eine in warme Farben getauchte Vergangenheit. Ein stetiges Spiel von Kontrasten aus Licht und Schatten,
leeren sonnendurchfluteten Schulkorridoren, einem menschenleeren Sportplatz in
der Abendsonne steht für Beständigkeit ebenso wie für Vergänglichkeit. Die
Kirschblüten in den Szenerien sind ein bekanntes Symbol der japanischen Kultur,
die Vergänglichkeit aller Schönheit. Das konsequente Meiden von Gesichtsdarstellungen in diesen Szenen verstärkt den Eindruck der Entfremdung und Entfernung zu
25
dieser vergangenen Realität. In einer Schlüsselszene des ersten Filmabschnitts unternimmt der Junge im tief verschneiten Winter eine Reise, um sich mit dem weit
entfernt lebenden Mädchen zu treffen. Unter dem alten Kirschbaum kommt es zum
Wiedersehen, doch sind es dieses mal nicht Kirschblüten, die herunterfallen, sondern Schneeflocken.
Abb. 6 Im späteren Verlauf leerer Sportplatz (5 Centimeters Per Second, 2007)
Eine einprägsame Melodie, die Szenen des ersten Filmabschnitts mehrmals begleitet, taucht gegen Ende des Films wieder auf. Sie ertönt im Hintergrund aus den
Lautsprechern eines der 24h lang geöffneten „convenience stores“, in Japan
„konbini“ genannt. Auch der fallende Schnee, den beide Akteure unabhängig
voneinander sehen, sowie viele weitere kleine Schlüsselbildreize lösen eine gemeinsame gleichzeitige Erinnerungshandlung durch den gemeinsamen Kontext bei
den Akteuren wie beim Zuschauer aus. Auch Gerüche werden als Schlüsselreize in
Form von Blütendarstellungen aufgeführt.
3.4.
Kollektives Gedächtnis in Dennō Coil
Dennō Coil prädestiniert für eine Betrachtung unter dem Aspekt dieser Arbeit die
enge Verbundenheit der digitalen Welt mit der Realen in der Serie. Nach einer
grundlegenden Beschreibung des Setting wenden wir uns der speziellen Episode
12 zu, die für sich alleine betrachtet werden kann und ein Beispiel für kollektives
Gedächtnis darstellt (vgl. Dennō Coil, 2007).
In einer nicht zu fernen Zukunft hat sich die virtuelle Welt des Cyberspace weiterentwickelt. In Form einer semi-immersiven virtuellen Realität interagiert sie mit der
realen Welt und erinnert an das noch junge Forschungsfeld der Augmented Reality.
26
Spezielle Cyberbrillen, die den Zugang zu dieser Welt eröffnen, werden insbesondere von der jungen Generation getragen. Die Welt wird regelrecht vom virtuellen Abbild überlagert. Sie erlaubt es Kindern beispielsweise virtuelle Haustiere zu
halten oder per Handgeste an jedem Ort auf die Informationen des Internet zuzugreifen. Überhaupt stehen die kleinen Freizeithacker im Zentrum der Serie und an
der Spitze bei der Nutzung dieser neuen technischen Entwicklung. Tastaturen sind
ebenso überflüssig geworden wie Bildschirme. Mit Hilfe teils illegaler Softwareprogramme und Techniken manipulieren sie das digital-reale Konstrukt der Stadt, in
der sie leben.
Abb. 7 Augmented Reality in Tempelanlage (Dennō Coil, 2007)
Die reale Welt existiert natürlich zu jedem Zeitpunkt weiter, auch wenn sie komplett von einem virtuellen Abbild überlagert wird. Allerdings handelt es sich um
eine rein elektronische Welt, die sich nicht fühlen lässt und daher ein gewisses
Einfühlungsvermögen des Nutzers erwartet – keine unmögliche Aufgabe, insbesondere für Kinder. Die Nutzung der virtuellen Gegenstände erfordert nichtsdestotrotz eine gewisse reale Interaktion. So benutzt der Charakter der Fumie
Hashimoto eine virtuelle Sprühdose und Angel, um durch das aufsprühen „virtueller
Rohsubstanz“ einen Zugang zum verlorenen Haustier zu schaffen und es aus einer
misslichen Lage zu angeln. Diese vollendete Form der Augmented Reality ist aber
auch mit Nachteilen behaftet. Denn Objekte der realen Welt, beispielsweise Fahrzeuge auf einer Straße oder Löcher im Boden, lassen sich somit auch ausblenden.
Durch Absetzen der Brille ist theoretisch jederzeit ein Ausstieg aus dieser Welt
möglich. Doch bereits heute fällt es vielen Menschen schwer, sich aus der virtuellen
27
Realität auszuklinken, und an den digitalisierten Börsen der heutigen Welt handeln
Computer auch weiter, wenn grade niemand zuschaut. Der Film arbeitet insbesondere mit den Diskrepanzen von realer und virtueller Welt und der Eigenschaft von
Kindern und Erwachsenen, Dinge unterschiedlich wahrzunehmen und zu bewerten.
Die Geschichte präsentiert einen in sich geschlossenen Subplot, in dessen Folge
die Kinder mit einer Art virtuellem Virus infiziert werden. Dieser an sich harmlose
Virus manifestiert sich als virtuelles Wachstum von Barthaaren. Es stellt sich heraus,
dass diese Haare lebendige Wesen simulieren. Anstatt ein Gegenmittel zu entwickeln, erfindet die Großmutter – offenbar selbst ein Kind geblieben – lieber eine
Möglichkeit mit Hilfe eines Übersetzungsservers die Wesen zu beobachten und in
Kontakt mit Ihnen zu treten.
In Folge dessen entwickeln sich auf dem Gesicht von Yasako und den anderen
Kindern ganze Zivilisationen. Man fühlt sich an die Simpsons-Folge „Die GenesisSchale“ vom 27. Oktober 1996 erinnert, in deren Verlauf aus Lisas Zahn eine
Zivilisation emporwächst. Hier kommuniziert das Mädchen Yasako die ganze
Nacht mit den Wesen und steigt so zu einer Art Gottheit auf, während sie ihnen
auf dem zivilisatorischen Weg hilfreich zur Seite steht. Dennoch brechen unter den
Wesen erste Konflikte aus, kommentiert von den Kindern mit „War is so futile…
[…] I always tell them don’t fight.“. Die Entwicklung der Gesellschaft geht weiter,
zur „interplanetarer“ Kommunikation zwischen den Bärten der Kinder und gipfelt
im Start des ersten Raumschiffs.
Abb. 8 „Der erste Flug außerhalb der Atmosphäre!“ (Dennō Coil, 2007)
28
Schnell zeigt sich jedoch, dass das vermeintliche Raumschiff eine nukleare Rakete
ist, die einschlägt noch während Yasako von den Freunden beglückwünscht wird.
Die Entwicklung gipfelt also als Parallele des historischen Trauma Japans im zweiten Weltkrieg als Selbstdarstellung seiner geschichtlichen Erinnerung, und schon
bald herrscht ein „interplanetarer“ Krieg, trotz Yasakos göttlicher Lenkungen.
Die Kreaturen fragen sich auch auf philosophischer Ebene „Where did we come
from? What are we heading towards?“ und die Philosophen erklären Gott kurzerhand für gestorben. Der Krieg wird hier auf kultureller und historischer Ebene
durchgespielt und Yasako erhält auf ihren Hinweis „but to wage war is stupid“ die
Gegenfrage der Kreaturen: „So, Lady Yasako, do you and your friends never
fight?“. Nur weil man befreundet ist, sei man deswegen nicht ständig friedfertig.
Yasako-Göttin fragt sich indes weinend „where did I go wrong?“.
Abb. 9 kollektives Bildgedächtnis (Dennō Coil, 2007)
Die kleine gesellschaftliche Selbstthematisierung innerhalb des Anime endet damit,
dass die Haarwesen nach einer großen Zahl von Opfern den Krieg beenden, weil
sie verstanden haben wie schlimm Krieg ist. Durch Kommunikation miteinander
haben auch die anderen „Planeten“ Frieden geschlossen. In einer musikalischen
Homage an 2001 – Odysee im Weltraum endet die Reise der Wesen auf der
Glatze des Nachbarn, wo sie fortan in Frieden leben könnten, später aber zu einer
Reise auf der Suche nach dem gelobten Land aufbrechen, um zu sehen ob es dort
ein Leben ohne Krieg gibt. So schafft die Serie eine ironisch distanzierte Betrachtung ihrer eigenen Gesellschaft, basierend auf kollektiven Bildern und Erinnerungen
29
und schließt mit einer optimistischen Zukunftsprojektion, die irgendwann einmal zu
einer Erinnerung werden könnte.
3.5.
Kontextualität von Erinnerung in „Pale Cocoon“
Seit jeher haben die Menschen nach dem Himmel gestrebt. Sie haben ihn beobachtet, Sie haben die höchsten Berge erklommen, Maschinen gebaut um ihn zu
erreichen und es geschafft, ihn hinter sich zu lassen —
Die Erinnerungsrekonstruktion ist Leitmotiv der der Kurzfilmproduktion Pale Cocoon
(vgl. Pale Cocoon, 2006). Nachdem die Erde unbewohnbar wurde, lebt der verbliebene Teil der Menschheit Jahrhunderte später tief im Innern einer künstlichen
Kolonie. Trotz der Fortschritte der Technologie ist die Geschichte und Vergangenheit verlorengegangen. Die einzigen verbleibenden Informationsbruchstücke liegen
verstreut in riesigen digitalen Archiven der Vorzeit, oft beschädigt und unvollständig. Aus der Analyse der Bruchstücke glaubt man, die Realität der Gegenwart zu
kennen: Wie die künstliche Kolonie die Planetenoberfläche umschließt, wie zerstört
der Planet ist und wie dieser graue Kokon die Sonne ausschließt. Die Handlung
spielt fast ausschließlich im Inneren der monochromen Katakomben. Die Menschen
ziehen sich zunehmend in die Tiefe zurück – auf der Suche nach dem Wasser der
untersten Ebene, aus dem sie einst selbst kamen und auch flüchten vor dem Versagen der Lebenserhaltungssysteme der oberen Etagen.
Abb. 10 Restaurierte Weltbilder (Pale Cocoon, 2006)
Die Einrichtung des „excavation department“, Arbeitsplatz des männlichen
Hauptcharakaters Ura, ist für die Restauration der Bruchstücke aus den Archiven
zuständig. Tag für Tag sammelt er Informationen, viele in Form von farbenprächti30
gen Fotografien einer verlorenen Zeit. Im Kontrast zu den monochromen Katakomben sind auf diesen Bildern grüne Landschaften, blühende Pflanzen und blaue
Himmel zu sehen. Diese werden wieder in elaborierten technischen Systemen abgespeichert. Sie erinnern an Bücher, werden auch so genannt, sind jedoch keine
im heutigen Sinne.
„Originally books were archives, where text and images were physically
imprinted on material. […] Of course you could only record once, and
there were no communications with other books. But it was a medium for
passing on archives, just as they are now”. (Pale Cocoon, 2006: TC
00:08:00)
Auch Assmann bezieht sich nicht nur auf physische Medien, sondern auch gesellschaftliche Medien wie die Kultur als Träger von Erinnerung, wenn er beschreibt,
„daß sich mit dem wandelnden Entwicklungsstand dieser Medien auch die Verfaßtheit des Gedächtnisses notwendig mitverändert” (Assmann 2006: 19).
Doch nun, da man glaubt alles über die Vergangenheit der zerstörten Erde zu wissen – und es sind keine angenehmen Erinnerungen – werden auch diese Restaurationseinrichtungen zunehmend geschlossen. Auch da nichts mehr von dem, was
auf den Aufzeichnungen zu sehen ist, zu existieren scheint.
Die Aufzeichnungen werden zwar faktisch auch infrage gestellt („Ura, have you
ever thought that maybe the archives are all lies?“), nicht jedoch ihre Interpretation
und der unvollständige Kontext, der sich durch sie aufdrängt. So ist der Kommentar
des Arbeitgebers auf ein frisch ausgegrabenes Landschaftsfoto dann auch „Who
cares about the location?“.
Der weibliche Hauptcharakter arbeitet in der Analysesektion. Die restaurierten Informationen können erst mit einer entsprechenden Interpretation und Kontextualisierung zu einer Erinnerung werden. Das ist die zentrale Problematik, um die sich
der Film dreht. Die Charaktere und ihre Handlungen spiegeln ihre Zerrissenheit
zwischen Neugier und Angst, Hoffnung und Depression in Bezug auf die Vergangenheit und Zukunft wieder.
31
Ura trägt stets den Blick nach vorne und symbolisiert die Hoffnung, auch aufgrund
seiner Bemühungen, etwas über seine eigene Vergangenheit und über die grüne
Welt zu erfahren. Riko dagegen kämpft mit unangenehmen Erinnerungen, einer
Ablehnung der menschlichen Vergangenheit und einem generellen Ökopessimismus, der sich in vielen Anime aufgrund der Naturverbundenheit der Japaner wiederfindet. Ihre Frage „Is digging up archives going to change this world?“ wird
sich am Ende des Films sowohl mit ja als auch mit nein beantworten müssen, jedenfalls zeigt sie Ura, was er vermutlich längst wusste: „No one wants to see more
of human stupidity.“ Es sei besser, die Welt nicht zu verstehen, die Vergangenheit
ruhen zu lassen und nicht nach etwas zu streben, was es nicht gibt.
Im Verlauf der Handlung stößt Ura auf ein Filmfragment, dessen Wiederherstellung
zu einem sensationellen Fund führt. Neue Informationen verschieben den Kontext
aller bisherigen Aufzeichnungen, die komplette Realität, in der die Bevölkerung der
Kolonie zu Leben glaubte, wird umgeworfen: Die Kolonie befindet sich nicht auf
der Erde, sondern auf dem Mond. Diese Entdeckung mit eigenen Augen zu sehen,
macht sich Ura mit einem modifizierten Fahrstuhl auf den Weg nach oben zur Hülle des Kokons.
Auf seine Motivation zu dieser Restaurationsarbeit angesprochen, entgegnet Ura
noch zu Beginn des Films mit „Because it’s the only way to understand the past“.
Nun muss er begreifen, dass es auch die Gegenwart, ja sogar die Zukunft ist, die
sich durch Erinnern und Vergessen signifikant verändern kann.
Natürlich musste hier auf filmische Kniffe wie Schwerkraftgeneration zurückgegriffen werden, um die Illusion der die Menschen und ihrer Wahrnehmung aufrechtzuerhalten, auf der Erde zu leben. Es zeigt sich deutlich an diesem Punkt, welche
Bedeutung Erinnern und Vergessen für die Selbstthematisierung und Identität einer
Gesellschaft hat. „Who cares about the location?“ Auch die Bedeutung des Kontext für Erinnerungen wird hier dargelegt. Und nicht zuletzt kann man den Glauben
an die eigene Wahrnehmung hinterfragen. Cavallaro beschreibt in diesem Sinne
„An intrinsically unstable world view that matches Japanese philosophy’s
grasp of reality as a constant flux, as impermanence (mujou) […] it inti-
32
mates that the worlds constructed by memory are never anchored to a Platonic substratum of unchanging truths […].” (Cavallaro 2009: 7)
Neben dem Spiel mit dem Kontext der Erinnerung spielt der Film auch mit der Definition von „oben“ und „unten“. Denn der Hauptcharakter ist nach der Rekonstruktion dieses Filmfragments entgegen dem Strom der Menschen in die Tiefe an die
Oberfläche aufgebrochen. Dort findet er zu seiner Erwartung wie auch Überraschung zwar den ersehnten Himmel, doch am Himmel hängt anstelle eines Mondes
scheinbar unberührt die blaue und so gar nicht mehr zerstörte Erdscheibe vom
dunklen Firmament des Weltraums. Offenbar hat sich nach Jahrhunderten die Welt
vom Menschen erholt. Dies ist genau, was das von ihm entdeckte Filmfragment in
Form eines Musikvideos enthielt. Es war allerdings nicht irgendein Musikvideo,
sondern eine Aufnahme der „Agency for cultural affairs“. Somit wurde ein Stück
Populärkultur benutzt, um eine Nachricht an die Zukunft in Form einer Erinnerung
zu übermitteln. Der Ausgang des Films bleibt dennoch offen.
33
4. Wechselbeziehungen zwischen „Kurzzeit-“ und „LangzeitGedächtnis“ der Gesellschaft
4.1.
Kultur und Gedächtnis nach Luhmann
Anschließend an den Gedächtnisbegriff von Luhmann, welcher in 2.6 bereits erörtert wurde, soll nun auf das Verständnis von „Kultur“ eingegangen werden, das
damit einhergeht.
Luhmann unterscheidet Kultur als Gedächtnis einer Gesellschaft von kollektivem
Gedächtnis. Letzteres beschreibt lediglich den Effekt, dass sich Individuen unter
gleichen Voraussetzungen an ähnliche Dinge erinnern (vgl. Luhmann 1997: 583).
Bezogen auf das Thema dieser Arbeit bedeutet dies zum Beispiel eine kollektive
Erinnerung an geschichtliche Ereignisse, ausgelöst durch einen übereinstimmenden
Kontext, Animationen und Sinneseindrücke bei der Rezeption von Anime.
Das kulturelle Gedächtnis hingegen – Luhmann umschreibt es als soziales Gedächtnis – ist nicht gleichzusetzen mit den Erinnerungen einzelner Individuen einer
Gesellschaft. Vor der Erfindung von Schrift handelte es sich um ein überwiegend
topografisches Gedächtnis. Es war notwendig und ausreichend, um einen Unterschied und eine Abgrenzung zu schaffen zwischen dem Bekannten (Zivilisation)
und dem Unbekannten (Wildnis). Auch spezielle Orte für rituelle oder heilige
Handlungen, Interaktion und Kommunikation gehörten zum Repertoire des kulturellen topografischen Gedächtnisses. Riten, Feste und Mythen dienten dabei ebenso
der Festlegung eines kommunikativen Sinns wie es Namen von Gegenständen,
Menschen oder Plätzen tun. Auch Erzählungen und Traditionen gehören dazu,
wobei nicht das transportierte Wissen ausschlaggebend ist welches als bereits
bekannt vorausgesetzt wird, sondern die Festlegung und Festigung von Form und
Sinn. Solche Objekte kommunikativer Sinnhaftigkeit werden benötigt, um eine
Grundlage für weitergehendes Handeln eines Systems wie der Gesellschaft zu
schaffen. Diese im kulturellen Gedächtnis verankerte Sinnhaftigkeit schafft die Voraussetzung für daran anschließende Kommunikation, „ohne daß Zweifel darüber
aufkommen, was gemeint ist und wie damit umzugehen ist“ (Luhmann 1997: 585).
So muss sich heute niemand mehr zunächst darüber verständigen, was ein Händeschütteln bedeutet um es zu nutzen. In der postmodernen Gesellschaft stellt sich das
34
durch die kulturelle Vermischung aber wieder ganz anders dar. (vgl. Luhmann
1997: 584ff)
Es wird „allein dadurch, dass jede Kommunikation bestimmten Sinn aktualisiert, [..] ein soziales Gedächtnis reproduziert; es wird vorausgesetzt, daß
die Kommunikation etwas mit dem Sinn anfangen kann, ihn gewissermaßen schon kennt, und es wird zugleich durch wiederholten Gebrauch derselben
Referenz
bewirkt,
daß
dies
auch
in
künftigen
Fällen
so
ist.“ (Luhmann 1997: 584)
Dazu gehört auch das Vergessen von Sinn, denn „Kultur verhindert […] die Überlegung, was man anstelle des Gewohnten anders machen könnte“ (ebd.: 588).
Beide Funktionen des kulturellen Gedächtnisses erfordern den Einfluss seiner Individuen. In diesem Fall jedoch können Themen (Formen, Sinn) mit jeweils ganz unterschiedlichen individuellen Erinnerungen verbunden sein, somit eine scheinbare
Zufälligkeit in der Kommunikation koinzidieren. (vgl. Luhmann 1997: 584ff)
Der Begriff der Kultur ist keineswegs neu. Schon in der Antike umschrieb Cicero
die „Pflege des menschlichen Geistes“ als cultura. Bereits hier kommt die Langfristigkeit des Begriffs zum Tragen (vgl. Orth 2005: 14). Doch erst die moderne Gesellschaft, so Luhmann, vermag die Bedeutung eines umfassenden Kulturbegriffs für
eine Beschreibung ihres eigenen kulturelles Gedächtnisses zu erkennen und zu
nutzen. Kultur in diesem Sinne jedoch gab es von Anbeginn der Menschheit. (vgl.
Luhmann 1997: 586ff)
„Die Erfindung eines besonderen Begriffs der Kultur wäre demnach einer Situation verdankt, in der die Gesellschaft so komplex geworden ist, dass sie mehr
vergessen und mehr erinnern und dies reflektieren muß und deshalb einen Sortiermechanismus benötigt, der diesen Anforderungen gewachsen ist.“ (ebd.:
588)
4.2.
populäre Kultur als „Kurzzeitgedächtnis“ der Gesellschaft
Huck & Zorn vertreten basierend auf Niklas Luhmanns Systemtheorie die These,
„[…] ‚moderne Gesellschaft‘ wäre ohne das Populäre undenkbar“ (2007: 14).
Ihnen zufolge erfüllt die populäre Kultur essenzielle gesellschaftliche Funktionen,
35
welche sich über viele Bereiche erstrecken. Das Populäre sei kein geschlossenes
System mit einem klar definierten Ziel, wie beispielsweise das Wissenschaftssystem
mit dem Ziel, Erkenntnisse zu schaffen. In seinen unterschiedlichen Ausprägungen
von Literatur, Film, Werbung – oder eben auch Animationsfilm – könne es neben
nützlichen Funktionen für die etablierten gesellschaftlichen Systeme wie Politik oder
Wirtschaft auch „beispielsweise etwas zur Selbstreflexion der modernen Gesellschaft beitragen“ (ebd.: 15). Das Populäre erfülle für die Gesellschaft eine Aufgabe in Bezug auf Selbstthematisierung und Realitätskonstruktion für die Schaffung
eines gemeinsamen temporären, kommunikativen Kontext (ebd.: 26). Auch dem
Individuum biete es „Material für die Suche und Reflektion einer eigenen ‚Identität‘ – eine Suche, auf die die Menschen erst im Zuge der Durchsetzung funktionaler
Differenzierung geschickt wurden“ (ebd.: 23).
Carsten Zorn interpretiert die soeben ausgeführte selbstthematisierende Funktion
der Populärkultur als Gedächtnisfunktion der Gesellschaft im Sinne eines Kurzzeitgedächtnisses (vgl. 2007: 73ff). Er folgt dabei der Gedächtnistheorie Luhmanns
als ein „[…] laufendes Diskriminieren zwischen Vergessen und Erinnern“ (Luhmann
1996: 76). Luhmann versteht Gedächtnis nicht einfach als Datenspeicher oder
Blick in die Vergangenheit, sondern vielmehr als fortlaufende Konsistenzprüfung im
Hinblick auf die Konstruktion einer Realität. Diese Realität, oder auch Gegenwart,
entstehe als ein Produkt der Diskriminierung von Vergangenheit und Zukunft (vgl.
1997: 578f). Das Gedächtnis „kontrolliert, von welcher Realität aus das System in
die Zukunft blickt“ (ebd.: 581).
Beim Menschen, so hat die Neurobiologie gezeigt, sorgen entsprechende Stoffe
für eine Filterung respektive Blockierung von Inhalten, die aus dem Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis übergehen. Osten nennt dies „Selbsthilfe durch
Informationsverweigerung“ (Osten 2004: 95) und zieht die Parallele zu „postmoderne[n] Daten- und Informationsüberflutungen“ die entsprechende Prozesse offenbar noch vermissen lassen. (ebd.)
Zorn bezeichnet die Populärkultur aufgrund ihrer Schnelllebigkeit als Kurzzeitgedächtnis des Systems Gesellschaft, fähig auf kurzfristige gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren. Er folgt Luhmanns Argumentation, der die Hauptaufgabe
eines Gedächtnisses darin sieht, Kompakteindrücke zu schaffen, auf deren Basis
36
ein System wie die Gesellschaft dann Unterscheidungen zu früheren Zuständen
und Charakterisierungen treffen kann, beispielsweise Epochen zu bilden wie „Die
Moderne“ (vgl. 2007: 75).
Für die Popkultur bedeutet dies, laufend und in großer Menge Gegenwart zu
schaffen, Realitäten zu imprägnieren. Kurzlebige Formen und Sinn zu bewahren
und ebenso schnell wieder zu vergessen – oder beizubehalten. Aufgrund der
Schnelllebigkeit dieser Formen müssen sie schnell eine breite Aufmerksamkeit erfahren, um nicht im Grundrauschen unterzugehen. Daher erfordern sie eine Semantik, die nach Stahäli (Zitat nach 1999, S.325) „allgemeinverständlich“, „gut
zugänglich“ und „emotional tief verankert“ ist. (vgl. Zorn 2007: 77)
37
5. Selbstthematisierung einer Gesellschaft
5.1.
Die Ankunft des Individuums in einer modernen Gesellschaft
Das moderne Individuum ist Teil einer multikulturellen Welt mit unterschiedlichen
Weltanschauungen und pluralen Gesellschaften, interagiert mit einer Vielzahl von
Institutionen wie Politik oder Wissenschaft. Es ist Teil verschiedener Gemeinschaften mit eigenen Werten und Normen, welche eigene Verhaltensweisen und Anpassungen erfordern. Diese „Ausdifferenzierung in verschiedene Wertsphären
(Weber), Teilsysteme (Parsons, Luhmann) oder Felder (Bourdieu) hat eine multiperspektivische Welt zur Konsequenz“ (Schroer 2006: 48).
Der Einzelne kann sich nicht länger auf eine übergeordnete Ordnungsinstanz, zum
Beispiel die Religion, stützen. Die eine Gemeinschaft, die dem vormodernen Menschen zeigte, welche Rolle er spielte und wo seine Identität liegt, gibt es nicht mehr.
Individualität ist ein Merkmal der Moderne, der Wunsch abzuweichen vom Allgemeinen und Vorgegebenen und auf die Ausdifferenzierungen einer modernen Gesellschaft zu reagieren. Diese „[…] Abweichung vom allgemeinen Schema, der
Widerspruch zu einem erwartbaren Lebenslauf, bringt die Selbstthematisierung
hervor
und
führt
zu
einem
legitimatorischen
Selbstrechtfertigungsdiskurs
[…]“ (ebd.: 46), so wie auch „biografische[n] Selbstthematisierungen [..] oftmals
Erschütterungen der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung“ (ebd.: 46) zugrunde
liegen. Heute gilt die Fähigkeit, über sich selbst zu reflektieren und Auskunft zu
geben als Voraussetzung, um in der alltäglichen Auseinandersetzung mit sich
selbst und der Gesellschaft zu bestehen (vgl. ebd.: 41). Mit der Zunahme der
Selbstthematisierung, so Schroers These, kommt es auch „zu einer verstärkten Suche nach Aufmerksamkeit für die Belange des eigenen Selbst“. (ebd.: 42)
Heute lassen unterschiedliche Perspektiven von Institutionen oder Gesellschaften
viele Realitäten zu und tragen immer auch die Botschaft in sich, dass es keine absolut Gültige geben kann. Dies jedoch trägt zu einer Auflösung von bisher als absolut geltenden traditionellen Werten und Normen bei. „Es war schon immer
so“ wird Schroer zu Folge ersetzt durch „Es könnte auch ganz anders sein“. Das
Individuum findet sich hin- und hergerissen zwischen Rollenerwartungen und Rol-
38
lenkonflikten, die Rollendifferenzierung wird dabei als Gefahr für die Integrität des
Selbst gesehen.
Es besteht offenbar ein Bestreben, diesem Fragmentierungsprozess auf individueller
Ebene entgegenzutreten. Das Ideal einer starken Identität tritt in der modernen Gesellschaft in den Vordergrund. Von diesem Ideal abweichende Entwicklungen sehen sich oft bald einer Pathologisierung ausgesetzt, mindestens aber wird ein
unfertiges, fragmentiertes Selbst als nicht erstrebenswert angesehen. Kritisch distanziert betrachtet Schroer das Ziel des modernen Identitätsbegriffs „den Menschen
zu formen, damit er zu einem funktionierenden Mitglied der Gesellschaft werden
kann“. Nach Abschluss dieses Prozesses im Jugendalter steht als klassisches Ziel
ein integeres Ich, welches sich nun in die Lage versetzt sehen soll, kalkuliert und
kalkulierbar mit äußeren Einflüssen und Unerwartetem umzugehen ohne sich von
Ihnen im Kern erschüttern zu lassen. Vor diesem Hintergrund scheint eine Sorge um
Selbstfragmentierung nachvollziehbar. (vgl. ebd.: 49f)
5.2.
Selbstthematisierung als gesellschaftlicher Trend
Vor dem Eintritt in das moderne Kommunikationszeitalter war Selbstthematisierung
und die Möglichkeit zur Selbstreflektion das Privileg einer kleinen Minderheit. Traditionelle Abhängigkeit und die enge Einbindung in die Instanz einer Gemeinschaft ließen der Mehrheit keine Ressourcen für Beschäftigung mit sich selbst. (vgl.
ebd.: 44)
Auf dem Weg zu einer modernen, medialen Gesellschaft hat sich „Kontext, Funktion und Form der Selbstthematisierung“ ebenso gewandelt „als auch die Anzahl
derer, die Selbstthematisierung betreiben (Herv. Im Original, d. V.)“ (ebd.: 41). In
den unterschiedlichen Gemeinschaften und Kulturen wird sie unterschiedlich aufgefasst und betrieben. Dazu gehören ebenso private Gespräche, therapeutische Diskurse als auch mediale Selbstrepräsentationen, so Schroer. Je mehr Menschen
damit beginnen, sich zu reflektieren, desto größer wird auch die Diversität ihrer
Erscheinungsformen. In der Gutenberg-Galaxis war die Form vorwiegend literarisch sowie natürlich auch verbal. In einer medialisierten Welt nimmt die Bedeutung von Foto, Film und Animation zu. (vgl. ebd.: 41) Schroer nennt hier als
Beispiele introspektiver Art selbstgerichtete Film und Fotoaufnahmen, aber auch
39
indirekte Formen wie die Wahl von Wohnungseinrichtung oder Klingeltönen des
Handys um zu demonstrieren, „wie bzw. als was oder wer man gesehen werden
möchte“ (ebd.: 43) In der Forschung jedoch stellt die Bildkultur in Bezug auf selbstthematisierende Tendenzen noch Neuland dar (vgl. ebd.: 43).
„Ebenso wie es auf makrostruktureller Ebene um Integration der Gesellschaft geht, also um das Bestreben, die einzelnen Teilsysteme zu einem
Ganzen zusammenzufügen, so geht es auch auf individueller Ebene um die
Integration der Teilselbste zu einer ganzheitlichen Person“ (Schroer 2006:
50).
„Past moments, places, people, events, encounters and actions all seem to
swirl around and contribute to our self-identity – how we see ourselves –
sometimes available to us in an ordered sense of biography stretching over
chronological time, but more often haphazard and disordered.” (GardeHansen et al. 2009: 2)
Führt man den Gedanken fort, können zur Selbstthematisierung heute auch die
Interessen, die ein Individuum verfolgt, die Menschen, mit denen es sich umgibt,
oder der Konsum auf medialer und materieller Ebene gehören. Schließlich muss
auch die Zugehörigkeit zu bestimmten Subkulturen in diese Einordnung fallen.
5.3.
Identität in einer postmodernen Gesellschaft
Im Verständnis einer postmodernen Gesellschaft kann die Suche nach Identität
zunehmend als offenes und lebenslang anhaltendes Projekt gesehen werden. Alternative Facetten des Selbst werden zugelassen statt unterdrückt. Es zeigt sich ein
flexibles Selbst, zu jedem Zeitpunkt selbstorganisierend und selbstreflektiv handelnd, in einem kontinuierlichen Prozess sich stetig selbst neu hervorzubringen.
Keineswegs ist diese Konstruktion zu einem Zeitpunkt abgeschlossen, um nachträglich evaluiert zu werden, sondern befindet sich stets im Fluss. Dies verhindert auch,
dass sie zu einer einengenden und starren Patina gerinnt und letztlich Fluchtbewegungen initiiert (vgl. Schroer 2006: 52f). Das postmoderne Selbst kann auf eine
Unmenge an „Deutungsangebote[n], Sinnlieferanten und Weltbilder“ (ebd.: 53)
zurückgreifen, folgt dabei oft auch mal bereits bekannten Pfaden nur um sich sofort
wieder von ihnen zu distanzieren. Denn vor allem der Unterschied ist es, der ein
40
Individuum und sein Selbst differenziert, nicht die Suche nach Übereinstimmung.
(vgl. ebd.: 53)
Die Unmenge an Rollenanforderungen, denen sich das postmoderne Individuum
stellen muss, erfordert daher eine Fragmentierung der Identität. Gleichzeitig ist es
jedem selbst überlassen hieraus wieder ein einheitliches Gesamtselbst anzustossen.
Jedenfalls kann weder die „völlige Diffusion und Auflösung des Selbst in durch
nichts mehr zusammengehaltene Fragmente“ (ebd.: 54) Ziel dieser Entwicklung
sein, noch die klassische, starre und normativ belastete Identitätsfigur. Das integere
Selbst, gerne auch schon mal als verklärte Illusion einer abendländischen Vorstellung im Kontrast fremder Kulturen bezeichnet, kreiert dabei Eskalationsstrategien
aus dieser Disparität, beispielsweise in Form konstruierter Lebensgeschichten. (vgl.
ebd.: 55)
6. Popkultur im Kontext von Selbstthematisierung
Auch Gesellschaften konstruieren Geschichten, die sich mit der Veränderung ihrer
Strukturen ebenfalls wandeln. Sie implizieren in ihren Erzählungen oder auch nur
in der Form ihrer Erzählungen gesellschaftliche Identitätskonstruktionen. Paradebeispiel dafür mag die Rolle des Kinofilms sein, vergleiche hierzu etwa (Matrix 2009)
mit einer Untersuchung des Cyberpunk Cinema. Auch der Anime kann somit als
eine Form gesellschaftlicher Selbstthematisierung angesehen werden. Es werden
nicht nur Themen populärer Kultur selbstreferentiell aufgegriffen, sondern gesamtgesellschaftliche Tendenzen aufgezeigt. Durch Interpretation von Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft wird in einem Multiversum von möglichen Realitäten eine
Identität kondensiert.
Der Anime Eden of the East ist hierfür ein hervorragendes Beispiel, er thematisiert
Machtmissbrauch und Staatsgewalt zunächst anhand eines fiktiven Kontext, um in
der filmischen Fortsetzung der Serie dann diesen Kontext und dieses etablierte
Erinnerungsrepertoire des Zuschauers mit der realen Welt zu verbinden. Er verlegt
die Handlung in die USA und spricht die Terrorproblematik an, umreißt eine Fiktion in der die Macht des kollektiven digitalen Netzwerks in der Lage ist, Konflikte
und Kriege zu beeinflussen. Möglich gemacht haben in dieser Fiktion dies erst
41
gesellschaftliche Entwicklungen, die zur Zeit noch als negativ und nicht wünschenswert aufgefasst werden (vgl. Eden of the East, 2009).
Abb. 11 Staatsgewalt gegen nackte Menschen (Eden of the East, 2009)
Jens Kiefer bemerkt, das Populäre sei keine zentrale „Individualitätsmustervergabestelle“, doch ein bemerkenswertes gesellschaftliches Angebot, welches die Teilhabe
an Selbigem sowohl freistellt als auch individuell gestaltbar lässt (vgl. Kiefer 2007:
212). Dieses Angebot wird genutzt, daran besteht kein Zweifel. Korrekter muss
man sagen: Das Angebot besteht, weil der Bedarf besteht. Die Gründe hierfür
können unterschiedlich sein. Sei es nun die Fragmentierung der Identität in einer
postmodernen Gesellschaft oder die Anforderungen einer gruppenorientierten Gesellschaftsform wie in Japan.
Insbesondere Letztere macht regen Gebrauch von dieser Möglichkeit: Ein überstrapaziertes Sprichwort aus Japan sagt: „Auf einen Nagel, der heraussteht, haut man
drauf.“ – 出る杭は打たれる (Lutterjohann 2001: 33), die Schuluniform kann optisch repräsentativ für eine Gesellschaft angesehen werden, die dem Individualismus scheinbar zugunsten des Kollektivs abgeschworen hat. Sieht man jedoch
genauer hin, erkennt man viele Anzeichen dafür, dass dem nicht so ist. Seien es
farbenfrohe Rucksäcke oder die berühmten Handystraps, überall baumelt und
leuchtet die Popkultur in Form von kleinen, subtilen Maskottchen und Gimmicks.
Virtuelle Stars und Idole, beliebte Mangacharaktere oder Kunstströmungen wie das
Superflat haben ein Stelldichein, ohne die Kollektivität der Gruppe zu stören – von
einigen Ausnahmen abgesehen.
42
Hierzulande genießt die japanische Popkultur – auch Kawaii-Kultur oder Niedlichkeits-Kultur genannt – lediglich den Status einer Jugendkultur. Wie Ronald Hitzler
allerdings zeigt, kann auch der klassische Jugendbegriff in der postmodernen Gesellschaft ähnlich der Identität des Selbst nicht unbedingt aufrecht erhalten werden
(vgl. Hitzler, 2006). Japan, dem der Ruf vorauseilt, dem Westen in vielen Belangen ein Stück voraus zu sein, wäre sicher auch für Forschungen in dieser Richtung
ein interessantes Terrain. Manga & Anime jedenfalls ebenso wie der Rest der japanischen Popkultur ist dort keineswegs ein Privileg der Jugendlichen. Auch in
Deutschland beginnt man, die japanische Popkultur außerhalb des Milieus von
Sub- und Jugendkultur wahrzunehmen (siehe z.B. Suchsland, 2010).
In dieser Arbeit wurde japanische Popkultur am Beispiel des Anime in einen Kontext mit Erinnerungsmotiven und gesellschaftlicher Selbstthematisierung gebracht.
Das vermehrte Auftauchen von Erinnerungsmotiven im Anime zeigt, dass sich auch
in der Populärkultur eine Reflektion darüber initiiert, welche Rolle kulturelles Gedächtnis für eine Gesellschaft spielt. Die Popkultur hält Identitätsstiftende Funktionen
bereit, doch auch die postmoderne Gesellschaft wird mit unterschiedlichen Deutungsangeboten anderer Kulturen konfrontiert. Ansätze für weitergehende Untersuchungen bietet das Themenfeld Kontext und Erinnerung, dessen Tragweite sich
besonders deutlich bei der Erörterung von Pale Cocoon zeigte.
Das Studium des Anime war, ebenso wie Veranstaltungen des Studium Generale
oder andere fachfremde und interdisziplinäre Veranstaltungen, eine willkommene
Ergänzung und begleitete mich mein ganzes Studium. Auch die Soziologie als
Humanwissenschaft ist eine Perspektive, die eine technisch orientierte Hochschule
dringend nötig hat, will sie den Ruf einer klassischen Fachhochschule ablegen. Ich
danke Prof. Dr. Stefan Selke, er hat mit viel Offenheit, Mut und Geduld die Betreuung dieser Arbeit übernommen. Den Blick für das Wesentliche nicht zu verlieren
und dennoch mehr zu sehen, als ich mir von diesem Studium erhofft hatte, dies
verdanke ich seiner menschlichen und fachlichen Kompetenz, nicht nur in dieser
Arbeit. Auch meinem Zweitbetreuer Robert Eikmeyer danke ich ebenso, insbesondere für die Geduld mit diesem Text, sowie für die Unterstützung und den unerschütterlichen Glauben an die Fertigstellung meinen Eltern. Für die Inspiration, mit
43
Anime etwas Neues auszuprobieren schließlich auch ein どうも有り難う an Thomas Maier und das Animereferat.
44
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Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 Wiederkehrende Elemente: Heldin und Roboter (Mahoromatic, 2009) .......... 1
Abb. 2 Verlegenheit eines Protagonisten (Eden of the East, 2009) ........................... 6
Abb. 3 „Wabi-Sabi“-Konzept in Form einer Grobzeichnung (Gunbuster, 1988) .... 23
Abb. 4 Wiederkehrende Motive bei Anime (Evangelion 1.11, 2010 sowie Diebuster,
2006) ............................................................................................................... 24
Abb. 5 „Mono no aware“ und Bokeh (5 Centimeters Per Second, 2007) ................ 25
Abb. 6 Im späteren Verlauf leerer Sportplatz (5 Centimeters Per Second, 2007) ..... 26
Abb. 7 Augmented Reality in Tempelanlage (Dennō Coil, 2007) ........................... 27
Abb. 8 „Der erste Flug außerhalb der Atmosphäre!“ (Dennō Coil, 2007) .............. 28
Abb. 9 kollektives Bildgedächtnis (Dennō Coil, 2007) ........................................... 29
Abb. 10 Restaurierte Weltbilder (Pale Cocoon, 2006) .......................................... 30
Abb. 11 Staatsgewalt gegen nackte Menschen (Eden of the East, 2009) ................ 42
47