Kein Folientitel - Hirsch

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Kein Folientitel - Hirsch
Hirsch Apotheke
Hirsch Apotheke
100 Jahre in Familienbesitz
1. 11. 2005
Zur Geschichte der
Hirsch-Apotheke,
Wernigerode,
unter besonderer Berücksichtigung der 100-jährigen
Familientradition der Familie
Runge,
nach den Privatarchiven der
Apotheke und der Familie, ergänzt durch mündliche Überlieferung.
Zusammengestellt von
Brigitte Runge, in diese Form
gegossen und vorgetragen
anlässlich des Empfangs am
1. November 2005 von
Christopher Schlage
Als „Quereinsteiger” der Familie Runge – allerdings vor fast der Hälfte der 100 Jahre – komme ich
gerne den Bitten von Schwägerin und Tochter nach, mit Ihnen die letzten 100 Jahre der Hof-/HirschApotheke Revue passieren zu lassen. Dank gebührt dabei vor allem Frau Brigitte Runge für ihr intensives Aktenstudium und ihre schriftlichen Vorgaben zu diesen Ausführungen zur Geschichte der
Hirsch-Apotheke, Wernigerode, unter besonderer Berücksichtigung der 100-jährigen Familientradition
der Familie Runge, nach den Privatarchiven der Apotheke und der Familie, ergänzt durch mündliche
Überlieferung.
Vorgeschichte (1738 – 1905) (167 Jahre)
Am 8. November 1737 erteilte Christian Ernst, Graf zu Stolberg-Wernigerode, dem früheren Pächter
der Raths-Apotheke, Johann Georg Möller und dessen Erben das Privilegium, in Nöschenrode eine
Apotheke einzurichten, wofür er jährlich 30 Thaler auf Martini einzuzahlen habe.
Das Bemühen um eine zweite Apotheke hatte allerdings schon mehrere Jahre zuvor begonnen.
Möller richtete das Rosenthalsche Haus Nr. 21 in Nöschenrode zur Apotheke ein (heute Nöschenroder Str. 75). Am 1. Februar 1738 wurde die Apotheke in Nöschenrode eröffnet. Sie führte den Namen
“Hof-Apotheke”. Möller ließ sie durch einen Gesellen führen, er selbst blieb in Wernigerode und trieb
Handel mit Arzneien. Er starb im Juli 1738.
Die Hof-Apotheke wechselte mehrere Male ihren Besitzer: Von 1748 bis 1829 blieb sie über drei Generationen im Besitz der Familie Weinschenck. 1819 erbte Johann Friedrich Weinschenck die Apotheke
und erhielt vom regierenden Grafen Henrich zu Stolberg-Wernigerode die Konzession für Wernigerode. Er verlegte 1820 mit Genehmigung des Grafen die Hof-Apotheke in die Stadt und zwar in das in
der Burgstraße gelegene Haus des Medizinalrates Dr. Hardege, damals Haus Nr.514, seit 1885 Burgstraße 22.
Dieses Gebäude ist etwas
Besonderes: Nach dem
großen Brand von 1751, der
alle Häuser der Burgstraße
und der angrenzenden Gassen zerstörte, entstand das
Haus als erstes massives,
aus Stein gebautes Haus.
Solche Häuser wurden auf
Befehl König Friedrich II.
von Preußen als Brandbrecher zwischen die wieder errichteten Fachwerkhäuser
gebaut.
Noch mehrmals wechselten
die Besitzer der Apotheke.
Als letzter vor den Runges
führte August
Die Burgstraße
Emil Wockowitz sie fast 40 Jahre lang von 1866 bis 1905. Die letzten 10 Jahre hatte
er allerdings seinen Sohn Franz als Verwalter eingesetzt.
1. Generation: Franz Runge (1905 – 1932)
(27 Jahre)
Und nun begann die Tradition der Familie Runge,
als erstes ebenfalls mit einem Franz.
Franz Runge wurde am 1.3.1868 in Wesenberg bei
Neustrelitz/Mecklenburg geboren. Er besuchte in
Neustrelitz das Gymnasium Carolinum.
Am 1. Juli 1886 begann er seine pharmazeutische
Lehre in der Hof-Apotheke in Wismar und
bestand 1889 in Rostock das Vorexamen mit der
Note “1”. Er “konditionierte” dann in Trittau,
Bielefeld und Ham-burg, wo er 1892 die große
Cholera-Epidemie miterlebte.
Von 1892-1894 studierte er in Jena Pharmazie und
bestand dort sein Staatsexamen wieder mit der
Note „1”. Anschließend diente er 1894 – 1895 in
Mecklenburg-Schwerin. Nach kurzer Tätigkeit in
der Apo-theke in Hecklingen, wo er seine künftige
Ehefrau Anna Schumann kennen lernte, kaufte er
schon am 1. Juli 1896 die Apotheke in GroßRosenburg bei Calbe/Saale. Er heiratete in
Hecklingen am 17.8.1896.- In Groß-Rosenburg
wurden 4 Jungen geboren, von denen 2 sehr jung
verstarben. Es überlebten Walter, geb. 20.11.1898 und Günter, geb. 11.1.1903.
Franz Runge
Die Familie blieb in Groß-Rosenburg bis Franz
Runge die Hof-Apotheke in Wernigerode am
25. 9. 1905 kaufte und am 12.10. die Konzession vom
Regierungspräsidenten in Magdeburg erhielt.
Zum 1. 11. 1905 übernimmt Franz Runge die HofApotheke Wernigerode. Am 15. Januar 1906 wurde
ihm von Sr. Durchlaucht, dem Fürsten ErnstChristian zu Stolberg-Wernigerode das Recht
bestätigt, den Titel „Hof-Apotheker” und das
fürstliche Wappen im Briefkopf und auf Rechnungen zu führen, „aber nicht als Siegel und
Petschaft”. Das Wappen war über der Haustür
angebracht. Ein gleiches Wappen kann man heute
noch bei der Fa. Gadebusch in der Breiten Straße
betrachten.
Wappen der Fa. Gadebusch
Vom November 1905 bis
April 1906 nahm Franz
Runge einen gründlichen
inneren und äußeren Renovierungsbau aller Geschäftsräume und der
Wohnung vor (z.B. gab es
vorher im Haus zum Entsetzen seiner Ehefrau
keine Küche, dazu lief das
Regenwasser offen durch
den Hausflur und es gab
nur ein Plumps-Klosett
am Ende des Hofes).
Das Haus erhielt eine
neue Fassade und einen
neuen Eingang im
Renaissance-Stil nach der
Burgstraße 22 im Jahre 1906
Zeichnung und unter der
Leitung des bekannten Architekten Bruhns aus Wernigerode. Die linke Hälfte der unteren
Etage, heute Arztpraxis, wurde herunter gelegt und ein moderner Ladenbau aufgeführt, der
für 10 Jahre an den Nachbarn vermietet wurde.
Seit 1903 ist Franz Runge
bereits Apothekenrevisor.
Anlässlich seines 25.
Dienst-Jubiläums
veröffentlichte sein Kollege Dr. Eduard Blell aus
Magdeburg in der Pharmazeutischen Zeitung
eine Laudatio, aus der
zitiert sei: „Durch das
Vertrauen seiner Kollegen
vorgeschlagen, wurde er
von der Regierung in
Magdeburg wurde er am
27.10.1903, erst 35 Jahre alt,
von der Regierung in
Magdeburg zum pharmazeutischen Bevollmächtigten für die Revisionen
der Apotheken und zum
Mitglied der Prüfungskommission ernannt.
Alter Destillationsaparat
Von dieser Zeit an gehörte
er der Magdeburger Apothekerkonferenz und dem
Kreis Magdeburg-Halberstadt des Deutschen Apotheker-Vereins an. Sein
reges Interesse für alle
Standesfragen, sein klares
Denken und seine Art der
Rede lenkten bald die Aufmerksamkeit der Kollegen
auf ihn, und so nahm es
dann nicht wunder, dass
ihn die Kollegen zu dem
verantwortungsvollen
Posten eines ApothekenRevisors vorschlugen.
Dieses Vertrauen hat
Labor vor 1971
Runge in vollem Maße
gerechtfertigt. Durchaus nicht kleinlich, sondern als gerechter Beamter hat er stets die Würde des Standes
als obersten Grundsatz im Auge gehabt. In den Sitzungen der Magdeburger Apotheken-Konferenz hat er
des öffteren über die ihm besonders häufig vorkommenden Monita [Beanstandungen] berichtet und in seiner
offenen geraden Art die Kollegen zu beeinflussen gewusst, dass sie alles daran setzten, ihre Apotheken in
mustergültigem Zustand zu haben.
So kann auch unser verehrter Kollege Runge an seinem
heutigen Jubeltage es auf sein Konto buchen, dass in
unserem Bezirk die Apotheken sich durchschnittlich in
einem sehr guten Zustande befinden.
Das Interesse an unseren Standesfragen blieb auch das
gleiche, als er am 1. 11. 1905 nach Verkauf seiner Apotheke in Groß-Rosenburg die alte Wockowitz‘sche
Hof-Apotheke in Wernigerode kaufte. Aber nicht nur
als Revisor, sondern auch in anderen Ämtern hat sich
Runge stets bewährt. Seit dem Jahre 1910 ist er ordentliches Mitglied der Apotheker-Kammer der Provinz
Sachsen, der er schon 6 Jahre lang als stellvertretendes
Mitglied angehört hatte. Möge auch sein Sohn, der ihm
schon so viel Freude im Apothekerberuf machte, wenn
er demnächst die väterliche Apotheke übernimmt, seinem Vater nacheifern. Wir aber danken unserem Kollegen Runge für die viele Arbeit, die er in diesen letzten 25
Jahren für uns geleistet hat und wünschen ihm, dem immer Jugendlichen, dass es ihm noch viele Jahre vergönnt
sein möge, unsere Interessen zum Wohle unseres Standes zu vertreten.”
Franz Runge war in Wernigerode eine bekannte Persön
lichkeit, auch bekannt als „der schöne Franz”. Er war sehr selbstbewusst, hatte ein „scharfe
Zunge”, die ihm der Legende nach einmal beinahe ein Duell eingebracht haben soll.
Alte Presse
Ein andermal ratschte er in bierseliger Abendlaune
mit seinem Spazierstock die Rolläden herunter. Der
Lärm brachte ihm eine Bußgeld von 5 ,- M ein.
Prompt beantragte er Ratenzahlung.
Er galt aber auch als sehr großzügig.
Als Mitglied der Prüfungskommission prüfte er
auch Ilse Brand, seine zukünftige Schwiegertochter,
im pharmazeutischen Vorexamen. Als die junge
Dame ihm nach bestandener Prüfung
freudestrahlend um den Hals fiel, vermuteten die
anderen Herren Schlimmes. Aber er soll nur lässig
gesagt haben: „Meine Herren, darf ich Ihnen meine
zukünftige Schwiegertochter vorstellen”.
Den Nachtdienst – jeweils umschichtig mit der
Raths-Apotheke – verbrachte er gerne vom gegenüber gelegenen „Deutschen Haus” aus, vor dem man
so schön draußen sitzen konnte.
Franz Runge starb nach kurzer, schwerer Krankheit
am 16. 2. 1932 im Alter von 63 Jahren in Wernigerode,
nur 4 Jahre nach der zitierten Jubiläums-Laudatio.
„Riesenmörser“
2. Generation: Günter Runge (1932 – 1971) (39
Jahre)
Günter Runge wurde am 11 .2. 1903 in Groß Rosenburg geboren und kam mit knapp drei Jahren nach
Wernigerode. Hier besuchte er die Mittelschule und
anschließend das humanistische Fürstlich Stolbergsche Gymnasium bis zu Abitur 1921.
Anschließend war er in der väterlichen Apotheke als
Praktikant tätig. 1923 bestand er das pharmazeutische Vorexamen in Magdeburg mir „sehr gut”.
Anschließend arbeitete er dann ein Jahr lang in der
Löwenapotheke in Magdeburg als „Vorexaminierter”.
Von 1924 - 1926 studierte er, wie sein Vater, in Jena
Pharmazie, bestand dort das pharmazeutische
Staatsexamen mit „gut” und erhielt seine Approbation als Apotheker am 6. 6. 1928.
Günther Runge
Bis September 1926 arbeitete er zunächst in der
väterlichen Apotheke, dann in zwei Hamburger
Apotheken (Holsten- und Sonnen-Apotheke) und
ab 1931 in der Raths-Apotheke Dr. Blell in
Magdeburg.
In dieser Zeit heiratete er am 19. 9. 1931 in Halle
seine Jugendliebe, die Krankenschwester Erika
Schollmeyer. Beide hatten schon mit 16 Jahren in
Wernigerode zusammen die Tanzstunde besucht.
Nach dem Tod des Vaters waren dann beide vom
1. 3. 1932 an in Wernigerode, um die väterliche
Apotheke zu übernehmen.
Günther Runge
Hier wurden 1934, 1937 und
1940 ihre drei Töchter Ursula,
Ingeborg und Brigitte geboren.
Der einzige Sohn, 1941
geboren, blieb leider nur 2
Wochen am Leben.
Brigitte
Ingeborg
Ursula
Der ältere Bruder Walter konnte
die Apotheke nicht übernehmen,
da er kein Apotheker war. Er promovierte als Volkswirt mit
„summa cum laude” allerdings
über das Thema „Die Lage des
Apothekengewerbes in Deutschland unter der Herrschaft des
Konzessionssystems, mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Preußen”.
Günter Runge war Mitglied im
Deutschen Apothekerverein ab 2.
6. 1932, in der deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft und im
Germanischen Nationalmuseum
in Nürnberg. In Wernigerode trat
er dem Harzklub und dem Verschönerungsverein bei. Günter
Historisches Pflanzenbuch
Runge wurde ein richtiger Harzer, der die Natur liebte. Als großer Naturfreund wanderte er
viel mit der ganzen Familie und zeigte und erklärte seinen Kindern schon frühzeitig die Harzer
Pflanzenwelt.
1938 feierte er das 200-jährige
Apothekenjubiläum.
Aus diesem Anlass ließ er
den handgeschmiedeten
Ausleger am Apothekengebäude anbringen, der auch
heute noch hoch neben dem
Hauseingang hängt,
schon damals mit dem Hirsch-Wappen
geziert, allerdings wurde 1950 das Wort
„Hof” durch die Darstellung eines Hirsches
ersetzt.
Günter Runge arbeitet
schon damals mit der
Apotheken-Buchstelle in
Magdeburg zusammen,
deren Nachfolgeeinrichtung die heutige Treuhand
Hannover GmbH ist.
Günter Runge hatte nach
1945 als Privatapotheker
sehr schwierige Zeiten
durchzustehen. Er war
gewohnt, seine Warenbestellung abends in den
Briefkasten zu stecken um
am nächsten Tag – z. B.
von der Fa. Kehr aus Halberstadt –, beliefert zu
werden. Dieses System
der Warenbelieferung änderte sich grundlegend.
Die zeitlichen Abstände der Lieferungen verlängerten sich, erst auf zweimal, dann auf nur
einmal pro Woche, so dass das Warenlager stark erhöht werden musste.
Offizien vor 1971
Natürlich brachte das
finanzielle Probleme mit
sich. Da er ein absoluter
Gegner des Schuldenmachens war, steckte er
jeden Pfennig in die Apotheke und kündigte sogar
vorfristig seine Lebensversicherung. So schaffte
er es, seine Apotheke zu
erhalten. Es kamen dann
auch wieder bessere
Zeiten.
1949 wurde er anonym in
einem Artikel „Unter der
Lupe“ vom 1. 10. in der
Volksstimme scharf angegriffen wegen des
Die Hof-Apotheke in der Burgstraße
Namens seiner „Hof“Apotheke: „Im schönen Städtchen Wernigerode gibt es eine Hof-Apotheke. Das ist keine Apotheke, die
sich nicht auf dem Hof befindet, sondern einmal in dunkler Vorzeit den fürstlichen Hof belieferte. Wie
doch die Menschen an alten Überlieferungen hängen, auch dann, wenn diese Überlieferungen nichts
wert sind! Aber haben nicht noch viele Menschen ihre Hof-Apotheke im Kopf?
Denken sie nicht noch
gerne an eine Zeit, die
uns Schritt für Schritt
dem Faschismus in die
Arme trieb, die das
Unglück heraufbeschwor, das wir wiederum nur Schritt für
Schritt überwinden
können? Begann nicht
auch die Zeit nach
dem 1.Weltkrieg mit
solchen Traditionen,
mit Krieger- und
Schützenvereins-Rummel, mit Paradeschritt
und Militärmusik?
Wir sollen doch aus
den Fehlern der VerDie Hirsch-Apotheke im Jahr 2000
gangenheit lernen und
nicht Traditionen pflegen, die Keimzellen des Unglücks sind. Nicht wie in der Vergangenheit den Höfen,
sondern wie in der Gegenwart der werktätigen Bevölkerung gedient wird, darauf kommt es an. Nicht
wahr, liebe Hof-Apotheke?“
Darauf setzte ein Kesseltreiben
ein. Schreiben von Gesundheitsamt und Gewerbelenkung
des Rates des Landkreises Wernigerode und vom Rat der Stadt
– Liegenschaftsamt – trafen ein
und forderten eine Namensänderung. Man rät ihm zu „BurgApotheke“. Günter Runge entschließt sich aber zu dem Namen „Hirsch-Apotheke“, weil
der Hirsch als Wappentier des
Fürstenhauses im Inneren der
Apotheke, in der Offizin, über
der Tür zum Büro und außen im
Ausleger bereits vorhanden ist.
Damit bleibt die Tradition der
Hof-Apotheke gewahrt. Ab 1950
gilt also der offizielle Name
Die Hirsch-Apotheke im Jahr 2005
„Hirsch-Apotheke“.
1961 wurde Günter Runge der Titel „Pharmazierat“ verliehen „In Anerkennung langjähriger Tätigkeit
und vorbildlicher Leistungen auf dem Gebiet der Pharmazie“. Er war zu dieser Zeit fast 30 Jahre Inhaber
der Apotheke. Er spöttelte damals gern und meinte „Die Räte-Republik ist ausgebrochen“, denn es gab ja
auch noch Medizinalräte, Sanitätsräte u.a. Räte. Oder er verballhornte den Titel zu „Pharmazies‘chenRat“. Zies’chen nannte man in alten Zeiten die von ihm besonders geschätzten Bockwürste von Würstchen-Heine in Halberstadt.
1968 erkrankte Günter Runge, so dass er bald seiner
Leitungstätigkeit in der Apotheke kaum noch nachkommen konnte. Glücklicherweise konnte seine jüngste Tochter Brigitte, die seit 1966 als seine Stellvertreterin mit ihm zusammenarbeitete, seine Aufgaben
so weit nötig übernehmen. So änderte sich nach außen
hin nichts an dem Betrieb der Apotheke, bis Günter
Runge am 4. 3. 1971 verstarb. Am 1. 4. 1971 begann
dann offiziell mit Brigitte die dritte Runge- Generation.
3. Generation: Brigitte Runge (1971 – 2005) (34 Jahre)
Brigitte Runge wurde am 26. 5. 1940 in Wernigerode
geboren. Sie besuchte von 1946 bis 1954 die ThomasMüntzer-Schule und anschließend die GerhartHauptmann-Oberschule in Wernigerode bis zum
Abitur 1958. Da sie wie ihre beiden älteren Schwestern nicht zum Studium zugelassen wurde (beide
gingen schließlich nach West-Berlin um Pharmazie
(Ingeborg) bzw. Medizin (Ursula) zu studieren), begann sie am 1. 9. 1958 in der väterlichen Apotheke die
Lehre als Apothekenhelferin. Sie besuchte die kaufmännische Berufsschule „Sophie-Scholl“ in Halberstadt und bestand die Abschlussprüfung 1960 mit der Note „1“.
Brigitte Runge
Während des ersten Lehrjahres bewarb sie sich 1959
nochmals an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg für das Pharmaziestudium und erhielt auf
Grund der gerade herrschenden „Weichen Welle“ die
Vorimmatrikulation für das Studienjahr 1960. So konnte sie am 1. 9. 1960 das Pharmaziestudium aufnehmen.
Das erste Studienjahr (Vorpraktikum) absolvierte sie in
der Löwen-Apotheke in Halle. Der Chef der Apotheke,
Dr. Alfred Steinbicker, hatte seinerzeit sein Praktikum
beim Großvater Franz Runge gemacht. Die praktischen
und menschlichen Erfahrungen aus den zwei Lehrjahren
beim Vater und der phantastische Chemie-Unterrricht
in der Berufsschule kamen ihr sehr zugute. So waren die
beiden Lehrjahre keine verlorene Zeit. 1965 bestand sie
das Staatsexamen mit der Note „gut“.
Nach dem Kandidatenjahr 1960/61 in der Apotheke am
Käthe-Kollwitz-Platz in Halberstadt erhielt sie im September 1966 die Approbation als Apotheker. Ab 1966
arbeitete sie dann als stellvertretende Apothekenleiterin
in der väterlichen Apotheke in Wernigerode. So hielt sie
den Eltern vor Ort die Treue, während ihre Schwestern
in „Afrika und Amerika“ lebten: Ingeborg war 1963,
Die Apotheke vor 1971
nach dem Studium der Pharmazie in Marburg, ihrem
amerikanischen Verlobten in die USA gefolgt, Ursula lebte mit ihrer Familie 1965 – 1969 in den
Usambara-Bergen / Tansania.
Nach dem Tode von
Günter Runge im März
1971 stellte Brigitte beim
Rat des Kreises – Abteilung Gesundheitswesen –
den Antrag auf private
Übernahme der Apotheke.
Zum 1. 4. 1971 wurde ihr
zunächst die Leitung des
Betriebes bis zur endgültigen Klärung der Leitungsverhältnisse übertragen.
Die erste Reaktion auf
ihren Antrag erhielt sie
nach 4 Monaten im September 1971. Ein mit dunkler Sonnenbrille versehener Mitarbeiter der Abteilung Gesundheitswesen
Offizien vor 1971
überbrachte ihr eine kurze
schriftliche Mitteilung, dass sie mit einer Genehmigung des Antrages nicht rechnen könne. Auf ihre Frage
nach der Begründung hieß es, man wolle eben keine Privat-Apotheken mehr. Nach vielen Verhandlungen
mit dem Rat des Bezirkes, dem Finanzamt und viel Ärger mit dem Wohnungsamt wurde die Hirsch-Apotheke zum 1. 1. 1972 in das staatliche Apothekenwesen übernommen.
Gleichzeitig wurden Haus
und Grundstück an den
Rat des Kreises, Abt. Gesundheitswesen, verkauft.
Brigitte Runge wurde als
Leiterin der Apotheke eingesetzt. Gleichzeitig wurde
der Witwe von Günter
Runge Wohnrecht auf
Lebenszeit und Brigitte
Runge das Wohnrecht im
Hause für die Dauer ihrer
Tätigkeit im Apothekenwesen des Kreises eingeräumt.
Von 1973 - 1975 fand ein
großer Umbau statt: ein
Hintergebäude wurde abgerissen, das Innere des
Offizien vor 1971
Hauses weitgehend um gestaltet. Drei große Schornsteine wurden abgerissen, ein neuer gebaut, Eingangsbereich, Offizin, Treppenhaus und Wohnung wurden gründlich verändert und eine Gas-Zentralheizung
eingebaut. Viele Wernigeröder Firmen waren daran beteiligt. In der Bauzeit wurden die Räume der heutigen
Arztpraxis provisorisch für die Apotheke genutzt, es waren zwei Jahre mit großer Belastung für Belegschaft
und Bewohner, aber es gab keine längere Schließung.
Am 3. November 1975 wurde die modernisierte Apotheke mit völlig neuer Einrichtung wieder eröffnet.
Das Apothekenwesen veränderte sich im Laufe der
Jahre, zunächst wurde es 1975 zum „Versorgungszentrum für Pharmazie und Medizintechnik Wernigerode“, dann zum „Pharmazeutischen Zentrum Wernigerode“. Damit wurden Möglichkeiten für selbständige Entscheidungen der Apothekenleiter immer
mehr eingeschränkt, sie erhielten die Position von abhängigen Abteilungsleitern. Sogar die Etiketten für
individuelle Rezepturen wurden abgeschafft. Sie enthielten nicht mehr den Apotheken-Namen, nur
„Pharmazeutisches Zentrum Wernigerode“ und eine
Nummer (die Hirschapotheke war Nr.11).
Sozialistischer Wettbewerb und der Kampf um den
Titel „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ waren
angesagt. Ein Zeugnis dafür geben die Brigadebücher, die jährlich zur Beurteilung eingereicht werden
mussten.
Offizien 2005
Am 8. 11. 1987 feierte die
Hirsch- (Hof-)Apotheke
ihr 250-jähriges Bestehen.
Es wurde ein großer Tag
mit vielen Gratulanten für
die Apotheke und mit vielen Überraschungen für die
Patienten. Mitarbeiterinnen hatten Johanniskrautöl, Ringelblumensalbe, Majoranbutter, ein
Schnäpschen und die berühmten Morsellen hergestellt. Kleine Standgefäße
und Schraubgläser wurden
mit Gewürzetiketten versehen und verkauft. Alte
Geräte wurden ausgestellt
und für das leibliche Wohl
gesorgt.
Gitzes Belegschaft 1987
Zwei Jahre danach kam „die Wende“. Brigitte Runge reichte am 14. 3. 1990 als erste im Kreis Wernigerode beim Kreisapotheker den Antrag auf Privatisierung der Hirsch-Apotheke ein und stellte im
Rathaus am 17. 4. 1990 den Antrag auf Rückkauf des Hauses.
Letzteres gelang ihr zum 19. 6. 1990, 14 Tage vor der
Währungs-Union. Die Apotheke konnte sie von der
Treuhand Berlin zurückkaufen und ab 1.10.1990 als
erste Wernigeröder Apotheke wieder privat führen.
Die Mitarbeiterinnen wurden selbstverständlich alle
übernommen.
Die Monate bis zur Privatisierung waren sehr turbulent und aufregend und würden, in allen Einzelheiten
erzählt, für sich ein ganzes Buch füllen. Die Familie
stand ihr dabei immer treu zur Seite. Besonders hilfreich war dabei z.B. der Verzicht beider Schwestern
auf ihr Erbteil bereits zu DDR-Zeiten.
1991 begann noch einmal eine rege Bautätigkeit:
Erneuerung der Heizung (aus einer wurden drei mit
einem Bruchteil des Gasverbrauches), Umbau der
Räume für die Arztpraxis, Errichtung eines Zwischenbaus zwischen Nebengebäude und Haupthaus, Erneuerung der sanitären Anlagen, Umbau und Verlegung
von Rezeptur und Labor, Neugestaltung der Offizin
und der anschließenden Räume, Einbau eines Aufzuges, Neugestaltung von Büro einschl. Nachtdienstzimmer, Frühstücksecke und Apothekenküche.
Die Apotheke im Jahr 2005
Am Ende war alles verändert, Haus und Hof in das Schmuckstück verwandelt, das wir heute vorfinden.
Im Mai dieses Jahres wurde Brigitte Runge 65 Jahre
alt und übergab die Apotheke zum 1.6. an ihre
Nichte Dr. Christina Schlage und damit an die
4. Generation der Familie Runge. Nach 40 Jahren
bewegten Apothekerdaseins mit vielen einschneidenden Veränderungen genießt sie nun seit 5 Monaten den wohlverdienten Unruhestand.
4. Generation: Dr. Christina Schlage (ab 2005 )
Christina Schlage wurde am 1. April 1966 in Bumbuli / Tansania geboren. Ihre Mutter, Ursula
Schlage, geb. Runge, älteste Tochter von Günter
Runge, hatte während ihres Medizin-Studiums in
West-Berlin 1958 den Chemie-Studenten Christopher Schlage kennengelernt, den sie 1960 – standesamtlich in Saarbrücken und kirchlich in Wernigerode – heiratete. Mit ihm ging sie schließlich nach
Tansania wo ihr Mann als Lebensmittelchemiker
von 1965 bis 1969 am Aufbau eines Forschungs- und
Entwicklungsprojektes beteiligt war. Dort wurde
dann auch als drittes von vier Kindern in Bumbuli
(Usambara-Berge) ihre Tochter Christina geboren.
Dr. Christina Schlage
Nach dem Besuch verschiedener
Schulen in Deutschland beendete
Christina Schlage ihre Schulzeit
1985 mit dem Abitur am Gymnasium Osterholz-Scharmbeck bei
Bremen. Auf ein Freiwilliges
Soziales Jahr folgte 1986 in
Frankfurt/Main ihre Ausbildung
zur Krankenschwester, als die sie
anschließend 1 Jahr lang am RotKreuz-Krankenhaus in Bremen
arbeitete.
Ihr anschließendes Pharmaziestudium in Würzburg 1990 - 1995
unterbrach sie für 1 Semester mit
einem Praktikum in der Krankenhaus-Apotheke eines MissionsHospitals im Süden Tansanias,
nach dem Studium absolvierte sie
Gitzes Belegschaft 2005
ihr praktisches Jahr 1995/6 an der
Krankenhausapotheke des Royal London Hospital und in der St. Laurentius-Apotheke in Zell/Main.
Ihre Approbation erhielt sie 1996.
Nach einem Jahr an der St. Sebastian-Apotheke in
Eibelstadt bei Würzburg begann sie 1997 einen vom
Deutschen Akademischen Austauschdienst
finanzierten Forschungsaufenthalt in Soni/Tansania,
ganz in der Nähe ihres Geburtsortes, um in enger
und vertrauensvoller Zusammenarbeit mit lokalen
Heilern traditionelle Heilpflanzen und
Informationen über ihre Anwendungen zu sammeln.
Daraus resultierte ihre Dissertation als Stipendiatin
des Evangelischen Studienwerkes Villigst am
Institut für pharmazeutische Biologie über
ethnobotanische, phytochemische und biologischpharmakologische Untersuchungen von Heilpflanzen
der Usambara-Berge, mit der sie 2002 mit „Magna
cum laude“ promoviert wurde.
In Freiburg lernte sie auch beim gemeinsamen Singen
in einem Kammerchor den Mathematiker JanChristoph Puchta kennen, den sie 2002 heiratete.
Das „Schaufenster“ der Apotheke 2005
Seit 2002 arbeitete Dr. Christina Schlage bereits in
Teilzeit in der Apotheke ihrer Tante Brigitte Runge.
Mit deren Ausscheiden aus dem aktiven Erwerbsleben übernahm sie in vierter Generation die Leitung
der Hirsch-Apotheke in Wernigerode am 1. Juni 2005.
Rückblick:
Vor Familie Runge gab es noch keine Familie, die in den fast 270 Jahren ihres Bestehens der Hof- bzw.
Hirsch-Apotheke über 100 Jahre und über vier Generationen die Apotheke führen konnte. Besonders
bemerkenswert erscheint dabei die Vielzahl der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die Hofbzw. Hirsch-Apotheke in den letzten 100 Jahren existierte:
1905 – 1919 (14 Jahre) Kaiserzeit (davon 4 ½ Jahre 1. Weltkrieg)
1919 – 1933 (14 Jahre) Weimarer Republik (Weltwirtschaftskrise, Inflation, Währungsreform!)
1933 – 1945 (12 Jahre) Drittes Reich/ Faschismus, davon 5 ½ Jahre 2. Weltkrieg)
1945 – 1971 (26 Jahre) als Privat- Apotheke in der Sowjetischen Besatzungszone/ der Deutschen
Demokratischen Republik (Währungsreform, Namensänderung)
1972 – 1990 (18 Jahre) als staatliche Apotheke in der Deutschen Demokratischen Republik
seit 1990
(bisher 15 Jahre) wieder privat geführte Apotheke in der Bundesrepublik Deutschland
(Währungsreform!)
Quellen:
(1) Chronik der Hof-Apotheke, Wernigerode (im Besitz der Raths-Apotheke Wernigerode)
(2) G. von Gynz-Rekowski, B. Runge: Chronik der Hirschapotheke anlässlich ihres 250-jährigen
Bestehens. Pharmazeutisches Zentrum Wernigerode 1988.
(3) Privat- Archiv der Hirsch-Apotheke, Wernigerode
(4) Privat- Archiv Familie Runge, Wernigerode
Offizin 2005
Verkauf von
Apothekenstandgefäßen zu
Gunsten der
Kirchturmuhr
der Liebfrauenkirche
Christina an ihrem eigenen Arbeitsplatz

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