4 - Jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Westfalen

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4 - Jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Westfalen
Niederschrift der Erinnerungen des Hauptlehrers i. R. Salomon Andorn in Krefeld, begonnen am 18. Mai 1937,
Maschinenschrift, Leo Baeck Institute Inc., 129 E 73rd ST, N.Y., N.Y. 10021
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Niederschrift der Erinnerungen des Hauptlehrers i. R. Salomon Andorn in Krefeld, begonnen
am 18. Mai 1937
Mein Vater war ein Viehhändler in dem hessischen Bauernstädtchen Gemünden an der Wohra. Er
blieb es auch, weil ihm Betriebskapital und Wagemut fehlten. Zumeist war er auf
Geschäftsgemeinschaft mit seinen Brüdern oder einem Vetter im wenigen Kilometer entfernten Wohra
angewiesen. Die Zusammenarbeit mit dem Vetter, der gleichzeitig auch des Vaters Schwager war,
währte am längsten und war wohl auch verhältnismäßig am ergiebigsten. Dieser Geschäftsteilhaber
und Geldgeber war ein wenig menschenfreundlicher Mann. Meinem Vater war er aufrichtig zugetan.
Überhaupt besaß mein Vater außerhalb seines Wohnortes in der weiteren und noch mehr in der
näheren Umgebung viele Geschäftsfreunde, die auch seine persönlichen Freunde waren. Er dachte
aber kaum oder überhaupt nicht daran, aus solchen Beziehungen Vorteil zu ziehen. Die anderen
verschmähten das nicht immer. Im ganzen war mein Vater ein geschätzter, beliebter Mann – bei
Juden und Andersgläubigen. Dazu kam eine streng religiöse Gesinnung, die bei mancherlei
freidenkerischen Äußerungen nichts Überliefertes unbeachtet ließ, ja noch verschärfte. Immerhin
besaß er genügende Duldsamkeit gegenüber der recht abweichenden Denk- und Handlungsweise
seines ältesten Sohnes, des Schreibers dieser Erinnerungen.
Meine Mutter war früh in die Ehe getreten. Sie entstammte einem ziemlich wohlhabenden Haus, das
allerdings vier Töchter zu versorgen hatte. Sie brachte ihrem Mann eine Mitgift von 500 Thalern zu,
eine für die Zeit um 1857 gar nicht so geringfügige Summe. Das Jahr 1856 war ein Hunger- und
Verarmungsjahr gewesen. Dreißig Jahre später, als er selbst drei heiratsfähige Töchter besaß, meinte
er einmal scherzhaft, wenn für keine der Töchter mehr als 500 Thaler aufzuwenden wären, sollten all
drei im gleichen Jahr heiraten. Es wäre ihm doch wohl schwer gefallen, 1.500 Thaler samt allem
Zubehör an Ausstattung aufzubringen. Indessen haben die Schwestern geheiratet, wenn auch alle
längst nicht in so frühem Alter wie die Mutter, die ständig Heiratspläne vertrieb.
Das Geld, das die Mutter in die Ehe brachte, wurde nicht, wie es vernünftig gewesen wäre, in den
Geschäftsbetrieb gesteckt, für den es zu jener Zeit wohl gereicht hätte. Es wurde auf den Erwerb
eines Hauses mit anschließender Stallung und Scheune, Dungstätten und eines Kellers unter einem
fremden Wirtschaftsgebäude verwendet. Für das Geschäft verblieb wenig oder nichts. Daher die
wirtschaftliche Gebundenheit des Vaters, von der eingangs gesprochen wurde.
Allerdings beanspruchte die Lebenshaltung in den ersten, noch kinderlosen Ehejahren äußerst wenig.
Im Hungerjahr 1856 konnte man, da die Futtermittel fehlten, für wenige Thaler Vieh erstehen. Durch
eine Sparsamkeit, wie man sie in jüdischen und bäurischen Häusern wohl nur zu jener Zeit geübt
haben mag und durch die Billigkeit des später so sehr begehrten und dadurch verteuerten
Landbesitzes, gelang es den Eltern nach und nach Äcker, Wiesen, Garten und anderes Land zu
erwerben Das Geschäft blieb klein, die Familie wurde groß. Sie umfaßte sechs Kinder. Doch das war
in jenen Tagen keine übermäßige Zahl. Es gab in der jüdischen Gemeinde nur etwa drei kleinere, aber
wohl ein Dutzend größere Familien.
Mit dem Heranwachsen der Töchter begann für die Mutter die Zeit der Sorgen. Am liebsten hätte sie
die Töchter so früh als möglich an den Mann gebracht. Es ist ihr zum Besten der Bedrohten erst spät
gelungen, aber doch gelungen. Sie wies zuweilen auf ihre »schöne Mischpoche« hin. Für die Töchter
war sie nicht so wählerisch wie Töchter und Söhne in Gegenwehr.
Krefeld – 19. Mai 1939
Lange Zeit ist vergangen, seitdem ich die Niederschrift meiner Erinnerungen ruhen ließ. Das
Schicksal, das in den letzten eineinhalb Jahren mit solcher Wucht auf die Juden in Deutschland
niederschlug, war in seinen seelischen Auswirkungen so überwältigend, daß das eigene kleine Leben
gar nichtig erschien. Im Augenblick ist so etwas wie eine Atempause eingetreten, scheint eingetreten – wie wird die Dauer
dieser gedämpften Not bemessen sein?
Meine Augen sind inzwischen so schwach geworden, daß ich da zuerst Geschriebene ohne Mithilfe
nicht mehr lesen könnte. Und selbst den Nächststehenden mag ich keinen Einblick in diese Seiten,
die ganz und gar keine »Denkwürdigkeiten« sind, gewähren. Sie mögen nach meinem Hingang
gelesen oder nicht gelesen werden. Eigentlich sollen sie für mich einen Überblick bilden.
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Niederschrift der Erinnerungen des Hauptlehrers i. R. Salomon Andorn in Krefeld, begonnen am 18. Mai 1937,
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Mein Bildungsgang
Ich besuchte bis zum vollendeten 14. Lebensjahr die jüdische Volksschule des Heimatstädtchens.
Selbst bin ich kein Musterlehrer geworden. Darum darf ich die unterrichtlichen Zustände nicht zu
scharf beurteilen. Außerdem mußte dies aus der Einwirkung der gesamten Verhältnisse jener Zeit, vor
allem aus der wirtschaftlichen Lage der jüdischen Lehrerschaft jener Zeit, gesehen werden. Sie waren
für den größten Teil der Religionslehrerschaft noch schlimm genug, als ich 30 Jahre nach meiner
Entlassung aus der Volksschule jenen viel gelobten Vortrag über »Die wirtschaftliche Lage der
jüdischen Lehrerschaft« /Verbandstag der jüdischen Lehrervereine im Reich, Dezember 1907) hielt,
und der dann als Sonderschrift erschien. –
Die kurhessischen jüdischen Lehrer waren damals vom Staat angestellt, aber von ihren Gemeinden je
nach deren Leistungsfähigkeit besoldet. Das hat sich erst Jahrzehnte später geändert und gebessert.
Mein Jugendlehrer war ein Mann nicht ohne Wissen, ja mit einem Anflug von Hochschulbildung, aber
ohne regelrechte Berufsbildung.
Sicher beseelt vom besten Willen, doch e hatte, wie fast alle Gemeindemitglieder, eine große
Kinderschar. Die konnte er mit seinen 120 Thalern Gehalt , die viel später auf 1.000 Mark erhöht
wurden, und mit den ihm im Herbst gespendeten Naturalien, den sonstigen geringen
Nebeneinnahmen aus der Gemeinde, nicht erhalten. Also mußte ein Nebenerwerb das Fehlende
bringen – und es fehlte viel.
Gerade der Geldmangel mochte ihm den Gedanken eingegeben haben, sich dem Geldhandel
hinzugeben. Er vermittelte für die größeren Sparer der Umgebung An- und Verkauf von Wertpapieren.
Das führe ihn zu oft an die nächstgelegene Börse und störte ihn überhaupt im Schulbetrieb. Es gab
Tage, an denen er fast viertelstündlich oder noch häufiger von seiner Frau aus dem schlecht
gelüfteten Schulzimmer, das in seinem Wohnhaus gelegen war, abgerufen wurde. Bald wollte der Herr
Baron, der Herr Amtsrichter, ein Bürgermeister aus dem Nachbardorf, ein reicher Bauer, ein
geldgesegneter Jude von außerhalb in Geldanlagen beraten sein. Das alles während der Schulzeit.
Die Kinder waren sich selbst überlassen und lärmten. Das rief natürlich den Zorn des wieder
eintretenden Lehrers hervor. Trotzdem durfte nicht gesagt werden, daß er nichts leistete. Doch diese
Leistungen waren einseitig, im wesentlichen auf Hebräisch und Rechnen beschränkt. Geschichte,
Erdkunde wurden kaum berücksichtigt, Naturwissenschaften gar nicht, Gesang sehr selten. So kam
es ...
21. Juni 1939
Zuletzt habe ich die Nöte und den Schulbetrieb eines Lehrers an einer jüdischen Landschule noch um
die Mitte der Siebziger Jahre geschildert. – Mein erster Lehrer stand geistig doch über dem
Durchschnitt seiner zahlreichen Berufsgenossen und erst recht seiner Gemeindezugehörigen. Gar
mancher der Lehrer war zurückgesunken in den Lebenstrieb eines kleinen Geschäftsmannes, der nur
ein Ziel kannte, Mitgiften zu sammeln und die Töchter möglichst vorteilhaft zu verheiraten. Das hat
mein Lehrer nicht zur Hautaufgabe gemacht. Darum blieben seine Töchter ohne Mann, so sehr sie ihn
verdient hatten. –
!4 Jahre alt, verließ ich die Schule ohne Formalität. Ich blieb einfach fort. Zuweilen begleitete ich den
Vater auf Märkte oder den Onkel auf Geschäftsgängen in der Nähe. Der Onkel, besonders später
mein Freund und Förderer, erklärte, ich sei zu Geschäften untauglich. Meine Mutter hörte das nicht
ungern. Das karge Los der Lehrers war ihr Ideal. Sie setzte es durch, daß ich in diese Laufbahn kam,
mit der ich mich, schon lange im Amte, nicht recht befreunden konnte. War eine Begabung in mir, so
neigte sie mehr zur Wissenschaft, vor allem aber zur Publizistik. Ich glaube, ich wäre kein allzu
schlechter Tagesschriftsteller geworden, hätte ich mich diesem Beruf ausschließlich widmen können.
Nicht zu unmündigen Kindern, zur Öffentlichkeit zu sprechen, drängte es mich schon in den eigenen
Kinderjahren. –
Ich habe in der Folge trotz der Anregung Wohlgesinnter, darunter auch einem verehrten Lehrer Dr.
Prager, nicht die Kraft gefunden, zum Hochschulstudium durchzudringen. Mir fehlten Lust und Mut,
jahrelange Entbehrungen auf mich zu nehmen. Studiert habe ich ja mehr als mancher Studierte. –
Im Herbst 1877 gelangte ich in die Präparandenschule zu Frankenberg an der Eder. Das wurde
dadurch ermöglicht, daß ich bei Verwandten fast kostenfreie Aufnahme fand. Die Familie der älteren
Schwester meines Vaters war nicht die geeignetste Umgebung. An den ständigen Kleinkrieg zwischen
uns trug sich nicht die alleinige Schuld. Wir hausten nicht zu lange unter einem Dach. Dann kam ich in
eine duldsamere Familie gegen billiges und doch für meinen Vater schweres Entgelt. Die Lehrer an
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der Präparandenanstalt, die eine sogenannte Rektoratschule war, wie sie manche kleine Kreisstadt
besaß, waren mit Ausnahme des Lateinlehrers, Lehrer der städtischen Volksschule, der Leitlehrer war
Stadtpfarrer, ein zugeknöpfter, mir aber besonders wohlgesinnter Mann. Ich kann auch von den
meisten Lehrern sagen, daß sie mir wohlwollten und mein Streben anerkannten, die weiten Lücken in
meiner Volksschulrüstung auszufüllen. Es war kein sonderlich eindrucksvoller Mensch unter ihnen.
Am meisten förderte mich der Deutschlehrer, der weniger Wissen als Lehrgeschick besaß. Der Rekor
war mein Gönner. Er hätte mir gern das Studium der Geschichte ermöglicht, hatte auch allerlei Pläne,
mir die Geldmittel zu verschaffen. Doch wollte ich »als stolzer Knab‘« nicht durch Unterstützung
heraufkommen, und meine Eltern hätten die Kosten nicht aufbringen können und wünschten, mich so
bald als möglich selbständig zu sehen. –
Ich hatte noch einen sonderbaren Freund mit ähnlichen Absichten wie die des Rektors – nur gingen
sie auf die geistliche Laufbahn-. Das war um so sonderbarer, als der Herr Landrat sich aus den
Geistlichen nichts machte, wohl aber den »geistigen Getränken« mehr als zugetan war. Es gab keinen
Beruf, zu dem ich weniger Eignung besessen hätte. Als später von jüdischer Seite ein gleiches
Ansinnen an mich herangebracht wurde, habe ich es in jugendlicher Unbesonnenheit schroff
abgelehnt: »das wäre das Letzte.« Ich habe dann auch in der Folge alle geistlichen Handlungen, wie
sie die meisten jüdischen Lehrer vollzogen, nicht übernommen. Die Weiterbildung in den
religionswissenschaftlichen Gegenständen sollte ich durch den jüdischen Volksschullehrer des
Städtchens erhalten. Er stand in solcher Übung weit hinter dem geplagten Lehrer meines
Geburtsstädtchens zurück. Einen Lehrer an der Rektoratsschule möchte ich nun doch etwas mehr
hervortreten lassen, - nicht wegen seiner Lehrerfolge. Auch er war ein Seltsamer. Er sollte uns
Jungen in Französisch, Geschichte und Erdkunde unterrichten. Diese Aufgabe erfüllte er recht
unzureichend. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, ging er tief in Gedanken und unbekümmert
um das, was um ihn geschah, im Schulzimmer auf und ab. Die Schüler lärmten. Er ließ sich in seinen
Spaziergängen nicht beirren. Wandte er sich endlich dem Unterricht zu, waren beide Parteien
zerstreut, machtlos die Schüler, machtlos der Lehrer. Griff er aber zu einer deutschen
Prosaübersetzung der Odyssee, dann wurde es mäuschenstill. Die Gestalten dieser Sagenwelt
wurden lebendig unter uns. Und fuhr endlich der vielgeprüfte Held mit Donnerstimme und Waffenprall
unter die nichtswürdige Schar der Prasser, dann pochte das herz und hüpfte vor freudiger Teilnahme.
Ich habe im Künstlerhaus zu Hannover den damals weltberühmten Schauspieler Holthaus lesen
gehört. Der war vor seinem Abmarsch zur Bühne auch Lehrer gewesen. Im Lesen aber kam er gegen
den einstigen Berufsgenossen in Frankenberg nicht auf, in meiner Wertung jedenfalls. Ein Kenner hat
mir einmal gesagt, daß Dichter und Schauspieler schlechte Leser seien. Meine eigene Erfahrung hat
das bestätigt. –
Unser Frankenberger war auch Schafzüchter, experimentierender Landwirt und Förderer des
Kolonialgedankens. Er stand mit den berühmtesten Afrikaforschern jener Zeit in schriftlichem Verkehr,
also kein berufener Lehrer, aber doch ein vielseitiger, wertvoller Mensch, der in Träumen Afrika
durchforschen half. Ich weiß nicht, ob er je in der Öffentlichkeit die Werke seiner Afrikaner gelesen
hat, das wäre eine Werbung sondergleichen gewesen.
Im Frühjahr 1879 verließ ich Frankenberg, um in Hannover die Vorbereitung auf den Lehrberuf
fortzusetzen.
2. Juni 1939
Es war ein großer Sprung von dem abgelegenen Landstädtchen nach der Großstadt, die kaum 13
Jahre vorher noch Königssitz gewesen und noch viele Spuren vergangener Herrlichkeit zeigte. In
einer kühlen Aprilnacht viele Stunden vor Tagesanbruch führte ein Bauernwägelchen, in dem
Strohbündel die Federung ersetzten, meinen Vater und mich zur nächstgelegenen, Wegestunden
entfernten Bahnstelle. 15 2/3 Jahre war ich alt und hatte die Eisenbahn bis dahin nur in Abbildungen
gesehen. Und nun so eine weite Reise nach der ebenfalls gewesenen Residenzstadt Kassel, dann
etwa in 5 ½ Stunden nach Hannover, alles natürlich vierter Klasse. Eine höhere Wagenklasse war für
uns unerschwinglich. Die vierte entbehrte der Sitzgelegenheiten und aller Einrichtungen, die eigentlich
nicht fehlen durften. Zum Glück führten wir den Holzkoffer mit, der meine Habe barg. Er bot uns und
anderen Gelegenheit zum Ausruhen. Schlimmer war es, wenn durch das Stampfen und Rütteln des
Wagens ein körperliches Bedürfnis uns anwandelte. Dann mußten die kurzen Haltezeiten auf den
endlosen Haltestellen zur unvollkommenen Erledigung benutzt werden in der steten Furcht, »das
Zügele« möchte davonfahren. In Hannover langten wir nach 14-stündiger Reisezeit an. Allerdings nach Amerika brauchte man
damals ebenso viele Tage. Vor unserer Ankunft hatte es stark geregnet. Die mit Asphalt oder
Holzpflaster belegten Straßen, wie wir sie noch nie gesehen, geschweige denn begangen hatten,
waren für uns ganz glitschig. Ich rutschte alle paar Schritte trotz meiner genagelten Schuhe aus.
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Schließlich gewöhnte man sich auch an das Straßenparkett. Ein freundlicher Jüngling, mein baldiger
und ausharrender Freund Leopold Strauss, Musterlehrer seines Zeichens, geleitete uns bei den
ersten Pflichtbesuchen. Sie galten dem Seminarleiter Professor Dr. Frensdorff und dem Kurator der
Bildungsanstalt, Landesrabbiner Dr. Samuel Meyer. War ich auch noch ein weltunkundiges
»Purenbüblein«, so fühlte ich doch sofort den Wesensunterschied zwischen dem abgeklärten, gütigen
Gelehrten Frensdorff und dem unwirschen und wenig freundlichen Träger des zugeknöpften
schwarzen Rockes sofort heraus. Die Verehrung, die ich Frensdorff und ganz besonders Dr. Prager
entgegenbrachte, habe ich auf den Landesrabbiner nicht übertragen können. Und ich stand damit
nicht allein. In einem Falle tat sich mir noch ein verwunderlicher Gegensatz zum bisherigen Erleben
auf. Meine bisherigen Lehrer waren erhabene Gebieter, die wohl nie oder äußerst selten an den
Schüler ein privates Wort verschwendeten. Auf dem ersten Gang zum Schulgebäude trafen wir Jünglinge einen untersetzten Mann mit mächtig
emporstrebendem Bauch, spitzer Nase und guten Augen. Er war unser Lehrer im Orach Chahim, der
bedeutende Talmudkenner J. Krimke. Die älteren Schüler schlossen sich ihm sofort an, stellten die
Neulinge vor und unterhielten sich mit dem Lehrer wie mit ihresgleichen. So was war für mich
unerhört. Allerdings hatte der gutmütige Talmudgelehrte zuweilen einen schweren Stand, den Übermut der
Knaben zu zügeln. Die Einrichtung in der Präparandenklasse war selbst für jene Zeit äußerst
rückständig, keine Pulte, nicht Gas- nicht Petroleumbeleuchtung. Wir saßen um einen langen Tisch
auf Bänken oder Stühlen in naher Fühlung. Eine gute Gelegenheit zum Unfug bot auch die
Beleuchtung durch tropfende Kerzen. Von den Radiergummis wurden Teilchen abgeschnitten und an
die brennenden Docht gelegt. Sie erzeugten einen fast unerträglichen Gestank. Am erfinderischsten
und unbändigsten in der Verübung solche Heldentaten war ein später recht bekannt gewordener
Führer der jüdischen Lehrerschaft. Manchmal konnte sich der Lehrer seiner nur erwehren, indem er
ihn unter allerlei Listen aus dem Unterrichtsraum entfernte. De ausgetriebene Übeltäter versäumte
auch nichts. Er war ein vorzüglich vorbereiteter und begabter Junge. Weil der an sich löbliche
Unterricht ihm nicht genug Unterhaltung bot, suchte er sie in kleinen Bosheiten, obwohl er von Natur
weniger dazu veranlagt war. Das Verhältnis zu den anderen Lehrern war echt verschieden, je nachdem sie sich zu behaupten
wußten. Mühelos gelang dies natürlich dem alten ehrwürdigen Gelehrten, dem Seminar-Oberlehrer
Dr. Frensdorff, dem in Fachkreisen wohlbekannten Maßoretiker. Er war ein grundgütiger bescheidener
Mann, der damals die Siebzig schon um Jahre überschritten hatte. Zuletzt vermochte er nicht mehr
wegen Gesichts- und Körperschmerzen den nicht weiten Weg zum Seminargebäude allein
zurückzulegen. Ein Schüler führte ihn. Professor Frensdorff starb in den Sielen. Er setzte seinen
Unterricht bis zu wenigen Tagen vor seinem Tode fort. Ich war sein Schüler in Tanach, in der
Übertragung und Erläuterung der biblischen Bücher, namentlich der prophetischen. In einer Stunde
nahm er nur wenige, drei bis vier Sätze durch. Er überströmte sie aber mit einer solchen Fülle
vielseitigstem Wissens, daß uns jede seiner Lehrstunden reichen Gewinn mitgab. Er mag wohl die
Mitte der siebziger Jahre erreicht haben, als er abberufen wurde, eine Gelehrtengestalt, die wohl kein
aufnahmefähiger Schüler vergessen haben kann. Seine Fächer übernahm im Seminar der zum
Direktor der Anstalt ernannte Dr. Isaak Prager. Er besaß natürlich nicht das allumfassende Wissen
Frensdorffs, aber eine äußerst seltene Lehrgabe. Von keinem meiner Lehrer bin ich so im Unterricht
gefesselt worden. Der sprödeste rabbinische Stoff gewann unter Pragers Behandlung und durch seine
Persönlichkeit Leben. Jede seiner Lehrstunden, namentlich die geschichtlichen, war uns zu schnell
beendet. Es war jammerschade, daß Prager seine Tätigkeit aufgab, als er in Hannover
unbegreiflicherweise nicht zum Landesrabbiner gewählt wurde. Ein bis zwei Jahre später berief man
ihn in solche Stellung nach Kassel. Er hat auch hier am Lehrerseminar einigen Unterricht erteilt, und
seine Kasseler Schüler rühmten seine Lehrtätigkeit nicht weniger begeistert als seine vormaligen
Jünger in Hannover.
27. Juni 1939
Mehr gelegentlicher Mitarbeiter an der Lehrerbildung war der Landesrabbiner Dr. Samuel Meyer. Er
unterrichtete hauptsächlich über Erklärungen zum Gebetbuch, einen Stoff, der in seiner Behandlung
trocken blieb. Zu den Seminaristen wußte er in kein rechtes Verhältnis zu gelangen. 17- 20-jährige
junge Menschen im Hochschulalter behandelte er wie Schulkinder. Und dagegen lehnten sich die
meisten dann nach Jungenart auf. Der Gedanke lag ihm fern, daß man werdende Männer zu sich
heraufziehen, sich nicht zu ihnen herunterlassen soll. Sicher meinte er es in seiner Weise gut: Sie war
aber nicht geeignet, sich Zuneigung und bändigendes Ansehen zu sichern, das er in anderer Schicht
besaß. Ich weiß nicht, ob er einen Aufruf in öffentlichen Blättern (Hannoversches Tageblatt z.B.) zur
Unterstützung notleidender Seminarzöglinge veranlaßte oder an ihnen duldend beteiligt war. Diese
übertreibende Aufforderung an die Mitglieder der jüdischen Gemeinde, die auf anderem, nicht
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öffentlichem Wege vorbereitet werden konnte, hat bei empfindsamen Gemütern unter den
Seminaristen Scham und Entrüstung hervorgerufen. Sie wirkte wie körperliche Bloßstellung. Vielleicht
aber war Dr. Meyer an dieser groben Taktlosigkeit unbeteiligt und die Ungeschicklichkeit unberufener
Helfer hat sie verübt. Eine prophetische Gabe hat der Landesrabbiner gezeigt, als er bereits im Jahre
1881 kommende Entwicklungen voraussagte als Prediger in der Wüste. Wir Schüler verlachten in
jugendlicher Verblendung die Befürchtungen, die wir und wohl auch die meisten gereiften Menschen
für ein Hirngespinst hielten, bis die Überlebenden dann grausam erwachten. Einige Rabbinatskandidaten und spätere Rabbiner unterrichteten mit nicht größerem Erfolg als Dr.
Meyer im Pentateuch und seinen Kommentaren, in anderen biblischen Teilen und in Mischna.
28. Juni 1939
Die gesamte pädagogische Unterweisung, der Unterricht in den deutschen und
naturwissenschaftlichen Gegenständen war dem Seminarlehrer und späteren Volksschulrektor
Wilhelm Drecktrahe übertragen. Er war ein Mann mit mächtiger Denkerstirne, wohltuender Klarheit,
aber ohne ausreichendes Wissen in Literatur und Naturwissenschaften. Man hatte ihm eben zu Vieles
und Verschiedenes aufgebürdet. Mit seinen Schülern verstand er sich gut. Nicht etwa, weil er es als
Nichtjude leichter gehabt hätte, das war ja bei den Fachlehrern auch nicht der Fall – sondern weil
seine Persönlichkeit Unterordnung gebot und weil er die künftigen Lehrer als solche behandelte. Er
war ein Meister in der Einführung in die Unterrichtserteilung in jener Zeit, dazu ein wohlgesinnter,
nachsichtiger Lehrer. Etwas Nachsicht mußte man ihm zuweilen selbst gewähren. Er liebte in jeder
Darstellung – Aufsatz oder Vortrag – den trockenen Ton, nicht aber bei Trinkgelegenheiten. Dem immer nüchternen Lehrer für Geschichte und Erdkunde hätte vielleicht ein Tropfen Alkohol nicht
geschadet. Vielleicht wäre dann sein Unterricht etwas beschwingter gewesen. Er zeichnet L. H.
Sommer, war ein kleiner, häufig kranker, leicht erregter Mann mit stark anschwellenden Stirnadern in
diesem Zustand. Er mochte in gesunden Tagen wohl ein verheißungsvoller Lehrer gewesen sein, daß
man ihn zur Ausbildung künftiger Genossen berufen hatte. Jetzt hielt er in Erdkunde z. B. streng
darauf, daß man sich den Stoff des Leitfadens genau einprägte. So bereicherte den Unterricht weder
Wissen noch Einbildungsvermögen. Im übrigen verstand es der kleine Mann, Übermütige in Schach
zu halten. Stets war sein Merkbuch gezückt, und es leistete bei Semesterzeugnissen und bei
Prüfungen dem Inhaber Dienste, die dem Angemerkten unerwünscht sein konnten. Die Fachlehrer für
Zeichnen, Gesang und Turnen waren Nichtjuden. Sie gaben sich redliche Mühe. Ihre Aufgabe war
nicht immer leicht und erforderte Geduld und Ruhe. –
Wir hatten auch einen Schreiblehrer. Eigentlich sollte der bejahrte, ehrwürdig aussehende Herr Jüdel,
der mehr untergeordnete Pflichten in der Gemeinde wahrzunehmen hatte, uns in die
Unterrichtserteilung im Schreiben einführen. Er ließ es aber beim Einzelunterricht in längst veralteter
Schreibweise. Er kam dem »Original« sehr nahe. In seinen Unterrichtszeiten fehlte stets unter
irgendwelchen oder auch keinen Entschuldigungen ein erheblicher Teil der Schüler. Oft waren die
Bänke nur von Zweien besetzt. Rückten die dann mit den Ellbogen in Kampfeslaune zusammen, und
Herr Jüdel merkte es, dann hielt er eine Standpauke etwa von folgender Art: Es gingen einmal zwei
Juden durch die Lüneburger Heide. Es wurde Nacht, und sie legten sich zum Schlafen nieder. Sagte
der eine zum anderen: »Du, mach mir etwas Platz.« Herr Jüdel hatte auch noch andere, belustigende
Sprüche. Zuweilen kam der gütige Professor Frensdorff in den Unterricht seines Schreiblehrers und
erkundigte sich freundlich: »Nun, Herr Jüdel, was machen unsere Kinderchen?« Da brach der Alte los:
»Schöne Kinderchen die« und es folgte ein Strom von wenig schmeichelhaften Beiwörtern. Einmal
haspelte er mit einer Hast, in welcher der Megillaleser die Namen der Hamanssöhne vortragen muß,
die Amts- und Namensbezeichnungen der Leiter und ordentlichen Seminarlehrer herunter: »Sie sind
alle Direktoren und taugen alle nichts. Es ist keine Tinte da.« Herr Jüdel erteilte auch den Unterricht im
Schächtfach. Dem habe ich, wie einem noch zu erwähnenden Gegenstand, nie beigewohnt. Die
Teilnehmer aber wußten den Nichtbeteiligten allerlei Kernsprüche des alten Herrn zu übermitteln – zu
deren großer Erheiterung.
Am Samstag nach dem Frühgottesdienst war Unterricht im Vorbeten angesetzt. Ich bin nur einmal
dazu erschienen, nicht im Unterrichtsraum, sondern an der Treppe, die zu ihm führte, ahmte den Ruf
der Straßenhändler nach und verschwand für immer. Als ich nun doch
- gegen Neigung und Befähigung – für Jahre den Vorbeter machen mußte, habe ich diese
Unterlassung recht empfunden. Mit Sprachkenntnissen und anderem Zusatzwissen war da nichts zu
machen. Doch auch diese unzureichende und für mich unerfreuliche Leistung nahm nach 9 ¼ Jahren
ein Ende.
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2. September 1939 (9. Tischri 5700)
Seit Monaten ließ es meine Unlust nicht zu, diese Darstellungen aus meinem Leben, die für die Enkel
bestimmt sind, fortzusetzen. Sie erscheinen den Welt umgestaltenden Vorgängen gegenüber so
unendlich klein, daß es zweifelhaft erscheint, ob ich sie je wieder aufnehmen werde.
Dann lebt wohl Ihr geliebten Kinder und Kindeskinder.
Krefeld, 9. September 1940
Ein Jahr und eine Woche sind vergangen, seit ich die Niederschrift meiner Lehrer-Erinnerungen ruhen
ließ. Die Gründe für die damalige Unterbrechung bestehen verstärkt weiter. Die Umgestaltung der
politischen Verhältnisse in Europa hat ungeahnte, ungeheuerliche Ausmaße angenommen. Und die
Umwandlung wird sich nicht auf Europa beschränken. Noch aber sind die Dinge im Fluß – ein
reißender, rasender Strudel – und noch ist kein Ende abzusehen. Da will ich mich in ruhigen Minuten
meinen Erinnerungen wieder zuwenden. Sind sie auch von geringster Bedeutung, so wirken ihre
Aufzeichnungen doch ablenkend. Mein Enkel mag sie lesen, wenn er einmal Zeit und Neigung dafür
findet und wenn er dann die Muttersprache noch genügend beherrscht, oder er mag das Gechreibsel
seines jetzt 77-jährigen Großvaters ins Feuer werfen. Übrigens habe ich für ihn auch Bilder des
jüdischen Heimatlebens in meiner Kinderzeit niedergeschrieben. Ob ihm beide Aufzeichnungen je zu
Gesicht kommen mögen? Wenn nicht, hat er oder sonst wer, nichts verloren. Für mich aber war es ein
Zeitvertreib in so vielem müßigen, eine Ablenkung eine Ablenkung in gedankenschweren,
bedrückenden Stunden.
Das bis zur Unterbrechung Niedergeschriebene kann ich wegen Sehschwäche nicht nachlesen und
mag damit auch keinen anderen, auch keinen Nächststehenden betrauen, weil ich den Inhalt nicht
vorzeitig bekannt geben will. –
Ich hatte wohl zuletzt die Lehrerschaft der Lehrerbildungsanstalt besprochen. So soll nun das Gleiche
mit ihrer Schülerschaft geschehen. Als ich zu Ostern 1879 in die Vorbereitungsschule (Präparandie)
eintrat, war ich nicht wenig erstaunt, unter den Seminarbesuchern auch Männer zu sehen, den Jahre
nach reife Menschen, die hier die notdürftige Ausrüstung für einen neuen Broterwerb suchten. In dem
früheren Beruf oder auch Berufen waren sie gescheitert. Sie waren zum Teil schon Familienväter, zum
Lernen zumeist wenig geeignet oder unlustig. Sie wollten sich dem geldlich mehr lohnenden
Kantorenfach zuwenden. Und weil vielfach der Befähigungsnachweis für Religionsunterricht damit
verbunden war, so suchten sie diesen im Seminar zu erlangen. Es waren stimmbegabte Leute unter
diesen »Seminaristen«. Wir Knaben hatten keinen Einblick in das Privatleben dieser bärtigen
gesellen. Was doch daraus zu uns durchsickerte, erregte unsere Verwunderung und andere
Empfindungen. Vorbilder für heranwachsende Jugend und künftige Lehrer waren diese Schüler nichtoder doch mit seltener Ausnahme. Einer oder zwei waren unter ihnen, an deren Geistesklarheit man
zweifeln durfte. Was aus dem meisten geworden ist, weiß ich nicht. Ob sie bei aller stimmlichen
Begabung Männer geworden, Zierden ihres Standes und ihrer Gemeinde wie die bedeutenden
Kantoren vieler Großstädte, ist mir auch nicht bekannt. –
Mit dem Direktorat Dr. Pragers hörte dieser Zuwachs aus dem Osten auf. Prager selbst stammte aus
dem Vorland des Ostens, aus Oberschlesien, in Haltung und Neigung, in seinem ganzen Wesen aber
verriet sich nichts, was auch nur an den »Ostländern« unliebsam auffiel. Er war ein Mann, der allen
gefiel, ohne daß er sich darum zu bemühen brauchte. Zu Ende meiner Seminarzeit 1883 waren die
vorstehend gekennzeichneten Erscheinungen völlig ausgemerzt. Ich nehme an, das war ein Verdienst
des Direktors Dr. Prager, dem alle Äußerungen östlicher Gepflogenheit zuwider waren. In einigen
Fällen traten auch Studierende, die den Hochschulbesuch nicht fortführen konnten, als Hospitanten in
das Seminar ein, Leute, die keinen Anstoß erregten und durch ihre Fortgeschrittenheit zur
Nacheiferung anspornten. –
Die Schüler von Vorbereitungs- und eigentlicher Lehrerbildungsanstalt kamen in der Mehrheit aus
Volksschulen und hatten eine weitere Vorbereitung durch privaten Unterricht erhalten. Eine Anzahl
auch hatte in höheren Schulen den Berechtigungsschein zum einjährigen Dienst erworben oder war
auch noch darüber hinaus gelangt. Diese Schüler waren den Lerngenossen aus Volks- und
Mittelschulen an fremdsprachlichen Kenntnissen voraus, waren den besseren »Volksschülern« sonst
aber keineswegs überlegen. Immerhin befähigte sie die Fremdsprache, im späteren Leben ihr
Einkommen durch Unterricht in Englisch, Französisch und Latein oder durch Nachhilfe in diesen
Schulfächern zu steigern. Die Volksschüler waren nicht durchweg bessere, d. h. begabtere. Im
Gegenteil. Ein Teil von ihnen erschien den Lerngenossen nicht in der Lage, das Ziel zu erreichen –
und daß es ihnen gelang, verdanken sie der Nachsicht ihrer Lehrer, dem jüdischen »Rachmonus«.
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Eine Entwicklung nach der Schule wird aber häufig beobachtet und mag in manchen Fällen
offensichtlich eingetreten sein. –
Es war ein befriedigender geistiger Durchschnitt vorhanden, geeignet, die Aufgaben in den meist
kleinen Schulen und die Führung in den Gemeinden zu übernehmen, die geistige wenigstens, die
andere ließen sich ämter- und herrschaftsbegierige Gemeindemitglieder nicht leicht aus Händen
winden. Die Zahl der Mitschüler, welche die anderen um Haupteslänge überragten, war naturgemäß
gering. Ich nenne von solchen Seminargenossen meiner Lehrjahre drei: Moritz Goldschmidt, bis zu
seinem frühen Tod Lehrer in Geisa (Thüringen), der in botanisch-wissenschaftlichen Kreisen durch
seine Moosforschungen bekannt wurde. –
DR. Meier Spanier, zuletzt Rektor der jüdischen Mädchenmittelschule in Berlin, der auf dem Gebiet
der Germanistik und neben anderem zuletzt in der Psalmenerläuterung Wesentliches geleistet hat.
Meier Steinhardt, lange Jahre Religionslehrer in Magdeburg, der unerbittliche Vorkämpfer für die
Belange der jüdischen Lehrerschaft. –
Sie gehörten zu den Preisträgern bei der ersten Preisaufgabe, von deren Arbeiten Direktor
Dr. Prager in seiner Würdigungsrede hervorhob, solche Leistungen habe man von 17 –
18-jährigen Schülern nicht erwartet. Ihre Arbeiten (über Leben und Wirken des Propheten Elijahu)
konnten angehenden jungen Gelehrten zur Ehre gereichen. Besonders die späteren
wissenschaftlichen Arbeiten Meier Spaniers schätzte Dr. Prager besonders hoch ein. Er begrüßte aber
auch Veröffentlichungen und das Streben anderer seiner vormaligen Schüler und gab ihnen nicht
immer benutzte Winke für die Weiterarbeit.
23. September 1940
Einen muß ich noch herausheben: Ephrajim Cohn oder Cohen, später mit dem Zusatznamen Reiss.
Er war mit seinem etwas jüngeren Bruder Chajim aus Palästina, ihrem Geburtsland nach Deutschland
gekommen, um die Bildung des Abendlandes in sich aufzunehmen und sich dem Lehrberuf zu
widmen. Es waren zwei rassige, rotwangige Jungen, obwohl Stadtkinder (Jerusalem), doch mit dem
Geruch des Feldes. So mochte der junge David ausgesehen haben, als man ihn von der Herde weg
zur Salbung rief. Die beiden Jungen kamen ohne Mittel in Triest an und schlugen sich recht und
schlecht nach Deutschland durch. Sie hatten gehofft, hier Helfer und Förderer zu finden. Zunächst
nahm sich der von ihnen sehr verehrte Oberrabbiner Dr. Löb in Altona der beiden Lernbegierigen an.
Dr. Löb war ein strenggläubiger, anscheinend aber duldsamer Mann. Auf den Landesflüchtigen ruhte
nämlich der Bann der palästinensischen Eiferer, der jeden traf, der ging, um gar noch nach westlicher
Bildung zu streben. Solche Handlungsweise war in den Augen der Zeloten ein doppeltes Verbrechen.
Trotzdem nahm eine in strengem Brauch geführte Vorbereitungsschule in Bayern sie auf. Die
Seminare in Würzburg und Köln lehnten aber des Bannes wegen ihre Aufnahme ab. So kamen sie
nach Hannover, wo man zwar in konservativen Bahnen sich hielt, aber dem Bann keine Bedeutung
beilegte. Die beiden Jungen verließen später als ich das Seminar. Ich weiß daher nicht, ob Ephraim
sich in Hannover als hervorragender, begabter Schüler erwiesen hat oder anderwärts sich dazu
entwickelte (Paris?). Beide kehrten nach Palästina zurück, und hier hat Ephrajim im Aufbau des
jüdischen Schulwesens und darüber hinaus eine anerkannte Wirksamkeit entfaltet.
23. September 1940
Ich sprach schon von gewissen problematischen Erscheinungen im Seminarleben, Leute, die
stellenweise im Berufsleben versagten und der »Alma mater« keine Ehre machten. Es waren zum Teil
nicht unbegabte Leute, die dem einen oder anderen ihrer Mitschüler sich zu Dank verpflichteten. Da
war aus einer Kleinstadt in Posen aus angesehener, wohlhabender Familie. Als Tertianer hatte er
seinem deutschen Professor die Fenster einwerfen helfen. Nach die Versuche, anderwärts in höheren
Lehranstalten Aufnahme zu finden, mißglückt waren, sandte man ihn in das Seminar zu Würzburg.
Wegen seines Verhaltens konnte er dort nicht bleiben. Ebenso erging es ihm in Köln. Darauf landete
er in Hannover. Hier war man nachsichtiger. Zuweilen sah er, obwohl durchaus nicht mittellos, ganz
verwahrlost los. Der gute Professor Frensdorff sagte einmal zu ihm: »Hier, L. haben Sie einen
Groschen. Lassen Sie sich rasieren. Wenn Sie mir nachts in einer einsamen Gegend zu Gesicht
kommen, würde ich »Au!« schreien.« L. nahm weder den Groschen an, noch ließ er sich rasieren.
Doch wagte er nicht, gegen den betagten Lehrer und Gelehrten ungezogen zu werden.
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8. Oktober 1940
Ich verdankte diesem haltlosen, nicht unbegabten Menschen die Einführung in die griechische
Sprache- ich erwähnte es wohl schon. Leider ist von dieser Sprachwissenschaft nichts geblieben. Ich
habe L. etwa 1 ½ Jahrzehnte später wieder einmal gesehen. Er suchte sich meinem Erkennen zu
entziehen, und als ihm dies nicht gelang, bat er mich inständig, ihn nicht bei seinem angestammten
Namen zu nennen. Ich verstand. Vermutlich wurde er einmal wieder steckbrieflich verfolgt. Ich habe
ihn nicht wiedergesehen und auch nichts wieder von ihm gehört. Sein Vorleben läßt die Annahme zu,
daß er völlig unter die Räder geraten ist. Doch bedauerlich.
Am 13. April 1883 bestand ich mit 12 anderen die Abgangsprüfung. Ich war vom »Mündlichen«, wie
ich geglaubt hatte, nicht befreit worden. Ein mir nicht wohl gesonnenes Mitglied des
Prüfungsausschusses hatte, wie ein anderer Zugehöriger mir heimlich zusteckte, meine Befreiung
verhindert. Nun war ich abgestempelter Lehrer – ohne Stellung allerdings. Danach hatten sich die
meisten schon vor bestandener Prüfung umgesehen, waren also vorläufig in Brot.. Ich hatte es
unterlassen, weil ich nicht gleichzeitig Vorbeter oder gar Schächter sein wollte. Zur Mitbekleidung des
Vorbeterdienstes war ich nachher für 9 ¼ Jahre doch gezwungen. Vor der Annahme des blutigen
Handwerks, das besonders Rabbiner den Lehrern aufhalsten, um so den gesellschaftlichen
Unterschied zu markieren, hat ein gütiges Geschick mich bewahrt. –
Um die erste Stellung hatte ich mich nicht beworben. Der Vertreter von einer Gemeinde war von
Mitschülern, die ihm nahe verwandt waren, auf mich aufmerksam gemacht worden. Er setzte bei dem
Vorsteheramt und der Regierung sich gegen den Widerspruch mehrerer Gemeindemitglieder durch.
Sie waren gegen mich, weil sie gegen den Vorsteher waren, wurden auch gegen ihn meine treuesten
Anhänger. Bis die Regierung sich zu meinen Gunsten entschieden hatten, vergingen fünf peinvolle
Monate. Peinvoll, weil ich auch in dieser Zeit meinen Eltern, die schon über ihre wirtschaftlichen Kräfte
für mich gesorgt hatten, keine Last sein wollte. Peinvoll auch, weil die heimischen Bekannten, die mich
bisher als einen besonders gescheiten Jungen angesehen hatten, begannen mich als verlorenen
Sohn anzusehen. Äußerst unangenehm auch, weil ich in Hannover Schulden hinterlassen hatte; die
Gläubiger drängten, und die Briefe fielen den Angehörigen in die Hände. In der Wartezeit vertrat ich
oft meinen alten Lehrer in seiner Schule. Er konnte beruhigt zur Börse fahren. Ich war also halbwegs
beschäftigt, las viel, grübelte noch mehr und bangte vor jedem Schreiben aus Hannover. Endlich –
gegen Ende September 1883 kam die Bestallung aus Hannover. Ich war damit provisorisch an der
jüdischen Volksschule in Fronhausen, Kreis Marburg, angestellt. Entlohnung: M 250 Gehalt, M 90 für
Wohnung und M 60 für Feuerung, also im ganzen M 400 jährlich. Das blieb so 9 ¼ Jahre hindurch,
nur daß die Gemeinde in den letzten Jahren auf ihre Hälfte des Gastschulgeldes für von auswärts
kommende Kinder verzichtete. Die andere Hälfte stand mir ohnehin zu. So hatte ich dann wohl M
1000 – M 1100 festes Einkommen. Dazu kamen kleine Nebeneinkünfte durch Privatunterricht, durch
örtliche Berichte für ein Kasseler Blatt u.a. Zu meinen Dienstverpflichtungen gehörte auch die
zweimalige Erteilung von Religionsunterricht in dem etwa sieben Kilometer entfernten Lohra. Eine
Entschädigung gab es dafür nicht, nicht einmal für zerrissene Schuhsohlen oder zerbrochene
Regenschirme. Ich habe dafür später, als ich fest im Sattel saß, diese Pflicht nicht allzu genau
genommen. Im Traum verfolgte sie mich noch Jahrzehnte nach meinem Scheiden aus diesem
Amtskreis. Es war auch eine starke Zumutung, bei Sonnenbrand, bei beißender Kälte und Glatteis den
beschwerlichen Weg zurückzulegen, zwei Stunden ohne ersichtlichen Erfolg zu unterrichten und
hungrig und müde den Rückweg anzutreten. Die Einkehr ins Wirtshaus kostet Geld. Das hatte ich in
den ersten Jahren nicht zu entbehren. Ich wollte und mußte die Rückstände in Hannover tilgen.
Darum gestattete ich mir zweimal wöchentlich den Genuß einer Zigarre zu sechs Pfg. Als meine
Verhältnisse geregelt waren und gar schon geringe Ersparnisse in der Tischschublade sich
sammelten, habe ich an manchen Abenden zwei Stück verwirbelt. Diese Sechser-Zigarren waren
übrigens besser als das Rauchkraut, für das ich später das Mehrfache hingab. –
Die ersten drei Monate in dem Dorf waren, um es frauenhaft auszudrücken, grauenhaft in ihrer
Einsamkeit. Ich kam außer mit meinen 10 –12 Schulkindern kaum mit einem Menschen in Berührung.
Eine Ausnahme brachte wohl noch der Sabbat, der mir den Vorbeterdienst auferlegte. Abend für
Abend saß ich in meiner ungemütlichen, ungenügend geheizten Wohnung bei der Petroleumlampe,
als lateinische Geschichtschreiber und Dichter. In ihrer Sprache versuchte ich mich an Homer und
Xenophon, studierte Schriften über Erziehung. Über alles konnte man nachdenken, aber sich mit den
Werken nicht aussprechen. Dabei hatte ich mich mit dem Vorsteher der kleinen jüdischen Gemeinde
bald überworfen. Er rächte sich im Gottesdienst. (Bachenheimer)
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30. Oktober 1940
Die Vereinsamung, die ich so bitter empfand, erfuhr die erste Milderung an der Jahreswende 1883. Ich
hatte Besuch meines Freundes Leopold Strauss. Um den Anbruch des neuen Jahres unter fröhlichen
Menschen wenigstens mit anzusehen oder anzuhören, gingen wir spätabends in eines der dörflichen
Gasthäuser. In einem seiner Räume hatte sich die »fürnehme« Jugend des Ortes
zusammengefunden, eine merkwürdige Mischung: Apothekersöhne ohne Stellung, Advokatensöhne,
die ihre militärische Laufbahn früh beendigen mußten, weil der Vater ihre Schulden nicht mehr
bezahlen konnte oder wollte, Beamte vom Amtsgericht und irgendwelche, ungewisse sonstige
Jugendliche. Wir wurden aufgefordert, an ihrem Tisch und ihrer Stimmung teilzunehmen. Von da ab
fand ich Gelegenheit zum Gasthausverkehr, wenn ich Lust verspürte und mir die nötigen Groschen für
Bier und Zigarren zur Verfügung standen. Besonders schloß ich mich an einen jungen
Gerichtssekretär an, der mich dann zum Stammtisch der Honoratioren im Gasthaus »Zur Linde«
mitnahm, wo ich schließlich und solange mir diese Gelegenheit zusagte, ein nicht ungern gesehener
Gast wurde. Meine Zugehörigkeit zu diesen Leuten, zu ihrer Mehrheit wenigstens, ging über den
Schänkraum nicht hinaus. Als sie sich zu einer Art von Vergnügungsverein zusammentaten, ließ man
mich draußen, obwohl an der Spitze der »Erlauchten« mein väterlicher Freund, der Lehrer Müller, die
ausschlaggebende Persönlichkeit des Ortes stand. Meine Zuziehung hatte er wohl nicht durchsetzen
können. Er sah mich gern in seinem Haus, besonders wenn er allein war. Man konnte doch einer
christlichen Jungfrau nicht zumuten, mit dem »Judenlehrer« zu tanzen oder gar zu flirten. Für ihn war
es schon Ehre genug, am Honoratioren-Stammtisch sitzen zu dürfen als der einzige Jude aus Ort und
Umgebung. Recht selten erschien der Amtsrichter Henkel am Stammtisch, höflich aber zurückhaltend
begrüßt. Offenbar hegte man den Verdacht, daß er die Runde nicht nach ihrem eigenen Maß
einschätzte. Er kam, wenn die anderen schon sich zum Gehen anschickten. Und dann geschah es,
daß er mich aufforderte, noch etwas zu bleiben. Das gab eine lange Nachtsitzung, die sich auf der
mondhellen Straße noch fortsetzte. Der Herr Amtsrichter war ein eifriger Sammler besonders von
Keramiken. Außerdem beschäftigten ihn – lange vor Wilhelm II – (»Völker Europas wahrt eure heiligen
Güter) und vor Oswald Spengler (Untergang des Abendlandes) mögliche Überflutungen Europas aus
dem Osten Asiens. Aus diesem Erdteil waren Hunnen, Sarazenen, Mongolen gekommen. »Die gelbe
Gefahr«, die er kommen sah, schiene ihm größer. –
In seiner Jugend war der Richter mit einer jüdischen Familie in Kassel befreundet gewesen. Er rügte
die Verzärtelung der Kinder, erkannte willig aber auch die lichten Seiten im jüdischen Zusammenleben
und in der sozialen Gesinnung vieler jüdischer Bürger an. Amtsrichter H. hat manche Beweise seiner
vorurteilsfreien Ansichten gegeben. Man hat mir bei gelegentlichem Besuch meiner ersten
Wirkungsstätte gesagt, Lehrer M. und Amtsrichter H. hätten sich gewandelt. Vielleicht war es ein
unbegründetes Urteil über wertvolle Menschen. Möglich aber auch und menschlich, daß sie von
Strömungen, die sie umfluteten, nicht ganz unberührt geblieben sind. Es ist auch den Eigenwilligen
nicht leicht, der Massenwirkung völlig zu widerstehen.
Im Frühjahr 1884 – sechs bis sieben Monate nach Antritt meiner Tätigkeit in Fronhausen – war ich
genötigt, mich nach einer anderen Verpflegungsstätte umzusehen. Ich fand sie in einem Haus, deren
weiblicher Teil die gehobensten Persönlichkeiten in der kleinen Gemeinde darstellten. Die Hausfrau
und deren ältere unverheiratete Schwester hatten aus dem heimischen Erdenwinkel, der als heute
noch bekanntes Heilbad an die Kulturwelt Anschluß gefunden, Gesittung mit in die neue Heimat
getragen.. Beide Frauen wurden ein Jahrzehnt später mir durch die Heirat mit meiner Frau, ihrer
Verwandten, näher verbunden. Die geistig regsame Hausfrau besonders nahm Anteil an meinem
geistigen Schaffen, das sich damals in Verbindung mit der Vorbereitung auf zweite und
Mittelschulprüfung hervorwagte. Sie hörte geduldig und teilnehmend die Entwürfe von Aufsätzen an,
von denen auch manche an sehr bescheidenen Stellen das Licht des Tages erblickten, um dann der
ewigen Vergessenheit anheimzufallen. Die brave Seele versorgte mich mit Nachrichtenstoff für ein
Kasseler Blatt, bei dem ich mir ein kleines Taschengeld verdiente. Da sie eine lebenskluge, in ihrer
Welt erfahrene Frau war, gab sie dem Unkundigen manchen Wink auch für seinen Weg. Ich bin ihr im
Herzen dankbar geblieben. In diesem Haus verbrachte ich viele Abende, wenn ich des Lernens
überdrüssig war, wenn Unterhaltungsstoff mich fesselte oder wenn Besuch von auswärts die
Eintönigkeit des Alltagslebens unterbrach. So verlor ich das Gefühl der Vereinsamung in steigendem
Maß. Hielt es mich abends nicht – zuweilen auch infolge gelegentlicher Verstimmung – dann fand ich
in den letzten Jahren auch abendliches Beisammensein in der Wohnstube des Bauernhauses, im der
ich als letzte Fronhäuser Wohnstätte übergesiedelt war. Die bejahrte Mutter des Bauern, seine stille,
brave, auch nicht mehr junge Frau, verbreitete eine gewisse Behaglichkeit. Ständige Abendgäste
waren ein verwandter alter Bauer, ein schlichter jüdischer Mann, ein ehemaliger Gerichtsbeamter, jetzt
eine Art von Privatbeamter. Es gesellten sich zuweilen auch andere Freunde des Hausherrn hinzu.
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Man nannte diese Zusammenkünfte das »Schafskollegium«. Hier fand ich aufs neue bestätigt, daß
das Wort vom »dummen« Bauer« ein Unfug ist.
Im Honoratioren-Gastzimmer hörte ich weit weniger kluge, aus dem Leben geschöpfte Äußerungen.
Hier wurden auch nicht Witze von abstoßender Art erzählt. Ich habe auch hier gelernt. Die alte Mutter
in ihrer Bauerntracht war mehr Dame als so manche aufgeplusterte Stadtfrau. Die Frauen der
örtlichen »Fürnehmen« lernte ich kaum kennen. Sie waren von Vorurteilen weit mehr besessen als die
Männer, wie das meist zu allen Zeiten und in allen Kreisen wohl immer der Fall sein wird.
Viel Anregung und viel Förderung in meinem beruflichen Weiterstreben verdankte ich dem LehrerLesekränzchen, dessen Teilnehmer etwa alle drei Wochen im Hause des Herrn Müller
zusammenkamen, um dramatische Dichtungen »mit verteilten Rollen« zu lesen. Am meisten kamen
die Schöpfungen Shakespeares an die Reihe. Doch wurden auch Bühnenwerke Goethes (Iphigenie,
Tasso , beide Teile des Faust, Götz, Egmont) , Schiller (Räuber, Kabale und Liebe, Fiesko, Don
Carlos, Jungfrau von Orléans, Maria Stuart, Wallenstein, tell und das Demetrius-Fragment), Lessing
(Minna von Barnhelm, Emilia Galotti), Kleist (Prinz von Homburg, Käthchen von Heilbronn, der
Zerbrochene Krug) gelesen.
Man begnügte sich nicht mit dem Lesen, man besprach eingehend den Aufbau der Dichtungen, die
künstlerischen Absichten der Schöpfer. Ich habe in meinem langen Stadtleben solche Angeregtheit
und Anregung nicht wieder gefunden wie im Kreis dieser schlichten Landlehrer. Der geistige Führer
war der Lehrer Dörr, ein tiefschürfender Denker, dessen Art zu unterrichten bei den
Schulaufsichtsbeamten keine Anerkennung fand, der ihnen geistig aber zweifellos überlegen war. Er
hätte als Germanist in einen Lehrstuhl einer Hochschule gehört, nicht auf das Lehrerpult einer
Dorfschule. Er blieb wie sein feinsinniger Vorgänger an dieser Schule (Lehrer Klein) Junggeselle und
fand nicht den Verbindungsweg zur bäuerlichen Umwelt, in der es auch denkende und sogar
weltgewandte Köpfe gab. Das Lesekränzchen ist für mich ein Quell geistiger Bereicherung gewesen.
Hier habe ich gelernt, Dichtungen zu verstehen. –
Die rechte Fühlung mit den meisten Familien der kleinen jüdischen Gemeinde habe ich nicht
gewonnen, wenn das Verhältnis in den letzten Jahren sich auch besserte. Ich gehörte nun einmal
nicht zu den Menschen, denen die Herzen anderer sich leicht erschließen oder der sich darum
bemüht, die sogenannte Beliebtheit zu erlangen. Dieser Haupt- und Nebenzweck von Schleichern und
Heuchlern lag mir allezeit fern. Indessen begegneten mir in jenen letzten Jahren die
Gemeindeangehörigen mit einer gewissen Schätzung, die zum Teil Rückwirkung der gleichen
Empfindung in maßgebenden nichtjüdischen Kreisen war, aber auch der Annahme entfloß, daß ich es
weiterbringen müsse. Den Erwartungen habe ich zu ihrer und der eigenen Enttäuschung nicht allzu
sehr entsprochen. Meine alte, krittliche Tante in Frankenberg hatte wiederholt der Befürchtung
Ausdruck gegeben, ich könnte mir durch einen Glaubenswechsel eine gehobene Laufbahn erkaufen
wollen. Der üble Sergeant, der mir in Marburg die Anfangsgründe des Kommis beibringen sollte und
wegen wackelnder Hüften nicht beibrachte, prophezeite mir doch, trotz der körperlichen
Geringwertigkeit in seinen Augen, daß ich einmal Regierungs- und Schulrat werden könnte. Ich bin es
nicht geworden, konnte es nicht werden und habe im Gefühl der Unmöglichkeit auch nicht danach
gestrebt. Schriftsteller oder Archivar wäre ich gerne geworden nach hinreichendem
Geschichtsstudium. Der Umgang mit Kindern lag mir nicht, wie es bei einem »geborenen« Lehrer der
Fall sein sollte. Dieser Mangel ist mir im späteren Wirkungskreis recht fühlbar und hinderlich
geworden. Zunächst aber galt es, aus der Enge, in der ich 9 ¼ Jahre verbrachte, in eine weitere Welt
hinaus zu kommen. Mehrfache Versuche waren fehlgeschlagen. Im letzten Augenblick brachte ich
nicht die Entschlußkraft auf, eine »feste« Anstellung wegen einer besser besoldeten, aber
ungesicherten aufzugeben. Auch gefiel mein Selbstgefühl nicht überall, wo ich mich vorstellte. Ich war
sicherlich kein fügsamer Mensch, wie in die Gemeindegewaltigen brauchten, und dazu war ich ein
schlechter und unwilliger Vorbeter. Dieses Notamt vor allem wollte ich los sein. Nach langem,
peinvollem Ausharren boten sich endlich mehrere Möglichkeiten mich zu verbessern. Ich erlangte die
Stellung als Hauptlehrer an der stark besuchten dreiklassigen jüdisch-städtischen Volksschule in der
Großstadt Krefeld. Dieses geschah im Jahresbeginn 1893. – Kein Vorbeterdienst, keine Bindung an
die jüdische Ortsgemeinde, keine Verpflichtung zur Erteilung technischen Unterrichts (Musik, Gesang,
Zeichnen, Turnen). Es war die Stellung, die ich zunächst ersehnt hatte.
3. Dezember 1940
Ich habe in diesen Wochen mit dem Bericht über den längsten und schwersten Abschnitt meines
Lebens, über mein Wirken in Krefeld beginnen wollen. Meine Unterrichtstätigkeit erstreckte sich auf
36 Jahre an der städtisch-jüdischen Volksschule Nr. 11 in der Reihe der örtlichen Volksschulen und
auf 5 ¼ Jahre als Religionslehrer an der städtischen höheren Lehranstalt. Ich hatte also eine
Lehrtätigkeit von 50 ½ Jahren geübt, als ich ohne äußeren Zwang darauf verzichtete sie fortzusetzen.
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Niederschrift der Erinnerungen des Hauptlehrers i. R. Salomon Andorn in Krefeld, begonnen am 18. Mai 1937,
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– Die Vertreibung der Juden aus einem südlichen Gebiet des Reiches, die für uns ein »Mene Tekel«
bedeutet, raubt mir zunächst die Sammlung zur weiteren Schilderung meines Schul- und Privatlebens.
Ob es zu einem weiteren Anspinnen kommen wird, hängt von unserem Geschick in der Nächstzeit ab.
–
Abschrift von Eva Nimmert, Hermannstr. 6, D-45527 Hattingen, Germany, Dez-99
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