Ökonomie des Opfers: Literatur im Zeichen des Selbstmords

Transcrição

Ökonomie des Opfers: Literatur im Zeichen des Selbstmords
Ökonomie des Opfers: Literatur im Zeichen des Selbstmords
Internationale Tagung der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft zum Abschluss des Kleist-Jahres
2011
17–19. November 2011 in Berlin, Collegium Hungaricum
Tagungsprogramm
Zum Abschluss des Gedenkjahres zu Heinrich von Kleists 200. Todestag veranstaltet die
Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft diesen November eine internationale Tagung, auf der über
Kleists Einzelschicksal hinaus gefragt werden soll, ob es einen fatalen Zusammenhang gibt
zwischen Dichtung, die den Erwartungshorizont der Zeitgenossen radikal sprengt, und dem
Freitod des Dichters. An letzten Worten ist die Nachwelt interessiert, weil sie als authentische
Konfessionen gelten, in denen die Summe des Lebens gezogen wird. Von Todgeweihten erwartet
man keine Dichtung, sondern Wahrheit. Auf diesem ›autobiographischen Pakt‹ beruht die
ungeheure Wirkung von Kleists Briefen vor seinem Selbstmord, in denen ein seinen
Zeitgenossen kaum bekannter Dramatiker und Erzähler seine ›letzte Chance‹ sucht. Denn Kleists
Kalkül hier ist der strategische Entwurf eines Autorbildes für die Nachwelt, die Kontrolle der
Kommunikation posthum. Der Korpus der letzten Briefe Kleists folgt insofern einer Ökonomie
des Opfers, ebenso wie sein heiter-ausgelassener Selbstmord selbst, der als eine zugleich heikle
wie grandiose Inszenierung zur Sicherung seines Nachruhms begriffen werden kann. Von den
Zeitgenossen, vor allem von Goethe, wurden danach Person und Werk gleichermaßen
pathologisiert. Goethes »Schauder und Abscheu« vor dem hypochondrischen Dichter hält Kleist
allerdings überhaupt nur im Gedächtnis. Das verhindert seine Kanonisierung im 19. und
ermöglicht sie im 20. Jahrhundert, der Exklusion folgt die Inklusion. Er wird ein »Vorfechter für
die Nachwelt« (Adam Müller), die gegenidealistische Literatur der Moderne entdeckt in ihm ihr
Vorbild: Franz Kafka, Robert Musil, Alfred Döblin u.a.m.
Beispiele für einen Zusammenhang von radikaler Literatur und dem Selbstmord des
Dichters bzw. der Dichterin gibt die Frauenliteratur, die Leidensgeschichten von Virginia Woolf
und Marina Iwanowna Zwetajewa über Sylvia Plath und Anne Sexton bis zu Unica Zürn und
Sarah Kane. Den Freitod haben viele Literaten gesucht, deutsche Autoren wie Karoline von
Günderrode, Adalbert Stifter, Georg Trakl, Ernst Toller, Stefan Zweig, Walter Benjamin, Klaus
Mann, Kurt Tucholsky, Paul Celan, Inge Müller, Hermann Burger, berühmte internationale
Autoren wie Cesare Pavese, Jack London, Arthur Adamov, Ernest Hemingway, Yukio Mishima,
Yasunari Kawabata, Jerzy Kosinski, John O'Brien, David Foster Wallace. Von individuellem
Leiden abgesehen gilt: Wer monströs als Subjekt aus der Geschichte verschwindet, taucht
irgendwann als Objekt von Geschichten wieder auf, erreicht endlich Aufmerksamkeit in
Nachrufen, Erzählungen, mündlicher und schriftlicher Historiographie. So paradox funktioniert
die Ökonomie des Opfers. Sie zwingt der Nachwelt eine Form des Eingedenkens auf, die effektiv
ist, weil alles andere als harmlos, insofern sie Erinnerungsbilder eingraviert in die Wachstafeln der
Seele und des Körpers, damit sie lebendig bleiben. Wie man sich das konkret vorzustellen hat,
beschreibt Friedrich Nietzsche in der zweiten Abhandlung seiner Genealogie der Moral: »›Man
brennt Etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im
Gedächtnis‹ – das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie
auf Erden. […] Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt,
sich ein Gedächtnis zu machen.«
1
Tagungsort: Collegium Hungaricum Berlin, Dorotheenstr. 12, 10117 Berlin
Tagungsleitung: Prof. Dr. Günter Blamberger (Universität zu Köln) und Prof. Dr. Gabriele
Brandstetter (FU Berlin) für den Vorstand der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft
Wissenschaftliche und organisatorische Tagungsassistenz: Sebastian Goth und Christine Thewes,
M.A. (Universität zu Köln), Iglhaut + von Grote (Ausstellung, Museumsplanung, Kulturprojekte
Berlin)
Anfragen und Anmeldung: [email protected]
Wiss. Kooperationspartner: Collegium Hungaricum Berlin, FU Berlin, ZfL Berlin (Dr. Martin
Treml), Maxim Gorki-Theater
Gefördert von der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin
2

Documentos relacionados