Kleists Spiel mit den historischen Fakten

Transcrição

Kleists Spiel mit den historischen Fakten
Schweden und Brandenburg, Frankreich und Preußen
diplomatisch-zögerlichen König machte. Die Fälle des Majors
von Schill und des Preußenprinzen bilden somit einen Hintergrund für Kleists Drama, der einem zeitgenössischen Publikum vor Augen gestanden hätte, wäre das Stück aufgeführt
worden.
Kleists Spiel mit den historischen Fakten
Prinz Friedrich von Homburg weist eine doppelte historische
Optik auf. Kleist selbst schrieb am 21. Juni 1811 an seinen
Verleger Reimer, es handle sich um ein Drama »mit mancherlei Beziehungen«. Einerseits greift es Ereignisse auf, die fast
150 Jahre zurücklagen; andererseits ließ es sich leicht auf die
Gegenwart beziehen. Die Schweden von damals, das musste
jedem Leser des Stücks sofort klar sein, waren die Franzosen
von heute (so wie mit den Römern in der Hermannsschlacht
die Franzosen von heute gemeint gewesen waren). In der
Schilderung des großen Siegs, mit dem es gelungen war, die
Schweden aus dem Land zu vertreiben, lag das Versprechen,
dass man auch mit den Franzosen fertig werden würde.
Dabei erscheint der Kampf gegen Schweden in Kleists Stück
eher als langfristige Aufgabe, vergleichbar dem Ziel, die französische Fremdherrschaft seit 1807 abzuschütteln. (In V, 7 ist
von weiteren Siegen die Rede, die noch zu erringen sind, um
der schwedischen Bedrohung endgültig Herr zu werden.) In
der historischen Situation von 1675 handelte es sich hingegen
um eine Auseinandersetzung von nur einigen Monaten, die
allerdings Teil einer grundsätzlichen Rivalität um die Herrschaft an der Ostsee war.
Vor allem die Figur des Prinzen von Homburg unterscheidet
sich stark von ihrem historischen Vorbild. Zwar war Friedrich
von Homburg an denselben Schlachten beteiligt; allerdings
handelte es sich nicht um den stürmischen Jüngling, der im
28
820264.indd 28
20.11.2009 08:30:32
Der historische Homburg und Kleists Prinz
Friedrich II. von
Hessen-Homburg
mit Allongeperücke
(der langlockigen,
großen Perücke für
feierliche Anlässe) und Harnisch.
Porträtstich von
unbekannter Hand
aus der Zeit der
Schlacht bei
Fehrbellin.
Stück auftritt, sondern um einen bereits seit 20 Jahren militärisch aktiven Offizier von 42 Jahren. Das gute Verhältnis des
historischen Homburg zum Kurfürsten war außerdem Resultat seiner zweiten Ehe, durch die er ein angeheirateter Verwandter des Landesherrn geworden war; Homburgs Frau war
die Tochter einer Schwester des Kurfürsten. Eine Vaterfigur
stellte der nur um zwölf Jahre ältere Kurfürst für ihn nicht
dar. Als verheirateter Mann war Homburg natürlich auch
nicht an der Ehe mit einer weiteren Nichte des Kurfürsten
interessiert, sodass die Familienhandlung von Kleists Stück
nur wenig mit den historischen Fakten zu tun hat.
Das gilt auch für entscheidende Aspekte der militärischstaatsrechtlichen Handlung: Wie bereits angedeutet, war
Friedrich von Homburg ein erfolgreicher General, der, seit er
in brandenburgischen Diensten stand, keine Kritik auf sich
zog. Weder hatte er dem Kurfürsten mögliche Siege am Rhein
29
820264.indd 29
20.11.2009 08:30:32
Historische Bezüge der Natalie-Figur
»verscherzt«, wie es im Stück heißt (I, 5, V. 350), noch kam es
zwischen Fürst und Feldherr bezüglich der Schlacht von Fehrbellin zu irgendwelchen Unstimmigkeiten. – Deutlichere Parallelen existieren, gerade mit Blick auf ihre charismatischen
Persönlichkeiten, zwischen Kleists Prinz von Homburg und
dem preußischen Prinzen Louis Ferdinand (vgl. S. 27 f. dieses
Bands).
Reine Erfindung Kleists wiederum ist die Figur der Natalie,
sie folgt keinem historischen Vorbild. Einzelne Eigenschaften
der Figur verweisen aber auf verschiedene reale Persönlichkeiten: Die Herkunft teilt die Natalie des Dramas mit der
ersten Ehefrau des realen Kurfürsten, einer Prinzessin Luise
von Oranien. Nach demselben Modell ist auch die Figur der
Kurfürstin im Stück gestaltet, die einmal mit »Elisa« angeredet wird (I, 5, V. 233). Die wirkliche Kurfürstin war hingegen
bereits 1667 verstorben. Das Verwandtschaftsverhältnis von
Natalie und Kurfürst im Stück verweist auf die zweite Ehefrau
Luise Elisabeth von
Kurland (1646 bis
1690), die zweite
Frau Friedrichs II.
von Hessen-Homburg
(seines »Engels
Dicke«). Porträt von
unbekannter Hand.
30
820264.indd 30
20.11.2009 08:30:33
Kleists Natalie und Königin Luise von Preußen
Königin Luise von Preußen (1776 bis 1810) im
Reitkleid, dargestellt
als Chefin des Regiments »Königin Dragoner«. Pastellgemälde
von Wilhelm Ternite
(1786 bis 1871), wohl
aus dem Todesjahr der
Königin.
des historischen Friedrich von Homburg: Sie war, als Prinzessin von Kurland, eine direkte Nichte des Kurfürsten. Außerdem trägt die Natalie-Figur verschiedene Merkmale der
in der Bevölkerung überaus populären und auch von Kleist
verehrten Königin Luise. So ist sie beispielsweise nominell
die Chefin eines Dragonerregiments, was auch auf die Königin zutraf, und agiert im Stück als Widerpart zum vor allem
juristisch argumentierenden Herrscher – eine Rolle, die die
Öffentlichkeit auch der Königin als ›Landesmutter‹ im Gegensatz zum wenig beliebten König Friedrich Wilhelm III.
zuschrieb. Ganz davon abgesehen, dass Natalie als diejenige
Figur, die um einen Ausgleich zwischen dem Prinzen und
dem Kurfürsten bemüht ist, eine wichtige Rolle in Kleists
Stück spielt, könnte der Dichter demnach die Absicht verfolgt
haben, seiner Landesherrin Luise mit der Figur ein literarisches Denkmal zu setzen.
31
820264.indd 31
20.11.2009 08:30:33
Die Legende um Stallmeister Froben
Der Stallmeister des
Kurfürsten Emanuel
Froben (1640 bis 1675)
in der Schlacht bei
Fehrbellin.
Lithographie
(um 1850).
Bei der Darstellung des Pferdetauschs von Fürst und
Stallmeister (II, 8) handelt es sich um eine historische Legende, die von Friedrich II. (»dem Großen«) in seiner 1751 veröffentlichten Darstellung der brandenburgisch-preußischen
Geschichte – Mémoires pour servir à l‘histoire de la Maison de
Brandebourg – in Umlauf gebracht worden ist. In diesem Werk
wird Emanuel Froben, der tatsächlich der Stallmeister des
Kurfürsten war, als treuer Kämpfer an dessen Seite gezeichnet, Homburg hingegen erscheint als der übereifrige, den
fürstlichen Befehlen vorgreifende Hitzkopf. Die Kennzeichnung Homburgs ist in dieser Quelle deutlich überspitzt, wohingegen die Beschreibung Frobens wohl frei erfunden wurde, um einen Kontrast zu schaffen; dem König, der diese
Darstellung lieferte, kam es verständlicherweise darauf an,
den Wert von Gehorsam und Treue gegenüber dem Regenten
zu unterstreichen. Kleist wusste um diese Tatsache. In einer
32
820264.indd 32
20.11.2009 08:30:33
Rechtlicher Hintergrund
der Quellen, deren er sich zur Recherche für sein Stück bediente – Mein Vaterland unter den hohenzollerischen Regenten
(Halle 1803) des Feldpredigers Karl Heinrich Krause –, wird
die Froben-Geschichte zwar in einer Fußnote erwähnt, jedoch
mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass sie »[n]icht hinlänglich
begründet und von einem Augenzeugen widersprochen« sei
(zitiert nach ED, S. 74). Nichtsdestotrotz hat Kleist diese Darstellung in sein Stück übernommen und den Kontrast noch
verstärkt: Froben, der tatsächlich sieben Jahre jünger war als
der historische Friedrich von Hessen-Homburg, erscheint hier
als „[a]lter“ (II, 8, V. 666), pflichtschuldiger und opferwilliger
Diener seines Herrn in wirkungsvollem Gegensatz zum
ruhmbegierigen und ungestümen Prinzen.
Die Verwendung der Erzählung vom Opfertod des treuen
Froben, die im Volk zwar populär war, deren Wahrheitsgehalt
jedoch bereits von der zeitgenössischen Geschichtsschreibung
stark angezweifelt wurde, zeigt: Kleist scheint es beim Schreiben des Stücks überhaupt weniger um historische Korrektheit
gegangen zu sein als um die Schilderung von Konfliktsituationen allgemeiner und beispielhafter Natur.
Eine wichtige Abweichung in Kleists Umgang mit dem historischen Material betrifft die Debatte um die Frage des rechtlichen Spielraums des Kurfürsten angesichts von Homburgs
Befehlsverweigerung. Diese Diskussion ist eigentlich nur
sinnvoll, wenn man den Kurfürsten des Stücks zu politischen
Entwicklungen um 1800 in Beziehung setzt. Erst in dieser Zeit
sahen sich Herrscher vor dem Hintergrund aufklärerischen
Gedankenguts und der politischen Entwicklungen in Frankreich einem größeren Druck ausgesetzt, ihr Handeln an Recht
und Gesetz zu binden. Der Große Kurfürst musste als Monarch alter Prägung noch keine solchen Rücksichten nehmen
(vgl. hierzu ausführlicher auf S. 91– 98 dieses Bands).
33
820264.indd 33
20.11.2009 08:30:34