Der Gigant ist verletzbar

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Der Gigant ist verletzbar
Das Attentat auf die USA vom 11.9.2001
und die Konsequenzen : Pressespiegel
Freitag
Pearl Harbor
In Amerika wird nichts mehr sein, wie es war
Torsten Wöhlert
Never!« Der Aufschrei ging durch amerikanische Kinosäle, wenn in Roland Emmerichs Film »Independence Day« die
zerstörte Freiheitsstatue ins Meer fiel. »Never!«. Das kam spontan, war echt. So echt wie jetzt Trauer, Entsetzen, Mitgefühl
- und Wut. Nicht nur in den USA, auch hier. »Never« ist für Amerika Vergangenheit.
Das World Trade Center in Trümmern, Flammen aus dem Pentagon, das Weiße Haus evakuiert, die Flughäfen dicht - je
mehr der Ticker ausspuckt, desto stärker drängen sich Szenarien, Bilder, Angstvorstellungen auf, die vor zwölf Jahren nur
einen Schluss zugelassen hätten: Das war´s, der Dritte Weltkrieg ist da. Wahrscheinlich hätten wir diese Bilder gar nicht
mehr sehen können, wären selbst längst Kriegsschauplatz und Opfer geworden. Heute aber dudeln die Spaßsender ihr
normales Programm: »Knocking on heavens door« - wie passend! -, unterbrochen von den neuesten Meldungen aus New
York und Washington.
Amerika aber hat sein zweites Pearl Harbor. Die Illusion von Sicherheit, in der sich viele Amerikaner zu wiegen gewohnt
waren, ist zerplatzt. Die Nation wird zusammenrücken, trauern, sich auf Gott besinnen, nach Schuldigen suchen, nach
Konsequenzen - im Ausland und bei sich zu Hause. CIA, FBI, NSA - der ganze teure Sicherheitsapparat hat ganz
offensichtlich komplett versagt. Wer immer die Anschläge zu verantworten hat: Der logistische Aufwand muss ernorm
gewesen sein. Er war »erfolgreich« und hat gezeigt, die Supermacht ist verwundbar. Das sollte demonstriert werden:
Jerusalem ist überall.
Und die große Gefahr: Washington schlägt zurück, macht sich Luft, mit Angriffen auf wirkliche wie vermeintliche
Terrorzentralen rund um den Globus. Die Angriffsziele in Washington und New York waren bewusst gewählt, haben hohe
Symbolkraft. Dazu die Tausenden von Toten. All das schreit förmlich nach Ersatzhandlungen, nach symbolischen
Schnellschüssen als Balsam für eine tief getroffene Volksseele. Solche Reaktionen aber würden eine Lawine lostreten, und
man kann nur hoffen, dass Amerikas Verbündete ebensoviel Mitgefühl wie mäßigenden Einfluss besitzen. In den nächsten
Tagen und Wochen wird sich weisen, was die Sonntagsreden von den neuen transatlantischen Beziehungen wert sind.
Auf jeden Fall wird es dauern, bis sich nüchternes Denken wieder breit machen kann. Dann aber muss über Sicherheit
geredet werden - auf beiden Seiten des Atlantik. Man stelle sich vor, in den Kamikaze-Jets wären
Massenvernichtungswaffen gewesen. Kein Raketenabwehrschirm, kein Sicherheitsapparat kann so etwas je verhindern.
Das wissen wir nun »todsicher«. Hundertprozentiger Schutz ist eine Illusion. Und eine Supermacht, die sich rund um den
Globus so verhält, als könnte es ihn geben, handelt grob fahrlässig.
Nichts rechtfertigt Terror und Mord. Gar nichts! Aber die Zeichen standen an der Wand. Sie sind beschworen worden, von
Experten und Politikern gleichermaßen. Sie wurden ignoriert. Und sie sind benutzt worden - zur Stigmatisierung, zum
Aufbau neuer Feindbilder, für die Rechtfertigung zweifelhafter Sicherheitskonzepte und Rüstungsprogramme. Terror hat
Ursachen, Menschen jagen sich nicht leichtfertig in die Luft, auch Selbstmord-Terroristen haben einmal am Leben
gehangen. Es wird Zeit, an die Wurzeln des Terrors zu gehen. Verzweiflung ist eine und hat selber welche Perspektivlosigkeit, Unterdrückung und Demütigung. Und eine Politik, die Verzweiflung gebiert, weil sie nach
unilateralistischem Maß zwischen Tatenlosigkeit und Interventionismus pendelt, ist zur Umkehr aufgefordert. Das ist sie
den Opfern schuldig.
Freitag, 11.9.01
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Trete vor und schweige
Ekkehart Krippendorff
Ekkehart Krippendorff ist Professor emeritus der Freien Universität Berlin, er lehrte Politik am John-F. Kennedy-Institut.
Von ihm erschien unter anderem das Buch Kritik der Außenpolitik (Suhrkamp-Verlag 2000)
VERGESSLICHKEIT DER AUSSENPOLITIK
Der Schock über die Terror-Anschläge in den USA leistet einer Selbstgerechtigkeit Vorschub, zu der es keinen Anlass
gibt
Dies ist nicht der Zeitpunkt für analytischen Scharfsinn, Selbstgerechtigkeit und gut formulierte Kommentare. Es gibt ein
Recht, ja, vielleicht sogar eine Pflicht zum Schweigen, wo die Gedanken erst noch gedacht, die Worte erst noch gefunden
werden müssen - sich zu widersetzen dem Druck der Medien, nicht nur zu berichten, sondern auch sofort wortreich zu
erklären, spontane Meinungen zu haben, eindeutig zu urteilen. Aber wem „der Anblick unnennbaren Grauens nicht die
Zunge gelähmt, sondern flott gemacht hat“, so Karl Kraus über den Journalismus und die Intellektuellen bei Ausbruch des
Ersten Weltkrieges, der verdient, wie die Politiker, die alles sofort mit ihren handelsüblichen Klischees bedienen, unsere
Verachtung: „In dieser Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muß,
was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht; in dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode
gelacht hat vor der Möglichkeit, dass sie ernst werden könnte; von ihrer Tragik überrascht und sich selbst auf frischer Tat
ertappend, nach Worten sucht; in dieser Zeit mögen Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Wer etwas zu sagen hat, der
trete vor und schweige!“
Karl Kraus´ „Schweigen“ bestand in der sofort aufgenommenen Arbeit an dem, was das größte und tiefschürfendste Drama
über den Krieg werden sollte, Die letzten Tage der Menschheit. Schweigen heißt darum nicht Verstummen, vielmehr auf
die selbstsichere und selbstgewisse Rede verzichten zugunsten des offenen Gesprächs als Mittel der Urteilsbildung. In
dieser Zeit, zu diesem Zeitpunkt ist alles offen, niemand vermag zu sagen, wohin die Reise geht, welche Dynamik
losgetreten werden wird mit der amerikanischen Kriegserklärung an einen unbekannten Feind. Die konkret überhaupt nicht
absehbaren Konsequenzen der sofort angekündigten Vergeltung aber werden ausschließlich negativ sein, den politischen
Zustand der Welt qualitativ verschlimmern.
An den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, von dem sich alle Menschen irgendeine „Endlösung“ versprachen, erinnert
neben der von allen behaupteten Verteidigung der „Zivilisation“ und der „Freiheit“ auch die Schulterschluss- und
Nibelungentreue-Rhetorik der politischen Klasse und der Presseöffentlichkeit - so gut wie ohne Ausnahme. In sicher
bewusster Anlehnung an das berüchtigte Wilhelm II-Wort erklärte der FDP-Vorsitzende, er kenne jetzt keine Opposition
mehr, nur noch Deutsche. Und so erschallt es auch weltweit: Alle behaupten unisono, Amerikaner zu sein. Es ist eine
Hysterie der Angst - der Angst vor dem, was die amerikanische Regierung unternehmen wird, und der Angst vor den
aufgeputschten Racherufen im eigenen Land. Wer hat da schon den Mut, kritische Distanz und einen kühlen Kopf
einzumahnen, wenn man damit bereits in den Verdacht des Terrorismus-Sympathisanten gerät. Die Springerzeitungen
haben flugs die Leitlinien, auf die alle Mitarbeiter politisch-ideologisch verpflichtet werden, erweitert um die
„Unterstützung des transatlantischen Bündnisses und die Solidarität in der freiheitlichen Wertegemeinschaft mit den
Vereinigten Staaten.“ Denk- und Sprech- bzw. Schreibverbote werden aufgerichtet, die ernsthaften Fragen nach den
Ursachen der Katastrophe von vornherein blockiert und in eine und nur eine Richtung gelenkt: Osama bin Laden und der
islamistische Fundamentalismus sind die Schuldigen. Diese mögen in der Tat sogar die Verursacher sein - aber sind sie
deswegen auch die Ursachen?
Denn über Ursachen wird zu sprechen sein, darüber zum Beispiel, wie es dazu gekommen ist, dass die USA von der in der
Freiheitsstatue repräsentierten Hoffnung zum Albtraum und zur Furcht großer Teile der Welt geworden sind - nicht nur bei
fanatischen Islamisten. Haben nicht auch ganz und gar bürgerliche Kolumnisten und politische Beobachter gerade jüngst
noch nach der arroganten Erklärung der Bush-Regierung, im Interesse der amerikanischen Wirtschaft den Kyoto-Vertrag
nicht ratifizieren zu lassen, von einer „Kriegserklärung“ der USA an den Rest der Welt gesprochen? Bedroht doch eine
weitere Klimaerwärmung potenziell Millionen von Menschen mit dem Verlust ihres Landes, mit Überschwemmungen und
tödlichen „Natur“-Katastrophen, und an der Spitze der derart bedrohten Länder steht das muslimische Pakistan. Hat die
US-Regierung, die jetzt so selbstgerecht nach „Gerechtigkeit“ ruft, sich nicht systematisch seit Jahrzehnten über das
Völkerrecht hinweggesetzt, wenn es ihrer Politik im Wege stand, ihren UN-Mitgliedsbeitrag nicht voll bezahlt,
Verurteilungen durch den Haager Internationalen Gerichtshof ignoriert, den feierlich geschlossenen ABM-Vertrag einseitig
aufgekündigt, auf bloßen Verdacht hin Marschflugkörper auch gegen irrtümliche Vergeltungs-Ziele in fernen Kontinenten
in Bewegung gesetzt, sich der Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes seit 1947 und zuletzt noch einmal 1998
vehement widersetzt, weil sie da vielleicht auch eines Tages angeklagt werden könnte?
Die Liste der „Arroganz der Macht“ amerikanischer Regierungen ist lang. Vor allem aber: Werden jetzt die Analysen aller
Ökonomen und Kenner des internationalen Systems obsolet? Ist die Tatsache, dass der von den USA politisch geführte und
militärisch verteidigte Kapitalismus im Weltmaßstab strukturell für den akkumulierten Wohlstand unserer Gesellschaften,
die dramatisch zunehmende Verarmung und den Hunger in großen Teilen der nicht-westlichen Welt verantwortlich ist, seit
dem 11. September 2001 nicht mehr aussprechbar? Dass die kapitalistische Globalisierung gesellschaftliche und
ökonomische Polarisierung bedeutet und die Verelendung der Dritten Welt dynamisch fortschreibt und dass das New
Yorker World Trade Center real und symbolisch eben dafür stand? Haben wir, haben die Meinungs- und die Politikmacher
diesen Kapitalismus schon so internalisiert, dass er in fast allen Verlautbarungen und Meinungskolumnen mit der
menschlichen Zivilisation tout court ganz selbstverständlich gleichgesetzt werden kann, indem diese selbst und nicht etwa
bloß die hochgerüstete arrogante atlantische Hegemonie ins Herz getroffen worden sei? Gehört nicht religiöser Fanatismus
- jedem Monotheismus sei´s geklagt! - furchtbarer Weise auch zu eben dieser Zivilisation? Er sitzt nicht nur im Islam, er
sitzt in Israel, er sitzt tief im Christentum.
Darüber nachdenkend und zum Gespräch einladend darf eine gesicherte Erfahrungswahrheit nicht vergessen werden: Auch
wenn dieses horrende politische Großverbrechen ohne jene Rahmenbedingungen nicht gedacht werden kann - den vom
kapitalistischen Westen erniedrigten und gedemütigten Völkern zu helfen, ist weder subjektiv noch objektiv das Motiv der
hochintelligenten politischen Fanatiker. Wo immer diese gewalttätigen Avantgarden an die Macht kommen, zeigen sie sich
selbst als die schlimmsten Unterdrücker. Sie bleiben unentrinnbar die Gefangenen der eigenen Mittel im Kampf um die
Macht. Der Angriff auf die beiden so prominenten Ziele in den USA war darum nicht weniger - aber auch nicht mehr ! - als
ein spektakulärer Erfolg im Krieg zwischen extrem ungleichen Machteliten. Und er wird folgerichtig inzwischen auch
offiziell so beim Namen genannt. Eine gewonnene Schlacht aber ist noch lange kein gewonnener Krieg - den könnten die
alles andere als feigen Selbstmord-Fanatiker erst dann gewinnen, wenn der bekämpfte Westen sich nach innen zu
xenophobischen, illiberalen Polizeiregimen zurückentwickelte und nach außen mit jenem „Feldzug“ antworten sollte, der
sofort und ohne Ursachenforschung angekündigt wurde.
Dass schlimme Mittel jeden Zweck kompromittieren und ihre eigene Dynamik der Verselbständigung entwickeln, ist
nahezu ein Gesetz der Politik. Man muß auch darüber mit aller Deutlichkeit sprechen, dass der kriminelle Fanatiker bin
Laden einst ein „Mann der Amerikaner“ gewesen ist - und die Agenten, die ihn und seine Leute damals im Kampf gegen
die sowjetische Besatzung in Afghanistan ausrüsteten, wussten zweifellos, dass sie es nicht mit einem idealistischdemokratischen Freiheitskämpfer für westliche Ideale zu tun hatten. So ist es also keineswegs „tragisch“ zu nennen (wie es
einige Kommentatoren heute tun), wenn die amerikanischen Politikmanager sich ein nun auf ihr eigenes Land
zurückschlagendes Monster großgezogen haben. Dieser opportunistische Zynismus hat Methode: „Meines Gegners Gegner
sind meine Verbündeten“. Und er hat Geschichte: Saddam Hussein gegen den Iran, die Khmer Rouge gegen Vietnam, die
UCK-Banden gegen Milosevic, usw. Die deutschen Dienste, die deutschen Außenpolitiker haben das natürlich immer
gewusst, aber dagegen gesagt haben sie selbstverständlich nichts, weil sie es nämlich genau so tun würden, kämen sie in
den Fall. Angesichts des Grauens von Manhattan und Washington bleibt einem jede kritische Selbstgerechtigkeit beim
Hinweis auf die Nemesis einer in ihren Mitteln selbst skrupellosen Außenpolitik im Halse stecken - und doch muss auch
über diesen Teil der furchtbaren Wahrheit gesprochen werden. „The chicken come home to roost“, kommentierte Malcolm
X 1963 die Ermordung John F. Kennedys und wurde dafür in der amerikanischen Öffentlichkeit zur moralischen persona
non grata - wer heute Vergleichbares sagt, dem wird es ähnlich ergehen; was Malcolm X nur ahnen aber nicht wissen
konnte war, dass Kennedy selbst in Attentatsvorbereitungen auf unliebsame Staatsoberhäupter und Politiker verwickelt
gewesen war.
War es nicht ein amerikanischer Präsident, der einst den politischen Antagonisten theologisch als „Reich des Bösen“
dämonisierte, was keiner seiner europäischen Kollegen seinerzeit öffentlich zurückwies und von den Kritikern
amerikanischer Außenpolitik bestenfalls ironisch kommentiert wurde? Eine Fundamentalisierung der amtlichen politischen
Rhetorik, deren fanatisch-islamistische Version uns jetzt so erschreckt und die als Beweis der Unzivilisiertheit gilt - ist
doch auch ein Echo.
Nun ist also Rache angesagt. Dass niemand genau zu sagen vermag, gegen wen sie sich weltweit richten soll und insofern
auch der taktische Fehlschlag vorprogrammiert ist, das zu erkennen bedarf es leider wenig Phantasie. Aber dieser
Rachefeldzug - noch dazu in den angedrohten Dimensionen - stellt selbst den eigentlichen Fundamentalangriff auf die
historische Zivilisation dar. An deren westlichen Ursprüngen zumindest liegen zwei große mythologisch-theologische
Erzählungen, die beide von der Rache als dem gewissermaßen anti-zivilisatorischen Atavismus schlechthin handeln. Die
erste ist biblisch und berichtet von Kains Brudermord, der bekanntlich gleich nach der Vertreibung aus dem Paradies
erfolgt. Aber so schwer auch das Verbrechen Kains ist: Der HERR verbietet es den Menschen, den Verbrecher zu töten darum das Kains-Zeichen - und lässt den flüchtigen Kain zum Gründer einer Stadt, zum Begründer also von Zivilisation
werden:
damit keine Rache unter den Menschen sei; die behält Gott sich selbst vor.
Zivilisation heißt Überwindung von Rache.
Der zweite Gründungsmythos, von Homer überliefert und von Aischylos später erzählt, handelt von der
selbstzerstörerischen Logik der Vergeltung am Beispiel der Atriden-Geschichte: Jeder Mord war da durch einen neuen
Mord gerächt worden - bis die Göttin Athene die Erinnyen, die Rachegöttinnen, zu den Eumeniden, den Schutzgöttinnen
der Polis Athen, machte und durch ihre Stadtgründung den ewigen Zirkel der Vergeltung von Vergeltung unterbrach.
Politik wird ermöglicht durch die Überwindung von Rache.
Auch ein bin Laden samt seiner Helfer hat das Recht auf ein gerichtliches Urteil - bis dahin gilt für ihn und alle
Verdächtigen die Unschuldsvermutung, was jeden kriegerisch-zerstörerischen Rachefeldzug kategorisch ausschließt. Dass
man auf Terrorgewalt nicht mit Terrorgewalt antworten darf, vielmehr nur friedliche Mittel auf dem Wege zur strafenden
Gerechtigkeit unserer Zivilisation würdig sind, das ist es, was heute - in den eingangs zitierten Verzweiflungs-Worten von
Karl Kraus - „geschehen muss, was man sich nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht.“
Freitag, 21.9.2001
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Wollen wir den totalen Krieg?
Wieland Elfferding
VAGABUNDIERENDE GEWALT
Über das Neue und das Alte nach dem 11. September 2001
Angesichts der verheerenden Terrorschläge gegen die USA machte der Satz die Runde, es werde danach nichts mehr so
sein wie vorher. In der Öffentlichkeit breitete sich unmittelbar nach dem Attentat - gespeist durch das Entsetzen über eine
schwer zu verstehende Tat - eine Art Stunde-Null-Stimmung aus. Es überraschte, dass dieselben Menschen, die so redeten,
die alten Wörter aus der Sprache des Krieges - Angriff, Schuld und Vergeltung - gebrauchten, um die angeblich so neue
Lage zu beschreiben, statt den naheliegenden Schluss zu ziehen, dass auch die Kategorien und Handlungen von neuer Art
sein müssten. Denken und Sprache hinken den Ereignissen bis heute hinterher.
Das Meiste, das als so neu bezeichnet wird, stellt sich auf den zweiten Blick als gar nicht so neu heraus. Man muss nur das
Verhältnis von Staat und Terrorismus in den Blick nehmen. Der Terrorismus als Gewaltausübung gegen Staaten, ein nicht
erklärter „Krieg“ einer aus der Anonymität heraus operierenden Kriegspartei, wuchs aus dem imperialistischen
Kolonialismus hervor und fordert die Staaten in seiner neueren Form seit 30 Jahren heraus. Das ist die eine Seite.
Andererseits wird man sich noch gut daran erinnern, dass die Entwicklung der Militärstrategie des Pentagon nach dem
atomaren Patt unter der Devise einer „Wiedergewinnung der Kriegsführungsfähigkeit“ stand. Wie konnte militärische
Handlungsfähigkeit zurückgewonnen werden, ohne die Schwelle des Atomkrieges zu berühren? Durch Waffen mit
kleinerem Wirkungskreis, flexible Einsatzgruppen, punktgenaue Aktionen unterhalb von großen Truppenaufmärschen.
Wiederum, was war der neuere Terrorismus zunächst anderes, als eine Antwort auf die doppelte „Ohnmacht“, als kleine
Macht oder Bewegung gegen die Weltmächte nichts ausrichten zu können und auch bei der kleinsten Bewegung an der
Logik ihres Gegensatzes - am atomaren Patt zu scheitern?
Was jetzt schlagartig vor das Auge der Weltöffentlichkeit tritt, ist nicht der Beginn von etwas Neuem, sondern der
vorläufige Schlusspunkt einer langen Entwicklung. Sie kann mit dem Begriff der „Deterritorialisierung des Krieges“
zusammengefasst werden. Die schwindende Achtung vor der politischen und völkerrechtlichen Bedeutung der
Nationalstaaten ist sprichwörtlich; mit ihrer Macht, den Krieg durch Regeln zu „hegen“, ist es vorbei. In den politischen
Erklärungen, was nun nach dem „Tag X“ geschehen soll, wird - wie alle wissen können - nur noch mitunter der Eindruck
erweckt, als könne es sich um einen Krieg Staat gegen Staat handeln. In Wirklichkeit haben sich Politik und Militär seit
Jahrzehnten darauf eingestellt, dass supranational und subnational operiert wird. Die Entscheidungen gehen, wie die Kriege
seit 1991 zeigen, über die Köpfe der einzelnen Nation hinweg - die Struktur der militärischen Verbände und die von ihnen
eingeübten Einsatzformen unterlaufen, im Sinne kleiner, flexibler, schlagkräftiger und technisch hocheffektiver Einheiten,
längst die Grenzen der Nationalstaaten.
Es ist seit Jahrzehnten Gegenstand von Analysen und Debatten, dass sich das Koordinatensystem der Politik durch diese
Entwicklungen bereits entscheidend verändert hat. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand, wird aber aus Pietät selten
ausgesprochen: Die Mutation des Krieges in internationale Polizeiaktionen, überhaupt die viel beschriebene Verwischung
von Innen und Außen des Staates, von Militär und Polizei, ist ein zur Entwicklung des Terrorismus komplementärer
Prozess, der dieselben Grenzen des Staates durchstößt, dieselben Rechte des Zivilbürgers verletzt. Wozu haben wir die
Diskussionen vergangener Jahrzehnte über den Zusammenhang von Sicherheitsstaat, Militarisierung der Gesellschaft und
Bedrohung der Menschenrechte geführt, wenn wir jetzt aus dem Mustopf kommen? Wo ist die Erinnerung an die Debatten
über das Verhältnis von „Friedensmissionen“, Verteidigung der Menschenrechte, Schwäche des Nationalstaates und
Großmachtwillkür? Noch einmal: Was ist wirklich neu an der Welt nach dem 11. September 2001?
Die Dimension des terroristischen Anschlags sei - so wird immer wieder gesagt - eine neue. Ist es der Unterschied
zwischen zwei-, dreihundert Toten bei den bisher bekannten Anschlägen auf Flugzeuge oder auf Botschaften und den
Tausenden Toten, die in New York und Washington zu beklagen sind? Es wäre monströs, das als rein quantitativen
Unterschied zu bezeichnen; dennoch glaube ich nicht, dass dieser Unterschied gemeint ist. Der Schock besteht vielmehr in
dem doppelt Unerwarteten, dass eine Gruppe von - ja, von Menschen, das Symbol des amerikanischen Kapitalismus im,
wie immer wieder gesagt wird, Herzen der USA, die seit dem Bürgerkrieg keinen Krieg mehr gesehen haben, zum Ziel
eines solchen Anschlages wählte; und dass dieser Schlag als Selbstzweck geführt wurde, nicht um etwas zu erpressen,
sondern nur um diesen Schlag zu führen und die Weltmacht damit zu treffen. Die symbolische Gewalt des Anschlags rief
das symbolische Kapital „des Westens“ auf den Plan. Die „uneingeschränkte Solidarität“ mit den Amerikanern, nationale
Aufwallungen jenseits und diesseits des Atlantik, die Beschwörung der „westlichen Wertegemeinschaft“.
Doch wer heute zur Verteidigung der Werte der „zivilisierten Welt“ aufruft, muss sich erinnern lassen: Zwischen den
skizzierten grundstürzenden Veränderungen im politischen Koordinatensystem der Welt und der Berufung auf „Werte“
besteht ein beunruhigender Zusammenhang. Erinnert man sich nicht mehr an den Diskurs des Ronald Reagan, der sich als
Vertreter eines „Reichs des Guten“ inszenierte, das zur Bekämpfung eines drohenden „Reichs des Bösen“ zu jeglicher
Intervention an jedem Punkt der Erde berechtigt sein sollte? Führen die Spuren dieser christlich-fundamentalistischen
Ideologie nicht bis zur Rede von den „Schurkenstaaten“, die diese aus der „internationalen Staatengemeinschaft“
aussondert und sprachlich für Gegenschläge präpariert, deren Legitimität nur noch am militärischen Erfolg, nicht jedoch
mehr an Normen des Völkerrechts zu messen sein würden? Bildet also, mit anderen Worten, der Wertediskurs - wie immer
„gut gemeint“ - nicht die schiefe Ebene, auf der die Bekämpfung des Terrorismus in einen Heiligen Krieg unter
umgekehrten Vorzeichen abzurutschen droht? „Der Westen“ würde sich gleichmachen mit denen, die er zu bekämpfen
vorgibt.
Viele raten in diesen Tagen zu Recht, ruhig Blut zu bewahren. Das könnte darin bestehen, weniger auf die Parolen als auf
die harten Tatsachen der Militärstrategie zu achten. Gerade da herrscht allerdings größte Verwirrung. Zeitungen
veröffentlichen Karten mit allen Ländern, die von den USA der Unterstützung des internationalen Terrorismus beschuldigt
werden. Soll im vom Präsidenten der USA angekündigten „großen Feldzug“ allen diesen Staaten der Krieg erklärt werden?
Offensichtlicher Unsinn. Also sind diejenigen im Visier, denen die Unterstützung der am Anschlag auf die USA
Verantwortlichen nachgewiesen wird, zum Beispiel Afghanistan. Wie soll ein solcher Nachweis geführt werden? Der
Name Osama bin Laden wird ständig genannt; Fachleute weisen zugleich darauf hin, dass der internationale Terrorismus
netzwerkartig strukturiert sei, also gerade nicht im Sinne von „Drahtziehern“ beziehungsweise direkten Auftraggebern und
Gefolgsleuten. Wie soll dann eine Verantwortung nachgewiesen und ein Militärschlag legitimiert werden? Oder muss es
die „westliche Wertegemeinschaft“ angesichts der Anonymität des Gegners mit solcher Legitimation in Zukunft nicht so
genau nehmen?
Reicht in Zukunft der bloße Verdacht oder gar nur der Name eines Landes auf der Liste der „Schurkenstaaten“, um gegen
es Gewalt anzuwenden? Wir kennen die Versuche der USA, „Schurken“ auszuschalten: Bomben auf Ghaddafis
Hauptquartier 1986, Ziel verfehlt. Zwei Golfkriege, um Saddam Hussein zu stürzen, Saddam Hussein regiert unbeeindruckt
- soll diese Serie nun mit bin Laden fortgesetzt werden? Da ist von Luftschlägen die Rede, die jedoch, wie sofort versichert
wird, nicht ausreichen werden; dann lässt man das Bild von James-Bond-Aktionen vor unseren Augen entstehen, die
grundsätzlich kein Völkerrecht, sondern nur eine selbst verfertigte Weltmoral kennen; welches aber soll die Rolle der
Verbündeten sein, wenn - wie Fachleute schreiben - der Terrorismus könne nur in seinem Medium, im Geheimen bekämpft
werden?
Das absolute Durcheinander, das hier herrscht, zeigt lediglich eins: Die verschiedenen Teile der neuen Weltordnung Militärstrategie, transnationale Politik und Völkerrecht - passen nicht zueinander. Es fehlt eine Vorstellung davon, wie die
versprengten Teile, die sich auseinander entwickelt haben und die sich gegenseitig zu zerstören drohen, wieder
zusammengefügt werden können. Carl Schmitt war wohl der letzte Theoretiker der „Raumrevolutionen“, die in
vergangenen Jahrhunderten den Übergang vom Land- zum Seekrieg und schließlich zum Luftkrieg bestimmten. Er
bedachte, von einem reaktionären Standpunkt aus, die Folgen der großen Umbrüche in den Weltkonzepten für Politik,
Militär und Völkerrecht. Fast prophetisch schrieb er über das Element des damals neuen Luftkriegs: „Denkt man nämlich
daran, mit welchen technisch-maschinellen Mitteln und Energien die menschliche Macht im Luftraum ausgeübt wird, und
stellt man sich die Explosionsmotoren vor, durch die Luftmaschinen bewegt werden, so erscheint einem eher das Feuer als
das hinzutretende, eigentlich neue Element menschlicher Aktivität.“ In seinem Buch Nomos der Erde heißt es nach dem
Zweiten Weltkrieg: „Indem man heute den Krieg in eine Polizeiaktion gegen Störenfriede, Verbrecher und Schädlinge
verwandelt, muss man auch die Rechtfertigung der Methoden dieses ‚police bombing’ steigern.“
Aus dem Zusammenbruch des alten europäischen Völkerrechts folgte für ihn, dass neue „Freundschaftslinien geschichtlich
fällig sind. Aber es wäre nicht gut, wenn sie nur durch neue Kriminalisierungen zustande kämen.“
Angesichts der neuen Weltunordnung, die durch verschärfte soziale Spannungen, geschwächte oder - in manchen
Kontinenten - zusammenbrechende Nationalstaaten, Unterminierung des Völkerrechts und Privatisierung der militärischen
Gewalt bei höchster Gefährdung für die Demokratie gekennzeichnet ist, fehlt es an Vordenkern eines neuen Nomos der
Erde, gleichsam an einem ins Demokratische gewendeten Carl Schmitt der Jetztzeit.
Gewalt, Ordnung und Schutz standen in der alteuropäischen Ordnung in einem gewissen Gleichgewicht, das durch die
Nationalstaaten gehalten wurde. Die zentrale Figur dieses Gleichgewichts stellte der Zivilist dar, für den sich Privatnutzen,
Frieden und Unterordnung rechneten und mit einer gewissen Autonomie der Zivilgesellschaft à la longue übereinstimmten.
Heute beginnt die Gewalt, einschließlich der staatlichen, zu vagabundieren, ohne dass weltzivilgesellschaftliche
Verbindlichkeiten und eine politische Ordnung die vermissten Sicherheiten zurückgeben könnten. Ohnmacht und
Übermacht mit allen ihren Konsequenzen können nur gebannt werden, wenn die Staaten ein Pendant zur Gewaltenteilung
erfinden, die innerstaatlich verloren zu gehen droht. Regeln erfinden statt Werte verkünden - das könnte eine
Handlungsrichtung sein.
Freitag, 28.9.01
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Über Jahrzehnte aufgestauter Hass
Mohssen Massarrat
Professor Mohssen Massarrat, Politik- und Sozialwissenschaftler iranischer Herkunft an der Universität Osnabrück,
arbeitet zu den Schwerpunkten Friedens- und Konfliktforschung sowie Naher und Mittlerer Osten, Auswirkungen der
Globalisierung auf die regionalen Ökonomien. Er ist Herausgeber des Buches Mittlerer und Naher Osten, 1996 (agenda
Verlag).
VERZERRUNGEN
Eine Reduzierung des internationalen Terrorismus auf den Islam führt in die Irre
Was ist das für eine Religion, die solche Monster hervorruft“, fragt kurz nach dem Inferno von New York die Redakteurin
eines liberalen, einflussreichen deutschen Hörfunksenders einen Islamexperten. Welche Naivität und welche Unwissenheit!
Die Journalistin steht für die Unwissenheit des Westens über die tiefgreifenden Hintergründe des Massenmords. Die
allgemeine Ahnungslosigkeit, verbunden mit dem Vorpreschen der militärisch-geostrategischen Kreise in den USA und der
NATO, die ihre Stunde für eine weitere Militarisierung der internationalen Beziehungen für gekommen halten und nicht
davor zurückschrecken, die weltweite Trauer um die Opfer des Terrors für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, droht zu
einem gefährlichen Gemenge zu werden. Es dürfte der Gewalteskalation einen neuen Schub mit ungeahnten Folgen geben.
Um es klar zu sagen: ein großangelegter Krieg gegen die Taleban-Regierung in Afghanistan mit Hilfe Pakistans könnte
einen Flächenbrand auslösen, zumindest aber den brüchigen pakistanischen Staat destabilisieren.
Die Auswirkungen einer Gewalteskalation reichen weit über die arabisch-islamische Welt hinaus. Bei aller Betroffenheit
über den Terroranschlag in den USA dürfen wir nicht über den Umstand hinwegsehen, dass viele Menschen in der Dritten
Welt sich nicht über die Massenmorde selbst, sehr wohl aber über die Zerstörung der Symbole von Reichtum und Macht in
einer globalisierten Welt klammheimlich freuen. Abertausende von ihnen könnten alsbald die Schwelle von passiver
Zustimmung zum aktiven terroristischen Handeln überschreiten und überall in der Welt mit neuen Mitteln den gerade
begonnenen „globalisierten und modernen Partisanenkrieg“ weiterführen. Die Zerstörung der Legende von der
Unverwundbarkeit der mit Abstand größten Militärmacht der Welt dürfte bei der großen Masse von Entrechteten und
Gedemütigten zu einer Welle von terroristischen Nachahmern führen.
Moderner „Partisanenkrieg“ gegen die Weltmacht USA
Die Welt befindet sich in einer äußerst kritischen Situation. Durch den „ersten Krieg in diesem Jahrhundert“ (George W.
Bush) würde der „Krieg der Zivilisationen“ wahrscheinlicher, allerdings nicht im Sinne Huntingtons, sondern als ein Krieg,
den die extremistischen Eliten der armen und der reichen Welt durch die Instrumentalisierung der jeweiligen kulturellen
Werte für die eigenen Zwecke gegeneinander ausfechten. Opfer dieses Krieges wären auf beiden Seiten die
Zivilbevölkerung, die Demokratie, andere zivilisatorische Errungenschaften und die Umwelt.
Woher aber kommt der über Jahrzehnte aufgestaute Hass auf Amerika in der arabisch-islamischen Welt? Dazu seien einige
fundamentale Aspekte skizziert: Der Israel-Palästina-Konflikt ist dabei zweifelsohne der wichtigste Kristallisationspunkt,
aus dem alle antiwestlich arabisch-nationalistischen und islamisch-fundamentalistischen Bewegungen Kraft und
Legitimation schöpfen. Israel ist die größte, auch mit Atomwaffen ausgerüstete Militärmacht im Nahen und Mittleren
Osten und weigert sich, gerade wegen seiner Überlegenheit, seine Besatzungspolitik in Palästina zu beenden. Vielmehr
stellt dieses Land tagtäglich seine Dominanz als Besatzungsmacht demonstrativ zur Schau, die palästinensische Häuser
zerstört, palästinensischen Grund und Boden beschlagnahmt, die Palästinenser demütigt. Bei den Arabern und Moslems in
der ganzen Welt verursacht diese Schmach Wut und Gefühle der Ohnmacht, die sich bisher in terroristischen Anschlägen
gegen westliche Touristen (wie in Ägypten) und gegen eigene korrupte Regierungen entluden, die sich mit Rücksicht auf
die USA gegenüber dem Israel-Palästina-Konflikt eher zurückhaltend geben.
Nun ist es Osama bin Laden gelungen, die angestaute Wut durch die im Zusammenhang mit dem zweiten Golfkrieg gegen
den Irak 1990/91 gegründete Internationale Brigade der arabischen Afghanen in einen modernen „Partisanenkrieg“ gegen
die Weltmacht USA zu kanalisieren. Amerika gilt in den Augen der arabisch-islamischen Völker als entscheidende
Schutzmacht der israelischen Besatzungspolitik.
Das „kalkulierbare Risiko“ wird zum Bumerang Zu den schmerzlichen Wahrheiten des auch nach dem Terroranschlag
gegen die USA weiter eskalierenden Israel-Palästina-Konflikts gehört, dass Israel offenbar den Erhalt des gegenwärtigen
Zustandes einer Aufgabe seiner Besatzungsmacht und einem dauerhaften Friedens vorzieht. Auch die USA haben
erkennbar an einem stabilen Nahost-Frieden kein ernsthaftes Interesse. Ich glaube seit längerem nicht an die Mär von der
jüdischen Lobby in Amerika als eigentlichem Hindernis für eine aktivere Rolle Washingtons im Friedensprozess. Vielmehr
verstecken sich alle US-Regierungen hinter dieser Legende - Konflikteskalation in Nahost passt besser in die USGeostrategie als ein dauerhafter Frieden.
Seit einem halben Jahrhundert verfolgen die USA im Nahen und Mittleren Osten eine Politik der Destabilisierung und
Konflikteskalation mit „kalkulierbarem Risiko“ (low intensity war) - deren entscheidende Elemente sind der IsraelPalästina-Konflikt, aber auch die Protektion korrupter und diktatorischer Regimes. Es gibt kein einziges Beispiel dafür,
dass die Amerikaner demokratische Entwicklungen in der Region unterstützt hätten - im Gegenteil. Sie haben 1953 die
demokratisch gewählte Regierung Mossadegh im Iran mit Hilfe von CIA und Pentagon gestürzt, den Schah an die Macht
zurückgeholt, dessen Regime zu einer regionalen Supermacht hochgerüstet. Dadurch wurde einerseits ein gigantischer
Rüstungswettlauf am Persischen Golf entfesselt, andererseits der islamische Fundamentalismus im Iran gestärkt und so
indirekt der Islamischen Revolution der Weg bereitet.
Der Rüstungswettlauf entlud sich 1980 und 1990/91 in zwei Golfkriegen. Im ersten unterstützten die USA Saddam Hussein
gegen den Iran und machten den Irak zur stärksten Militärmacht am Golf. Im zweiten gingen sie mit UN-Mandat gegen das
Regime von Saddam Hussein vor, als der glaubte, die USA weiter auf seiner Seite zu haben und daher Kuwait ungestraft
annektieren zu können.
Islamische Fundamentalisten im Iran, der Panarabist Saddam Hussein, nicht zu vergessen das Taleban-Regime in
Afghanistan, aber auch die islamistische Strömung um Osama bin Laden - all das sind Produkte der amerikanischen
Konflikt- und Eskalationspolitik im Nahen und Mittleren Osten. Alle diese Phänomene haben die Demokratisierung in der
Region um Jahrzehnte zurückgeworfen und den Völkern beträchtlichen Schaden zugefügt, den kurzfristigen
amerikanischen Interessen jedoch nicht geschadet.
Nun hat sich durch die Anschläge vom 11. September das Konzept einer Destabilisierungsstrategie mit „kalkulierbarem
Risiko“ als Bumerang erwiesen. Die auf stringenten ökonomischen und geostrategischen Interessen basierende Politik der
USA und des Westens wird durch den globalisierten Terrorismus eingeholt. Wie die drohende Klimakatastrophe als
Reaktion der Natur auf ein kurzsichtiges ökonomisches Handeln der reichen Eliten in den Industrie- und
Entwicklungsländern gesehen werden muss, ist der globalisierte Terrorismus die politische Reaktion auf die Art und Weise
der Aufrechterhaltung und Absicherung des Systems. Insofern tragen alle westlichen Staaten - allen voran die USA - eine
beträchtliche Mitverantwortung für das Inferno in New York und Washington.
Identitätskrisen und Feindbilder der Entwurzelten
In der islamischen wie in der gesamten Dritten Welt vollziehen sich gegenwärtig eine historisch längst fällige
Transformation und Industrialisierung. Das führt zu tiefen sozialen Brüchen, Entfremdung, Entwurzelung und individuellen
Identitätskrisen - noch verstärkt durch den Globalisierungsdruck. Die nachhaltigste Form der soziokulturellen und sozialpsychologischen Aufarbeitung dieses konfliktträchtigen Prozesses, der in Europa über zwei Jahrhunderte dauerte, sind
Demokratisierung und Selbstbestimmung. Durch Einmischung, Intervention und Unterstützung korrupter und
diktatorischer Regimes sowie Aufpfropfen seiner Industrialisierungsmuster hat der Westen - allen voran die USA - dazu
beigetragen, dass diese Aufarbeitung unterbrochen und verzerrt wurde oder überhaupt nicht stattfand. Die große Masse der
Entwurzelten empfindet so die entstandene Identitätskrise als fremdgesteuerten Angriff auf eigene kulturelle Werte. Sie ist
daher prädestiniert, Feindbildern zu folgen, ihr Heil in nationalistischen wie fundamentalistischen Perspektiven zu suchen
und gleichzeitig den Westen für das eigene Leid verantwortlich zu machen.
Schließlich: Die von der reichen Elite in der Welt, internationalen Konzernen und Finanzinstitutionen gelenkte
ökonomische Globalisierung hat die ungleiche Einkommensverteilung in der Welt in den vergangenen Jahrzehnten
vergrößert. Über eine Milliarde Menschen in der Dritten Welt kämpfen um das tägliche Brot und fristen ein verzweifeltes
Dasein. Die in dieser Ungerechtigkeit schlummernden sozialen und politischen Instabilitätsfaktoren können unmöglich
militärisch eingedämmt werden. Die zahlreichen US-Militärbasen in der Dritten Welt befinden sich auf einem Pulverfass.
Die bittere Armut und kulturelle Entwurzelung bei gleichzeitiger Zurschaustellung des Reichtums der Eliten in den
globalisierten Kommunikationssystemen stellen den fruchtbarsten Nährboden für den neuartigen globalen Terrorismus der
Zukunft dar.
US-Administration folgt einer Logik der Lynchjustiz
Die hier skizzierten Thesen, die für den tiefen Hass auf Amerika nicht nur in der islamischen Welt Anhaltspunkte liefern,
entspringen keiner verschwörungstheoretischen Sicht, weil sie vielleicht teilweise schwer vorstellbar scheinen. Sie sind
durch eine systematische Analyse der Ereignisse und Fakten wissenschaftlich nachweisbar und zeigen, dass die behauptete
Kausalität zwischen dem internationalen Terrorismus und dem Islam in die Irre führt. Vielmehr sind es sozioökonomische
und kulturelle Umstände, die Extremismus und Gewaltbereitschaft hervorrufen und heute im islamischen
Fundamentalismus und arabischen Nationalismus ebenso wie im serbischen Nationalismus oder im hinduistischen
Fundamentalismus in Indien und anderswo ihre Ausdrucksform finden.
Die Vorstellung der US-Administration und einiger NATO-Regierungen, den internationalen Terrorismus mit militärischen
Mitteln auszumerzen, ist völkerrechtswidrig, entspricht einer Logik der Lynchjustiz und verletzt alle rechtsstaatlichen
Normen. Sie ist in der Sache absurd und erfüllt im Wesentlichen den Zweck, von eigener Mitverantwortung für den
Terrorismus abzulenken. Wer dennoch auf die militärische Karte setzt, wird die globalen Instabilitäten und Ungleichheiten
verschärfen und neue Generationen von Terroristen erzeugen. Andererseits rechtfertigen die objektiven Ursachen des
Terrorismus weder moralisch, noch politisch, noch rechtlich terroristisches Handeln. Daher müssten die Verantwortlichen
für den Angriff auf die USA ohne Wenn und Aber vor einem internationalen Gericht abgeurteilt werden.
Die egoistischen, offenbar unter Realitätsverlust leidenden reichen Eliten der Welt müssten allerdings spätestens jetzt
begreifen, dass die Konservierung ihres Lebensstils und der globalen Ungerechtigkeiten kaum vorstellbare Katastrophen
heraufbeschwört und dass in ihrem eigenen Interesse eine Wende in den globalen Beziehungen auf der politischen Agenda
steht. Dabei fällt Europa eine Vorreiterrolle zu, die allerdings voraussetzt, sich nicht länger wie bisher hinter der Nah- und
Mittelostpolitik der USA zu verstecken. Reformkräfte in Europa müssten erkennen, dass ein dauerhafter Frieden in der
Region, eine nachhaltige Energieversorgung Europas, die bisher durch die USA torpedierte Klimapolitik und europäische
Nahost-, Außen- und Friedenspolitik miteinander in einem inneren Zusammenhang stehen und dass sie - um aus dieser
Erkenntnis für Europa eine selbstständige Handlungsperspektive zu entwickeln - zuallererst die US-amerikanische
Zwangsjacke abzulegen hätten.
Freitag, 28.9.01
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Wird Amerika das Rom unserer Zeit?
Peter Bender
ZERFALLENDE WELTMÄCHTE
Trotz aller verfassungsrechtlicher und ideologischer Bedenken haben Rom und Amerika viel gemeinsam.
Doch wie weit trägt der historische Vergleich?
Amerikaner und Römer haben manches Wesentliche gemein, das unabhängig ist von Zeit, Raum und Verfassung. Die erste
Ähnlichkeit ergibt sich aus der Geografie: Italien und Amerika sind Inseln, größtenteils oder nur über Meere erreichbar.
Auf ihren Inseln konnten sich Römer und Amerikaner lange fast ungestört entwickeln und Kräfte sammeln. Bevor ihnen
die Führung der Weltpolitik zufiel, waren die Römer die erste Militärmacht der ganzen Mittelmeerwelt und die Amerikaner
die erste Militärmacht des Globus, beide unerreichbar in ihrer Überlegenheit über alle anderen. Als sie überseeische
Gebiete in ihre Gewalt nahmen, blieben sie noch lange Insulaner. Wo es ging, vermieden sie die Errichtung direkter
Herrschaft. Rom provinzialisierte zunächst nur seine Erwerbungen im westlichen Mittelmeer mit Stämmen ohne feste
staatliche Organisation. In der hellenistischen Welt hingegen begegneten ihm hoch entwickelte Staaten und Städte, deren
Land es nach drei siegreichen Kriegen wieder räumte. Ein halbes Jahrhundert lang herrschte der römische Staat im Osten
nur als Patron und Schiedsrichter.
Insulare Denkweise
Der Senat in Washington lehnte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts konsequent jede Annexion außerhalb des
amerikanischen Festlands ab. Erst mit dem Krieg gegen Spanien im Jahr 1898 fielen die Hemmungen, die Vereinigten
Staaten annektierten eine Reihe von Inseln in der Karibik und im Pazifik. Die Neigung, lieber zu kontrollieren als zu
regieren, erklärt sich bei beiden aus ihrer Verfassung. Als Stadtstaat war Rom unfähig, ein Reich zu verwalten. Die
amerikanische Föderation konnte sich nur erweitern, indem sie „Territorien“, die schon amerikanisch besiedelt waren, als
neue Staaten in die Union aufnahm. Aber das war nicht alles. Beide zogen geographisch und kulturell einen scharfen
Trennungsstrich zwischen ihren Stammländern Italien und Nordamerika einerseits und andererseits ihren Erwerbungen
jenseits der Meere. Beide unterschieden zwischen Völkern, die romanisierbar oder amerikanisierbar erschienen, und
anderen, bei denen keine Aussicht erkennbar war, dass man sie sich anverwandeln könnte. Für beide war klar: Wir
brauchen die fremden Inseln und Gegenküsten, aber sie gehören nicht zu uns. Erst mit Caesar begann eine systematische
Ansiedlung römischer Bürger in den Provinzen. In Washington bestimmt Isolationismus die Politik zwar nicht mehr, aber
sein Einfluss ist noch überall spürbar. Mit Außenpolitik beschäftigt sich nur eine kleine Elite von Senatoren und Experten.
Und auch bei denen lebt die insulare Denkweise weiter - wie lässt sich sonst die Hartnäckigkeit erklären, mit der immer
wieder versucht wird, mit einem fragwürdigen Raketenabwehrsystem die frühere Unverwundbarkeit Amerikas
wiederherzustellen? Aber wenn sie ausgeprägte Insulaner waren, weshalb haben sie dann ihre Inseln verlassen und sich
jenseits der schützenden Meere politisch und militärisch engagiert?
Hier zeigt sich eine zweite Ähnlichkeit, denn die Antwort ist in beiden Fällen gleich: Die Meere schützten nicht mehr oder
schienen es nicht mehr zu tun. Die Römer machten diese bittere Erfahrung schon im Ersten Punischen Krieg. Die
karthagische Flotte brandschatzte die Küsten Italiens und verunsicherte Roms Verbündete. Der Senat reagierte, indem er
nach dem Sieg den Karthagern ihre Flottenbasen wegnahm, Sizilien, Sardinien und Korsika. Später wurde Spanien zur
Gefahr. Die Karthager schufen sich mit „Neu-Karthago“, Cartagena, eine neue große Flottenbasis; und Hannibal bedrohte
sogar Rom selbst, indem er von Nordspanien über die Alpen ging und in Italien eindrang. Als er nach 17 Jahren endlich
besiegt war, nahmen die Römer die gesamte spanische Mittelmeerküste samt Hinterland in Besitz. Schon ein Jahr nach
dem verheerenden Hannibal-Krieg zogen die Legionen gegen den Makedonen-König Philipp und acht Jahre danach gegen
den syrischen König Antiochos. Die Friedensbedingungen, die der Senat nach beiden Kriegen stellte, entsprachen dem
Zweck der Kriegserklärungen:
Italien sollte sicher werden vor Gefahren aus dem hellenistischen Osten. Die besiegten Könige mussten alle Eroberungen
herausgeben, ihre Kronprinzen als Geiseln nach Rom schicken und abrüsten.
Zivilisation gegen Barbarei
Für die Amerikaner kam das Gefühl, dass die Meere sie nicht mehr schützten, erst im Zweiten Weltkrieg. In den Ersten
waren sie mehr hineingeraten als hineingegangen. Aber noch einmal sollte ihnen das nicht passieren, für zwei Jahrzehnte
fielen sie in die insulare Abstinenz zurück. Sie verweigerten sich dem Völkerbund, den ihr eigener Präsident erfunden hatte
und verabschiedeten eine Serie von Gesetzen, die alles verboten, das sie in den Krieg gebracht hatte: an kriegsführende
Staaten keine Waffen, keine Anleihen, keine Warenlieferungen auf amerikanischen Schiffen! Als der zweite Krieg
ausbrach, lehnten 84 Prozent eine Beteiligung ab. Doch allmählich änderte sich die Einstellung. Europa unter deutscher
Herrschaft und Ostasien unter japanischer - das bedeutete das Ende des freien Welthandels und damit die Zerstörung der
amerikanischen Lebensgrundlage. Das Ende der Demokratie in Europa - das gebot die Verteidigung der Zivilisation gegen
die Barbarei.
Nach dem Sieg über Hitler, als Amerika seine Boys gar nicht schnell genug nach Hause bekommen konnte, drohte von
Stalin eine neue Gefahr, die der alten zu gleichen schien: Ein totalitär beherrschtes Europa, das dem freien Welthandel
entzogen wäre, keine Demokatien mehr hätte und der Sowjetunion so viel Macht gäbe, die Amerika selbst bedrohnen
konnte. Die Vereinigten Staaten taten, was sie noch nie getan hatten: Mit der NATO verpflichteten sie sich dauerhaft
(Kündigung erst nach 20 Jahren möglich), Westeuropa zu verteidigen. Es war eine tiefe Zäsur in ihrer Außenpolitik:
In den beiden Weltkriegen hatten sie sich nur für begrenzte Zeit in anderen Erdteilen engagiert, mit der Militärallianz der
NATO aber verstießen sie gegen den fast geheiligten Grundsatz, keine „verstrickenden Bündnisse“ (entangling alliances) in
Übersee einzugehen. Sie banden die Neue Welt unauflöslich an die alte, verpflichteten sich zugleich zum Schutz Japans
und lösten sich aus der splendid isolation, die ihnen anderthalb Jahrhunderte lang Abstand zu allem erlaubt hatte, das nicht
ihre Sache war. Als dann Mao Tse-tung siegreich in Peking einzog, Kim Il-Sung Südkorea angriff und die Franzosen mit
Ho Tschi-Minh nicht fertig wurden, nahm die Gefahr in amerikanischer Sicht globalen Umfang an: Dem
„Weltkommunismus“ konnten sie nur weltweit entgegentreten.
Die entscheidenden Kämpfe, die beide zur Weltmacht brachten, waren Zweikämpfe, Amerika -Sowjetunion, Rom Karthago. In beiden Fällen verbissen sich die Gegner so fest ineinander, dass sie nur noch beschränkt Herren ihrer
Entschlüsse waren. In der Absicht, sich zu sichern, expandierten Rom und Amerika. Eins ergab sich jeweils aus dem
anderen - wie bei konzentrischen Kreisen: Jeder Kreis, der geschützt werden sollte, verlangte die Besetzung des nächst
größeren Kreises. Von einem Sicherheitsbedürfnis zum nächsten getrieben, kamen die Römer rund um das Mittelmeer. Mit
dem Kampf gegen Hitler, Stalin und den Tenno gelangten die Amerikaner nach Europa und Ostasien; von einer
Eindämmungsabsicht zur nächsten gejagt, gerieten sie auf alle Erdteile. Allmählich verschwammen die Grenzen zwischen
Sicherheits- und Machtpolitik.
Weshalb aber eine latinische Stadt unter etruskischer Herrschaft und 13 englische Kolonien zu höchsten Gipfeln aufstiegen,
wird nur durch besondere Qualitäten verständlich, einige davon sind einander ähnlich. Bei den Amerikanern denkt man
zuerst an ihre freiheitliche Verfassung, die Kräfte freisetzte und dem Bürger Möglichkeiten eröffnete, die auch dem Staat
zugute kamen. Der römische Staat funktionierte mit seiner ungeschriebenen Verfassung, wie selten ein Staat funktioniert
hat. In dem entscheidenden Jahrhundert von 264 bis 168 v. Chr. entwickelte und bündelte er die Kräfte, mit denen Rom
sich behauptete und aus jeder überstandenen Not einen Fortschritt machen konnte. Was beide vereint, sind ihre unbändige
Energie, ihre Weigerung, sich mit Halbheiten zu begnügen, ihre Entschlossenheit, eine Sache zu Ende zu führen, und ihre
Überzeugung, alles durchsetzen zu können, wenn man nur kräftig genug darangeht. Amerikaner wie Römer drängten, wo
es irgend ging, auf Sieg- und nicht auf Verhandlungsfrieden; der „unconditional surrender“ entsprach die „deditio“, nach
der „die Römer Herr über alles sind und die Kapitulierenden Herr über nichts mehr“. Beiden ging es um das
uneingeschränkte Recht, Feinde für immer unschädlich zu machen. Schließlich die vielleicht wichtigste Gemeinsamkeit:
Römer und Amerikaner hatten den Sinn für Macht, ohne den man nicht Weltmacht wird. Ihr Streben nach Sicherheit für
ihre Insel geriet zum Herrschaftsanspruch über die Insel. Mit jeder Hilfeleistung für andere Staaten wurden sie zum SchutzHerrn, sie gaben Schutz und gewannen Herrschaft; die Schützlinge täuschten sich meistens, wenn sie annahmen, Rom oder
Amerika ohne Souveränitätseinbuße benutzen zu können.
Vom Selbstschutz zur Vorherrschaft
Die Überzeugung der Römer, erkennbar seit Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts, zur Herrschaft über die Welt
berufen zu sein, führte zu unbeirrbarer Selbstgewissheit. Amerikaner handeln in der unerschütterlichen Überzeugung, ihr
Land habe eine Mission in der Welt, was gut ist für Amerika, sei daher auch gut für die Welt. William Fulbrights Diktum
von der „Arroganz der Macht“ hat seine Entsprechung in der „superbia“, die nicht nur Roms Feinde, sondern auch seine
Verbündeten ihm vorwarfen. Zu ihrer höchsten Steigerung kommen Machtgefühl und Machtpolitik, wenn die Macht nicht
mehr durch eine Gegenmacht eingeschränkt wird. Seit der Schlacht von Pydna, dem endgültigen Sieg über Makedonien im
Jahr 168 v. Chr., gab es im gesamten Mittelmeerraum keinen Staat mehr, der Rom hätte herausfordern können. Seit der
Auflösung der Sowjetunion haben die Vereinigten Staaten keinen Gegner mehr, den sie fürchten müssen. Von niemandem
ernstlich gefährdet, allen überlegen, in jedem Verhältnis fast immer der Stärkere, von vielen gehasst, von vielen um Schutz
gebeten, auch von Freunden weniger geliebt als benutzt, aber Rechenschaft schuldig nur sich selbst einzige Weltmacht zu
sein, ist ein Schwindel erregender Zustand. Er erlaubt fast jede Willkür, aber gebietet höchste Verantwortung. Kein
Regime, gleich welcher Art, und auch keine Nation hält das aus, ohne Schaden zu nehmen.
Die Wahrung der eigenen Existenz ist für jeden Staat erstes Gebot, das zweite Gebot aber, die Wahrung der eigenen
Vorherrschaft, ist eine Spezialität dominierender Weltmächte. Geschlagene Feinde nie wieder hochkommen zu lassen, hat
Rom sich bemüht, nach seinem Sieg bei Pydna geschah es mit gesteigerter Brutalität. Makedonien wurde viergeteilt, das
Königtum (aus dem ein Alexander hervorgegangen war) abgeschafft, der letzte König eingekerkert, 150.000 Epiroten
versklavt, 2.000 griechische Geiseln nach Italien deportiert. Später, im Jahr 146, Zerstörung und Versklavung von Korinth,
der reichsten Stadt Griechenlands und Karthagos, das dem Erdboden gleich gemacht wurde. Auch die Politik Washingtons
verschärfte sich allmählich, nachdem die Gegenmacht Sowjetunion nicht mehr existierte. Amerika wird nicht so brutal wie
Rom - für die Betroffenen ein wesentlicher Unterschied -, aber Amerika erinnert an Rom in seiner wachsenden
Selbstherrlichkeit und dem Hauptziel, keine andere Macht neben sich entstehen zu lassen.
Römer befahlen, Amerikaner drängen
Um Russland einzuschränken, stützt es die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, besonders die Ukraine, dringt
wirtschaftlich in die zentralasiatische Erdölregion ein und begünstigt dort nichtrussische Interessenten. Mit der Ausdehnung
der NATO auf Polen, Tschechien und Ungarn schränkt es Russland von Westen ein und erweitert seine Macht über Europa.
Gegen China bleibt es in Japan und Südkorea politisch und militärisch in Stellung und genießt bei alledem, dass seine
Anwesenheit in den meisten dieser Länder erwünscht ist, weil sie Stabilität schafft. Auch für die Amerikaner wurde die
Macht vom Mittel zum Zweck. Sie rüsten nicht mehr, um einen Feind abzuschrecken, sondern um militärisch uneinholbar
der Stärkste zu bleiben. Sie halten in allen Erdteilen ihre Stützpunkte, als ob noch der „Weltkommunismus“ eingedämmt
werden müsste. Sie reden von einer Weltordnung, für die sie sorgen müssten, aber ordnen sich selbst nicht ein, sondern
beanspruchen eine Stellung über allen Staaten der Welt. Was ihren Interessen oder Wünschen widerspricht, schieben sie
beiseite, global humanitäre und ökologische Vereinbarungen wie Rüstungskontrollabkommen von Bedeutung für den
Weltfrieden. Die NATO möchte sie als Werkzeug ihrer globalen Politik nutzen, und für ein Antiraketensystem, ihre
vermeintliche Sicherheit, riskieren sie ihr Verhältnis zu Moskau und Peking und ignorieren die Bedenken ihrer
Verbündeten. Wenn die eigenen Kräfte nicht ausreichen oder geschont werden sollen, braucht man Hilfskräfte, vor allem
im Militärischen. Die Römer haben schon ihre Kriege in Italien mit Hilfe der socii, der Verbündeten geführt, später
konnten sie das Reich nicht ohne die auxilia verteidigen. Seit den fünfziger Jahren streben die Amerikaner nach
Entlastung; „burden sharing“ war und blieb das Schlüsselwort, das den europäischen NATO-Mitgliedern mehr Soldaten,
bessere Technik, höhere Verteidigungsausgaben abverlangte und heute weiterhin abverlangt. Für die Europäer stellt sich
die Frage: Wie weit sind ihr Sicherheitsbedürfnis und ihre Interessen identisch mit denen Amerikas? Dem amerikanischen
Ansinnen, die NATO zu einem weltweit einsetzbaren Instrument zu machen, haben die europäischen Allianzmitglieder
noch leidlich widerstanden. Wie weit, das wird erst die nächste Krise zeigen, wenn die Vereinigten Staaten europäische
Hilfstruppen verlangen. Hier sind Differenzen, Spannungen, Konflikte zu erwarten. Die Römer hatten es leichter, obwohl
nicht so leicht, wie es im Nachhinein erscheint. Die Römer befahlen. Die Amerikaner können nur drängen, drücken,
drohen, erpressen, auch einen Alliierten gegen den anderen ausspielen. Amerika ist eine Weltmacht ohne Rivalen, und das
ist, wie der Vergleich zu Rom zeigt, eine Klasse für sich. Weltmächte ohne Rivalen akzeptieren Gleichheit mit niemandem,
sie ernennen treue Gefolgsleute aber schnell zum Freund oder amicus populi Romani. Sie haben keine Feinde mehr,
sondern kennen nur noch Rebellen, Terroristen und Schurkenstaaten. Sie kämpfen nicht mehr, sondern strafen. Sie führen
keine Kriege mehr, sondern schaffen Frieden. Sie sind aufrichtig empört, wenn Vasallen sich nicht als Vasallen benehmen.
Schwert und Geist
Politische Macht, die dauert, gründet sich nicht allein auf Legionen, Interventionen und Investitionen, Kultur muss
hinzukommen. Dass sie es bei Römern und Amerikanern tat, schafft eine weitere Ähnlichkeit, und zwar in doppelter
Hinsicht. Denn bevor beide ihre Welt romanisierten und amerikanisierten, mussten sie sich von ihren geistigen Vätern
emanzipieren, die Römer von den Griechen und die Amerikaner von den Europäern. „Graecia capta Roman cebit“ heißt es,
etwas verkürzt, bei Horaz - das mit dem Schwert eroberte Griechenland eroberte Rom mit seinem Geist. Bei Römern wie
Amerikanern mischten sich Bewunderung mit Verachtung ihres Vorbilds. Allmählich emanzipierten sich Römer und
Amerikaner von ihren Vorbildern und schufen ihre eigene Literatur, ihre eigenen Künste und eigene Wissenschaft. Sie
wurden selbstständig und auf manchen Gebieten maßgeblich, und je mächtiger sie wurden, desto mehr zog ihre Macht den
Geist an. Griechische Rhetoren und Philosophen gingen nach Rom, europäische Künstler und Wissenschaftler krönen ihre
Karriere in New York und Princeton. Wer sich im Westteil des römischen Imperiums zu Wort meldete, tat es lateinisch,
wer heute in seinem Fach zur Kenntnis genommen werden will, schreibt englisch. Am Ende romantisierten die Römer die
Welt, soweit sie nicht griechisch blieb, heute amerikanisieren die Amerikaner die halbe Welt und versuchen es mit der
ganzen. Sie sind Globalmacht nicht nur, weil sie jeden Ort des Globus militärisch erreichen können, sondern auch, weil sie
ihn mit den Produkten ihrer Alltagskultur schon erreicht haben. Auch hier stellen sich für Europa Zukunftsfragen. Die
Romanisierung erstreckte sich seinerzeit vorwiegend auf - antik gesprochen - „barbarische“ Völkerschaften, sie brachte
Zivilisierung und wurde daher angenommen. Die romanisierten Barbaren wurden später die besten Römer, wollten es
jedenfalls sein. Nicht romanisiert, nur politisch integriert, wurde hingegen der Osten des Reiches, wo die hellenistische
Kultur herrschte. Wie ist das nun mit der Amerikanisierung Europas? Bleibt Europa europäisch, wie Griechenland damals
griechisch blieb? Oder wird Europa von einer ökonomischen und kulturellen Globalisierung, die im Wesentlichen
Amerikanisierung ist, eingeebnet?
Überforderung und Erschlaffung
Aber Weltmächte bleiben nicht ewig Weltmächte. Die Römische Republik ging bekanntlich am römischen Reich zugrunde,
das aristokratisch-stadtstaatliche Regiment wurde mit der Weltherrschaft nicht fertig. Die Augusteische Monarchie
überstand die (mit Mark Aurel) beginnende Völkerwanderung nicht, die Verteidigung der Reichsgrenzen verlangte Kräfte
und Mittel, die nur der spätantike Zwangsstaat noch aufbrachte. In Washington warnten Weitsichtige schon in den
sechziger Jahren vor einem „overcommitment“.
Trotz Überforderung und Dekadenz schufen die Römer ein Imperium, das Jahrhunderte bestand; den Amerikanern ist
Vergleichbares versagt. Sie dominieren nur mit einem „Informal Empire“, dessen Lebensdauer unsicher bleibt. Die Römer
konnten ihre begrenzte Welt beherrschen, die Amerikaner haben es mit der ganzen Welt zu tun, in der sie nur Teile
bestimmen und andere nur beeinflussen können; ihre Klientelstaaten sind stärker, Frankreich ist nicht Bithynien,
Deutschland nicht Pergamon und Japan nicht Rhodos. Rom blieb als Großmacht lange allein, Amerika erwartet in
absehbarer Zeit eine multipolare Welt mit China, Indien, vielleicht Europa und wieder Russland. Die Pax Americana reicht
weniger weit und hat weniger Aussicht, Jahrhunderte lang zu bestehen wie die Pax Romana. Polybios fragte Mitte des 2.
Jahrhunderts v. Chr., ob Roms Imperium ein Segen oder ein Fluch und dann ein Segen sei. Bis zur Kaiserzeit erscheint
Roms Politik gegenüber Provinzen und Klientelstaaten durch und durch destruktiv, sie hatte kein Ziel und keine Moral und
brachte den Unterworfenen hundert Jahre Elend. Erst die Neugründung des Staates durch Augustus ließ allmählich bewusst
werden, dass Macht auch Pflicht bedeutet. Der gewaltsame Frieden wandelte sich zum Segen spendenden Frieden. Das
erste, mehr noch das zweite nachchristliche Jahrhundert zählen zu den glücklichsten Epochen der Weltgeschichte. Die
Vereinigten Staaten hatten und haben kaum weniger Hemmungen, ihre militärische Stärke zu nutzen als die Römer. Aufs
Ganze gesehen handeln sie aber selten so verantwortungslos, wie die römische Republik es lange tat. Wenn sie der Welt
Frieden, Freiheit und Wohlstand bringen wollen, so wollen sie es wirklich, soweit es mit ihren Interessen vereinbar
erscheint. Auch kontrolliert sich eine Demokratie mehr als eine Adelsherrschaft oder eine Monarchie.
Doch das letzte Wort kann das nicht sein, denn wir kennen die Vereinigten Staaten als erste Weltmacht nur ein halbes
Jahrhundert und als einzige nur zehn Jahre. Ihr Verdienst wird bleiben, die sowjetische Weltbeglückung eingedämmt zu
haben. Welchen Gewinn und welchen Schaden für die Menschheit aber ihre Vorstellung von einer neuen Weltordnung
bringt, kann sich erst im Rückblick zeigen, wenn Amerika nicht mehr die erste Weltmacht ist.
Es handelt sich um die sehr stark gekürzte Fassung eines Vortrags, den der Berliner Althistoriker und Journalist Peter
Bender im September 2000 in Rostock hielt. Der vollständige Text ist nachzulesen in Entwürfe fürs neue Jahrtausend, Hg.
von der Heinrich-Böll-Stiftung Mecklenburg-Vorpommern, Rostock 2001.
Freitag, 28.9.01
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Heilige Tugend des Schreckens
Rudolf Walther
ÜBER KREUZ- UND FELDZÜGE
Staat und Terror und Krieg und Recht haben eine lange Geschichte
Der Administration unter George W. Bush gehen im semantischen Handgemenge mit den Begriffen „Staat“, „Terror“ und
„Krieg“ offenbar elementare Unterscheidungen verloren. Was meint der Präsident, wenn er sagt, „wir befinden uns im
Krieg“? Was heißt „Feldzug gegen den Terrorismus“? Auf die verwirrende Vielfalt von möglichen und wirklichen Tätern
sowie die politische Vieldeutigkeit von Taten und Motiven reagierte eine maßgebliche deutsche Zeitung schon vor Jahren
mit rätselhaften Formulierungen. Sie brachte die unübersichtliche Komplexität auf den Begriff „Terrorismus“, den sie
mittels einer grammatikalischen Lagebestimmung im Dativ wenigstens sprachlich zu fassen suchte: „Ruhepause im
Terrorismus“ (FAZ, 13. 5. 1987). Wo liegt dieser Kontinent? Es herrscht rundum begriffliche Konfusion.
So wertet zum Beispiel die populäre Rede vom „Krieg der Islamisten gegen die USA“ eine vom Umfang und Herkunft her
nicht besonders gut bekannte Gruppe von Terroristen ungewollt und bewusstlos allein durch die Verwendung des Begriffs
„Krieg“ zum Kriegsgegner und damit zum Völkerrechtssubjekt auf. Das ist genau das, was die verblendete Stadtguerilla,
die sich in der BRD Rote Armee Fraktion nannte, in ihrem Größenwahn und ihrer hybriden Realitätsverweigerung immer
beanspruchte - die Respektierung als „Armee“ und für deren Verhaftete wie Verurteilte den Status von
„Kriegsgefangenen“. RAF und Stammtisch waren immer Spiegelbilder von Verblendung: die einen stilisierten ihr
ekelhaftes Spiel mit Menschenleben zum „Krieg“, und die anderen wussten genau, wie man den Terrorismus bekämpft
(„Rübe runter und nicht zu knapp!“). Die Attentäter von New York, Washington und Pittsburgh bildeten so wenig eine
Armee wie eine Bande von Seeräubern in früheren Jahrhunderten Krieg gegen Staaten oder das christliche Abendland
führte.
Flüssiges Metall in den Rachen
Historisch hängen allerdings Staatenbildung und Krieg eng zusammen. Man kann die enorme Zahl von Kriegen, die vom
16. bis zum 18. Jahrhundert fast ununterbrochen geführt wurden, zum größten Teil als „Staatenbildungskriege“ (Johannes
Burkhardt) bezeichnen. Dadurch sollte die Gewalt beim Souverän monopolisiert und konkurrierenden regionalen Fürsten,
die als traditionelle „Militärunternehmer“ den Krieg zu ihrer Einkommensgrundlage gemacht hatten, das Recht auf
Gewaltanwendung entrissen werden. Zugleich verloren die einzelnen Bürger das Recht auf Blutrache und Duelle.
Kriegführung und zivile Streitschlichtung wurden gleichermaßen verstaatlicht.
Eine besonders innige Beziehung bestand in diesem Staatsbildungsprozess zwischen Staat und Terror. Entgegen der
landläufigen Vorstellung, die den einzelnen Bürgern den Terror - und dem Staat immer schon die legitime
Gewaltanwendung zuordnet, diente der Terror während der Französischen Revolution unmittelbarer Gewaltanwendung
unter dem Schutz und im Interesse des Staates. Die positiv akzentuierte Beziehung zwischen Staatsgewalt und Terror ist
allerdings viel älter und schlechterdings konstitutiv für den Erfolg „westlicher“ Staaten. Bereits für Thomas Hobbes etwa
waren die „künstlichen Ketten, die man staatliche Gesetze“ nennt, im 17. Jahrhundert so schwach, dass die Staatsgewalt
nur wirksam werden konnte, wenn sie den „Schrecken gesetzlicher Bestrafung“ (terror of legal punishment) als
Herrschaftsmittel zu installieren vermochte. Dem „Schrecken des Gesetzes“ entsprachen für Hobbes ganz
selbstverständlich „der Schrecken der Macht“ (the terror of some power) und als Zugabe schrecklich abschreckende
Gesetze, ohne die „Rechtmäßigkeit, Gerechtigkeit, Sittsamkeit und Barmherzigkeit“ chancenlos wären, weil diese Ziele für
Hobbes der „menschlichen Natur“ widersprachen.
Die französische Aufklärung radikalisierte ihre Kritik an der Monarchie bis zum Vorwurf von Holbach, der König regiere
„durch den Schrecken“ (par la terreur). Ein Pariser Gericht bezeichnete das berüchtigte System der Lettres de cachet
(geheime Verhaftungsbefehle) 1785 als „Schrecken verbreitendes neues Regime“. Voltaire beschrieb die staatlichen
Hinrichtungsschauspiele, bei denen Menschen die Glieder gebrochen und flüssiges Metall in den Rachen geschüttet wurde,
bevor sie von Pferden in Stücke gerissen wurden, schon 1769 als „Terrorapparat“ (appareil de terreur).
Noch älter ist die Verwendung des Terrorbegriffs in juristischen Zusammenhängen. Das lateinische Wort territio und seine
deutsche Übersetzung mit Territion (Schreckung) stehen für eine Vorstufe der Folter. Bevor der Delinquent tatsächlich
gefoltert wurde, zeigte man ihm die Folterinstrumente oder fingierte das Anlegen von Daumenschrauben. Mit der
„Carolina“ (1532), dem Strafrechtskodex Karls V., wurde „die Schreckung“ bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Bestandteil
der Strafrechtspflege.
Die Gerechtigkeit der Guillotine
In der Französischen Revolution tauchte der Begriff „Terror“ zunächst in der revolutionären Rhetorik auf, bevor er 1793/94
als Staats- und Regierungsmaxime eingeführt wurde. Die revolutionäre Regierung war unter sich zerstritten und von außen
bedroht. In dieser Lage forderten Ultras, „den Terror auf die Tagesordnung“ zu setzen. Als Erstes wurde die Tätigkeit des
Revolutionstribunals intensiviert. Aber bereits im Dezember 1793 legte Robespierre die Revolutionsregierung auf den
Terror als Maxime fest. „Der Aufgabenbereich der Volksregierung in der Revolution umfasst gleichermaßen die Tugend
und den Terror... Der Terror ist nichts anderes als schnelle, harte und unbeugsame Gerechtigkeit.“ Es war die Herrschaft
der Guillotine.
In dem Maße, wie sich Staaten und Regierungen langsam zu Rechts- und Verfassungsstaaten entwickelten, streiften sie die
traditionelle Verzahnung von Staatlichkeit und Terror ab. Das gilt freilich nicht für politische Oppositionelle und Kolonien.
Streiks von Arbeitern galten der bürgerlichen Öffentlichkeit noch anfangs des 20. Jahrhunderts als „Terrorismus der
sozialdemokratischen Gewerkschaften“. Der Historiker Heinrich von Treitschke klagte über den „roten Terrorismus“,
verteidigte aber 1897 die Engländer, wenn sie in Indien „die Hindus vor die Mündungen der Kanonen banden und sie
‚zerbliesen’ daß ihre Körper in alle Winde zerstoben ... Daß in solcher Lage Mittel des Schreckens angewandt werden
müssen, ist klar.“
Wollen Rechtsstaaten heute terroristische Gruppierungen bekämpfen, haben sie bei der Wahl der Mittel keine freie Hand,
wenn sie nicht hinter rechtliche Minimalstandards zurückfallen wollen. Strafverfolgung ist die Aufgabe von Polizei und
Justiz und nicht von Panzern und Kampfflugzeugen.
„Justiz“ aus der Luft ist Selbstjustiz - also keine, sondern ein Rückfall in vorrechtsstaatliche, terroristische Praktiken. Ein
Staat, der dies täte, handelte nach derselben rechtsfreien Maxime wie die Terroristen und begäbe sich auf deren Niveau.
Der Hohn auf „wohlmeinende Professoren“, die davor warnen, sich „auf die gleiche Stufe wie die Terroristen“ (NZZ
15./16. 9. 01) zu setzen, verrät nur argumentative Verlegenheiten. „Der“ Islam und „die“ Islamisten sind nicht mehr als
durchsichtige Konstruktionen nicht exakt benennbarer „Feinde“. Soweit Staaten terroristische Gruppen ausrüsten oder
beschützen, haben polizeiliche, politische und wirtschaftliche Druckmittel den Vorrang vor militärischen, deren
Anwendung völkerrechtlich nur erlaubt ist, um einen aktuellen Angriff abzuwehren. Präventivkriege gegen beliebig
herzitierte Feinde und „Schurkenstaaten“ sind völkerrechtlich nicht vorgesehen. Weder die USA, noch die NATO noch die
„Staaten- und Völkergemeinschaft“ befinden sich in einem Notstand, der das letzte Mittel der gewaltförmigen
Selbstverteidigung erlaubte. Atavistische Rachegefühle und der Ruf nach Vergeltung und Bestrafung sind zwar nach den
brutalen Anschlägen verständlich, aber weder rechtsstaatlich noch völkerrechtlich vertretbar.
Freitag, 28.9.01
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Glaubenskämpfe
Torsten Wöhlert
11. SEPTEMBER 2001
Wir beurteilen eine Wirklichkeit, die uns nur in - zensierten - Ausschnitten bekannt gemacht wird
Mit Sicherheit gibt es ... Was? Krieg? Gezielte Militärschläge? Verdeckte Operationen? Von allem ein bisschen? Soviel
immerhin ist klar: Der Bündnisfall ist erklärt, Waffen kommen zum Einsatz. Es wird Tote geben - nicht nur Kombattanten.
Sterben werden auch unschuldige Afghanen, die zu Millionen auf der Flucht sind vor den erwarteten Angriffen, vor den
Taleban und vor der Dürre, die das Land heimgesucht hat. Und: Der Kampf gegen den Terror, heißt es unisono, wird lang
sein und sich bei weitem nicht aufs Militärische begrenzen.
Letzteres haben wir bereits erlebt. Wäre die Bush-Administration ersten Vergeltungs-Reflexen gefolgt, hätten wir
„Besonnenen“ ganz sicher gemahnt, dass es andere Mittel gibt, Terrornetzwerke zu treffen. Zum Beispiel, indem man ihnen
den Geldhahn zudreht. Dazu freilich müssten die deregulierten Finanzströme wieder stärkerer Kontrolle unterworfen
werden. Nun: Genau das ist in Angriff genommen worden! Dürfen wir George W. Bush dafür also loben? Ja, warum nicht.
Die US-Administration, so der Eindruck bisher, reagiert keineswegs wie ein schießwütiger Cowboy, sondern durchaus
rational und komplex. Und sie tut Überraschendes: Im neoliberalen Mutterländle steigt die Staatsquote, fließen nach den
Terroranschlägen zusätzliche Milliarden von Steuerdollar in die Kassen von Unternehmen und privaten Haushalten, um die
Konjunktur anzukurbeln. Amerika zahlt seine Schulden bei der UNO, schmiedet an einer breiten internationalen Koalition.
Werden die USA also ein wenig europäischer? Ist der selbstherrliche Unilateralismus vergangener Monate damit passé?
Oder erleben wir lediglich einen neuen Multilateralismus à la carte? Die Fragen werden in den nächsten Tagen und
Wochen nicht beantwortet werden. Egal, was noch passiert. Aber Indizien wird es geben.
In Afghanistan finden Militäroperationen statt. Allerdings dürften wir lange Zeit - vielleicht sogar nie - erfahren, was genau
passiert. Der Kampf gegen den Terror hat - das liegt in seiner Natur - etwas sehr Undemokratisches. Geheime Dienste,
Dossiers und Operationen scheuen das Licht der Öffentlichkeit und damit auch die öffentliche Kontrolle. Sie müssen es,
weil andernfalls der Erfolg gefährdet wäre. Damit aber legen wir unser Schicksal in die Hände weniger eingeweihter
Politiker, die ihrerseits nichts anderes tun können, als um unser Vertrauen zu bitten. Tony Blair hat dies als erster
europäischer Staatschef getan, als er sagte, ihm lägen zweifelsfreie Beweise für eine Verbindung Osama bin Ladens und
seines Netzwerkes zu den Anschlägen von New York und Washington vor - Beweise, die er jedoch für sich behalten
müsse.
Im Kampf gegen fanatisierte Glaubenskämpfer werden also auch wir gebeten zu glauben, dass Recht von Unrecht
geschieden wird und unsere (Re-)Aktionen nicht nur erfolgreich sind, sondern auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeit
bleiben. Nur: Wir wollen unser Urteil nicht auf Glauben, sondern Wissen gründen. Woran also messen wir, was passiert?
Wie beurteilen wir eine Wirklichkeit, die uns nur in - zensierten - Ausschnitten bekannt gemacht wird?
Der einfachste - und schwierigste - Kompass wäre ein pazifistischer. Wer dem nicht folgen kann und will, weil sich die
Welt nach anderen Gesetzen bewegt, wird sagen: Ja, die Täter müssen dingfest gemacht und bestraft werden. Das geht nur
mit Gewalt. Ein begrenzter Militärschlag wäre also angemessen. Aber damit ist es nicht getan. Terror hat Wurzeln. Es gibt
Ursachen, warum Menschen so verzweifeln, dass sie zu massenmordenden Terroristen werden oder solche Taten doch
zumindest billigen, rechtfertigen und unterstützen.
Der Zusammenhang zwischen Terror, Massenelend, individueller Perspektivlosigkeit und kollektiver Demütigung ist kein
unmittelbarer, aber er ist unübersehbar. Eine „umfassende und langfristige Strategie“, von der jetzt allenthalben die Rede
ist, wird sich genau daran messen lassen müssen. So unzureichend es ist, Terrorbekämpfung auf die Forderung nach einer
gerechteren Weltwirtschaftsordnung zu reduzieren, so gefährlich wäre es, bliebe sie auf Repression und militärische Gewalt
beschränkt. Und bitte: Keine Aufrechnung von Toten!
Afghanistan wird zum ersten Test auf die Glaubwürdigkeit der Anti-Terror-Koalition. Die Frage ist nicht, ob man lediglich
Osama bin Laden ausschalten will oder auch beabsichtigt, das Taleban-Regime zu stürzen. Entscheidend ist, welche Mittel
zum Einsatz kommen und wie die langfristige Strategie für Afghanistan aussieht. Wenn die Koalition dort so Krieg führt
wie einst die Sowjets, hat sie sehr schnell jeglichen Kredit verspielt. Es reicht auch nicht hin, lediglich „Kollateralschäden“
vermeiden zu wollen. Wer in Afghanistan militärisch operiert, übernimmt Verantwortung. Der wird schnell Schutzzonen
für die flüchtende Zivilbevölkerung einrichten und sich darauf einstellen müssen, lange im Land zu bleiben. Andernfalls
bekommt der Terror nur ein neues Gesicht.
Freitag, 5.10.01
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Tritt in den Spiegel
Sabine Kebir
DIE SCHLACHT GEGEN DAS „BÖSE“ : Der Westen attackiert seine Helfer von einst
Ein Krieg der USA gegen die Taleban hat begonnen. Damit soll eine Hauptquelle des Terrorismus in der heutigen Welt
ausgeschaltet werden. Doch nichts wäre verfehlter, als zu glauben, dass mit Militärschlägen gegen terroristische Basen in
Afghanistan die terroristischen Gefahren weltweit und endgültig gebannt wären. Es wird sehr darauf ankommen, ob
Terrorismus nicht nur als „Menschenrechtsverbrechen“ oder das „Böse“ schlechthin gegeißelt, sondern in seiner sehr
komplizierten Verflechtung mit sozialen und kulturellen Interessen begriffen wird. Bezogen auf Osama bin Laden und den
afghanischen Islamismus kann nicht nachdrücklich genug darauf verwiesen werden, dass sie vom Westen selbst als
Alliierte gegen die Sowjetunion hofiert, aufgebaut und benutzt wurden.
Allerdings waren die Taleban niemals nur Werkzeuge des Abendlandes. Sie waren vor allem die Speerspitze einer Macht,
die es bis heute zu keiner modernen Staatlichkeit gebracht hat - sie waren Geschöpfe Saudi-Arabiens. Das Regime von
Riad hatte seinen Scheichs stets erlaubt, selbst zu entscheiden, was sie wo auf der Welt mit Millionensummen stützen oder
bekämpfen wollten. Dabei ging es vorrangig um Hegemonie in der islamischen Weltgemeinschaft, um die sich freilich
zeitweise auch die theokratische Elite des Iran bemühte. Die meisten Moscheen, die während der vergangenen 30 Jahre im
islamischen Raum errichtet wurden, finanzierten die Wahhabiten-Herrscher, einschließlich des Personals und der
angegliederten Kultureinrichtungen - der Universitäten und sozialen Werke. Es war kein Zufall, dass solche Strukturen in
Ägypten und Algerien äußerst intensiv entwickelt wurden. In beiden Ländern waren die Entmachtung der Feudalkräfte wie
das Entstehen staatlich kontrollierter Volkswirtschaften und Solidarsysteme in der islamischen Welt am weitesten
vorangeschritten. Da eine solche Entwicklung dem Westen missfiel, duldete er stillschweigend, dass während der achtziger
Jahren gerade in diesen Staaten terroristische Netze geknüpft wurden. Ihre Urheber versprachen eine „Rückkehr zur
Identität“ und mobilisierten nicht nur gegen Staatlichkeit an sich, sondern gerade gegen jene Kräfte, die Staatlichkeit nicht
abschaffen, sondern demokratisieren wollten.
In einer unheimlichen, öffentlich kaum zur Sprache gebrachten Allianz mit Saudi-Arabien verbreitete sich auch im Westen
ein kulturalistisch ethnisiertes Weltbild, das die angebliche Demokratieunfähigkeit des Islam je nach Bedarf, einmal zum
kulturellen Recht, einmal zum entscheidenden Makel erklärte. Es sei nur an das Jonglieren eines einflussreichen Autors wie
Peter Scholl-Latour erinnert. Für ihn waren die Mudschaheddin einerseits Freiheitshelden, andererseits die Verkörperung
einer dem Islam für immer und ewig verwurzelten Pflicht zum Heiligen Krieg.
Leider hat auch ein Großteil der im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts nicht mehr sehr analysefreudigen Linken bei
diesem identitätspolitischen Mummenschanz mitgespielt. Nicht nur der Westen an sich, auch ein Großteil der Linken
überließ die Demokratiebewegung in der islamischen Welt einem grausamen Schicksal. In Algerien kostete das
Hunderttausende von Menschenleben. Es kamen aus Westeuropa unablässig zynische Ermahnungen, die Islamisten doch
an der Regierung zu beteiligen. Auch andere Länder erlitten dank dieser Politik, was man neuerdings „Kollateralschäden“
nennt: In Ägypten kamen nicht nur Ägypter um, sondern auch westliche Touristen. Und in der gesamten islamischen Welt
führten Angst und Einschüchterung zur Lähmung des demokratischen öffentlichen Lebens.
Aber wer Feldzüge durch Stellvertreter führen lässt, darf sich nicht wundern, dass die ihre Eigendynamik entwickeln. Nach
1989 kam dem Westen und der Wahhabiten-Dynastie wie ihrer Gefolgschaft der gemeinsame Hauptfeind Kommunismus
abhanden. Jetzt zeigte sich klarer, dass der Allianzpartner tatsächlich vorhatte, einen Teil der Menschheit in eine
patriarchalisch gegliederte Vormoderne zurückzutreiben. Dabei erschien auch westlicher Einfluss nicht nur ein
hinderliches, sondern feindliches Ansinnen. Bill Clinton erkannte diese Gefahr. Schon 1994 wollte er die Saudis zwingen,
ihre finanziellen Zuwendungen für terroristische Gruppen einzustellen. Weil staatliche Autorität in Saudi-Arabien nur
höchst selektiv zur Anwendung kommt, gelang es zumindest Osama bin Laden, seine Ziele fortan als Privatmann zu
verfolgen. Clinton hatte auch angeregt, die Konten einschlägiger Vereinigungen weltweit aufzuspüren und zu sperren. Es
bleibt bis heute ein Rätsel, weshalb selbst die engsten Bündnispartner der USA diese Aufforderung ignorierten und ihr auch
vor drei Jahren nach den Anschlägen auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam nicht nachkamen. Stattdessen
blieben Deutschland, Großbritannien oder Skandinavien weiter Ruheräume global agierender islamistischer Strukturen.
Gerade weil diese an keinen Staat gebunden sind, sondern die Form supranationaler, eigenständiger Verbindungen haben,
geben sie nun eines der diffusesten Feindbilder ab, das die Geschichte je kannte. Sicher kann man diese Geflechte
schwächen. Aber es darf bezweifelt werden, ob man sie vernichten kann.
Linke haben allen Grund, die militärischen und geheimdienstlichen Reaktionen der USA und schließlich des gesamten
Westens auf die Anschläge vom 11. September nicht mit „uneingeschränkter Solidarität“, sondern Skepsis zu verfolgen.
Aber sie müssen ebenso wissen: Es ist nicht nur gegenüber den Terroropfern - auch gegenüber der islamischen Welt fahrlässig, solche Maßnahmen von vornherein abzulehnen. Mögen die Islamisten behaupten, sich der sozialen und teilweise
der politischen Probleme der muslimischen Völker anzunehmen, so sind sie doch keineswegs eine Kraft, die diese
Probleme emanzipatorisch lösen will. Ganz im Gegenteil. Vielmehr ist ein Vergleich mit dem deutschen
Nationalsozialismus durchaus angebracht. Auch er instrumentalisierte soziale Konflikte, beseitigte die Demokratie und
errichtete zunächst ein Terrorregime im eigenen Land, um den Marsch in eine rassisch und ständisch hierarchisierte
Vormoderne überhaupt in Gang setzen zu können. Damals glaubten die westlichen Demokratien zunächst ebenfalls, diese
archaische Macht für den Kampf gegen den Kommunismus gebrauchen zu können. Mit dem Münchener Abkommen
wurden dafür sogar die Lebensinteressen verschiedener nichtkommunistischer Staaten in Osteuropa geopfert. Aber der
Westen hatte sich getäuscht. Hitler begann damit, alle Zivilisationsformen zu vernichten, die sich auf die englische und die
französische Revolution beriefen. Doch erst, als sein ebenfalls größenwahnsinniger Verbündeter Japan Pearl Harbor
angegriffen hatte, kam es zur vorher fast undenkbaren Allianz des Westens mit der Sowjetunion. Wie jede historische
Parallele hat auch diese ihre Schwächen. Das Vorgehen gegen Islamismus und Terrorismus verlangt von der
Weltöffentlichkeit allergrößte Wachsamkeit, mehr denn je besteht die Aufgabe, wieder ein für alle verbindliches
Völkerrecht zu schaffen.
Freitag, 12.10.01
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Jener Tag unter den Anhängern bin Ladens
Tiziano Terzani
AMERIKA UND DER ISLAMISCHE JIHAD
Es gibt in einem Krieg nichts Gefährlicheres, als den wirklichen Gegner zu unterschätzen
Kurz vor Beginn der amerikanisch-britischen Militärschläge gegen Afghanistan veröffentlichte der italienische Autor
Tiziano Terzani (62), der seit 1969 im Orient lebt und von dort berichtet, in der Zeitung Corriere della Sera, eine profunde
Analyse der islamischen Realität. Sein Fazit, die moslemische Gemeinschaft, einst groß und gefürchtet, fühlt sich heute
immer mehr marginalisiert, erniedrigt und beleidigt von der Übermacht des Westens. Es wäre absurd zu glauben, sie
dauerhaft demütigen zu können.
Die Welt ist nicht mehr so, wie wir sie einmal kannten, unser Leben hat sich definitiv verändert. Vielleicht ist genau dies
die Möglichkeit umzudenken - die Möglichkeit, die Zukunft neu zu erfinden, um nicht noch einmal den Weg zu gehen, den
wir bis heute zurückgelegt haben und der uns morgen ins Nichts führen kann. Noch nie wurde das Überleben der
Menschheit in riskanterer Weise aufs Spiel gesetzt als heute. Es gibt in einem Krieg nichts Gefährlicheres, als den
wirklichen Gegner zu unterschätzen, seine Logik zu ignorieren und - um jedwede mögliche Rationalität zu negieren - ihn
als „Verrückten“ zu bezeichnen.
Nun ist der islamische Jihad, ist das klandestine, internationale Netz, in dessen Mittelpunkt der Scheich Osama bin Laden
steht und das mit der größten Wahrscheinlichkeit im Spiel war bei der unfassbaren Attacke auf die USA, alles andere als
pathologisch. Wenn wir einen Ausweg finden wollen aus dem Tunnel des Schreckens, in den wir uns geworfen sehen, so
müssen wir verstehen, mit wem wir es zu tun haben und warum.
Kein Journalist aus dem Westen hat es geschafft, mit Osama bin Laden Zeit zu verbringen und ihn aus der Nähe zu
beobachten, aber einige haben sich seinen Anhängern genähert und ihnen zugehört. 1996 bin ich einen Tag in einem von
ihm finanzierten Ausbildungscamp an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan gewesen. Verängstigt und
verschreckt verließ ich es wieder. Unter den harten, aber lächelnden Mullahs und vielen jüngeren Männern mit eiskalten
Blicken und über jeden Zweifel erhaben, kam ich mir vor wie ein Pestkranker - der Überträger einer von mir nie bemerkten
Krankheit. In ihren Augen bestand sie einfach darin, dass ich aus dem Westen kam und somit der Repräsentant einer
dekadenten, materialistischen, ausbeuterischen Kultur war, die sich den Werten des Islam gegenüber ignorant verhält.
Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass seit dem Fall der Mauer und dem Ende des Kommunismus, die militante und
fundamentalistische Ideologie des Islam die einzige ist, die sich der neuen Ordnung der globalisierten Welt, die - mit
Amerika an der Spitze - Frieden und Reichtum versprach, entgegenstellt. Ich erahnte es, als ich durch die muslimischen
postsowjetischen Republiken Zentralasiens reiste, und fühlte es mit Bestimmtheit, als ich die anti-indischen Krieger in
Kaschmir traf und einen ihrer geistlichen Anführer interviewte. Er begrüßte mich und überreichte mir als Geschenk den
Koran - mein erstes Exemplar - damit „er etwas lerne“.
Betroffen wie alle, sehe ich immer wieder die Bilder der zerschellenden Flugzeuge - sehe, wie sie im Zentrum New Yorks
ein Blutbad anrichten, vergleichbar den in den Tagen zuvor verbreiteten Bildern von palästinensischen Menschenbomben,
die sich in die Luft jagen und mit sich zahlreiche Opfer auf den Straßen Israels. Und ich erinnere mich der jungen Männer
verschiedener Nationalitäten in den Ausbildungslagern. Menschen eines anderen Planeten, einer anderen Zeit; Menschen,
die „glauben“, wie wir einmal geglaubt haben, es aber nicht mehr können; Menschen, die es als „heilige“ Sache betrachten,
das Leben für eine „gerechte“ Sache zu opfern.
Diese jungen Männer waren aus einem Stoff, den wir uns schwer vorstellen können: indoktriniert, gewöhnt an ein äußerst
spartanisches Leben, das sich dem Takt einer strengen Routine von Übungen, Studium und Gebeten unterwirft. Ein Leben
voller Disziplin, ohne Frauen vor der Heirat, ohne Alkohol, ohne Drogen. Für bin Laden und seine Männer sind Waffen
keine Instrumente einer beruflichen Tätigkeit, sondern Teil einer Mission, deren Wurzeln im Glauben zu suchen sind, in
der Monotonie der Koran-Schulen. Aber vor allem in dem grundlegenden Gefühl von Niederlage und Erniedrigung der
muslimischen Kultur, die einst groß und gefürchtet war und sich heute an den Rand gedrängt fühlt, beleidigt von der
Übermacht und Arroganz des Westens.
Eine ähnliche Erniedrigung erfuhren einst die Chinesen durch die „Rotbärte“ aus England, die ihnen den Opiumhandel
aufdrängten, oder die Japaner angesichts der „schwarzen Schiffe“ des amerikanischen Admirals Perry, der Japan dem
Handel öffnen wollte. Die erste Reaktion darauf war in diesem Fall Verwirrung. Wie konnte ihre Kultur - lange Zeit
ausländischen Invasoren weit überlegen - so an die Wand gedrängt werden? Die Chinesen suchten die Lösung zunächst
über eine Hinwendung zur Tradition, dann schlugen sie den Weg der sowjetischen Modernisierung ein und letztlich den des
westlichen Stils. Die Japaner riskierten diesen Sprung schon Ende des 19.Jahrhunderts, indem sie sich wie besessen daran
machten, alles zu imitieren, was westlich war: Sie kopierten die Uniformen der europäischen Armeen, die Architektur der
Bahnhöfe, sie lernten Walzer tanzen.
Für die Fundamentalisten erscheint die Verwestlichung der islamischen Welt wie ein Bannfluch. Wie nie zuvor ist ihre
Identität bedroht. Aus ihrer Sicht hat der Westen mit dem Ende des Kalten Krieges seine - für die Fundamentalisten
„teuflischen“ - Pläne, die ganze Menschheit einem einzigen globalen System einzuverleiben, aufgedeckt. Ein System, das
danach strebt, dank technologischer Überlegenheit, die Kontrolle über alle Ressourcen der Welt zu erlangen, einschließlich
der Ressourcen, die - nach Lesart der Fundamentalisten - der Schöpfer nicht zufällig in jenen Teilen der Erde erschaffen
hat, in denen der Islam entstand: das Öl des Mittleren Orients und das Holz der Wälder Indonesiens.
Im vergangenen Jahrzehnt hat sich dieses Phänomen der Globalisierung, oder besser: Amerikanisierung, in seinem ganzen
Ausmaß gezeigt. Seither ist das erklärte Ziel bin Ladens die Befreiung des Mittleren Ostens von dieser Geisel. Doch das
von ihm im Namen des Propheten Geträumte geht vermutlich viel weiter. Die ersten Angriffe des Jihad richteten sich
gegen die US-Botschaften in Kenia und Tansania. Washington antwortete mit Bombardements von Militärcamps in
Afghanistan und einer pharmazeutischen Fabrik im Sudan, was Hunderte - andere sprechen von Tausenden - zivile Opfer
forderte. Exakte Zahlen wurden nie bekannt, da die USA Nachforschungen der UNO über diese Vorfälle zu verhindern
wussten.
Die Antwort bin Ladens ist nun in New York und Washington erfolgt. Weder in der Lage, die Piloten der B 52-Bomber zu
treffen, die ihre Angriffsziele in unerreichbaren Höhen anfliegen, noch die Marines, die ihre Missiles aus großer Distanz
abschicken, schien die einzige Lösung in einer terroristischen Attacke auf wehrlose Zivilisten zu bestehen - die entsetzliche
Handlung einer Konfrontation, bei der es schon seit langem nicht mehr ritterlich zugeht. Man bekämpft sich in unerklärten
Kriegen, die nicht vor den Augen der Welt ausgetragen werden, so dass sich gründlich täuscht, wer glaubt, alles verstanden
zu haben, weil er die Live-Übertragung des Zusammensturzes der WTC-Türme sah.
Seit 1983 haben die USA mehrfach im Mittleren Osten Länder wie den Libanon, Libyen, Iran und Irak bombardiert. Seit
1991verursachte das von Washington über den Irak verhängte Embargo laut amerikanischer Schätzung zirka 500.000 Tote,
darunter sehr viele Kinder, die an Unterernährung starben. 50.000 Tote im Jahr erzeugen im Irak ganz gewiss eine Wut, die
mit der Wut zu vergleichen ist, die das New Yorker Gemetzel in Amerika und Europa ausgelöst hat. Es ist wichtig zu
verstehen, dass die Wut beider Seiten miteinander verbunden ist. Das bedeutet nicht, die Opfer mit den Henkern zu
verwechseln, sondern verlangt Klarheit, um die Welt zu verstehen, in der wir leben. Man wird nichts von dem begreifen,
was vor sich geht, solange man politische Statements hört, deren Rhetorik so konditioniert ist, dass in alter Weise auf eine
völlig neue Lage reagiert wird. Anstatt Kriege zu verkünden, wäre dies doch der Moment, endlich Frieden zu schließen beginnend mit einem Frieden zwischen Israelis und Palästinensern.
Stattdessen setzt sich in diesen Tagen eine merkwürdige Koalition in Bewegung, stimuliert durch die Automatismen von
Verträgen, die für einen ganz anderen Zweck geschlossen wurden. Stimuliert auch durch den Beitritt von Ländern wie
China, Russland und Indien, die sich von eigenen, strikt nationalistischen Interessen motiviert fühlen. Für China ist ein
Weltkrieg gegen den Terrorismus eine vorzügliche Gelegenheit, alte Probleme mit den islamischen Völkern an seinen
Grenzen zu lösen. Putins Russland kann alle Anklagen zum Schweigen bringen, die sich auf die erschreckenden
Menschenrechtsverletzungen im Kaukasus beziehen.
Es wird extrem schwierig sein, diesen Krieg als bloße Kampagne gegen den Terrorismus darzustellen und nicht als Krieg
gegen den Islam erscheinen zu lassen. Und es ist schon merkwürdig, dass sich heute eine Koalition formt, die an
Formationen erinnert, als der Islam an zwei Fronten kämpfte: im Westen gegen die Kreuzritter - im Osten gegen die
nomadischen Stämme Zentralasiens. In dieser Lage leisteten die Muslime erfolgreich Widerstand und bewirkten, dass eine
große Zahl ihrer Gegner zum Islam konvertierte. Darauf könnten bin Laden und seiner Anhänger gewettet haben, als sie
ihren Schlag mitten ins Herz Amerikas führten. Vielleicht rechnen sie mit einer Repressalie des Westens, die einen
massiven islamischen Widerstand von gewaltigem Ausmaß provoziert. Der Islam eignet sich, dank seiner Einfachheit und
inhärenten Militanz zur Ideologie für die Verdammten dieser Erde zu werden.
Es wäre weiser, anstatt die Terroristen beseitigen zu wollen und diejenigen, die sie unterstützen (vielleicht wird es uns
erstaunen, wie viel Personen - auch unerwartete - einbezogen sind), sich auf den Kampf gegen die Ursachen zu
konzentrieren. Wo sind die Gründe dafür zu finden, dass sich so viele Menschen, vor allem die Jüngeren, in die Netze des
Jihad drängen und Selbstmord und Mord als Mission empfinden?
Wenn wir wirklich an die Heiligkeit des Lebens glauben, müssen wir auch die Heiligkeit aller Leben akzeptieren. Oder
wären wir stattdessen bereit, Hunderte, Tausende von Toten zu akzeptieren, auch zivile und unbewaffnete Opfer, die Ziel
unserer Repressalien werden? Wird es unserem Gewissen reichen, dass uns diese Toten im PR-Jargon der Militärs als
„Kollateralschäden“ präsentiert werden?
Unsere Zukunft hängt davon ab, was wir tun werden, wie wir unsere heutige Geschichte in einem geschichtlichen Prozess
der gesamten Menschheit verorten. Wir befinden uns nicht auf der Straße des Guten, wenn wir immer noch glauben, das
Monopol des „Guten“ zu besitzen, von unserer Kultur als „der“ Kultur sprechen und die anderen zu ignorieren.
Der Islam ist eine große, besorgniserregende Religion mit einer eigenen Tradition von Grässlichkeiten und Verbrechen
(wie viele andere Glaubensrichtungen auch), aber es ist absurd zu denken, dass irgendein Cowboy, auch wenn er mit allen
Pistolen der Welt ausgerüstet wäre, sie vom Angesicht der Erde auslöschen könnte. Es wäre besser, den Muslimen selber
zu helfen, fundamentalistische Splittergruppen zu isolieren, anstatt sie virulenter zu machen. Der Islam ist mittlerweile
überall. In Nordamerika selbst gibt es schon genauso viele Muslime wie Hebräer (sechs Millionen, größtenteils
Afroamerikaner, angezogen von der Tatsache, dass der Islam von Anfang an immer über den Rassen gestanden hat).
Wir sollten uns nicht zu partiellen Einsichten hinreißen lassen, und wir sollten keine rhetorischen Geiseln erfinden, auf die
jene zurückgreifen, die im Schweigen der Bestürzung zu wenig Ideen haben. Die Amerikaner nennen als Ziel ihrer
Verfassung das „Streben nach Glück“. Gut, streben wir alle zusammen nach diesem Glück, nachdem wir es - vielleicht in
nicht nur materialistischen Termini - neu definiert und uns überzeugt haben, dass es nicht sein darf, dass wir Okzidentalen
unser Glück nur auf Kosten der anderen anstreben, dass - wie die Freiheit - auch das Glück unteilbar bleibt.
Der 11. September hat uns vor neue Entscheidungen gestellt. Die unmittelbarste besteht darin, dem islamischen
Fundamentalismus Gründe für seine Existenz hinzuzufügen oder zu nehmen. Jede fremde Bombe, die auf die
Bevölkerungen der Welt geworfen wird, bringt Jungen hervor, die bereit sind „Allah Akbar“ zu brüllen und wieder ein
Flugzeug gegen ein Hochhaus zu steuern oder vielleicht morgen schon eine bakteriologische Bombe in einem unserer
Supermärkte zu platzieren. Nur wenn es uns gelingt, das Universum als ein Ganzes zu sehen, in dem jeder Teil die Totalität
widerspiegelt und dessen Schönheit in den Unterschieden besteht, werden wir beginnen zu begreifen, wer wir sind und wo
wir uns befinden. Andernfalls werden wir letzten Endes bloß der Kröte aus dem chinesischen Sprichwort ähneln, die vom
Grund des Brunnens aus den Himmel sieht und glaubt, dass dieses Stück der ganze Himmel sei.
Übersetzung: Carolin Behrmann
Freitag, 12.10.01
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Waffentaugliche Viren
Irene Meichsner
BIO-TERRORISMUS
In den USA wird über die Herkunft der beiden Milzbrand-Fälle gerätselt. Dennoch stehen Variola-Viren ganz oben auf
der Liste der Erreger, die als Biowaffen geeignet wären
Bis in die letzten Winkel der Erde waren die Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation WHO vorgedrungen. Auf jeden
neuen Ausbruch von Pocken hatten sie mit Massenimpfungen reagiert. Elf Jahre lang. Und dann war es so weit. Der
mörderische Erreger, der jedes Jahr Millionen Menschen getötet, unzähligen das Augenlicht gekostet und mit
Pockennarben gezeichnet hatte, schien besiegt. Zum ersten und bislang einzigen Mal in der Medizingeschichte hatte man
eine Krankheit ausgerottet. Am 8. Mai 1980 erklärte die WHO die Welt für „pockenfrei“. Wenig später wurde der
Impfzwang aufgehoben. Übrig blieben offiziell nur zwei Virusbestände, einer im Hochsicherheitslabor der USSeuchenbehörde Centers Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta, der andere im Staatlichen Russischen
Forschungszentrum bei Nowosibirsk. Eine Ära schien zu Ende, glaubte damals auch Donald A. Henderson, Leiter der
ruhmreichen WHO-Aktion.
Heute ist Henderson Direktor des US-Zentrums für zivile Verteidigung gegen Biowaffen an der John Hopkins School of
Public Health in Baltimore. Und er gehört zu denen, die schon seit Jahren davor warnen, dass man das Kapitel „Pocken“
voreilig geschlossen hat. „Die gezielte und bewusste Wiedereinführung der Pocken wäre eine kriminelle Tat von
beispiellosen Dimensionen. Aber sie muss als realistische Möglichkeit betrachtet werden“, fasste ein unter seiner Leitung
konzipiertes Konsenspapier die Situation bereits im Juni 1999 zusammen.
Mit den Terrorakten von New York und Washington sind solche Schreckensvisionen schlagartig auch ins öffentliche
Bewusstsein gerückt. „Wir müssen damit rechnen, dass Menschen willkürlich mit biologischen oder chemischen Stoffen
geschädigt werden“, heißt es im jüngsten Bericht der WHO über Gefahren durch chemische und biologische Waffen. Das
Pockenvirus ist nur einer von mehreren Krankheitserregern, die als Bio-Waffen gehandelt werden (siehe Kasten). Aber er
ist derjenige, den viele Fachleute am meisten fürchten. Denn: Anders als die berüchtigten, ebenfalls waffentauglichen
Milzbrand- oder Anthrax-Bakterien werden die hoch infektiösen, in mindestens 30 Prozent aller Fälle tödlichen VariolaViren von Mensch zu Mensch übertragen. Die Inkubationszeit beträgt sieben bis 17 Tage. Weil Ärzte seit Jahrzehnten
keine Pocken mehr gesehen haben, könnten sie die ersten unspezifischen Symptome wie Fieber und Schüttelfrost leicht mit
einer Grippe verwechseln.
Aufgrund ihrer relativ großen Stabilität könnte sich das Variola-Virus leichter handhaben lassen als mancher andere
Erreger. Und es dürfte dafür einen Schwarzmarkt geben. Seit Ende 1998 liegt der US-Regierung ein Geheimdienstbericht
vor, demzufolge Nord-Korea und der Irak mit hoher Wahrscheinlichkeit über Pockenviren verfügen. Im Mai 1998 hatte
Ken Alibek, ehemals stellvertretender Direktor der sowjetischen Behörde für die Erforschung und Herstellung biologischer
Waffen, vor dem US-Kongress ausgesagt, dass in seiner Heimat schon seit 1981 forciert an waffenfähigen Pockenviren
geforscht worden sei und in Geheimlabors tonnenweise Variola-Kampfstoffe gelagert hätten. Der Kreml spielte mit
falschen Karten, als er sich - mitten im Kalten Krieg - an der WHO-Aktion zur Ausrottung der Pocken beteiligte. Moskau
habe, schreibt Alibek in seinem Buch über Russlands Geheimpläne für den biologischen Krieg, die militärische Chance
konsequent nutzen wollen, dass „eine nicht länger gegen Pocken geimpfte Welt wieder anfällig für die Seuche“ sei.
Heute arbeitet Alibek, der 1992 in die USA geflohen war, an Abwehrstrategien gegen Bio-Attacken. Natürlich sei „ein
bestimmtes Maß an medizinischem und biologischem Fachwissen Voraussetzung, um eine einigermaßen gut
funktionierende Waffe herzustellen“, erklärte er unlängst in einem Interview mit der Züricher Weltwoche. Aber er halte es
für „unverantwortlich, die Gefahr herunterzuspielen“.
Dass die Welt auf einen Anschlag mit biologischen Kampfstoffen denkbar schlecht vorbereitet wäre, steht außer Zweifel.
Die meisten Produktionsanlagen für Pockenvakzine sind seit langem geschlossen. In einer aktuellen Bestandsaufnahme
über die verfügbaren Vorräte an Pocken-Impfstoffen wurden in den USA 15,4 Millionen Impfportionen gezählt; weltweit
waren es Ende der neunziger Jahre nach Angaben der WHO höchstens 50 Millionen. Zum Vergleich: Als in Jugoslawien
1972 der letzte Pockenfall auftrat und die Bevölkerung zur Impfung aufgerufen wurde, hat man allein in diesem Land 20
Millionen Impfdosen verbraucht.
In den USA löste die Aussicht auf Anschläge mit Bio-Waffen schon vor den Anschlägen auf das World Trade Center und
das Pentagon erhebliche Betriebsamkeit aus. Der Etat zur Verteidigung gegen Bioterror wurde deutlich aufgestockt. Im
vorigen Jahr gab die US-Regierung bei der Firma OraVax, die inzwischen von einem britischen Hersteller übernommen
wurde, für 343 Millionen Dollar die Produktion von 40 Millionen Portionen eines neuen, bislang an Menschen noch nicht
getesteten Pockenimpfstoffs in Auftrag. Die erste Lieferung erwartete man bislang nicht vor 2004, doch unter dem Druck
der aktuellen Ereignisse soll die Produktion erheblich beschleunigt werden.
Inzwischen gibt es auch die ersten Einsatzpläne für Mitarbeiter im öffentlichen Gesundheitswesen. Eine
Computersimulation der US-Regierung verlief vor drei Monaten allerdings eher niederschmetternd: während einer PockenEpidemie mit anfangs 24 diagnostizierten Patienten wurden innerhalb von zwei Wochen 15.000 Krankheits- und 1000
Todesfälle gezählt. Es kam zu Unruhen und Plündereien, weil die Impfstoffvorräte erschöpft waren.
Wie rasend schnell sich gerade Variola-Viren ausbreiten können, weiß man spätestens seit dem letzten deutschen
Pockenpatienten. Der Mann war nach seiner Rückkehr von einer Reise nach Pakistan im Januar 1970 mit Durchfall und
hohem Fieber in eine Klinik in Meschede eingeliefert worden. Weil man zunächst auf Typhus tippte, wurde er in einem
Einzelzimmer auf der ersten Etage untergebracht. Dort kam er nur mit zwei Krankenschwestern in Berührung. Als sich
erste Pusteln zeigten und zwei Tage später Pocken diagnostiziert wurden, wurde der Mann auf eine Isolierstation verlegt.
Trotzdem wurden in Meschede am Ende 19 Pockenkranke gezählt, darunter neun auf der dritten Klinik-Etage und ein
Besucher, der sich kaum 15 Minuten im Gebäude aufgehalten und nur einmal kurz die Tür zu dem Korridor geöffnet hatte,
an dem das Zimmer des Infizierten lag. Der Patient hatte an starkem Husten gelitten und die Viren damit offenbar ähnlich
wirksam verbreitet wie jemand, der sie in Form kleiner Schwebestoffe („Aerosole“) aus einem Flugzeug versprühen oder
mit einer Bombe zersprengen würde.
Der Kreis derer, die über das nötige Know-how verfügen, um Pockenviren in den nötigen Mengen heranzuzüchten und zu
waffenfähigen Aerosolen zu verarbeiten, ist vermutlich nicht groß. Aber staatlich unterstützten Terrorgruppen oder straff
geführten, finanzstarken Organisationen trauen es viele Experten zu. Mitglieder der Aum-Sekte, die 1995 in der U-Bahn
von Tokio einen Anschlag mit dem Nervengas Sarin verübte, sollen 1992 sogar nach Zaire gereist sein, um an Proben von
Ebolaviren heranzukommen.
Für die Sicherheit der bei den CDC aufbewahrten Viren legen die Amerikaner ihre Hände ins Feuer. Wie es um die Vorräte
in Nowosibirsk bestellt ist, weiß niemand genau. Das Lager wurde jahrelang nicht von der WHO inspiziert. Bei einem
Besuch im Herbst 1997 habe er eine „halbleere Anlage und eine Handvoll Wachtposten vorgefunden, die seit Monaten
nicht bezahlt worden“ seien, zitiert Henderson einen Augenzeugen: Niemand könne sagen, „wohin die Wissenschaftler
verschwunden sind, noch wisse man genau, ob es sich außerhalb der CDC wirklich um das einzige Lager für Pockenviren“
handele. Davon etwas abzuzweigen, dürfte spätestens in den Wirren während der Auflösung der Sowjetunion kein
unüberwindliches Problem gewesen sein.
Biologische Waffen
MILZBRAND
oder „Anthrax“ wird von einem Bakterium („Bacillus antracis“) ausgelöst. Wegen seiner Stabilität würde es sich als BioWaffe besonders eignen; eine ganze Reihe von Ländern dürfte schon über Milzbrand-Waffen verfügen; die USA und die
UdSSR stellten sie während des Kalten Krieges her. Der Erreger wird über die Haut, die Luftwege oder den Magen-DarmTrakt übertragen. Die Krankheit lässt sich innerhalb der ersten zwei Tage mit Antibiotika behandeln. Verstreicht zu viel
Zeit, führt sie zu schweren Lungenentzündungen, an denen rund 80 Prozent der Infizierten sterben. Die US-Behörden
haben inzwischen Medikamenten-Vorräte angelegt, mit denen man hofft, im Ernstfall jeden Ort der USA innerhalb von 24
Stunden erreichen zu können. Der bislang einzige, von der US-Firma BioPort hergestellte Impfstoff gegen MilzbrandBakterien ist heiß umstritten. Das Unternehmen machte mehrfach Schlagzeilen wegen schwerer Mängel bei der Produktion.
Das Präparat, das vom US-Verteidigungsministerium unter Verschluss gehalten wird und auf dem freien Markt nicht
erhältlich ist, wurde 1970 zugelassen; allerdings gibt es bislang nur eine Studie, die eine mögliche Wirkung bei einer
Infektion über die Haut belegt. Ob es auch vor einer Infektion über die Atemwege schützt, wurde an Menschen bislang
nicht getestet; über einen Antrag von BioPort auf Änderung der Zulassung ist seit 1996 noch nicht entschieden worden.
Trotzdem mussten sich während des Golfkriegs schon rund eine halbe Million US-Soldaten einer Zwangsimpfung
unterziehen; seit 1997 drängt das Pentagon darauf, die Zwangsimpfung auf die gesamte Armee auszudehnen. Erst im Mai
strengten dagegen zwei Offiziere der Luftwaffe eine Klage an: sie wollten erreichen, dass die Impfung nur auf freiwilliger
Basis erfolgt.
LUNGENPEST
geht auf das Bakterium „Yersinia Pestis“ zurück und kann sich durch Tröpfcheninfektion schnell ausbreiten. Nach einer
Berechnung der WHO reichen theoretisch 50 Kilogramm des Erregers, um 150.000 von fünf Millionen Menschen zu
infizieren. In einem solchen Fall rechnet man mit 36.000 Toten. Die Patienten sterben an Lungenentzündungen und
Blutgerinnseln. Auch hier müssen im Frühstadium Antibiotika eingesetzt werden. Einen Impfstoff gibt es nicht.
BOTULISMUS
ist eine Nervenlähmung, die durch das Toxin des Bodenbakteriums „Clostridium botulinum“ verursacht wird - eine der
giftigsten Substanzen, die es auf der Erde gibt. Erst im Februar schätzten Fachleute im renommierten Journal of the
American Medical Association, dass “ein einziges Gramm ausreichen könnte, um mehr als eine Million Menschen zu
töten“. Um größere Mengen des Toxins herzustellen, bedarf es einer industriellen Infrastruktur. Gegengifte gibt es, bislang
aber nur in geringen Mengen.
Freitag, 12.10.01
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Der Weg aus der Finsternis
Ferhad Ibrahim
OSAMA BIN LADEN UND DER RADIKALE BRUCH MIT DER GESCHICHTE DES ISLAM
Nur die 23 Jahre von der Stiftung der Religion bis zum Tode des Propheten werden anerkannt
Was wollen die Attentäter von New York und Washington? Wie lautet ihre Botschaft, welches sind ihre Ziele? Niemand
hat sich ausdrücklich bekannt, es gibt keine Forderungen. Manche unterstellen diesem Terror daher nihilistische Motive.
Terror als „Wille zum Nichts“, als Wille zur völligen Vernichtung des anderen wie sich selbst. Dagegen steht die These
von islamistischen Tätern, die sehr konkrete Vorstellungen von einem „göttlichen Zeitalter“ haben.
Die al-Qaida-Gruppe und Organisationen wie die ägyptische al Jama´a al-Islamiya, der Groupe Islamique Armé (GIA) in
Algerien, al-Ansar im Libanon oder - teilweise - al-jihad al-islami und Hamas in Palästina sind religiös gefärbte Strukturen
neueren Typs. Im Gegensatz zur Guerillabewegung der siebziger Jahre streben sie nicht danach, sich durch egalitäre
politische und soziale Visionen zu legitimieren. Diese Spielart des radikalen Islam will stattdessen zu einem vorgestellten
göttlichen Zeitalter zurückkehren. Eine durch und durch chiliastische Bewegung(*), die auf eine - wie sie es sieht umfassende soziale und politische Krisis reagiert.
Eine Einordnung als nihilistische Strömung, wie sie unlängst Michael Ignatieff, der „Harvard-Professor für
Menschenrechte“, verkündete, wäre indes falsch. Das Ziel von al-Qaida besteht in der Rückkehr zu einer Ordnung, wie sie
zu Lebzeiten des Propheten existiert haben soll. Dabei ist das Apokalyptische als Mittel und nicht als Ziel zu betrachten.
Hier liegt der entscheidende Dissens zu den beiden großen Denkern des Reform-Islam, Jamal al-Din al-Afgani und
Muhammad Abdu, die Ende des 19. Jahrhunderts eine lange Periode des Niedergangs der islamischen Zivilisation beenden
wollten und einen neuen Islam vertraten, der mit verknöcherten Strukturen zu brechen vermochte.
Dem radikalen Islam hingegen geht es nicht um Reform des Islam, sondern um Destruktion, indem die göttliche Ordnung
durch Zerstörung der existenten Weltordnung wiederhergestellt wird. Ein „Islamismus neueren Typs“ also, der seine
Quellen in den Auffassungen des Pakistaners Abu A´la Al-Maududi wie auch des 1966 unter dem Nasser-Regime
hingerichteten Ägypters Sayyid Qutb findet.
Beide Theoretiker des politischen Islam gehen vor allem von zwei Axiomen aus - der Illegitimität der real-weltlichen
politischen Herrschaft, die nicht auf Hakimiyat Allah (der Herrschaft Gottes) beruht, und einer fundamentalen Ablehnung
der westlichen Zivilisation. Sayyid Qutb bewertet in den letzten Schriften - sie entstehen kurz vor seinem Tod - die gesamte
islamische Geschichte, mit Ausnahme der 23 Jahre zwischen der Stiftung der Religion und dem Tode des Propheten, als die
lange Zeit der Finsternis. Die Muslime hätten die Lehre des Propheten in der Regel kaum befolgt, doch sei die Ignoranz
ein universales Phänomen und ein globales, das die vorherrschende westliche Zivilisation präge. Die Ignoranz des
20.Jahrhunderts, so der Titel von Qutbs letztem Pamphlet, stehe im Widerspruch zum göttlichen Willen und zu göttlicher
Bestimmung.
Die Konsequenz dieser Lehre besteht darin, dass jede politischen Ordnung, welche die Herrschaft Gottes nicht anerkennt,
als illegitim gilt. Zugleich wird die gesamte islamische Geschichte - einschließlich der Herrschaft der vier, im sunnitischen
Islam als rechtgeleitet bezeichneten Kalifen (al-Khulafa´ al-Raschidun) - als Zeit der Dunkelheit gedeutet.
In seiner negativen Bewertung der Meta-Erzählungen der islamischen Zivilisation steht Qutb im Widerspruch zu den
Prinzipien der immer noch größten islamistischen Bewegung des 20. Jahrhunderts, nämlich der Gesellschaft der
Muslimbrüder (jama‚at al-Ikhwan al-Muslimun), deren Ideologe er in den fünfziger Jahren war. Diese Bruderschaft strebte
ebenfalls die Errichtung einer islamischen Ordnung (al-nizam al-islami) an, wahrte aber stets eine positive Haltung zur
islamischen Geschichte.
Hasan al-Banna, der historische Führer der Muslimbruderschaft, glaubte, das Festhalten der Muslime an den Prinzipien und
Werten des Islam garantiere den Muslimen die Wiederherstellung der glorreichen Vergangenheit. Diese Orientierung war
stets die Antwort auf die Frage:
Warum sind wir zurückgeblieben?
Um auf die Lehre von Qutb zurückzukommen: Der Begriff Jihad - 38mal im Koran in Verbindung mit der Pflicht zur
Verteidigung des Islam erwähnt - wird von ihm als „Pflicht eines jeden Muslims“ postuliert. Seine Deutung des JihadBegriffs stimmt tatsächlich mit dem koranischen Text und der Praxis des Propheten überein und mündet in die Formel: die
illegitime Herrschaft, die Ignoranz müssen bekämpft werden.
Die ägyptische Gruppe al-Takfir wa al-Hijra, die 1981 das tödliche Attentat auf Präsident Sadat in Kairo verübte,
verkörperte diese ideologischen Maxime, indem sie erklärte: die Gesellschaft sei en bloc als ungläubig zu erklären, die
Gläubigen sollten sich symbolisch oder tatsächlich aus ihr entfernen. Schließlich verließ der Prophet selbst Mekka, als
seine Bemühungen, die Ungläubigen zu bekehren, scheiterten.
Sayyid Qutb und seine Schüler in der gesamten islamischen Welt schufen damit ein Konstrukt, bei dem nur die erwähnten
23 Jahre nach der Stiftung der Religion als gültiges Vorbild dienen, weil sie für die ursprüngliche Lehre des Islam
grundlegend waren. Mit anderen Worten, die „islamische Ordnung“ wird nur bedingt als historisch betrachtet, weil die
Muslime im Verlauf ihrer Geschichte die griechische Philosophie, die iranisch-sassanidische und die byzantinische
Staatsorganisation adaptierten und integrierten, und die Osmanen später mit Zustimmung der islamischen Gelehrten einige
Rechtsnormen der westlichen Welt übernahmen.
Militanz und Brutalität der radikalen Islamisten dienen also dazu, wieder eine „göttliche Ordnung“ zu erlangen. Nihilistisch
sei in der Wirklichkeit die Ignoranz der islamischen Meta-Erzählungen. Während Sayyid Qutb die islamische Geschichte
aus ideologischen Gründen als Zeit der Finsternis deklariert und die westliche Kultur wegen ihrer materialistischen
Ausrichtung ablehnt, versuchen seine späteren Schüler die Meta-Erzählungen der Moderne abzulehnen und das Recht auf
ihre eigenen Erzählungen zu begründen.
Es ist daher nur logisch, wenn eine radikal-islamistische intellektuelle Elite seit den achtziger Jahren - unter anderem als
Kritik an der westlichen Moderne - mit Begriffen wie „Authentizität“ oder „Identität“ operiert. Die Legitimation der
eigenen Narrative, die bei diesen Radikalen auf einem ahistorischen Konstrukt basiert, stellt den Versuch dar, die reale
Erzählung des Islam theoretisch zu überwinden.
Ob „Aktionisten“ wie bin Laden diese Entwicklung des islamistischen Diskurs bewusst ist, bleibt unklar. Es scheint aber,
dass sich Gruppen wie al-Qaida oder der GIA in einem wesentlichen Punkt auf Qutb berufen - in der Definition der
Zivilisation als Ignoranz und in der Pflicht, die göttliche Ordnung wiederherzustellen. Die Gewalt hat hier eine wichtige
Funktion. Das ideologische Bekenntnis zum Jihad führt zum extensiven Gebrauch von Gewalt gegen die Bewohner der
algerischen Dörfer ebenso wie gegen ausländische Touristen in Ägypten. Diese Radikalität will nicht nur die
nationalistischen Staatsmodelle des Vorderen Orients ablösen, sie betrachtet auch die moderate Meta-Erzählung, die in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Muslimbruderschaft repräsentiert wurde, als gescheitert. Sie sagt: Nur der
radikale Bruch mit der bisherigen Geschichte verleiht dem Islam wieder seinen ursprünglich kämpferischen Charakter.
(*) Chiliasmus ist die Lehre von der Erwartung des Tausendjährigen Reiches Christi.
Der Autor ist Islamwissenschaftler, seine Überlegungen werden in der nächsten Ausgabe mit einem Text über Ägypten als
Geburtsland des islamistischen Terrors fortgesetzt.
Freitag, 30.11.01
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Der Nächste bitte
NEUE KRIEGE
Die Liste der Schurkenstaaten ist lang, der Irak steht ganz oben - aber es gibt Widerstand
Jochen Hippler
Kaum haben die Taleban Kabul geräumt, mehren sich die Anzeichen des nächsten Krieges: verschiedene Mitglieder der
US-Regierung erklären immer wieder auch den Irak nach Al-Qaida und den Taleban zur größten Gefahr für den Westen.
Solche Erkenntnisse werden großzügig mit Drohungen gegen Bagdad garniert, und die Welt beginnt sich auf den nächsten
Krieg einzustellen. So richtig überrascht das wohl nur jene, die es zuvor geschafft hatten, die anti-terroristische Rhetorik
Washingtons zum Nennwert zu nehmen. Tatsächlich ist die US-amerikanische Strategie in der Region wesentlich breiter
und komplexer. Sicher spielt die Terrorismusbekämpfung in der US-Politik eine wichtige Rolle, das ist schon aus
innenpolitischen Gründen schwer zu vermeiden. Aber anzunehmen, dass die USA alles andere der Terrorbekämpfung
unterordnen und auf die Verfolgung darüber hinaus gehender politischer Ziele verzichten würden, wäre unrealistisch.
Präsident Bush trat sein Amt mit dem Vorsatz an, im Nahen und Mittleren Osten andere Akzente zu setzen als sein
Vorgänger. Das Engagement Clintons in Bezug auf Israel und Palästina sollte zurückgeschraubt und den beiden
Konfliktparteien die Lösung überlassen werden. Als Mann des Ölgeschäfts hatte sich Bush vorgenommen, dafür den
Persisch-Arabischen Golf stärker ins Zentrum zu rücken. Die neue Aufmerksamkeit sollte besonders Saddam Husseins Irak
zugute kommen: sein Sturz nach dem Golfkrieg sei 1991 versäumt worden und müsse nachgeholt werden. Diese
Vorstellung hat offensichtlich nichts mit dem internationalen Terrorismus zu tun. Sie existiert im Kontext amerikanischer
Regionalstrategie für den Nahen und Mittleren Osten. Eine solche bedarf wegen ihres Konfliktpotenzials überzeugender
Argumente - und diese wählt man nach ihrer politischen und emotionalen Überzeugungskraft, nicht danach, ob sie mit der
eigenen Politik in besonderem Zusammenhang stehen.
Massenvernichtungswaffen, die Brutalität des irakischen Regimes - und nun die Frage des internationalen Terrorismus bieten sich als Legitimationen an. Nicht, dass nicht auch zahlreiche andere Regierungen über Massenvernichtungswaffen
verfügten - zuerst die USA selbst, aber auch Israel oder der neue Partner Pakistan haben hier weit mehr zu bieten als der
ausgeblutete Irak. Nicht, dass auch zahlreiche andere Länder von brutalen Diktaturen beherrscht würden - Saudi-Arabien
oder der neue Freund Usbekistan sind abschreckende Beispiele. Und wenn es um eine Unterstützung des internationalen
Terrorismus geht, brauchen andere Länder sich nicht zu verstecken: Gerade der saudische Geheimdienst und sein
pakistanisches Pendant haben ja - teilweise in Kooperation mit den USA selbst - die Taleban und Osama bin Laden
gefördert. Auch die israelische Politik der „Liquidierung“ ausgewählter Palästinenser erfüllt so ziemlich alle Kategorien der
meisten Terrorismusdefinitionen. Wenn also nicht pro-amerikanische Regierungen mit Bombardierungen und Krieg
bedroht werden, sondern der Irak, der Sudan, Libanon, Somalia, Syrien - dann liegt dies nicht an den vorgeblichen Gründen
der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen, der Repression oder der Terrorismusförderung, sondern an der
Instrumentalisierung dieser Tatbestände für andere Zwecke.
Vieles spricht dafür, dass die Entscheidung für einen Krieg gegen den Irak in Washington bereits sehr früh - im September
- getroffen wurde. Ein widerliches Paria-Regime wie das Saddam Husseins anzugreifen, ist leichter durchzusetzen als
andere Ziele. Inzwischen aber gibt es erste Anzeichen dafür, dass die US-Administration vorsichtig zurückrudert. Zwar
sind die halben Dementis eigentlich gar keine, weil sie nur andeuten, dass ein Krieg gegen Bagdad nicht unmittelbar
bevorsteht. Aber trotzdem - noch vor ein oder zwei Wochen klangen die Stellungnahmen wesentlich kriegerischer.
Der Grund liegt auf der Hand: Ein solcher Krieg droht die Koalition zu spalten. Wenn selbst Schröder und Fischer
öffentlich und eindeutig ablehnend reagieren - und dabei eine breite Stimmung in der EU
reflektieren - dann hat sich
der politische Rahmen grundlegend geändert.
Es sieht heute so aus, dass die USA sich zwischen ihrem geplanten Krieg gegen den Irak und der von ihnen geführten
Koalition entscheiden müssen - und diese Entscheidung kann nicht leicht fallen. Dabei könnte der Bruch der Koalition
sogar zu einer ernsthaften Konfrontation zwischen Washington und der islamischen Welt insgesamt führen - und so Osama
bin Laden direkt in die Hände spielen.
Washington dürfte daher in den nächsten Wochen ausloten, wie breit und tief der angekündigte Widerstand tatsächlich ist eine offene Opposition der Bundesregierung gegen die USA beispielsweise ist alles andere als sicher. Wir dürfen uns in
diesem Zusammenhang auf zeitlich gut getimte „Entdeckungen“ und „Beweise“ der US-Nachrichtendienste gegen Irak
einrichten, die eine Rolle Bagdads im internationalen Terrorismus oder bei der B- und C-Waffenentwicklung nahe legen.
Dabei kommt es nicht auf die Echtheit dieser zu findenden Dokumente, sondern auf ihre Glaubwürdigkeit an - und dem
Irak ist ja ohnehin fast alles zuzutrauen. Und da „vertrauliche Quellen“ auch den Verbündeten nicht offen liegen, werden
die Beweise - wie so oft - nicht überprüfbar sein. Von der dann erfolgenden Reaktion der islamischen Länder und vor allem
der EU-Mitgliedsstaaten wird es abhängen, ob die USA den neuen Krieg beginnen. Falls die Bündnispartner trotzdem bei
ihrer eindeutigen Ablehnung bleiben, könnten die USA ihren nächsten Irak-Krieg durchaus abblasen oder zumindest
verschieben. Wenn die Europäer aber wieder einmal einknicken und sich von den noch zu findenden „Beweisen“ irakischer
Missetaten überzeugen lassen - vor allem, um einem Konflikt mit Washington aus dem Wege zu gehen -, dann ist nicht
auszuschließen, dass es etwa im Februar oder März gegen den nächsten Schurkenstaat geht. Gute, vorzugsweise wieder
einmal humanitäre Gründe werden sich ganz sicher finden lassen.
Freitag, 14.12.01
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Kugelfang Kandahar
WEIHNACHTSGESCHICHTE FÜR AFGHANISTAN
Warum Bush nichts schuldig bleibt
Lutz Herden
Zuweilen scheint es nützlich, einen Film noch einmal auf Anfang zu fahren, um zu sehen, wie alles begann. Kurz nach dem
11. September hatte demnach der stellvertretende US-Verteidigungsminister Wolfowitz einer Sehnsucht nachgegeben und
erklärt, es gehe jetzt nicht allein darum, „Menschen gefangen zu nehmen, sondern helfende Systeme auszuschalten und
Staaten auszulöschen, die Terrorismus unterstützen“. Man denkt an Afghanistan, um zu wissen, dass es tatsächlich so
gemeint war. Schon damals allerdings hatte die Vergeltungsrhetorik aus Washington eine zivilisierte, das Barbarische stets
fein abschmeckende Gesellschaft hierzulande kaum aus der Reserve locken können. Die Pulverisierung afghanischer Städte
durch US-Kampfflugzeuge vermag es ebensowenig. In gewissen Weltregionen gilt ein Menschenleben eben nicht als
Menschenrecht.
So gerät dieser Tage auch eher beiläufig der Satz in die Nachrichtentexte, wonach bei der pausenlosen Bombardierung von
Kandahar Tausende ums Leben gekommen seien. Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit. Der Krieg muss eben auch auf
diesem (Toten-) Feld zu seinem Recht finden. Der Clash of Terrorism - die zeitgemäße Spielart des Clash of Civilizations produziert seine Killing Fields. Ja, und? Soll „die Welt“ deswegen vor dem Terrorismus kapitulieren?
Die USA sorgen schließlich mit jedem weiteren Tag ihres Luftkrieges dafür, dass ihnen vom Feind mindestens soviel
erhalten bleibt wie vom eigenen Spiegelbild. Die Innigkeit, mit der sich der amerikanische Staat dem islamistischen Terror
verpflichtet fühlt, greift schon ins Biblische. Bush bleibt „der Welt“ nichts schuldig, „was will der Hölle Schrecken nun ...“,
dröhnt die Weihnachtsgeschichte. Und wird die den Afghanen nicht gerade so buchstabengetreu erzählt, wie es nur geht?
Viele der erklärt linken, traditionell kritischen Begleiter der amerikanischen Politik verhehlen nicht ihre Freude über das
Augenmaß, mit dem George Bush dabei operiert. Womit hatten sie gerechnet? Mit dem Abwurf von Atombomben auf
Kandahar oder Kabul? Dem Einsatz eines riesigen Landheeres, das für CNN tapfer die Computersimulationen von Tora
Bora optimiert, damit die Frage nach eigenen Verlusten überblendet werden kann? Zeigt uns der Verzicht aufs
Apokalyptische, welche Bändigung das Militärische erfährt, wenn US-Alliierte aus Europa um ihren symbolischen Beitrag
- ihr Notopfer am Altar der Zivilisation - nicht verlegen sind? Man kann durchaus genügend Phantasie entwickeln, um sich
das elende Sterben eines Krieges nicht vorstellen zu müssen. Was natürlich entschuldbar ist, weil es über diesen Krieg
bekanntlich noch weniger zu wissen gibt als über seine Vorgänger. Nicht einmal die täglichen Mitteilungen über den
mutmaßlichen Aufenthaltsort Bin Ladens schienen sicher. Sicher war nur, dass sie bombardiert wurden, sobald ein
Verdacht aufkam. Ein Prinzip, das viel von der inneren Motorik des Kreuzzuges gegen den Terror offenbart. Sie wird nicht
leiden, wenn der Skalp Bin Ladens vorgezeigt werden kann. Anti-Terror braucht Trophäen, Terrorismus Märtyrer, wie uns
Israelis und Palästinenser täglich versichern.
Also stehen nächste Kriege bevor, denn noch ist die Frage offen, ob der Zivilisations- und Wohlstandsanspruch des
Westens nicht genau so sicher sein muss, wie die Vereinigten Staaten nach dem Tod Bin Ladens sicher sein wollen. Man
wäre an der Schwelle zu einer Weltordnung, die durch nichts mehr erschüttert werden will - es sei denn durch sich selbst.
Und das gründlich. Wahrscheinlich gibt es ein Menschenrecht auf Verfolgungswahn, das entschlossen verteidigt werden
muss. Paranoia als Überlebensprogramm, auch „wenn die stolzen Feinde schnauben“ - es weihnachtet sehr.
Freitag, 14.12.01
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Die Gewinner des 11. September stehen fest
NORD-SÜD
Ulrich Cremer, Initiator der „GRÜNEN-Anti-Kriegs-Initiative“, über den Afghanistan-Krieg
als Katalysator einer Militärallianz des Nordens gegen den Süden
FREITAG: Inwieweit hat für Sie der Krieg in Afghanistan paradigmatische Züge, die künftig für ähnliche Szenarien von
Bedeutung sein könnten?
ULRICH CREMER: Ein roter Faden ergibt sich für mich aus der Zurückdrängung der UNO und weiteren Aushöhlung des
Völkerrechts. Hier wirkt der Terrorismus wiederum als Katalysator. Um es klar zu sagen: Für den Afghanistan-Krieg gibt
es entgegen gängiger Behauptungen kein UN-Mandat. Am 12. September hatte der Sicherheitsrat die Staaten aufgefordert,
die Täter zu verfolgen und auszuliefern - und zugleich das Recht auf Selbstverteidigung anerkannt. Dieses gilt jedoch laut
UN-Charta nur so lange, bis, wie es heißt, „der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen
Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.“ Wäre der Sicherheitsrat also untätig geblieben, läge die
Selbstverteidigung in der Hand des angegriffenen Staates, also der USA; doch hat der Sicherheitsrat schon am 26.
September einen ausführlichen Beschluss gefasst und darin die entsprechenden Maßnahmen aufgelistet. Von der
Ermächtigung zu Militärschlagen steht da allerdings nichts.
Die NATO war im zurückliegenden Jahr mit diversen Widrigkeiten konfrontiert, die sich nun offenbar „in einer völlig
neuen Situation“ auffangen lassen. Teilen Sie diesen Eindruck?
Tatsächlich wurden 2001 zunächst die Wehretats in Europa nur marginal erhöht. Sie sanken teilweise sogar. Zuvor waren
die Einsätze im Kosovo und in Bosnien nicht wirklich erfolgreich. In der Öffentlichkeit wurde die Vertreibung der Serben
aus dem Kosovo kritisiert, gleiches galt für die unterlassene Entwaffnung der UCK. Immer wieder flammten außerdem
Debatten über Sinn und Rechtmäßigkeit des NATO-Krieges gegen Jugoslawien auf - ich erinnere nur an den sogenannten
Hufeisenplan oder die Uran-Munition. Insofern war es höchste Zeit, der Allianz einen neuen, imagebildenden Auftrag zu
verschaffen. So kam es zum Mazedonien-Einsatz, um der NATO eine öffentlich positiv wahrnehmbare Ausweitung ihres
Einsatzspektrums zu verschaffen.
... weil nun die NATO auch für Friedensbewahrung zuständig war. So ist es, der Aufmacher der diesjährigen SommerAusgabe des NATO-Briefs lautete entsprechend: „Die Friedenserhaltung als Aufgabe“. Aber eine wirkliche Zäsur brachten
erst die Terroranschläge in den USA. Damit war das Ende der Bescheidenheit eingeläutet. Nun fließt das Geld.
Zeichnen sich davon ausgehend neue Entwicklungslinien im Militärbündnis ab?
Zunächst einmal wird die Vormachtstellung der USA wieder überall anerkannt. Außerdem gewinnt die Kooperation
zwischen NATO und Russland erkennbar an Kontur. Bosnien, Kosovo oder die Bildung des NATO-Russland-Rates waren
da eher Vorgeplänkel. Doch mit dem radikal-militanten Islam haben Russland und die USA seit Jahren einen gemeinsamen
Feind. Angesichts der Taleban-Verstrickung in Tschetschenien brachte die Moskauer Regierung schon vor anderthalb
Jahren die Option ins Gespräch, Basen in Afghanistan präventiv zu bombardieren. Genau das hatten die USA 1998 ja
bereits vorgemacht, als sie Lager von Bin Laden nach den Terroranschlägen auf zwei US-Botschaften in Afrika zerstörten.
Anfang August 2001 hielt Bushs Sicherheitsberaterin Rice eine NATO-Mitgliedschaft Russlands nicht für ausgeschlossen Kanzler Schröder fand den Vorschlag sogleich hochinteressant.
Bereits 1997 gab es bei Clinton analoge Äußerungen, die auf ein positives Echo aus Moskau stießen. Vor diesem
Hintergrund dürfte sich eine militärische Allianz des Nordens unter Einschluss Russlands gegen den Süden formieren.
Afghanistan war und ist in dieser Hinsicht ein wichtiger Meilenstein.
Was heißt das für die Bundeswehr?
Die wird bei immer mehr Kriegen und Konflikten in der Welt mitmischen - die gerade stattfindende Debatte um ein
robustes UN-Mandat für Afghanistan zeigt es deutlich. Die Bundeswehr ist ein Gewinner des 11.September. Sie erhält
mehr und gewinnt weiter an Akzeptanz. Man wird nicht immer, aber immer öfter auf das Militär als außenpolitisches
Instrument zurückgreifen.
Warum sind gerade SPD und Grüne die Träger derartiger Entwicklungen?
Bei allem Verdruss darüber, das eine rot-grüne Regierung Deutschland auf den Kriegspfad führt, dürfen wir nicht
übersehen, dass dieser Kurs in der politischen Elite eine überwältigende Mehrheit findet. Für die Außenpolitik macht es
daher nach dem Tabubruch des Kosovo-Krieges 1999 in der Tat keinen Unterschied, welche Koalition aus CDU/CSU,
SPD, FDP und Grünen regiert.
Sie sind gerade von einem längeren USA-Aufenthalt zurück gekehrt. Werden dort andere Debatten geführt als in Europa?
Für die Amerikaner ist der Mythos vom unverwundbaren Homeland zerbrochen, die Menschen sind verunsichert. Da hat
der Krieg in Afghanistan eine wichtige innenpolitische Komponente. Die Bush-Administration weist nach, dass sie etwas
tut, und viele Gore-Wähler sammeln sich prompt hinter dieser republikanischen Regierung. Eine große Stunde der
Teilzeitpazifisten, die ihrer Überzeugung nur in Friedenszeiten nachgehen. Die Friedensbewegung hat es schwerer als in
Deutschland. Sie wird als Fünfte Kolonne bin Ladens diffamiert, das habe ich in Deutschland so noch nicht
wahrgenommen.
Das Gespräch führte Thomas Klein.
Ulrich Cremer ist Mitherausgeber des Buches Die Bundeswehr in der neuen Weltordnung.
Freitag, 14.12.01
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Angst vor Amerika
WAY OF LIFE
Der Mehltau des Totalitären liegt über den Vereinigten Staaten
Ekkehart Krippendorff
Meinen Studenten habe ich immer wieder eingeschärft, in der außenpolitischen Analyse nie von „den“ Franzosen,
Engländern oder Deutschen zu sprechen, die dies und jenes wollten, täten oder gemacht hätten: es handelt sich immer um
Regierungen. Gerade für uns Deutsche ist es ja nahezu lebenswichtig geworden, dass vor allem für die Zeit des Dritten
Reiches unterschieden werde zwischen „Machthabern“ und Volk - was die kollektiv-moralische Verantwortung für
Verbrechen „im Namen des deutschen Volkes“ selbstverständlich nicht berührt. Diese wichtige Unterscheidung gilt
natürlich auch, wenn wir von amerikanischer Politik sprechen - nicht „die Amerikaner“ tun oder taten dies oder jenes in der
Welt, sondern deren jeweilige Regierung.
Diese analytisch und politisch wichtige Differenzierung, in der ja auch die Demokratie-Chance einer kritischen Distanz zur
eigenen Regierung steckt, wird allerdings derzeit für die USA fragwürdig, wenn wir lesen, dass die alarmierende
Kriegsrede George Bushs Zur Lage der Nation nicht nur von den Abgeordneten beider Häuser des Kongresses - dem
höchsten Verfassungsorgan - mit „stehenden Ovationen“ gefeiert wurde, sondern auch auf eine nahezu uneingeschränkte
Zustimmung der amerikanischen Bevölkerung stieß. Die Rede ist von mindestens 85 Prozent, wie ja überhaupt dieser
Präsident eine größere Billigung seiner innen- und außenpolitischen Entscheidungen nach dem 11. September gefunden
hat, als jeder Amtsinhaber in vergleichbarer Lage vor ihm. (Wenn er - so kürzlich Norman Mailer vorsichtig in einem in
England publizierten Interview - noch an Verschwörungstheorien glaubte, so müsste man zu der Folgerung kommen, dass
dieser 11. September von der amerikanischen Rechten selbst gemacht worden sei.) Insofern wird man derzeit von „den
Amerikanern“ sprechen dürfen und müssen, wenn von der Politik ihrer Regierung die Rede ist. Und das macht Angst.
Angst macht das Fehlen einer Opposition ...
..., die das Lebenselement einer jeden Demokratie ist. Die einzige Abgeordnete, die ihre Stimme gegen einen Militäreinsatz
zur Terrorismusbekämpfung gegeben hatte, Barbara Lee, musste ebenso um Polizeischutz bitten wie eine zweite, Marty
Meehan, die lediglich laut Zweifel an der Gefahr geäußert hatte, die angeblich nach dem 11. September für das
Präsidentenflugzeug bestanden habe (später stellte sich heraus, sie befand sich im Recht). Wer, wie Susan Sonntag, so
unvorsichtig war, das „Unisono“ von regierungsoffiziellen und Medien-Kommentaren zum 11. September als „einer reifen
Demokratie unwürdig“ zu kritisieren, der sah sich wegen „moralischer Idiotie“ und als „Amerika-Hasser“ zum Abschuss
freigegeben. Sonntag habe sich, so hieß es, „Abscheu, Verachtung und Zorn, die sie selbst über ihr eigenes Land
ausgeschüttet“ habe, nun selbst zugezogen. Eine streitbare Demokratin wie Barbra Streisand eliminierte Bush-kritisches
Material auf ihrer Website mit der Begründung, in Zeiten nationaler Krisen sei Einheit und nicht Dissens gefordert. Die
um den 11. September herum vorgesehene Veröffentlichung einer Untersuchung der zweifelhaften Hintergründe der
Präsidentschaftswahl Ende 2000 wurde ebenso zurückgezogen, wie die große Buchhandelskette Barnes & Noble die
Autorenlesungen eines Bush-kritischen Buches absagte. Der Sprecher des Weißen Hauses, Ari Fleischer, warnte ganz
unmissverständlich, die Amerikaner „sollten genau darauf achten, was sie sagen und was sie tun“. Und der auch in
Deutschland nicht unbekannte Princeton-Historiker Arno Mayer konnte seine Einschätzung des 11. September, in der er die
US-Regierung als Hauptverantwortliche für „präventiven Staatsterrorismus“ und für eine lange Serie von Mordanschlägen
gegen unliebsame Staatsmänner bezeichnet, nicht in den USA unterbringen und musste dafür zu Le Monde nach
Frankreich ausweichen. Mayer: „Ich bin schockiert von der enormen Angst, die einige meiner Kollegen ergriffen hat“ - die
Angst von Intellektuellen, eine abweichende, politisch nicht korrekte Meinung über die Lage zu haben.
Und sie haben alle Veranlassung dazu. Es ist die Angst vor einer „öffentlichen Meinung“ der amerikanischen Bürger, die
anscheinend bereit sind, ihre größte historische Errungenschaft - die Menschen- und Bürgerrechte, wozu schließlich auch
Presse- und Meinungsfreiheit gehören - ohne Bedenken den „entschiedenen Sicherheitsmaßnahmen“ zu opfern: zwei
Drittel gleich nach dem Anschlag, heute noch immer 47 Prozent; zwischen 53 und 77 Prozent finden nichts dabei, um der
Sicherheit willen zu foltern, Terroristen außerhalb der normalen Rechtsprechung von Militärgerichten abzuurteilen oder
einfach umzubringen oder auch Staatsoberhäupter zu ermorden, die Terroristen Unterschlupf gewähren.
Angst macht die Schlichtheit des Weltbildes ...
..., aus dem heraus die politische Klasse Amerikas sich und dem Volk die aktuelle Bedrohung erklärt. Da wird die
Außenwelt nunmehr eingeteilt in die, denen unser American Way of Life ein nachahmenswertes Vorbild ist - die Guten,
und diejenigen, die ihn uns neiden, die Bösen. Dieser Manichäismus hat keine Schwierigkeiten mit der Erklärung des 11.
September. Auf die Frage: „Warum hassen sie uns so“ steht schon eine andere Antwort als die: „weil wir so großartig
sind“, unter dem Verdacht der Illoyalität und des mangelnden Patriotismus. Für die eigene, kritische Meinungsbildung gibt
es derzeit wenig Hilfestellung. „Man schalte eine der großen politischen Talkshows an - Face the Nation, Meet the Press,
Sunday Morning - und sie alle haben dieselben Gäste, alle stellen dieselben Fragen, alle kommen zu denselben
Ergebnissen“, so einer der Herausgeber der renommierten Columbia Journalism Review. „Ein allgemeines Klima hat sich
über die Presse gelegt, das die Journalisten ängstlich macht, sich allzu sehr vom Konsens zu entfernen, der sich
herausgebildet hat.“ Eine auf patriotische Geschlossenheit eingeschworene Öffentlichkeit hört nun Bushs Botschaft zur
Lage der Nation, die jenes „Wir-die-Guten - Ihr-die-Bösen-Weltbild“ geradezu fundamentalistisch bedient. Keinem
iranischen Ayatollah hätten wir, der aufgeklärte Westen, das nachgesehen. Die iranischen Straßenproteste vom
Wochenanfang schienen dagegen fast eine rational-politische Veranstaltung.
Bushs Rede begann mit den Worten: „Unser Land befindet sich im Krieg, unsere Wirtschaft in der Rezession, die
zivilisierte Welt sieht sich beispiellosen Gefahren gegenüber.“ Eine Botschaft, die einem das Fürchten lehren kann - denn
dieser Krieg, den manche vielleicht mit dem Abschluss der Afghanistan-Operation für beendet glaubten, „hat gerade erst
angefangen.“
„Zehntausende ausgebildeter Terroristen“ laufen noch immer frei herum und haben Lager „in mindestens einem Dutzend
Ländern“, die gemeinsam mit den prominentesten Schurkenstaaten - Nordkorea, Iran und Irak - „eine Achse des Bösen“
bilden (eine historische Erinnerung an die faschistischen „Achsenmächte“).
„Das Böse“ selbst wurde von Bush in seiner Rede gleich dreimal beschworen, und „die Zeit arbeitet nicht für uns“ - „die
Gefahr rückt näher und näher.“ Die innere Sicherheit Amerikas „hängt ab von den wachsamen Augen und Ohren seiner
Bürger“ - „die Terroristen sind unter uns“. Aber „gegen Angriffe schützt nur kräftiges Handeln draußen“: Das „mächtige
amerikanische Militär“ hat bewiesen, dass es unsere Feinde auch in den fernsten Gegenden der Welt aufzuspüren und „vor
die Gerichte dieses Landes“ (nicht etwa eine UN-Weltgerichtsbarkeit) bringen wird. „Die Geschichte“ hat Amerika zur Tat
aufgerufen, „unsere Sache ist gerecht und geht weiter“, wir werden obsiegen - denn „Gott ist nahe“. Angst macht diese
Rhetorik, weil sie nicht von irgend jemand, sondern eben vom Präsidenten der USA kommt. Wodurch, so fragt man sich,
sieht diese Supermacht ihre Sicherheit bedroht, wenn sie doch bereits 50 Prozent aller Weltmilitärausgaben auf sich
vereinigt, wenn sie mindestens zehn Mal so viel für ihre Sicherheit ausgibt wie alle erkennbaren Feind- und Gegnerstaaten
zusammen? Dieses Militärbudget soll nun noch einmal um 20 Prozent aufgestockt werden.
Es bedarf wohl psychologischer Kategorien, um daraus realpolitischen Sinn zu gewinnen. 30 Millionen Dollar pro Tag hat
die Bush-Regierung für ihren bisherigen Anti-Terror-Krieg ausgegeben - 300 Millionen, also ganze zehn Tagessätze, sind
für den großzügigen Wiederaufbau Afghanistans vorgesehen.
Angst macht die atemberaubende Bündelung
amerikanischen Selbstverständnisses aber auch wegen all der Auslassungen in Bushs Proklamation des
Weltführungsanspruches: Kein Wort wenigstens der Besorgnis über die wachsende Kluft zwischen arm und reich, kein
Wort zu den weltweit täglich 14.000 Hungertoten, kein Wort zum Klimaschutz, nur ein halbes Wort über „saubere
Umwelt“, kein Wort zur katastrophalen globalen Gesundheitssituation, zur Verknappung der Trinkwasserressourcen - und
nicht ein Wort über den Schutz der Menschenrechte, über das Völkerrecht oder die UNO, auch kein Wort des Dankes für
die von den Alliierten unaufgefordert erbrachte „uneingeschränkte Solidarität“.
Angst macht aber auch der Kretinismus ...
... der politischen Klassen der sogenannten „Staatengemeinschaft“. Auf der jüngsten Sicherheitskonferenz in München
wurde der Primitivismus dieser regierungsoffiziellen theologischen Welt-Anschauung - außer von Frankreichs
Außenminister Védrine - nur hinter vorgehaltener Hand kritisiert: ins Gesicht sagt das den US-Emissären niemand - man
hat Angst vor ihnen.
Wo bleibt die laute, moralbebende Stimme unseres verantwortungsethischen Außenministers, der es einem CDU-Politiker
wie Jürgen Todenhöfer überlassen muss, an die 5.000 unschuldig und in einem völkerrechtswidrigen Krieg getöteten
Afghanen zu erinnern, „der teuerste, blutigste und peinlichste Flop in der Geschichte der Terrorbekämpfung“? Auch
Todenhöfer hat Angst vor seinem Bündnispartner. Ja, selbst die deutschen Pressekommentatoren und Analysten scheinen
zwar irgendwie zu sehen, dass es eigentlich ganz schlimm ist, was sich da an amerikanischer Interessenpolitik unter dem
Vorwand der Terrorismusbekämpfung ungehindert über die Welt ausbreitet - aber beim Namen nennen sie diese Gefahr
auch nur in Sklavensprache. Bushs beispiel- und offenbar bedenkenloser Bruch olympischer Tradition, die Spiele mit dem
militanten Selbstlob des Gastlandes - „im Namen einer stolzen, entschlossenen und dankbaren Nation“ - zu eröffnen, war
den meisten sogar ein unterwürfig-wohlwollendes Verständnis wert.
Der Autor war bis zu seiner Emeritierung Professor für amerikanische Politik am John F. Kennedy Institut der Freien
Universität Berlin.
Freitag, 15.2.02
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Rambo-Ratio
IRAK IM FADENKREUZ
Die USA suchen nach einem weiteren Testfeld für ihre Unverwundbarkeit
Lutz Herden
Argumente für einen Krieg am Golf gegen den Irak gibt es nicht und wird es nie geben. Aber in der ersten „Schlacht gegen
das Böse“ war der Sieg über die Taleban in Kabul und Kandahar zu leicht errungen, um im „Krieg gegen das Böse“
vollends überzeugen zu können. Bush messianischer Anspruch droht von der Trophäe Afghanistan karikiert zu werden.
5.000 getötete Zivilisten. Zerstörte Städte. In Käfigen gehaltene Gefangene auf Guantanamo, von denen die wenigsten
jemals das Wort World Trade Center gehört haben dürften. Osama bin Laden, aus welchen Gründen auch immer, vielleicht
sehr naheliegenden, entschwunden. Nicht einmal mehr per Video bemüht, Spuren zu hinterlassen. (Oder lassen sich bald
Aufnahmen betrachten, bei denen uns erklärt wird, es deute „einiges“ darauf hin, dass sie auf iranischem Gebiet oder gar
im Irak entstanden sein könnten?) Was bleibt da dem „Guten“ an Glaubwürdigkeit? Die Wolken über dem Irak verdunkeln
sich erwartungsgemäß.
Vom europäischen Ast der NATO lassen sich währenddessen die Früchte des Selbstbetrugs ernten. Treue Gefolgschaft
gegenüber den Amerikanern, als die Afghanen zu Geiseln im Anti-Terror-Kampf erklärt wurden, damit sollte ja nicht nur
Respekt vor dem Vergeltungsdrang der Supermacht nach dem 11. September bezeugt, sondern auch ein Anspruch auf
Ebenbürtigkeit und Mitsprache reklamiert werden. Den sollen die Amerikaner nun abrufen, bevor sie zu weiteren
Militärschlägen gegen die „Achse des Bösen“ ausholen. Können die Europäer ernsthaft glauben, dass ihnen Bush diesen
Gefallen tut? Sie können den Eindruck erwecken, aber das ist auch schon das Letzte und Beste, was ihnen bleibt. Das
herablassende Verständnis der Amerikaner, die eher genervt reagieren, wird sonst zu offensichtlich und zu offensichtlich
herausgefordert. Verbündete wollen zur Räson gebracht werden, um Verbündete bleiben zu können.
Jetzt zahlt es sich aus, nach dem 11. September Amerika in frommer Gläubigkeit gefolgt zu sein und den NATOVerteidigungsfall für einen Vorgang proklamiert zu haben, bei dem inzwischen die Zahl der offenen Fragen die der
überzeugend klärenden Antworten erkennbar übersteigt. Der erschreckende Verzicht auf zivilisatorische Contenance nach
dem 11. September, die Schlichtheit der Argumentation, die Scheu, eine Antwort auf den Terror zu finden, die nicht allein
amerikanische Interessen bedient - für all das, bedankt sich Amerika jetzt mit einer „Rambo-Mentalität“, die so stoisch wie
rational ist.
Wie viel wurde nach dem 11. September gerade in Deutschland über die „neue Verwundbarkeit“ geschrieben. Gemeint war
die „Verwundbarkeit“ europäischer Flughäfen, Bahntrassen, Ministerappartements, Öl-Terminals oder Filmfestspiele. Die
Verwundbarkeit der afghanischen Zivilbevölkerung geriet schon weniger ins Blickfeld. Schon gar nicht die
Unverwundbarkeit derer, die in Afghanistan nur deshalb Gefallene zu beklagen hatten, weil Helikopter ohne
„Feindeinwirkung“ abstürzten. Während des Golfkrieges 1991 gab es 157 US-Opfer und 200.000 Tote auf irakischer Seite.
Als die USA 1999 zusammen mit der übrigen NATO Jugoslawien einem Luftkrieg unterwarfen, starb kein einziger USPilot durch die serbische Flugabwehr. Wer Krieg ohne eigenes Risiko führen kann, muss ihn nicht fürchten. Die RamboMentalität von Bush, Rumsfeld oder Powell mag eine Attitüde der Maßlosigkeit sein. Mindestens ebenso ist sie ein sehr
bewusster Akt, in dem sich Omnipotenz entladen will, die alte Feinde wie den Irak oder Iran von Neuem braucht, um sich
bestätigt zu finden. Die „Neue Weltordnung“ steht damit offenbar vor ihrem eigentlichen, nämlich finalen Durchbruch, der
allerdings nur um den Preis eines unglaublichen Zivilisationsbruchs zu haben ist. Deutschland und die meisten anderen
europäischen NATO-Alliierten ahnen das nicht nur, sie wissen es. Sie haben diesen Vorgang bisher mit „uneingeschränkter
Solidarität“ begleitet und sehen sich nun von seiner so absurden wie absehbaren Rationalität eingeholt. Dass Schröder und
Fischer darauf mit „Bedenken“ reagieren, zeigt eindrucksvoll, dass sich auch Radikalopportunismus noch steigern lässt.
Gäbe es einen wirklichen Dissens mit den Amerikanern, gäbe es vor allem den politischen Willen, ihn auszutragen, wäre
zunächst nur eine ganz banale Entscheidung fällig: Der Rückzug jener Spezialkräfte der Bundeswehr von der Arabischen
Halbinsel, die von diesem Wochenende an mit US-Truppen ins Manöver ziehen. Man wird sehen, was geschieht.
Freitag, 22.2.02
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Hungrig wär´ ich gerne satt
IRAN IM FADENKREUZ
Die „Achse des Bösen“ und die Achsen des Öls durch Mittelasien
Uri Avnery
Vor einigen Wochen geschah etwas Merkwürdiges: Israel entdeckte, dass der Iran der große Satan ist. Es gab keine
sensationellen Neuigkeiten, keine neue Entdeckung. Als hätte es dazu den Befehl gegeben, wechselte plötzlich das gesamte
offizielle Israel die Richtung. Sämtliche Politiker, alle Generäle, die offiziellen Medien, wie üblich unterstützt von
käuflichen Professoren - alle entdeckten über Nacht, dass der Iran die unmittelbare, reale und schreckliche Gefahr sei.
Es war wohl ein merkwürdiger Zufall, dass genau zur gleichen Zeit ein Schiff gekapert wurde, das - wie es hieß - iranische
Waffen für Arafat geladen hatte. In Washington bearbeitete unterdessen Shimon Peres - Mann für alle Jahreszeiten und
Diener vieler Herren - jeden Diplomaten, der ihm in die Quere lief, und erzählte Geschichten über Tausende iranischer
Raketen, die an die Hizbollah geliefert worden seien. Genau jene Gruppierung also, die Präsident Bush zum gleichen
Zeitpunkt als „Terroristische Organisation“ brandmarkte, bekam Waffen von eben jenem Staat, den George Bush zur
„Achse des Bösen“ rechnete. Das klingt verrückt, ist es aber nicht. Diese Idiotie hat Methode und kann eigentlich ganz
leicht erklärt werden. Seit dem 11. September befindet sich Amerika immer noch in einem Zustand blinder Wut. In
Afghanistan gelang ein unglaublicher Sieg, bei dem nicht ein einziger US-Soldat zu Schaden kam. Und nun steht Amerika
da, immer noch wütend und gleichzeitig siegestrunken, und weiß nicht, wen es als nächstes angreifen soll. Irak?
Nordkorea? Somalia? Den Sudan?
Präsident Bush kann in diesem historischen Augenblick offenbar nicht aufhören, weil eine so gewaltige
Machtkonzentration nicht einfach beiseite gelegt werden kann. Zudem verschlechtert sich die wirtschaftliche Situation, und
ein gigantischer Skandal (Enron) erschüttert Washington. Die Öffentlichkeit in den USA könnte womöglich auf die Idee
kommen, darüber nachzudenken. Deshalb gerät hier die israelische Führung ins Spiel und schreit von den Dächern: Iran ist
der Feind! Iran muss angegriffen werden!
Blick nach Süden - US-Basen in Usbekistan, Turkmenistan, Kirgistan
Wer hat diesen Richtungswechsel bewirkt? Wann und wie wurde diese Entscheidung getroffen? Und vor allem: Wo?
Selbstverständlich nicht in Jerusalem, sondern in Washington.
Doch wer sind diese Leute in den USA, die solche Signale geben? Und wo liegen ihre Interessen? Wir brauchen dazu eine
Erklärung, die etwas weiter ausholt. Zu den bedeutendsten Ressourcen dieser Erde gehören die Ölfelder in der Region des
Kaspischen Meeres, die mit den Vorkommen in Saudi-Arabien vergleichbar sind. Experten gehen davon aus, dass diese
Ölfelder 2010 etwa 3,2 Milliarden Fass Rohöl pro Tag und zusätzlich etwa 4.850 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr
liefern werden. Die Vereinigten Staaten sind entschlossen, diese Ressourcen unter ihre Kontrolle zu bringen, potenzielle
Konkurrenten auszuschalten, die Region politisch und militärisch für sich zu sichern und Transportwege von den Ölfeldern
zu den in Frage kommenden Häfen bereit zu stellen. Die derzeitige Kampagne wird von einer Fraktion aus der ÖlWirtschaft angeführt, zu der die Bush-Familie gehört. Zusammen mit der Rüstungsfirmen hat es diese Gruppierung
geschafft, sowohl Bush senior als auch seinen Sohn wählen zu lassen. Bush junior ist als Präsident eine einfache Person,
seine Gedankenwelt scheint seicht und seine Ankündigungen wirken primitiv - die Karikatur aus einem zweitklassigen
Western, gut für die Massen. Aber die Leute, die hinter ihm stehen, sind durchaus sehr fähig. Sie sind es, die in den USA
die Administration führen. Der Anschlag auf die Zwillingstürme von New York hat ihren Job sehr viel leichter gemacht.
Würde ich an Verschwörungstheorien glauben, wäre bin Laden für mich ein amerikanischer Agent. Denn Bushs „Krieg
gegen den Terror“ ist ein perfekter Hintergrund für eine Kampagne, die von den Leuten hinter ihm geplant wurde und wird.
Denn gedeckt durch den Krieg in Afghanistan hat Amerika inzwischen die weitreichende Kontrolle über jene drei
islamischen Nationen bekommen, die in der Nähe der kaspischen Ölfelder liegen: Turkmenistan, Usbekistan, Kirgistan. Die
ganze Region ist jetzt unter amerikanischer Herrschaft, sowohl politisch als auch militärisch. Alle potenziellen
Konkurrenten, Russland und China eingeschlossen, sind beiseite gedrängt worden. Bereits seit längerer Zeit haben die
Amerikaner unter sich darüber diskutiert, welche Routen für das kaspische Öl am besten geeignet sind. Routen, die unter
russischem Einfluss stehen, kommen selbstverständlich nicht in Frage. Die tödliche britisch-russische Konkurrenz des 19.
Jahrhunderts, die man später das Große Spiel nannte, wiederholt sich, diesmal allerdings zwischen Amerika und Russland.
Bis vor kurzem schien eine westliche Route, die zum Schwarzen Meer und durch die Türkei führt, am besten geeignet, aber
die Amerikaner trauten ihr nicht. Russland war viel zu nah. Die bessere Trasse führt daher nach Süden, zum Indischen
Ozean. Natürlich wurde zunächst nicht der Weg über den von „islamischen Fanatikern“ regierten Iran in Erwägung
gezogen. So blieb aus amerikanischer Sicht nur eine Alternative: Vom Kaspischen Meer durch Afghanistan und den
westlichen Teil Pakistans zum Indischen Ozean. Zu diesem Zweck hatten die Amerikaner geheime Verhandlungen mit
dem Taleban-Regime geführt. Ohne Erfolg. Dann begann der „Krieg gegen den Terror“, die Vereinigten Staaten eroberten
Afghanistan und setzten ihre Protegés als Regierung ein. Wenn man sich nun auf der Landkarte die Positionen der großen
US-Militärbasen anschaut, die für den Krieg geschaffen wurden, dann nimmt man erstaunt zur Kenntnis: sie liegen genau
auf der geplanten Pipeline-Route zum Indischen Ozean.
Osama bin Laden - entweder im Iran oder bei der Hizbollah im Libanon?
Das wäre nun eigentlich das Ende der Geschichte - aber der Hunger wächst beim Essen. Aus ihrer Erfahrung in
Afghanistan haben die Amerikaner zwei Lehren gezogen: Erstens kann jedes beliebige Land mit technisch ausgefeilten
Waffen in die Knie gezwungen werden, ohne einen einzigen Soldaten zu opfern. Und zweitens ist man in der Lage, mit
militärischer Macht und Geld überall dort, wo sie es sich anbietet, abhängige Regierungen zu installieren. So wurde in
Washington eine neue Idee geboren: Warum eine unnötig lange Pipeline um den Iran herum verlegen, wenn doch auch eine
viel kürzere mitten durch Iran denkbar ist? Man muss doch eigentlich nur das Ayatollah-Regime beseitigen und eine neue
pro-amerikanische Regierung einsetzen.
In der Vergangenheit schien das unmöglich. Aber jetzt, nach der Episode Afghanistan? Alles, was für einen Angriff auf den
Iran noch fehlt, das sind eine entsprechend gefärbte öffentliche Meinung und die Unterstützung durch den Kongress. Genau
dafür braucht man die guten Dienste Israels mit seinem Einfluss auf Capitol und Medien.
So weisen israelische Generäle tagtäglich darauf hin, dass der Iran Massenvernichtungswaffen produziert und den
jüdischen Staat mit einem zweiten Holocaust bedroht. Sharon erklärt, die iranische Schiffslieferung entlarve Arafat als Teil
der iranischen Verschwörung. Peres verkündet sogar, iranische Raketen seien eine Bedrohung für die ganze Welt. Jeden
Tag erzählt irgendeine israelische Zeitung ihren Lesern, bin Laden sei entweder im Iran oder unter dem Schutz der
Hizbollah im Libanon. Ein sehr einfacher Deal: Ihr besorgt mir die Unterstützung des Kongresses und der Medien, und ich
liefere euch die Palästinenser auf einem silbernen Tablett.
All dies würde nicht passieren, wenn Amerika immer noch von den Verbündeten in Europa und der arabischen Welt
abhängig wäre. Doch Afghanistan hat ihnen gezeigt, dass sie niemanden mehr an ihrer Seite brauchen. Sie können den
bemitleidenswerten arabischen Regimes, die ständig um Geld betteln, ins Gesicht spucken. Auch Europa sieht sich mit
Nicht-Beachtung bedacht. Wer braucht noch die Hilfe Großbritanniens und Deutschlands, wenn Amerika allein mächtiger
ist als alle anderen zusammen? Für Sharon ist die Idee einer amerikanisch-israelischen Kooperation gegen den Iran nicht
neu. 1981, als er gerade zum Verteidigungsminister ernannt worden war, offerierte er dem Pentagon einen kühnen Plan an:
Im Falle eines Sturzes von Ayatollah Khomeini würde die israelische Armee sofort Iran besetzen, um die UdSSR außen vor
zu halten und den nachrückenden Amerikanern das Land zu übergeben. Zu diesem Zweck hätte das Pentagon vorsorglich
die modernsten Waffen unter eigener Regie in Israel bereithalten müssen, damit sie für diese Operation schnell zur
Verfügung standen. Damals konnte Washington dieser Idee nichts abgewinnen.
Übersetzung aus dem Englischen: Hans Thie
Freitag, 22.2.02
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Völlig inakzeptabel
ZUM „MANIFEST DER 58
„Ist der US-amerikanische „Krieg gegen den Terror“ ein gerechter Krieg?
Uwe Steinhoff
Das von 58 amerikanischen Gelehrten unterzeichnete Manifest Wofür wir kämpfen (s. Freitag vom 1. 3. 2002), in welchem
„amerikanische Werte“ gelobt und der „Krieg gegen den Terror“ als gerecht bezeichnet wird, ist in Europa auf zum Teil
scharfe Kritik gestoßen. Es gibt jedoch auch vereinzeltes Lob, so von Jörg Lau in der Zeit (Ausgabe vom 21. Februar).
Man missverstehe die Lehre vom gerechten Krieg, so Lau, wenn man sie als bequeme und selbstgerechte Formel betrachte.
Man brauche darüber hinaus „einigen bösen Willen, um die sorgsam abgewogenen Worte dieses Manifests ... als
Kreuzzugspropaganda zu denunzieren.“ Nun stellt sich aber die Frage, ob die Autoren des Manifests nicht gerade durch
ihre „sorgsam abgewogenen“ Worte die Theorie des gerechten Krieges missbrauchen. Der Versuch einer Antwort gibt
zudem Gelegenheit, diese für die derzeitige Debatte so zentrale Theorie noch einmal zu skizzieren und den sogenannten
Krieg gegen den Terror an ihr zu messen. Die Theorie des gerechten Krieges unterscheidet die Rechtmäßigkeit des
Kriegseintritts (ius ad bellum) von der Rechtmäßigkeit der Kriegsführung (ius in bello). Diese Trennung ist allerdings bloß
analytisch, da die Berechtigung zum Kriegseintritt auch davon abhängt, wie der Krieg voraussichtlich geführt wird. Zur
Rechtmäßigkeit der Kriegsführung sind dabei vor allem zwei Bedingungen zu erfüllen, nämlich jene der
Verhältnismäßigkeit der Mittel (man darf ein Land nicht „in die Steinzeit zurückbomben“, wenn der Sieg auch weniger
zerstörerisch zu haben ist) sowie jene der Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten
beziehungsweise legitimen und illegitimen menschlichen Zielobjekten. Für die Berechtigung zum Kriegseintritt wiederum
werden gewöhnlich sechs Kriterien genannt. Der Eintritt in den Krieg wäre gerechtfertigt, wenn:
man einen guten Grund für ihn hat (zum Beispiel: Verteidigung gegen einen Aggressor); man mit guten Absichten in den
Krieg eintritt (also ohne den Plan, es nicht bei der Verteidigung oder eventuellen Bestrafung der Aggressoren zu belassen,
sondern weitere Vorteile für sich herauszuholen, etwa Vorteile für die eigene Macht oder Aneignung von Territorien oder
Ressourcen); der Krieg ein verhältnismäßiges Mittel ist, so dass er voraussichtlich nicht mehr Unheil schafft als abwendet;
der Krieg ein erfolgversprechendes Mittel ist (diese beiden Punkte sind natürlich kaum voneinander zu trennen); Krieg das
letzte Mittel darstellt (ultima ratio), also keine erfolgversprechenden Alternativen zur Verfügung stehen; und schließlich
über den Kriegseintritt eine legitime Autorität entscheidet. Beginnen wir mit dem letzten Kriterium. Es ist keineswegs
schon dadurch erfüllt, dass eine legitime, nach unseren Vorstellungen also eine demokratisch gewählte Regierung die
Entscheidung trifft. Vielmehr muss eine solche Regierung, wie der bedeutende Theoretiker des gerechten Krieges
Francisco de Vittoria schon im Mittelalter wusste, auch sorgfältig die Argumente der Kriegsgegner prüfen. In den USA
hingegen wurden diese Argumente bereits zu Anfang in der öffentlichen Debatte unterdrückt. Lau jedoch meint - in der Tat
„entgegen anders lautenden Nachrichten“ -, das Manifest der 58 sei selbst „Dokument einer langen und ernsthaften
Debatte“, was er unter anderem an der Kritik der Unterzeichner an ihrem Land festmacht. Doch wer - wie die
Unterzeichner - Angriffskriege, Terrorismus, Unterstützung von Diktaturen und Folter euphemistisch mit sorgsam
abgewogenen Worten wie „zuweilen arrogant und ignorant verhalten“ umschreibt, auf solche Euphemismen bei der
Beschreibung der Taten der anderen aber verzichtet, ist durchaus nicht selbstkritisch, sondern doppelmoralisch. Zudem
fragt sich, ob nicht ohnehin die UNO eine geeignetere Entscheidungsinstanz gewesen wäre. Die Unterzeichner meinen
jedoch in einer Fußnote, es sei „zweifelhaft“, ob eine internationale Körperschaft wie die UNO der beste Richter darüber
sei, wann ein Griff zu den Waffen gerechtfertigt ist. Angesichts jedoch der eingestandenen gelegentlichen Arroganz und
Ignoranz der USA, sind diese wohl ein noch zweifelhafterer Richter.
Was die anderen fünf Bedingungen angeht, so liegt das Abwägen der Worte auch hier darin, dass die Unterzeichner sich
die zum großen Teil sparen. Das Vorliegen der Bedingungen wird nicht geprüft, sondern vorausgesetzt. Bei der ersten
Bedingung ist das durchaus nachvollziehbar (obgleich auch hier die Dinge noch etwas komplizierter liegen), bei den
anderen nicht. Die Öl- und Machtinteressen der USA sind zu deutlich, als dass man sie bei der Bewertung des
Afghanistan-Krieges ignorieren dürfte. Und für die Annahme, dass dieser Krieg oder Kriege gegen weitere angeblich
Terroristen unterstützende Staaten im Sinne der Kriterien des gerechten Krieges verhältnismäßig, Erfolg versprechend und
ohne Alternativen sind, besteht nicht der geringste Grund. So postulieren die Unterzeichner auch einfach, dass zum Schutze
Unschuldiger gegen Terror Gewaltanwendung notwendig sei. Aber selbst wenn dies grundsätzlich zuträfe, so lautet die
Frage doch, ob es für die Art von Gewalt gilt, die wir im sogenannten Krieg gegen den Terror tatsächlich angewendet
sehen.
Ist mit dem Schutz Unschuldiger der Schutz amerikanischer Zivilisten vor Terroranschlägen gemeint, so ist dies
zweifelhaft, denn eine solch massive und undifferenzierte Gewalt, wie die US-Armee sie jetzt gebraucht, steigert nur antiamerikanische Ressentiments und ist damit geeignet, weitere Attentate zu provozieren. Ist mit dem Schutz Unschuldiger
der Schutz friedlicher Afghanen vor den Taleban gemeint, so ist darauf hinzuweisen, dass man Zivilisten kaum schützen
kann, indem man sie bombardiert oder aushungert. Zigtausend friedlicher Afghanen, darunter vor allem Frauen und Kinder,
sind durch das Bombardement oder bereits durch die Kriegsdrohung - ganz zu schweigen von einer, durch den Krieg
bewirkten Schließung der Grenzen - umgekommen. Seriöse Schätzungen gehen von bis zu 400.000 Opfern aus. Von
Verhältnismäßigkeit kann also keine Rede sein. Ein Grund dafür, dass die Kriegsführung in Afghanistan (man danke an
den Gebrauch von Splitterbomben und Flächenbombardements) in den USA auf wenig Kritik stieß, liegt in der verbreiteten
und auch von den Unterzeichnern geteilten Auffassung, dass die Inkaufnahme ziviler Opfer weniger verwerflich sei als der
gezielte Angriff auf Zivilisten. Diese gesinnungsethische Auffassung ist für eine Verwendung von
Massenvernichtungswaffen (und das ist nicht erst eine Atomwaffe, sondern bereits ein B-52-Bomber) sicherlich funktional,
im Rahmen einer Verantwortungsethik aber völlig inakzeptabel. Ob man nun zur Erreichung seiner Ziele den Tod von
Zivilisten als Mittel benutzt oder als Nebenfolge in Kauf nimmt, in beiden Fällen geht man in der Verfolgung seiner Ziele
über Leichen Unschuldiger. Dies muss man verantworten, und verantwortbar ist es nur, wenn das Prinzip der
Verhältnismäßigkeit gewahrt ist. Ein zweiter Grund ist wohl darin zu suchen, dass „die Amerikaner“ - wie Jürgen
Todenhöfer in der Süddeutschen (vom 29./30. Dezember) konstatierte - „glauben, dass Leben der afghanischen
Zivilbevölkerung sei weniger wert als das Leben amerikanischer Soldaten“. Dazu passt auch, dass die Unterzeichner zwar
mehrfach die Zahl der Opfer des Anschlags vom 11. September erwähnen, die Opfer des Afghanistan-Krieges aber nicht
der Zählung für wert erachten.
Worte sorgsam abzuwägen und die Kriterien des gerechten Krieges bloß zu erwähnen (die Unterzeichner verbannen die
meisten von ihnen in eine Fußnote), reicht nicht, um die Bewertung eines Krieges verantwortlich vorzunehmen. Vielmehr
muss man diese Kriterien ernst nehmen und von ihnen geleitet beobachtetes und zu erwartendes Heil und Unheil eines
Krieges gegeneinander abwägen. Die Unterzeichner tun das nicht.
Freitag, 8.3.02
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Out of business
SPRENGSTOFF FÜR DIE NATO
Die US-Nuklearpolitik lässt nicht nur eine transatlantische Kluft aufbrechen - sie beschwört auch Entscheidungen
herauf, die an die achtziger Jahre erinnern
Jürgen Wagner
China und Russland gelten weiterhin als mögliche Ziele eines US-Atomangriffes - doch nicht allein darin besteht die
Brisanz des vom US-Kongress in Auftrag gegebenen, vom Pentagon verfassten und inzwischen in wesentlichen Teilen
veröffentlichten Nuclear Posture Review (NPR) der Bush-Regierung. Die Amerikaner behalten sich danach auch die
Möglichkeit vor, als Vergeltung für einen Angriff mit chemischen oder biologischen Kampfstoffen gegen NichtNuklearstaaten Kernwaffen einzusetzen. Formal hatte Washington zuletzt 1995 erklärt, sich von solchen Optionen
verabschieden zu wollen. Stattdessen zielt der NPR nun auf „präventive Eliminierung“ feindlicher Lager- oder
Produktionsstätten für Massenvernichtungsmittel. Neben Russland und China gilt das den Nicht-Atomwaffenstaaten Irak,
Iran, Libyen, Syrien und Nordkorea. Sofern die Wirkung konventioneller Waffen nicht ausreiche, fordert der NPR, tief
verbunkerte Arsenale notfalls mit Kernwaffen zu zerstören. „Kollateralschäden“ müssten in Kauf genommen werden.
Grünes Licht für die Entwicklung schadensminimierender, zielgenauer Kernwaffen (Mini-Nukes), die für Präventivschläge
einsetzbar sind, „ohne gleich ganz Bagdad anzuzünden“, wie es ein Pentagon-Sprecher launig formuliert.
In Europa wird mit Kritik an derartigen Szenarien nicht gespart. Am drastischsten äußerte sich hierzu die britische LabourAbgeordnete Alice Mahon: „Die Wahnsinnigen haben im Weißen Haus die Kontrolle übernommen. Nach dem Nuclear
Posture Review müssten überall in der NATO die Alarmglocken läuten ...“
Verständlich, denn in Washington wächst offenbar die Bereitschaft, die Zukunft der westlichen Allianz in Frage zu stellen,
falls die nicht bedingungslos hinter der Bush-Strategie im „Anti-Terror-Krieg“ wie hinter einer Non-Proliferations-Politik
steht, die atomare Präventivschläge einschließt. Zwei Statements des republikanischen Senators Richard G. Lugar, die
ohne Abgleich mit George Bush kaum vorstellbar scheinen, sind in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Im Dezember
formulierte Lugar, dass „die Vereinigten Staaten - ohne jeden Zweifel - ihre komplette militärische, diplomatische und
ökonomische Macht einsetzen werden, um sicherzustellen, dass Massenvernichtungsmittel global erfasst, eingedämmt und
hoffentlich zerstört werden.“ In seiner State-of-the-Union-Rede Ende Januar zog der Präsident nach und ließ an der
Bedeutung des „Kampfes gegen die Proliferation“ keinen Zweifel: „Wir müssen verhindern, dass Terroristen und Regimes,
die chemische, biologische oder nukleare Waffen erlangen wollen, die Vereinigten Staaten und die Welt bedrohen. [...] Sie
könnten eine amerikanische Stadt oder unsere Alliierten bedrohen oder versuchen uns zu erpressen. In jedem Fall wäre der
Preis einer Gleichgültigkeit katastrophal.“ Die kann man Washington wahrlich nicht vorwerfen, denn die neuesten Pläne
deuten an, dass künftig allein der Versuch, an Massenvernichtungsmittel zu gelangen, schon als Erpressung der USA
gedeutet wird.
Der Grund für den hohen Stellenwert des Themas Proliferation liegt nicht primär im möglichen Transfer gefährlicher
Waffensysteme an Terroristen, sondern - was auch durch die Bush-Administration nicht bestritten wird - im möglichen
Versuch der „Schurken- oder Achsen-Staaten“ mittels nuklearer, vor allem aber chemischer und biologischer Kampfstoffe
die einzige Weltmacht von einem Angriff auf das eigene Land abhalten zu wollen. Augenscheinlich sind die USA auch
dann zum Präventiv-Einsatz von Atomwaffen bereit.
Das ist Sprengstoff für die NATO, hat doch Senator Lugar die Allianz nachdrücklich aufgefordert, sich derartigen
Überlegungen zu öffnen. „Die NATO-Länder sollten darauf vorbereitet sein, sich den USA anzuschließen ... Alte
Unterscheidungen zwischen „in“ und „out of area“ werden bedeutungslos. Aufgrund der globalen Natur des Terrorismus
sind Beschränkungen irrelevant. [...] Falls die NATO nicht dabei hilft, die drängende Bedrohung für unsere Länder
wirksam abzuwehren, [...] wird sie aufhören, die wichtigste Allianz zu sein, die sie immer war, und zunehmend
marginalisiert werden.“ Und an anderer Stelle heißt es bei Lugar: „Wenn die NATO die Herausforderung, effektiv im
Kampf gegen den Terrorismus zu sein, nicht erfüllt, könnten sich unsere politischen Führer dazu veranlasst sehen, sich
nach etwas umzusehen, das ihren Bedürfnissen entspricht.“
Diese Aussage des Senators, der schon Anfang der neunziger Jahre mit seinem Satz “out of area or out of business”
Debatten um operative Grenzen der NATO anstieß, darf wohl als explizite Warnung an die Alliierten in Europa verstanden
werden.
Die Europäer stehen damit in nächster Zeit vor gravierenden Entscheidungen, die mit folgende Fragen verbunden sind:
Gibt man die operative Beschränktheit der NATO - möglicherweise schon in Kürze bei einem Angriff auf den Irak gänzlich auf und unterstützt die USA vorbehaltlos? Die Signale aus Washington sind eindeutig: Entweder der Irak wird mit
Hilfe der NATO angegriffen oder im Alleingang (mit Großbritannien). Letzteres wäre ein Schritt hin zur von Lugar
prophezeiten Marginalisierung der Allianz. Ist man bereit die US-Nuklearstrategie zu übernehmen, die atomare
Präventivschläge als legitimes Mittel akzeptiert? Drittens schließlich: Gelingt der technologische Durchbruch bei der
Raketenabwehr (NMD) - wo werden die Systeme und Subsysteme - von den Vereinigten Staaten abgesehen - eigentlich
disloziert? Auch in Westeuropa oder bieten sich die neuen osteuropäischen NATO-Partner wie Polen oder Ungarn als
Stationierungsraum (selbst) an? Wie verhalten sich die Westeuropäer in diesem Fall, wenn sich dadurch die Balance
innerhalb des europäischen Teils der NATO verschiebt? Die heraufziehenden Entscheidungen erinnern an die Stationierung
von Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles nach dem sogenannten NATO-Doppelbeschluss von 1979. Auch damals
hatten die Amerikaner keine Skrupel, die Europäer in ihrem nationalen Interesse auf das nukleare Gefechtsfeld zu schicken.
Vorerst stehen die europäischen Verbündeten noch vor einer anderen folgenschweren Wahl: Sechs NATO-Staaten, darunter Deutschland - verfügen derzeit über Flugzeuge, die zum Abwurf von US-Atomwaffen in der Lage wären. Im
Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ könnten die USA in absehbarer Zukunft gemeinsame Einsätze nach Kriterien der neuen
US-Nukleardoktrin fordern. Aus ihrer Sicht kann die Frage nur lauten: Können wir mit den Europäern rechnen, wenn
staatliche, aber auch nichtstaatliche Akteure, die nach Massenvernichtungsmitteln streben, notfalls mit Atomwaffen
attackiert werden?
Schon auf dem Treffen der NATO-Verteidigungsminister am 6./7. Juni in Brüssel, wenn über die Zukunft der NATONuklearpolitik entschieden werden soll, könnte es um eine Antwort gehen. Da man in Washington weiß, dass diese Pläne
auf Widerstand stoßen, werden die Europäer gerade jetzt an ihre Bündnispflicht erinnert, was seine Wirkung nicht verfehlt.
Vor kurzem erklärte der britische Außenminister Jack Straw: „Es gibt sicher Staaten, die abgeschreckt werden können. [...]
Bei besorgniserregenden Staaten bin ich mir dabei viel weniger sicher. Sie können auf alle Fälle davon ausgehen, dass wir
unter den richtigen Umständen dazu bereit sein werden, unsere Nuklearwaffen zu benutzen.“
Hat man in Berlin oder Paris den politischen Willen, dem zu widerstehen und - wenn ja - auch das Rückgrat, dafür eine
wachsende Kluft mit Washington zu riskieren? Möglich wäre, dass Deutschland oder auch Frankreich die Gelegenheit
begreifen - Stichworte sind die EU-Eingreiftruppe und das Galileo-Satellitensystem -, um zunächst auf mehr militärische
Unabhängigkeit von den USA zu drängen. Das würde allerdings bedeuten, angesichts der Stringenz, mit der gegenwärtig
die Politik der US-Administration exekutiert wird, eine strategisch-politische Abwertung der NATO hinzunehmen. Da sich
dies im Kontext mit der globalen Offensivstrategie der USA vollziehen würde - ein Vorgang von ultimativem Charakter.
Der Autor arbeitet im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Die europäischen NATO-Alliierten stehen - mit Ausnahme Großbritanniens - augenblicklich auf der Washingtoner
Werteskala nicht eben hoch im Kurs. Grund sind nicht allein Vorbehalte gegenüber einem Angriff auf den Irak. Die
Europäer müssen erleben, dass die USA auch für den im März vorlegten Nuclear Posture Review (NPR) Bündnistreue
reklamieren. Die Planungen der Bush-Regierung zeugen von einer klaren Wende hin zu einer atomaren PräventivStrategie.
Sagen die Europäer Nein, winkt der NATO eine Zerreißprobe.
Freitag, 19.4.02
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Hiroshimas langer Schatten
WIEDERKEHR DES VERDRÄNGTEN
Die Begriffsgeschichte von „ground zero“ bringt die Widersprüchlichkeiten der amerikanischen Außenpolitik an den Tag
Gene Ray
Ground Zero: Wer auch immer diesen Begriff im Kontext der Terroranschläge auf Manhattan zuerst ins Spiel brachte, seine
massen-mediale Vereinnahmung und Verbreitung erfolgte erstaunlich schnell und kritiklos. Innerhalb weniger Tage nach
dem 11. September wurde ground zero sowohl im allgemeinen als auch im offiziellen Sprachgebrauch zum Synonym für
das Gelände des zerstörten World Trade Centers. Manch einer mochte sich gefragt haben, woher dieser Terminus stammt,
was er bedeutet, doch scheint bisher keiner den Begriff und seinen Gebrauch näher erforscht zu haben. Doch dies zu tun
lohnt sich, zeigt doch die Genealogie des Begriffs die Komplexität der amerikanischen Reaktion auf die Anschläge des 11.
September.
Schaut man sich den Ursprung des Terminus ground zero an, so wird man auf den Zweiten Weltkrieg zurückverwiesen.
Und zwar an jene Orte, die trotz der Beschwörungen von Pearl Harbor infolge des 11. Septembers in den Medien nicht zur
Sprache kamen: Hiroshima und Nagasaki. So definiert das Oxford English Dictionary ground zero als „diejenige Stelle am
Boden, über der eine Bombe, insbesondere eine Atombombe, explodiert“ und zitiert als Ersterscheinung des Begriffs aus
einem Bericht der New York Times von 1946 über das zerstörte Hiroshima.
Dass bisher keiner der historischen Hypothek nachgegangen ist, die der Begriff ground zero gerade in der aktuellen
Konstellation mit Pearl Harbor enthält, verwundert insofern nicht, als bis heute jegliche Basis für eine kritische
Auseinandersetzung mit dem Thema Hiroshima bei amerikanischen Künstlern, Schriftstellern, Intellektuellen und der
breiten Öffentlichkeit fehlt. So gab es in den Staaten bis heute noch keine offizielle Anerkennung des Hiroshima Day.
Keine Äußerung der Reue oder Schuld hat man je aus dem Weißen Haus vernommen. Und es gibt auch kein atomares
Holocaust Museum in Washington.
Man kann dennoch davon ausgehen, dass den meisten Amerikanern, wenn nicht der Ursprung, so zumindest die
Assoziation von ground zero mit dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki 1945 vertraut ist. Der Opferstatus,
den die Amerikaner nach dem 11. September über den Terminus ground zero für sich reklamierten, ist zumindest
unbewusst von größerem Ausmaß, als dies über den sichtbaren Umgang mit dem Gelände deutlich wird. Die große
Resonanz des Begriffs verleiht der Tiefe der Trauer und des Schmerzes Ausdruck. Spräche man aber den Ursprung des
Begriffs an, würde dies mit Sicherheit dem zerstörten Gelände, das über Monate hinweg zum Ort nationaler Weihe und
Gedenkens überhöht wurde, ein störendes, bitteres Moment beifügen.
Vielfach wurde das Wiederaufgreifen des „Drehbuchs“ des Zweiten Weltkriegs seitens der Bush-Administration in den
amerikanischen Medien vermerkt, ohne jedoch diese Wiederaufnahme, geschweige denn das offizielle Drehbuch selbst, zu
kritisieren. Europäer mögen sich der Funktion des Zweiten Weltkriegs für das amerikanische Selbstverständnis vielleicht
nicht so bewusst sein. Es ist daher wichtig zu betonen, dass dieser Krieg im offiziellen und über weite Teile auch im
allgemeinen amerikanischen Gedächtnis als der „letzte gute Krieg“ verankert ist. Ein Krieg, der von der „best generation“
gekämpft und gewonnen wurde, der die moralische Überlegenheit Amerikas exemplifizierte und der das amerikanische
Selbstverständnis als tugendhafte(ste) Nation bis heute fundiert. Das Wiederaufgreifen der Rhetorik des Zweiten
Weltkriegs im heutigen Diskurs fungiert also als kollektiver Rückgriff auf die damalige moralisch (vermeintlich) eindeutige
Haltung der Nation. Die historischen ground zeros müssen dabei freilich verschwiegen werden. Denn Hiroshima und
Nagasaki, synonym für die unrühmliche Geschichte, wie der zweite Weltkrieg beendet wurde, stellen das offizielle
Drehbuch des „guten Krieges“ wesentlich in Frage.
In Hiroshima und Nagasaki begingen die amerikanischen Führer damals ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit - eine
nicht notwendige Bombardierung zweier japanischer Städte, der 300.000 Menschen, größtenteils Zivilisten, zum Opfer
fielen - für das sie sich bis heute nicht verantworten mussten. Über 50 Jahre lang wurde die Verleugnung Hiroshimas und
Nagasakis durch einen sorgfältig verwalteten Mythos gewahrt, laut dem die Auslöschung der Städte und ihrer Bewohner
unvermeidlich für die Rettung von Leben und der Beendigung des Krieges war. Obwohl dieser Mythos von einer Vielzahl
historischer Forschungsarbeiten jüngeren Datums widerlegt wurde, fundiert er weiterhin die official story.
Nach dem Krieg verhinderten die Besatzungszensur und strenge amerikanische Kontrollen des Bildmaterials aus den zwei
zerstörten japanischen Städten eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den menschlichen Kosten dieses atomaren
Ersteinsatzes. Die Veröffentlichung der Hibukusha, der Überlebendenberichte, wurde bis nach dem Ende der
Kriegsverbrecherprozesse von 1948 in Tokio hinausgezögert, und eine de facto Zensur fotografischer Darstellungen von
menschlichen Opfern beschränkte das Bildmaterial aus dem Kriegsgebiet auf Fotos menschenleerer Ruinen. Die
amerikanische Öffentlichkeit wurde also sorgfältig vor solchen Bildern und Erzählungen abgeschirmt, die Empathie mit
den Opfern und Kritik an der amerikanischen Politik hätten auslösen können.
Es gab einige kritische Stimmen, die dieser Zensurpolitik zuwider liefen. Am 1. Juli 1946 erschien ein Bericht, der eine
Studie des US Strategic Bombing Survey zusammenfasste, laut dem sich Japan „sicherlich vor dem 31. Dezember 1945,
und mit größter Wahrscheinlichkeit vor November 1945, [...] ergeben hätte, auch in dem Falle, dass die Atombomben nicht
abgeworfen worden wären [...]“.
Doch diese Störungen der offiziell propagierten, selektiven Geschichtsschreibung wurde von einflussreichen Personen in
Universitäten und Regierung erfolgreich pariert. So setzte sich zum Beispiel Harvard-Präsident James Conant für die
Veröffentlichung von zwei Texten ein, in denen Karl Compton, Präsident des Massachusetts Institute of Technology und
Henry Simpson, ehemaliger Kriegssekretär Trumans, der amerikanischen Öffentlichkeit in kontrollierter Rhetorik und mit
der vollen Autorität des politischen Establishments versicherten, dass ihre Führer mit Weisheit, Menschlichkeit und
Verantwortung gehandelt hätten. Mit Beginn des Kalten Krieges verhärtete sich diese offizielle Version der Geschichte zu
einer Orthodoxie. Seitdem wechselte die amerikanische Haltung zu Hiroshima nach einer Aussage des Historikers Paul
Boyer zwischen Erinnern, Indifferenz und motiviertem Vergessen parallel zu den „wechselnden Zyklen von Aktivismus
und Ruhe in Amerikas jahrzehntelangem Umgang mit der nuklearer Bedrohung“.
Amerikas eigener, schwacher Historikerstreit fand erst 1995 statt. Ausgelöst wurde er durch die Kontroverse um das
Vorhaben des Smithsonian Institutes, das Flugzeug, die Enola Gay, das die Atombombe über Hiroshima abwarf, im
National Air and Space Museum in Washington auszustellen. In dieser Ausstellung wollten die Kuratoren jene kritischen,
die offizielle Geschichtsschreibung revidierenden Interpretationen historischer Fakten miteinbeziehen, die sich zu dem
Zeitpunkt unter Historikern laut J. Samuel Walker als „neuer Konsens“ etabliert hatten. Die Umsetzung dieses
Ausstellungskonzepts hätte demnach die Besucher zur kritischen Auseinandersetzung mit der amerikanischen
Pazifikgeschichte angeregt. Der Ausstellungsabschnitt Ground Zero hätte viele Amerikaner zum ersten Mal mit den
niederschmetternden Fotografien und Relikten konfrontiert, die das Leid der zivilen Bombenopfer, unter ihnen
hauptsächlich Frauen und Kinder, in vollem Ausmaß dokumentieren und die der internationalen Öffentlichkeit bis heute
weitgehend vorenthalten werden. Gut organisierte Gruppen von Kriegsveteranen attackierten die geplante Ausstellung aufs
Heftigste. Neun Monate lang, bis Januar 1995, wurde in den Medien erbittert debattiert. Da die Ausstellungskritiker die
Kontroverse dominierten, sahen sich die Kuratoren wiederholt gezwungen, ihre Konzeption zu revidieren, um den
Forderungen der Air Force Association und der American Legion gerecht zu werden. Eine politisch impotente
Verteidigung des ursprünglich kritischen Ansatzes der Ausstellung von Seiten der Historiker war zu schwach und kam zu
spät. Der Streit endete mit der Anordnung von 81 Kongressmitgliedern, den Direktor des Air and Space Museums, Martin
Harwit, zu feuern, und deren Androhung, den Etat des staatlich finanzierten Smithsonian Instituts empfindlich zu
beschneiden, sollte die Ausstellung nicht auf orthodoxen Kurs gebracht werden. Am 30. Januar gab Harwit bekannt, dass
die geplante Ausstellung nicht stattfinden würde. Am 2. Mai trat er zurück. Ganz sicher wird mit der Übernahme von
ground zero eine kollektive Wunde markiert, doch welche Wunde genau? Die des Verlusts von 3.054 unschuldigen
Bürgern und Nicht-Bürgern in einem spektakulärem, Hollywood-mäßigen Angriff? Oder die des Mitansehenmüssens, wie
mit den Angriffen auf das World Trade Center und das Pentagon die amerikanischen Machtsymbole der Nachkriegszeit so
effektvoll getroffen und zerstört wurden? Oder ist es in der Tat eine komplexere, narzisstische Wunde, die hier aufgerissen
wurde, nämlich der Schock darüber, dass Amerika keineswegs von allen geliebt wird, und die unheimliche Ahnung, dass
sein weltweiter Machteinsatz vielleicht nicht der nationalen Rhetorik moralischer Außergewöhnlichkeit und Überlegenheit
gerecht wird? In der Tat geht es in diesem symptomatischen Sprachgebrauch letztendlich um die moralische Legitimität der
amerikanischen Hegemonie.
Angesichts der Wellen, die die Enola Gay-Kontroverse mehrere Monate lang in den Medien landesweit schlug, sollte den
meisten Amerikanern die Verbindung von ground zero mit Hiroshima und Nagasaki bekannt sein. Doch ist niemand zu
einer kritischen Auseinandersetzung mit diesem Ursprung, das heißt der Wiederkehr verdrängter amerikanischer
Geschichte, die die geographischen Verschiebung des ground zero von Japan nach Manhattan beschreibt, bereit. Es scheint
also, dass die Amerikaner in jener Reaktionsstruktur gefangen sind, die Freud das „Agieren“ nennt: das Wiederholen einer
Problematik, das um so mehr an Emotionalität und Intensität gewinnt, je größer der Widerstand wird, ihren Ursprung und
repetitiven Charakter zu erkennen.
Agieren mag eine notwendige Etappe in der Bewältigung einer belastenden Vergangenheit sein. Doch in unserem Falle ist
die Wirkung dieses Agierens keineswegs harmlos. Harry Truman begann seine Bekanntgabe der Bombardierung
Hiroshimas mit einer Erinnerung an Pearl Harbor und implizierte damit, dass die Japaner nun endlich ihre gerechte Strafe
bekommen hätten. Die Historiker Lifton und Mitchell bezeichnen diese Beschwörung des Überraschungsangriffes auf Pearl
Harbor und der japanischen Schandtaten zur Rechtfertigung für amerikanische Gegengewalt als eine fatale moralische
Umkehrung: da die Japaner wegen ihrer Brutalität ihre Menschlichkeit eingebüßt hätten, sei der Rache der amerikanischen
Opfer keine Grenze gesetzt. Indem sie ihren Gegner - Zivilisten eingeschlossen - auf den Status des „Un-Menschen“
reduziert hatten, konnten sich die Amerikaner gar keines Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig machen.
In den Tagen nach dem 11. September wurde genau diese moralische Umkehrung wieder angewandt, und zwar wieder mit
der Beschwörung von Pearl Harbor und „des Bösen“. Zu Beginn der Bombardierung Afghanistans entschuldigte
Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Amerika im voraus für alle unschuldigen Opfer des neuen Krieges. „Dass es
darüber keinen Zweifel gibt“, erklärte er, „die Verantwortung für jedes einzelne Opfer dieses Krieges, gleich ob
unschuldige Afghanen oder unschuldige Amerikaner, liegt bei den Taliban und Al Quaida“. Vier Monate später wissen wir
immer noch nicht die genaue Opferzahl eines Luftangriffs, in dem unter anderem die über lange Zeit wirkenden
Streubomben eingesetzt wurden. Unabhängige Schätzungen weisen auf mindestens einige Tausend Tote. Genau
nachzuzählen scheint niemand zu wollen oder zu dürfen. Der Widerstand der Vereinigten Staaten gegen einen
handlungsfähigen Internationalen Gerichtshof; die hartnäckige Weigerung, die Ottawa Konvention von 1997 zum Verbot
von Landminen zu unterzeichnen; Amerikas zögerliche und unverbindliche Teilnahme an der Antirassismus-Konferenz
von Durban 2001; Bushs Aufkündigung des ABM-Vertrags von 1972; die absolute Abwesenheit einer öffentlichen Debatte
darüber, dass die Vereinigten Staaten mehr Waffen an den Weltmarkt liefern als alle anderen Staaten zusammen: dies alles
zeigt deutlich, dass der Widerspruch zwischen der amerikanischen moralischen Selbstwahrnehmung und dem tatsächlichen
Handeln zumindest auf der höchsten Regierungsebene ein bewusster ist und zynisch manipuliert wird. Was der Anschlag
vom 11. September also wirklich gefährdete, war nicht das nationale Überleben Amerikas, sondern die Naivität und
Ignoranz der amerikanischen Öffentlichkeit, die Amerikas Griff nach Dominanz und Instrumentalisierung der
supranationalen Strukturen letztendlich fundieren.
Wenn die Leugnung selbstbegangenen Terrors und eigener Grausamkeiten die amerikanische Außenpolitik bestimmt, ihr
Einsatz von Gewalt im schlimmsten Fall ein mörderischer ist und im besten Falle die Prinzipien der internationalen
Menschenrechte desavouiert, so bietet ein Durcharbeiten Hiroshimas die Möglichkeit, dem amerikanischen Selbstbild seine
notwendige Korrektur zu erteilen. Die unkritische, unehrliche, aber außerordentlich erfolgreiche und beliebte
Wiederaufnahme der Rhetorik des „Guten Krieges“ in der Folge des 11. September bedeutet allerdings einen großen Schritt
zurück und einen unabsehbaren Aufschub der zu leistenden Aufarbeitung der Geschichte. Doch ein weiterer Aufschub wird
das Problem nicht zum Verschwinden bringen. Das Verdrängte wird immer wiederkehren - in welch pervertierter Form
auch immer - und zwar solange, bis eine jüngere Generation fähig sein wird, mit diesem Verhaltensmuster der
Wiederholung zu brechen.
Gene Ray, Doktor der Philosophie und Komparatistik, ist freier Wissenschaftler, Künstler und Aktivist und lebt in
Sarasota, Florida. 1996/97 war er Stipendiat der Alexander von Humboldt Stiftung in Berlin.
2001 erschien das von ihm herausgegebene Buch: Joseph Beuys: Mapping the Legacy, Kontakt: [email protected]
Freitag, 3.5.02
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Knistern im Gebälk
BUSH IN EUROPA - DIE NATO IM ANTI-TERROR-KRIEG
Schwächt das atlantische Bündnis die amerikanische Handlungsfähigkeit?
Über den Funktionswandel der westlichen Allianz
Jürgen Rose
Kurz vor seinem Europa-Besuch in der nächsten Woche hat Präsident Bush mit der Annullierung der Unterschrift unter das
Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (ICC) aufs Neue seine Arroganz gegenüber dem „Rest der Welt“ unter Beweis
gestellt. Dieser Schritt brüskiert die europäischen Verbündeten. Die Spannungen in den transatlantischen Beziehungen
scheinen erheblich. Als nächsten Schritt ihres „Anti-Terror-Krieges“ bereitet die Bush-Administration trotz aller
Warnungen weiter einen Angriff auf den Irak vor. Die „Europäer“ stehen vor der Wahl, als globaler Akteur mitzuziehen
oder in der NATO und anderswo den Aufstand zu proben.
Als George Bush im September 2001 wie ein imperialer Herrscher zum „Kreuzzug gegen den Terror“ rief, schlossen die
NATO-Partner zunächst ihre Reihen. Doch bald - nach dem Sturz der Taleban in Afghanistan - schien es damit wieder
vorbei zu sein. Die transatlantische Kluft, wie sie schon vor dem 11. September zu beobachten war, brach erneut auf. Bei
diesen unverkennbaren Divergenzen beanspruchen drei Fragen besonderes Interesse:
Welchem Kalkül folgt die Außenpolitik der gegenwärtigen US-Administration? Welchen Weg nimmt vor allem die NATO
als traditionell wichtigstes Instrument der USA, um in Europa Führung und Einfluss geltend zu machen? Schließlich: Was
ergibt sich hieraus für die künftige Rolle Europas?
Die Supermacht des Guten, die „Achse des Bösen“, das Weltgericht
Um bei der Antwort auf Frage eins dem wohlfeilen Vorwurf des Anti-Amerikanismus vorzubeugen, empfiehlt sich ein
Rekurs auf indigene Kritiker des amerikanischen Unilateralismus. Hierbei wiederum auf solche, die nicht der Fraktion
habitueller Querulanten, idealistischer Spinner, linker Utopisten oder einfältiger Gutmenschen zugerechnet werden können,
sondern zweckdienlicher Weise aus den Reihen der eher konservativen, sogenannten „Falken“ stammen, ergo antiamerikanischer Umtriebe unverdächtig sind. Ein Protagonist dieser Fraktion ist zweifelsfrei Samuel P. Huntington, höchst
reputierter Harvard-Professor, jahrzehntelanger Berater des Pentagons, der nach dem Ende des Kalten Krieges die
irrlichternde These vom „Clash of Civilizations“ formuliert hatte. Huntington also lässt wissen, „dass die Eliten, die
mindestens zwei Drittel der Weltbevölkerung - nämlich Chinesen, Russen, Inder, Araber, Muslime und Afrikaner repräsentieren, die Vereinigten Staaten als einzige und größte äußere Bedrohung ihrer Gesellschaften betrachten. Nicht als
militärische Bedrohung nehmen sie Amerika wahr, sondern als Gefahr für ihre Integrität, Autonomie, Prosperität und
Handlungsfreiheit“. (*) Huntington selbst kritisiert vehement die innerhalb der politischen Eliten Amerikas zirkulierende
Idee von den USA als eines „wohlwollenden Hegemonen“, der die übrige Welt über die universelle Gültigkeit
amerikanischer Prinzipien belehrt und als „einsame Supermacht“ unilateral und autonom agieren darf. Die Kritik gipfelt in
seinem Vorwurf, „dass die USA sich in den Augen vieler Länder zur Schurken-Supermacht (rogue superpower)
entwickeln“. Schlussendlich warnt Huntington - und nicht nur er allein - eindringlich davor, eine hegemoniale Super- oder
gar Hypermachtpolitik fortzuführen, die nur Ressentiments, Widerstände und Gegengewalt hervorrufen werde und
amerikanischen Interessen schade. Als die Regierung in Washington unter dem Eindruck des 11. September ihre weltweite
Koalition gegen den Terror zu schmieden begann, schien es für einen Moment, als neigten sich die Zeiten unilateraler
Präponderanz ihrem Ende entgegen. Doch die Genugtuung über eine Umkehr der USA zum Multilateralismus war verfrüht.
Gleichsam symptomatisch für deren Rückfall in globale Hegemonie erschien Anfang des Monats die Annullierung der
Unterschrift, die der vormalige Präsident Clinton noch gegen Ende seiner Amtszeit unter das Statut für den Internationalen
Gerichtshof (ICC) geleistet hatte. Welch ein Widerspruch: Die Supermacht des Guten, die sich von einer „Achse des
Bösen“ bedroht fühlt, wehrt sich wie im Affekt gegen universelles Recht und untergräbt das Weltgericht. Es mag paradox
klingen, aber forciert durch den Anti-Terror-Krieg sieht sich die NATO - stets das unverzichtbare Fundament der
transatlantischen Beziehungen - einem dramatischen Funktionswandel ausgesetzt. Dabei schien es zunächst so, als hätte das
Bündnis seine Unentbehrlichkeit eindrucksvoll manifestiert, als es nach dem 11. September erstmals in seiner Geschichte
den Bündnisfall nach Artikel V des NATO-Vertrages verkündet hatte. Doch weit gefehlt: Nachdem im NATO-Rat die
politische Legitimation für den Anti-Terror-Krieg der USA formuliert war, erschöpfte sich die praktische Unterstützung
amerikanischer Kriegführung seitens der Allianz in der Entsendung von AWACS-Flugzeugen und kleinen
Truppenkontingenten. Nicht die NATO führte in der Folge Krieg gegen den Terror, sondern die USA bestimmten autonom
Kriegsziele und -strategie. Allenfalls ließen sie sich durch den ein oder anderen Verbündeten unterstützen, der sich in einer
Koalition unter strikt amerikanischer Führung einfand, die - wie es Verteidigungsminister Rumsfeld unmissverständlich
formulierte - durch die Mission bestimmt wurde und nicht umgekehrt.
Amerika kämpft, Europa füttert, die UNO zahlt
Die „uneingeschränkte Solidarität“ zahlte sich für die europäischen Alliierten nicht durch mehr Einfluss und Mitsprache
aus. Spätestens mit der diesjährigen Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik wurde offenbar, dass die NATO aus
amerikanischer Sicht ihre Schuldigkeit während des Kalten Krieges und der anschließenden turbulenten Post Cold War
Period getan hatte und ihre „klassische“ Funktion einzubüßen begann. Soviel war klar, sollten die USA ihre globale
Dominanz auf Dauer festzuschreiben gedenken (und daran wurden in München so gut wie keine Zweifel gelassen), dann
gehörte dazu die Option, überall und jederzeit intervenieren zu können. Dies allein und unbehindert von schwankenden
Alliierten wie langatmigen Prozeduren.
Mit anderen Worten - das atlantische Bündnis schwächt amerikanische Handlungsfähigkeit. Präferabel erscheint
Washington daher eine Allianz, die sich auf strategische Arbeitsteilung verpflichten lässt: Amerika führt die Kriege und
Europa räumt hinterher auf - getreu dem Motto: „The US fights, the EU feeds, the UN funds“ (die Vereinigten Staaten
kämpfen, die EU füttert, die UNO zahlt).
In dieses Kalkül fügt sich auch eine veränderte US-Position zur anstehenden zweiten Erweiterungsrunde der NATO.
Während noch Mitte der neunziger Jahre Präsident Clinton die Zahl von Neuaufnahmen gering halten wollte, um die
militärische Effektivität des Bündnisses nicht zu belasten, folgt die jetzige Administration anderen Optionen. Sie lauten:
Der militärische Wirkungsgrad eines herkömmlichen kollektiven Verteidigungsbündnisses gilt angesichts heutiger
Risikoszenarien als nachrangig. Künftig werden eher Ad-hoc-Koalitionen unter amerikanischer Führung agieren. Insofern
ist die NATO als politische Institution gefragt, in der möglichst viele potentielle Koalitionäre - bis hin zu Russland - im
Kampf gegen den Terror oder gerade angesagte „Schurkenstaaten“ gebunden werden. Schließlich würde eine derart
funktionalisierte Organisation flexibel gestaltbare Kooperationen erlauben - vom geheimdienstlichen
Informationsaustausch bis zur Kontrolle internationaler Finanztransfers.
Mutiert die NATO im Sog amerikanischer Hegemonialpolitik tatsächlich zu solch einem mehr politisch geprägten
Konsultations- und Kooperationsforum, dessen militärischer Wert demzufolge schwindet, zwingt das Europa zur
Selbstbesinnung. Bei der momentanen Asymmetrie des internationalen Systems wie der Tatsache, dass die vermeintliche
Omnipotenz ihres Staates viele Amerikaner zu einem Gefühl unbändiger Überlegenheit verführt, ist eine EU, die als
gleichgewichtiger und gleichberechtigter Partner handelt, dringlicher denn je. Dies bedingt keineswegs eine Entfaltung zur
militärischen Supermacht. Zunächst einmal gilt es, institutionelle Formen zu finden, die es ermöglichen, zu einer
effizienteren politischen Willensbildung in Europa zukommen, vorzugsweise bei einer Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik. Europa muss sodann seine Interessen und deren Reichweite definieren. Hierbei gilt es besonderes
Augenmerk auf die traditionellen Stärken der EU zu richten, nämlich geduldige Diplomatie, multilaterale Konfliktlösung,
Stärkung der UNO, kurz: mühsame Friedensarbeit. Nicht die „Enttabuisierung des Militärischen“ ist in diesem Kontext
gefragt, sondern die Rückbesinnung auf eine der Vernunft und Humanität verpflichteten „Kultur der Zurückhaltung“.
(*) s. Huntington, Samuel: The Lonely Superpower, in Foreign Affairs, vol.
78, no.2, 1999.
Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr in München. Er vertritt in diesem Text nur seine persönlichen
Auffassungen.
Freitag, 17.5.02
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Was wusste George Bush?
11. SEPTEMBER 2001
Cynthia Mc Kinney, Abgeordnete der Demokratischen Partei im US-Kongress:
Die Regierung muss auf Fragen zum 11. September 2001 antworten
Der Konsens im US-Kongress mit der Bush-Administration ist ungebrochen. Um so mehr fallen Vorstöße einzelner
Parlamentarier auf, die aus dem Glied treten und unbequeme Fragen stellen. So Cynthia McKinney, Abgeordnete für die
Demokraten aus Georgia, die am 12. April mehrere Anfragen an die Exekutive richtete. Wir dokumentieren die
wesentlichen Passagen ihrer Intervention.
Vergeuden wir unseren guten Willen überall auf der Welt mit einer Politik, von der viele Menschen denken, dass sie
zusammenhangslos und kriegstreibend ist? Einer Politik, die unsere Freunde abstößt und den Interessen unserer Alliierten
zuwider läuft? Welche Rolle spielt unsere Abhängigkeit von importiertem Öl für die Militärpolitik, wie sie von der BushAdministration betrieben wird? Welche Rolle spielen enge Bindungen zwischen der Administration und der Öl- sowie
Rüstungsindustrie? Welchen Stellenwert haben sie für die Grundlinien der amerikanischen Politik? Unser Volk hat ein
Anrecht darauf zu erfahren, was am 11. September falsch gelaufen ist und warum. Schließlich treiben wir nach
Eisenbahnhavarien, Flugzeugabstürzen - sogar nach Naturkatastrophen - sorgfältige und öffentliche Untersuchungen voran,
um zu begreifen, was geschehen ist, und um zu verhindern, dass sich Katastrophen wiederholen. Warum also bleibt die
Regierung standhaft bei ihrem Nein zu einer Untersuchung über den schlimmsten terroristischen Angriff, den es auf unsere
Nation je gab? Medien wie Der Spiegel, London Observer, die Los Angeles Times, MS-NBC und CNN verweisen darauf,
dass zahlreiche Warnungen aus unterschiedlichen Quellen bei Behörden der USA eingingen. Außerdem wurde berichtet,
dass es vor dem 11. September gelungen war, Osama bin Ladens Nachrichtensystem zu entschlüsseln. Die Regierung der
Vereinigten Staaten wird heute von Überlebenden der Attentate auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam im Jahr
1998 angeklagt, weil gerichtliche Ermittlungen gezeigt haben: Trotz vorhandener Warnungen wurde seinerzeit wenig
unternommen, das Botschaftspersonal zu schützen.
Ist uns das Gleiche erneut zugestoßen?
Ich bin mir nicht sicher, ob es irgendeinen Beweis gibt, dass Präsident Bush oder Mitglieder seiner Regierung persönlich
von den Attacken des 11. September profitiert haben. Eine lückenlose Erhebung sollte zeigen, ob das der Fall ist. Man
weiß zum Beispiel, dass der Vater des Präsidenten durch seine Beteiligung am Carlyle-Konzern gemeinsame
Geschäftsinteressen mit einem Bauunternehmen der Familie bin Ladens hatte und durch Geschäftsanteile bei
Rüstungsfirmen engagiert ist, deren Aktienkurse seit dem 11. 9. dramatisch gestiegen sind.
Es kann nicht bestritten werden, dass Konzerne, die der Regierung nahe stehen, direkt von gestiegenen
Verteidigungsausgaben profitiert haben, die nach dem 11. September veranlasst wurden. Dabei ragen Carlyle, DynCorp
und Halliburton besonders heraus. Verteidigungsminister Rumsfeld behauptete in einer Kongressanhörung, dass wir uns
das jetzige Militärbudget (600 Milliarden Dollar - die Red.) leisten können, auch wenn es sich um die kräftigste Steigerung
seit 20 Jahren handelt. Das ganze amerikanische Volk ist aufgefordert, Opfer zu bringen. Junge Frauen und Männer sollen
im Krieg gegen den Terrorismus ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Das amerikanische Volk sieht sich gedrängt, Opfer zu
bringen, wenn die Mittel für die Wohlfahrt und die Gesundheitsfürsorge zugunsten der gewachsenen militärischen und
sicherheitstechnischen Bedürfnisse, die sich aus dem 11. September ergeben haben, gekürzt werden. Es ist absolut
unerlässlich, dass die Amerikaner wissen, weshalb sie diese Opfer bringen sollen. Wenn der Verteidigungsminister uns
mitteilt, seine nächsten militärischen Ziele bestünden darin, fremde Hauptstädte zu besetzen und Regierungen zu stürzen,
muss das amerikanische Volk auch wissen, aus welchen Gründen das geschehen soll. Es sollte doch wohl für diese
Regierung ein Leichtes sein, dem Volk in erschöpfender Weise zu erklären, ob die uns abverlangten Opfer tatsächlich mehr
Sicherheit versprechen. Wenn die Regierung dazu nicht in der Lage ist, muss der Kongress diese Aufgabe übernehmen.
Dies ist nicht die Zeit für Treffen hinter verschlossenen Türen und Geheimniskrämerei. Amerikas Glaubwürdigkeit in der
Welt wie gegenüber der eigenen Bevölkerung hängt von glaubwürdigen Antworten auf diese Fragen ab. Die ganze Welt
taumelt am Rande furchtbarer Konflikte, während die Politik dieser Regierung verschwommen, unschlüssig und unklar ist.
Schwerwiegende Interessenkollisionen finanzieller Art betreffen den Präsidenten, den Vizepräsidenten, den
Generalbundesanwalt und andere Regierungsmitglieder. Dies ist die Zeit für Führerschaft und Entscheidungsvermögen,
die keineswegs beeinträchtigt sind. Dies ist die Zeit für Transparenz und eine sorgfältige Untersuchung.
Übersetzung von Hermann Ploppa
Freitag, 17.5.02
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Die neuen Kolonien des Westens : PIRATEN DES 21. JAHRHUNDERTS
Globaler Freihandel als neokoloniales Kriegssystem
Maria Mies
Dass die Verleihung des Friedensnobelpreises an eine Internationale Ärzte-Initiative, die sich für Abrüstung und Frieden
einsetzt, einmal Bonner Politiker beim norwegischen Nobelpreis-Komitee intervenieren ließ und eine beispiellose
Rufmord-Kampagne auslöste, ist heute kaum mehr vorstellbar. 1985 jedoch, inmitten der Auseinandersetzungen um die
Kernenergie und die atomare Aufrüstung in Mitteleuropa und drei Jahre nach Gründung der deutschen Sektion der
„Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ (IPPNW), protestierte die CDU gegen die Entscheidung der
Jury, und die Regierung ließ die Friedensinitiative jahrelang vom Verfassungsschutz beobachten. Unter neuen politischen
Vorzeichen feierte vergangene Woche die deutsche IPPNW in Berlin ihr zwanzigjähriges Bestehen. War nach 1982 der
Ost-West-Konflikt handlungsleitend für die Friedensarbeit der Ärzte-Organisation gewesen, ist es heute der weltweite
Kampf um Ressourcen, der Krieg, Armut und Umweltzerstörung hervortreibt und der sich nach den Ereignissen des 11.
September noch verschärft hat. „Die Gefahr eines Krieges mit Nuklearwaffen“, heißt es in der „Berliner Erklärung“ der
IPPNW, „ist präsenter denn je“, doch er richte sich, „statt gegen eine Supermacht, gegen feindliche Staaten oder gar gegen
islamistische Kämpfer“. Gleichzeitig habe der 11. September gezeigt, wie angreifbar die technisierte Zivilisation - nicht
zuletzt durch Angriffe auf AKWs - sei. Anlässlich des Jubiläums dokumentieren wir eine stark gekürzte Fassung eines
Vortrags, den die Kölner Entwicklungssoziologin Maria Mies im Rahmen der Mitgliederversammlung hielt.
Die Theoretiker des neoliberalen Freihandels behaupten, dass durch „freien“ Welthandel, das heißt Handel, der nicht von
den Regierungen reguliert wird, ein „ebenes Spielfeld“ geschaffen würde, auf dem alle Spieler, große und kleine, friedlich
miteinander konkurrieren könnten und dass so der größte Wohlstand für alle entstehen würde. Kriege, wie wir sie von
früher kannten, würden der Vergangenheit angehören.
Drei Mythen: Globaler Freihandel und Frieden ...
Wenn wir jedoch einen kurzen Blick auf die Geschichte des globalen „Freihandels“ werfen und uns außerdem die
Ergebnisse der neuen neoliberalen Freihandelspolitik in den letzten 15 Jahren ansehen, werden wir schnell eines Besseren
belehrt. Karl Polanyi hat schon 1944 nachgewiesen, dass der internationale „freie Markt“ sich nicht „natürlich“ aus dem
freien Tauschhandel entwickelt hat, wie die Neoliberalen ständig behaupten, sondern dass er im 18. und 19. Jahrhundert
mit Gewalt vom englischen Kolonialstaat künstlich geschaffen wurde. Nach Polanyi hatte der Außenhandel ursprünglich
mehr den Charakter von Piraterie, Raub und kriegerischer Eroberung als von friedlichem Tausch. Noam Chomsky weist in
seinem Buch über den Zusammenhang von Wirtschaft und Gewalt sehr ausführlich nach, dass die „Vormachtstellung
Europas in der Welt“ ganz wesentlich auf dem Einsatz kriegerischer Gewalt beruht und nicht auf irgendwelchen sozialen,
moralischen oder natürlichen Vorzügen. Das erste globale Handelssystem der Welt entstand im Zusammenhang
portugiesischer und später holländischer und britischer kolonialer Eroberungen. Im Unterschied zu den Portugiesen setzten
die Holländer und die Engländer die Gewalt „eher auf selektive, ja rationale Weise ein. Sie wurde ausschließlich im und für
den Handel eingesetzt“. Viele, auch Marx waren der Meinung, diese bluttriefenden Zeiten seien nur Teil der
„Geburtsstunde“ des Kapitalismus, der „unter Blut und Tränen“ zur Welt gekommen sei. Marx war der Auffassung, diese
Periode der „ursprünglichen Akkumulation“ würde von der eigentlich kapitalistischen Akkumulation, der erweiterten
Reproduktion des Kapitals abgelöst. Christel Neusüß fragte mit Recht, wieso denn eine „Geburtsstunde“ so lange dauern
könne. Über 200 Jahre nach der Eroberung Indiens stellen wir fest, dass auch noch nach der politischen Entkolonialisierung
in den Ländern des Südens immer noch Zustände und Methoden der „ursprünglichen Akkumulation“ herrschen. Wir reden
daher von „fortgesetzter ursprünglicher Akkumulation“. Immer noch sind Gewalt, Eroberung, Krieg und Vertreibung die
effizientesten Mittel der Kapital-Akkumulation.
... Freihandel auf „ebenem Spielfeld“
Eine ähnliche Freihandelslüge ist die von der Schaffung eines „ebenen Spielfelds“ zwischen einzelnen „Spielern“. Heute
gibt es genügend empirische Befunde, die nachweisen, dass die Ungleichheit innerhalb der Länder und zwischen „armen“
und „reichen“ Ländern nie größer war als in der Periode nach 1990, in der der Neoliberalismus seine weltweite Hegemonie
errichtet und konsolidiert hat - durch Abkommen wie die der EU, NAFTA, APEC und vor allem der WTO. Das wird
inzwischen nicht nur von der UNO in ihren Entwicklungsberichten zugegeben, sondern von der Weltbank selbst und sogar
von Präsident Clinton beim letzten World Economic Forum-Treffen. Tatsache ist, dass der Freihandel immer mehr
Verlierer produziert, die einer Minorität von globalen Gewinnern gegenüberstehen und dass die Kluft zwischen beiden
immer größer wird: 52 der 100 größten Ökonomien der Welt sind Konzerne, nur 48 sind Länder, und der Reichtum der drei
reichsten Männer der Welt, alle aus den USA, ist größer als der von 50 Prozent der ärmsten Länder. Die UNCTAD schreibt
in ihrem Entwicklungsbericht von 1997, dass 1965 das persönliche Einkommen in den reichen G7-Ländern 20mal größer
war als das in den sieben ärmsten Ländern. 1995 war diese Kluft 39mal größer. Die UNCTAD macht die
Liberalisierungspolitik für die wachsende Ungleichheit verantwortlich. Die Verlierer befinden sich aber nicht nur in den
Entwicklungsländern. Seit Ende der achtziger Jahre ist die Armut auch in die reichsten Länder zurückgekehrt, nach
England, in die USA und auch nach Deutschland, wie eine Studie des Caritas-Verbandes 1999 nachwies. Auch hier ist die
Kluft zwischen den Reichsten und Ärmsten größer geworden. Für die USA weist eine Studie des Institute of Policy Studies
nach, „dass die Top-Manager amerikanischer Konzerne heute im Durchschnitt 419mal mehr verdienen als einfache
Arbeiter. Nach Kevin Phillips erhöhten die oberen zehn Prozent der Amerikaner in den achtziger Jahren ihr Einkommen
um 16 Prozent. Bei den ärmeren Schichten war es umgekehrt. Je weiter unten auf der sozialen Leiter, um so größer die
Einkommenseinbußen. Die zehn Prozent am unteren Ende verloren im selben Zeitraum 15 Prozent ihrer ohnehin dürftigen
Einkommen. 1977 war das Einkommen des obersten ein Prozent der Bevölkerung 65mal größer als das der ärmsten zehn
Prozent. 1987 war das oberste ein Prozent 115mal reicher.
... Freihandel und Entwicklungsförderung
Die beschriebenen Ungleichheiten und die allgemeine Wirtschaftskonkurrenz führen nicht nur irgendwann auch zu sozialen
Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen. Heute können wir viel direkter den Zusammenhang zwischen
neoliberaler Politik und neu aufbrechenden Kriegen beobachten, wenn wir uns die Folgen der Politik der Weltbank, des
IWF und der WTO ansehen. Diese drei sogenannten Bretton Woods Institutionen wurden im September in Prag die
„Unheilige Trinität“ oder auch die „Mörder-Trinität“ genannt. Sie sind es, die seit Jahren die neoliberale Freihandelspolitik
im Interesse der großen Konzerne und Banken schützen, verbreiten und konsolidieren. Die Folgen ihrer Politik waren
zuerst in Afrika und Asien zu spüren, dann aber auch in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Bei dem Treffen von
Weltbank und IWF im September 2000 in Prag verteilte die Gruppe Globalization Challenge Initiative einen Bericht über
die Auswirkungen der Strukturanpassungsprogramme (SAP) auf Tansania. Nach diesem Bericht ist die Kindersterblichkeit
auf 85 pro 1.000 Kinder gestiegen. Während 1980 noch 80 Prozent der Kinder die Grundschule besuchten, sind es jetzt nur
noch 50 Prozent. Die Regierung gibt das Vierfache dessen, was sie für Grundschulen ausgibt, für den Schuldendienst aus.
Das Prokopfeinkommen war in den 70er Jahren 309 Dollar. Seit Einführung der SAPs im Jahre 1985 ist es auf 160 Dollar
in den 90er Jahren gesunken. Die Lebenserwartung ist heute nur 48 Jahre. Ein großer Teil der Bevölkerung leidet an AIDS,
aber die Regierung gibt nur ein Prozent ihres Budgets für die Gesundheit aus. Dass die „ökonomische Medizin“ von
Weltbank und IWF jedoch nicht nur zu diesen Folgen führt, sondern dass regelrechte Kriege das Resultat der
„Armutsbekämpfungspolitik“ sind, haben Silvia Federici und Michel Chossudovsky für verschiedene Länder Afrikas - zum
Beispiel Mosambik - und Osteuropas nachgewiesen. Die Zerstörung der sozialen und physischen Infrastruktur eines
Landes, seiner Fähigkeit zu unabhängiger, ökonomischer Reproduktion ist nach Federici jedoch nicht nur ein Resultat von
Bürgerkriegen, sondern kann auch „unblutig“ direkt durch die SAPs erreicht werden. Die SAPs legen den kreditsuchenden
Ländern Bedingungen auf, durch die sie ihre Wirtschaft dem freien Weltmarkt öffnen müssen. Diese sind unter anderem
Förderung der Exportproduktion, Abwertung der Währung, Kürzung von Staatsausgaben im Sozialbereich (für Gesundheit,
Schulen, Sozialhilfe, subventionierte Nahrung), Lohnkürzung, Entlassung von Staatsangestellten, Deregulierung von
Arbeiterrechten, Abschaffen der Subventionen für Kleinbauern und Kleinbetriebe, Öffnung des Landes für Luxusimporte
und Konsumgüter für die Mittelklasse (Autos, Fernseher, Videos und so weiter). Auch Waffen gelangen ungehindert in
diese Länder. Frauen und Kinder sind die Hauptopfer der SAPs, durch die die Wirtschaft dieser Länder nach den Prinzipien
des Freihandels „reformiert“ werden soll. Solange solche Kriege in Asien oder Afrika stattfanden, konnten die Leute im
Norden sie ignorieren oder sie als „Stammeskriege“ bezeichnen. Doch dasselbe Muster, das Federici für Mosambik
beschrieb, fand 1999 auch im NATO-Krieg im Kosovo Anwendung. Auch hier war die UCK, eine Rebellenorganisation,
die die Bevölkerung terrorisierte, mit dem Ziel, ein unabhängiges Kosovo zu schaffen, systematisch von den USA und
Europa unterstützt worden.
Michel Chossudovsky hat schon 1997 analysiert, wie die Freihandelspolitik der Weltbank und des IWF nicht nur viele
Länder der „Dritten Welt“ in den Ruin getrieben hat, sondern auch, dass der wirtschaftliche und politische Zerfall der
jugoslawischen Republik ursächlich mit der makroökonomischen Umstrukturierung zusammenhängt, die der serbischen
Regierung durch die Bretton Woods Institutionen und die ausländischen Gläubigerbanken aufgezwungen wurde. Das IWFAbkommen von 1990 hatte schon ein Paket von SAPs enthalten, dessen „Bedingungen“ das Ziel hatten, neoliberale
Marktstrukturen in das sozialistische Jugoslawien einzuführen. Diese SAPs führten die Wirtschaft, die schon seit dem Tod
Titos nicht mehr gut funktionierte, in den Kollaps.
In weniger als zwei Jahren, so Chossudovky, haben 1.137 Staatsfirmen Bankrott gemacht und mehr als 600.000 Arbeiter
seien arbeitslos geworden, die meisten aus Serbien, Bosnien, Herzegowina, Mazedonien und Kosovo.
Dieses Bankrott-Programm sei vom IWF gewollt gewesen, um die staatseigenen
Firmen in Privatbesitz überführen zu können. Bei diesem Prozess, das ist bekannt, haben sich die alten Parteikader
ordentlich selbst bedient. Doch dieser ökonomische Zusammenbruch führte zu Sezessionen - gefördert von Deutschland angefangen bei Kroatien und Slowenien und schließlich zu den diversen Kriegen, die trotz des NATO-Krieges im Kosovo
im letzten Jahr nicht aufgehört haben. Und diese Kriege wiederum machen die ganze Region ökonomisch und politisch
abhängig von den NATO-Mächten, der EU und den USA.
Von der Lizenz zum Plündern zur Lizenz zum Töten
Es ist erschreckend, mit welcher Geschwindigkeit die sogenannte Friedensdividende nach dem Ende des Kalten Krieges in
neue Subventionen für die Rüstungsindustrie verwandelt wurde. Es ist kein Zufall, dass kurz nach Beginn des KosovoKrieges im April 1999, anlässlich des 50. Geburtstages der NATO, eine neue NATO-Doktrin verkündet wurde. Diese
NATO-Strategie passt haargenau in die Erfordernisse des globalisierten Kapitals, das überall auf der Welt
Krisensituationen wie die in Afrika oder in Jugoslawien hervorruft. Diese „Krisen“ müssen dann durch „Krisen-ReaktionsKräfte“ gelöst werden. Das sind kleine, hochtechnisierte, professionelle, hochspezialisierte Einheiten der NATO, die
überall auf der Welt flexibel eingesetzt werden können. Die NATO ist nach dieser neuen Strategie kein
Verteidigungsbündnis mehr im alten Sinn. Die neuen Krisen-Reaktionskräfte - so der Jargon der Bundeswehr - haben die
Aufgabe, die Interessen der NATO-Länder, sprich der großen Konzerne dieser Länder, überall auf der Welt zu verteidigen.
1998 haben Claudia von Werlhof und ich die Analysen über das geplante Multilaterale Abkommen über Investitionen
(MAI) unter dem Titel „Lizenz zum Plündern“ veröffentlicht. Das - inzwischen gescheiterte - MAI war ganz eindeutig der
Versuch, weltweit die ungebremste Freiheit für die global operierenden Konzerne durchzusetzen, und, um mit Percy N.
Barnevik, dem Chef von Asea Brown Bovery (ABB) zu sprechen, zu investieren, wo und wie sie wollen, zu produzieren,
was sie wollen, zu kaufen und zu verkaufen, was sie wollen und dabei möglichst keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen
auf nationale Regierungen und deren Gesetze zum Schutz von Arbeits-, Sozial- und Umweltgesetzen.
Was mich an der Propagierung dieser neuen NATO- und Bundeswehr-Doktrin am meisten entsetzt, ist nicht nur, dass
kriegerische Gewalt nicht nur als solche wieder hoffähig geworden ist, sondern dass die Bundeswehr nun auch Frauen zu
der kämpfenden Truppe zulässt und dass dies als Beitrag zu unserer Emanzipation gerechtfertigt wird. Das heißt, um
gleichberechtigt zu sein, genügt es nicht, dass Frauen Leben schaffen und erhalten. Nein, erst wer töten darf, ist
gleichberechtigt. Das ist patriarchale Logik seit 5.000 Jahren: Wer tötet, ist. Seit dem Kosovokrieg wird dieser Prozess der
Ramboisierung der Gesellschaft als ein „Erwachsenwerden der deutschen Nation“ gefeiert. Der Kosovokrieg war so eine
Art Übergangsritus vom Knaben zum Mann. Wie oft habe ich gehört und gelesen: „Deutschland ist nun erwachsen“. Das
heißt, ein Mann ist ein Mann, wenn er Krieg führen, wenn er töten kann.
„Langanhaltender Krieg“ gegen den Terrorismus
Präsident Bush hat die Kamikaze-Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 sofort
eine Kriegserklärung gegen die USA, die westliche Zivilisation, die Freie Welt und den Freien Markt genannt. Osama bin
Laden und seine Organisation al Qaida sowie die Taliban in Afghanistan wurden als Kriegsziel für die US„Vergeltungsschläge“ und einen „langanhaltenden Krieg gegen den Terrorismus“ erklärt. Für die NATO-Verbündeten
bedeutete Bushs Kriegserklärung den Bündnisfall. Wir leben also jetzt faktisch im Kriegszustand, und zwar in einem
„langanhaltenden“.
Abgesehen von den Ölvorkommen in der Region um das Kaspische Meer, die bereits beim Golfkrieg und im Kosovokrieg
eine Rolle spielen, hat George Caffentzis darauf hingewiesen, dass dieser Krieg auch darum geführt wird, die ölreichen
arabischen Länder, vor allem den Irak, unter amerikanische Kontrolle zu bekommen. Amerikanisches Militär ist bereits in
Saudi-Arabien stationiert. Dem Kamikaze-Angriff auf das World Trade Center und das Pentagon vorausgegangen ist ein
Abkommen, das ausländischen Investoren in Saudi-Arabien ähnliche Freiheiten zugesteht, wie sie im MAI vorgesehen
waren, unter anderem das Recht, Land auf arabischem Boden zu besitzen, ein Recht, an das bisher nie gedacht werden
konnte. Ausländische Firmen können sich also jetzt als Landbesitzer in Saudi-Arabien niederlassen, ihr eigenes Personal
mitbringen und Darlehen beanspruchen, die bislang den Saudis vorbehalten waren. Caffentzis schreibt: „Dieses Gesetz
stellt in der Tat ein NAFTA-ähnliches Abkommen zwischen dem saudischen Monarchen und europäischen
Ölgesellschaften dar.“
Dies geschah nicht, wie in anderen Ländern, weil das Land verschuldet war, sondern weil die Regierung nicht länger dem
Druck widerstehen konnte, den die Opposition im eigenen Land ausübte. Der König kalkuliert, dass er diesem Druck am
besten standhalten könne, wenn er die Unterstützung der EU und Amerikas hätte. Nach Caffentzis kommt diese Opposition
aus der eigenen Klasse, beruft sich auf den Islam und wehrt sich dagegen, dass ihr Land trotz Ölreichtum immer ärmer wird
und dass es unter der Kontrolle amerikanischer Soldaten steht. Nach Caffentzis waren die Anschläge am 11. September der
„Kollateralschaden“, der im Kampf um die Ölpolitik auf der arabischen Halbinsel entstand.
Neben solchen eher kurzfristigen Interessen des globalisierten Kapitals geht es bei diesem Krieg in Afghanistan jedoch
auch um längerfristige ökonomische und geostrategische Überlegungen. Es geht um nichts weniger als um eine ReKolonisierung der Welt, zunächst dieser ganzen Region:
Afghanistan, Turkestan, Dagestan, Usbekistan, Pakistan und vielleicht sogar Indien. Wie Silvia Federici für Afrika
festgestellt hat, bedeutet Re-Kolonisierung, dass die unabhängige Reproduktions- und Subsistenzfähigkeit dieser Länder
zerstört wird, dass sie abhängig werden von westlichen Hilfslieferungen, dass sie erpressbar werden, was ihre Wirtschaft
und ihre Politik betrifft und dass sie gezwungen sein werden, alle Reichtümer ihrer Länder, einschließlich ihrer Menschen,
dem internationalen Warenhandel zu unterwerfen. Wenn dies nicht schon durch die neoliberalen Abkommen durchgesetzt
werden konnte, dann müssen sie dazu gezwungen werden, dann wird dieser Krieg dafür sorgen, dass sie es tun müssen.
Im Wallstreet Journal vom 9. Oktober 2001 erschien ein Artikel des britischen Historikers Paul Johnson unter dem Titel
„Die Antwort auf den Terrorismus? Kolonialismus!“ Johnson schreibt: „Amerika hat keine andere Wahl, als Krieg gegen
die Länder zu führen, die gewohnheitsmäßig Terroristen unterstützen. Präsident Bush warnte, dass der Krieg lange dauern
könne, aber er hat vielleicht noch nicht verstanden, dass Amerika auch langfristige politische Verpflichtungen akzeptieren
muss. Denn die wohl passendste historische Parallele - der Krieg gegen das Piratentum im 19. Jahrhundert - war ein
wichtiges Element für die Ausdehnung des Kolonialismus. Vielleicht zeichnet sich eine neue Art Kolonie, der vom Westen
verwaltete ehemalige Terroristenstaat, am Horizont ab.“
Die vollständige Fassung des Texts mit Nachweisen ist unter www.come.to/netzwerk-gegen-den-neoliberalismus abrufbar
Freitag, 17.5.02
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Vom „sauberen Krieg“
SZENEN DES GRAUENS
Wenn das Kartell des Verschweigens durchbrochen wird
André Brie
Der Krieg der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan war bisher ein Krieg fast ohne Bilder und Namen. Ein blutleerer
Krieg, könnte man etwas zynisch anmerken. Der Öffentlichkeit waren fast ein Dreivierteljahr lang Computerbilder,
Luftaufnahmen, unbekannte Ortschaften, Zahlen oder allenfalls die Gefangenenbilder von Guantanamo vorbehalten. Wer
sich über die zivilen Opfer dieses „Krieges gegen den Terror“ informieren wollte, stieß auf die peinlich-widerlichen
Argumentationen des Pentagon über unvermeidliche „Kollateralschäden“ oder musste sich auf der homepage des
amerikanischen Universitätsprofessors Marc W. Herold durch fast zweihundertseitige Tabellen lesen, in denen militärische
Aktionen und Akteure sowie Tote und Verwundete aus Dutzenden internationalen Quellen zusammengestellt worden sind.
Der derzeit letzte Eintrag mit Toten datiert vom 1. Juni und nennt drei von US-Streitkräften unschuldig Getötete und vier
Verwundete im Dorf Kharwar (http://pubpages.unh.edu/~mwherold/). Dass es Strategie der Propagandisten im Pentagon
und in den US-Geheimdiensten ist, den edlen Krieg gegen den internationalen Terrorismus nicht mit Bildern von zerfetzten
Menschen, Verkrüppelungen, menschlichem Entsetzen zu beflecken, dürfte klar sein. Warum aber die internationalen
Medien bisher das Kartell des Verschweigens und der Verschleierung nicht durchbrechen konnten, bleibt trotz des
immensen Drucks aus den USA und der europäischen Schwüre „uneingeschränkter Unterstützung“ rätselhaft. Immerhin
gab es von Anfang an beträchtliche journalistische Kritik am Vorgehen der Bush-Administration, nicht nur im Feuilleton.
Der Film des irischen Journalisten Jamie Doran Das Massaker von Mazar mag manches ändern. Man wird sich
auseinandersetzen müssen mit den Bildern der Massengräber, der Gefangenen, der Container, mit denen sie transportiert
wurden, der Zeugen.
Es wird zum ersten Mal von umfangreichen direkten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit
berichtet. Die Existenz der Massengräber scheint inzwischen endgültig bewiesen zu sein, da sie auch von der USOrganisation Ärzte für Menschenrechte bestätigt wird. Deren Untersuchung von drei Leichen hat Tod durch Ersticken
ergeben. Die Übereinstimmung zu Zeugenaussagen in Dorans Film ist offensichtlich. Die Zeugen, die sich zum Teil auch
selbst belasten und ausnahmslos bereit sind, vor internationalen Gerichten auszusagen, belegen, dass diese Verbrechen
nicht nur vom Alliierten der USA - der Nordallianz - begangen wurden, sondern dass auch US-Soldaten und Offiziere an
ihnen beteiligt waren.
Jamie Doran, dessen Filmografie einen engagierten und international anerkannten Professionalismus bestätigt, ist Gewähr
dafür, dass die Zeugen nicht für einen billigen Propagandafilm „gekauft“ wurden. Alle Zweifel können und müssen von
Strafverfolgungsbehörden und Gerichten der USA oder anderer Staaten ausgeräumt werden. Dass die USA die Operationen
in und um Mazar-i Sharif militärisch geleitet haben und mit Spezialkräften vor Ort gewesen sind, ist ohnehin offiziell
bekannt. Auch, wenn es weiterhin geboten ist, mit endgültigen Schlussfolgerungen vorsichtig zu sein - die Zweifel an
„sauberen“ Kriegen werden nicht mehr verstummen. Jetzt sollte schleunigst eine unabhängige internationale Untersuchung
der Massaker und Massengräber stattfinden. Besonders das Internationale Rote Kreuz (IKRK), aber auch die UNO müssen
aktiv werden. Im Europäischen Parlament sind solche Forderungen bereits erhoben worden. Der Menschenrechtsausschuss
des Bundestages hat den deutschen Außenminister um Auskunft ersucht. Die Aussagen des Filmes gebieten meiner
Meinung nach jedoch auch, eine prinzipielle Veränderung der deutschen und europäischen Politik gegenüber dem Kurs der
USA und der Bush-Doktrin einzuleiten. Die Gründe dafür sind jedoch wesentlich umfassender. Jamie Dorans Film kann
der Katalysator sein, der sie endlich zur Geltung bringt.
Freitag, 21.6.02
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Neues, altes Rom
ESKALATION UND DOMINANZ
Warum auch die einzige Supermacht nicht alle Kriege kontrollieren kann
Jochen Hippler
An Kriegen und Gewaltkonflikten herrscht kein Mangel. Auch wenn in der Friedensforschung umstritten ist, was genau ein
„Krieg“ ist, so dürfen wir doch weltweit von einer Zahl von 30 bis 40 Kriegen und großen, gewaltsamen Konflikten
ausgehen, die heute zugleich toben. Eines der Probleme dabei besteht darin, dass diese Zahl unsere Aufnahmefähigkeit bei
weitem übersteigt: Wer wollte diese Blutvergießen gleichzeitig im Auge behalten oder auch nur aufzählen, wenn man nicht
beruflich damit beschäftigt ist? Die Öffentlichkeit pflegt immer nur ihre zwei oder drei Lieblingskriege, der Rest rückt in
den Hintergrund, wird weitgehend ignoriert - solange nicht ein direkter Bezug zum eigenen Land besteht oder gerade
besonders grauenvolle Gräueltaten begangen werden. Die Balkankriege haben uns lange bewegt, weil sie „direkt vor
unserer Haustür“ stattfanden und größere Migrationsströme drohten. Afghanistan war eine zeitlang sehr im Bewusstsein,
weil die Bundeswehr mit von der Partie war. Unser humanitäres Gewissen ist ebenso selektiv: in der Regel wird es nur aus
dem Schlaf gerissen, wenn unsere Lieblingskriege und bevorzugten Massakerregionen betroffen sind: Forderungen nach
Luftangriffen in Liberia oder dem Sudan, deutsche Spezialkommandos zur Unterstützung der Tschetschenen gegen
russische Menschenrechtsverbrechen sind erfreulich selten gestellt worden. Auch die NATO auf alle 40 Kriegsschauplätze
marschieren zu lassen, stand nie auf der Tagesordnung, obwohl das menschliche Leid in den Kriegen Afrikas und Asiens
sicher kaum geringer ist, als es im Kosovo war. Aber unsere selektive Wahrnehmung hat uns vor solchen Exzessen des
Größenwahns bewahrt, unser Drang zur militärischen Humanität setzt sich meist nur dort durch, wo es Alliierten einen
Gefallen zu erweisen gilt. Krieg in Sierra Leone? Nie gehört.
Kriege können eskalieren, auf ganz verschiedene Art. Sie können einfach blutiger werden, die Opferzahlen steigen. Wenn
dies eine bestimmte Schwelle überschreitet und das Fernsehen von ihnen Notiz nimmt, erschrecken wir für einen
historischen Moment. Oder sie können räumlich eskalieren, etwa Nachbarländer einbeziehen, die vorher am Rande des
Krieges blieben: Selbst dies muss unsere parteiamtlichen und militärischen Friedensengel nicht unbedingt auf den Plan
rufen - wie der Kongokrieg demonstriert, der ja schon länger regionale Ausmaße angenommen hat. Die Eskalation kann
auch qualitativ erfolgen, etwa in Bezug auf die Gewaltmittel: der Kaschmir-Konflikt mit der Gefahr eines Atomkrieges
zwischen Indien und Pakistan wäre ein drastisches Beispiel. Die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts für die
Kaschmiris, Zehntausende von Toten - alles kein Problem, solange die nukleare Eskalation vermieden werden kann oder
der Feldzug in Afghanistan nicht beeinträchtigt wird. All dies geschieht in einem internationalen System, das heute zu
Recht als „uni-polar“ bezeichnet wird, weil es von einer übermächtigen Supermacht dominiert ist. Wenn die USA das
globale System so eindeutig beherrschen - warum sind sie dann nicht in der Lage, die zahlreichen Gewaltkonflikte an der
Eskalation zu hindern oder gar zu lösen, wenn auch vermutlich im Sinne ihrer eigenen Interessen?
Die Frage ist leichter gestellt als beantwortet. Zuerst einmal ist natürlich offensichtlich, dass Großmächte unter bestimmten
Bedingungen selbst Triebkräfte der Eskalation sind: Russland ist nicht unschuldig am Konfliktverlauf in Tschetschenien,
Frankreich war es weder in Indochina noch in Algerien, und auch die USA spielen selbst die Karte der Eskalation, wenn es
ihnen nützlich erscheint: In der Vergangenheit waren Vietnam, Nikaragua und Grenada Beispiele, das politische Vorspiel
vor dem Krieg gegen den Irak im nächsten Jahr macht deutlich, dass sich hier wenig geändert hat. Wir dürfen schließlich
nicht vergessen, dass auch viele Maßnahmen, die der Öffentlichkeit als „Krisenlösung“ begründet werden, selbst massive
Eskalation bedeuten: siehe Kosovo und Afghanistan. Zweitens gibt es Fälle, in denen außenpolitische Rücksichtnahme
oder Opportunitätserwägungen ein erfolgreiches Krisenmanagement verhindern. Auf Tschetschenien und Kaschmir wurde
bereits verwiesen: dort ist Washington das gute Verhältnis zu Moskau oder New Delhi weit wichtiger als der jeweilige
Krieg, dem man nur regionale Bedeutung zuweist. In solchen Fällen respektieren die USA, dass die Kriege „innere
Angelegenheit“ der jeweiligen Mächte sind - ein Zugeständnis, das man kleineren Ländern wie Serbien oder dem Irak
selbstverständlich verweigert. Dann gibt es Fälle, in denen die außenpolitische Handlungsfähigkeit auch durch
innenpolitische Erwägungen eingeschränkt wird. Die US-Politik gegen Kuba war und ist ein klassischer Fall (man denke an
die Rolle der Exilkubaner), die gegenüber Israel ein neueres Beispiel. Zwar hängt die fast bedingungslose Unterstützung
Sharons auch mit der israelischen Rolle als Verbündeter im Nahen Osten zusammen, aber andererseits hat sich diese durch
ihre kriegerische Politik inzwischen in der Region auch zu einer Belastung der US-Politik entwickelt. Ohne das
Zusammenspiel christlicher Fundamentalisten - die in der Republikanischen Partei des Präsidenten eine wichtige Rolle
spielen - mit gut organisierten pro-israelischen Lobbyorganisationen (wie AIPAC: The American Israel Public Affairs
Committee; /www.aipac.org/), die mit großzügigen Geldspenden politisch genehme Kandidaten in Wahlkämpfen
unterstützen, wären die Politik von Bush und die Passivität gegenüber der israelischen Politik der Eskalation nicht zu
erklären.
Schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass auch Großmächte nicht allmächtig sind: Nicht alle Konflikte sind zu jedem
Zeitpunkt von außen überhaupt lösbar - eine dominierende Rolle in der Weltpolitik bedeutet nicht, jedes Ziel an jedem Ort
der Welt auch durchsetzen zu können.
Einfluss und sogar Zwang von außen reichen für eine Konfliktlösung oft nicht aus, wenn vor Ort die Voraussetzungen für
eine Friedenslösung fehlen.
Homepage des Autors: www.Jochen-Hippler.de
Freitag, 28.6.02
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