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1 Die Brüder Jakob und Esau
«Als sich aber die Kinder in ihrem Leibe stiessen,
Betrug Isaaks durch Jakob eine Rolle spielen wird,
sprach sie: Wenn es so ist, warum lebe ich dann»
kann nicht darauf verzichtet werden.
«Danach kam sein Bruder heraus, der hielt
(Vers 22)? Dass Rebekka Zwillinge erwartet, kann
sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen. Sie
die Ferse Esaus und man nannte ihn Jakob» (Vers
spürt nur die heftigen Bewegungen – und das
26). Der Name Jakob klingt an das hebräische
Wort für «Ferse» an. Wie bei
macht ihr Angst. Sie fürchtet um
Empfängnis, Schwangerdas Leben ihres Kindes und um
vielen anderen Völkern werden
schaft und Geburt
ihr eigenes Leben.
Kinder auch im Kulturkreis der
sind gemäss biblischem
«Sie ging hin, den HERRN
Bibel oft nach etwas benannt,
Verständnis ein Ausdruck
zu befragen» (Vers 22). Der Ausdas bei ihrer Geburt als auffällig
von Gottes Handeln.
druck «den HERRN befragen» ist
oder bezeichnend erachtet wurin der Bibel eine stehende Wende. Das Verständnis des Haltens
dung und meint die Suche und Bitte nach einem
der Ferse ist grundsätzlich offen. Die Deutung als
klärenden und wegweisenden Wort Gottes, das
Akt der Hinterlist, wie sie bereits vom Propheten
durch einen Gottesmann vermittelt wird. «Und
Hosea (Hosea 12, 4) geäussert wird, ist nicht
der HERR sprach …» (Vers 23) meint daher, dass
zwingend. In meiner Nacherzählung lasse ich sie
Gott durch den Gottesmann zu Rebekka sprach.
von der Frau, die Isaak über die Begleitumstände
Es ist also kein unvermitteltes, direktes Sprechen
der Geburt der Zwillinge berichtet, in Form einer
Gottes gemeint.
Vermutung vortragen. Da diese Deutung nicht
Durch den Gottesmann erfährt Rebekka, dass
die einzig mögliche ist und da sie dem Vater Isaak
sie die Stammväter zweier Völker in ihrem Leibe
nicht gefallen kann, lasse ich sie von ihm nicht
unwidersprochen.
trägt, dass ein Volk stärker sein wird als das andere und dass der ältere dem jüngeren dienen wird
Obwohl sie Zwillinge sind, sind die beiden Brü(Vers 23), was der damals geltenden Rangordnung
der sehr gegensätzlich: Esau wird ein Jäger, der
widerspricht. D. h. das Verhältnis der Söhne Resich vorwiegend in der Wildnis aufhält, Jakob
bekkas ist vom Mutterleibe an konfliktreich.
hingegen führt die Existenz eines Hirten, der
Bei der Geburt ist Isaak ebensowenig dabei wie
in Zelten wohnt (Vers 27). Esau und Jakob sind
seinerzeit sein Vater Abraham, da diese eine reine
somit Repräsentanten zweier Lebensformen.
Frauensache ist3. In meiner Nacherzählung lasse
ich ihn daher vor dem Zelt warten, bis eine der
Für das Verständnis der Erzählung scheint mir
Frauen aus dem Zelt kommt und ihm die Geburt
dieser Umstand von grosser Bedeutung: Esau und
seiner beiden Söhne mitteilt – wie es damaligem
Jakob sind nicht in erster Linie als Individuen zu
Brauch entsprach.
verstehen, sondern als Repräsentanten verschie«Der erste, der herauskam, war rötlich, ganz
dener Lebensweisen. Der ältere Esau repräsentiert
und gar wie ein haariger Mantel» (Vers 25). Diese
die ältere Kultur des Jägers und Sammlers und
somit den Naturmenschen. Der
Charakterisierung hat ihren Grund darin, dass
Esau in der Bibel mit Edom und dem Gebirge
jüngere Jakob hingegen reprä- Esau und Jakob sind
Seir gleichgesetzt wird. Der Name «Edom» klingt
sentiert die jüngere Kultur des somit Repräsentanten
an das hebräische Wort für «rötlich» an, und
Hirten und somit den zivilisierten zweier Lebensformen:
Naturmensch und
der Name «Seir» an dasjenige für «Haar». Den
Menschen.
Namen «Esau» erklären sie nicht. Offenbar war
Diese verschiedenen Lebens- Zivilistation.
die Bedeutung dieses Namens bereits dem unweisen sind bei den Eltern der
bekannten Verfasser des Bibeltextes nicht mehr
Zwillinge denn auch unterschiedlich beliebt:
bekannt. In der Nacherzählung wird nicht auf
Isaak hat Esau lieber, weil er gerne Wildbret isst
(Vers 28). Und Rebekka hat den «häuslichen»
diese Hintergründe eingegangen, da sie dadurch
unnötig kompliziert würde. Es wird lediglich
die im Bibeltext enthaltene Beschreibung Esaus
3
Vgl. «Wege zum Kind» 4/2004, S. 39
wiedergegeben. Da die Eigenart Esaus später beim
Wege zum Kind 1/2005
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Jakob lieber (Vers 28). Diese Vorlieben werden
in 1. Mose 27 schwere Folgen haben.
«Da gab Jakob dem Esau Brot und das Linsengericht. Er ass und trank, stand auf und ging»
(Vers 34). Esau erhält von Jakob eine vollständige
«Als Jakob einmal ein Gericht kochte, da kam
Mahlzeit. Indem gesagt wird: «Er ass und trank,
Esau erschöpft vom Felde. Und Esau sagte zu
stand auf und ging» – als ob nichts geschehen
Jakob: Lass mich doch schlingen
wäre! –, wird er nochmals als
von dem Roten, dem Roten da,
Jäger erleben immer
gedankenloser, stumpfer Mensch
wieder Zeiten des Hundenn ich bin ganz erschöpft»
geschildert.
gers, der Hirt dagegen
«So hat Esau das Erstgeburts(Vers 29 f). Menschen, die von
hat durch seine Planung
recht missachtet» (Vers 34). Für
der Jagd leben (müssen), erleben
jeden Tag zu essen.
einen Hirten, für den das Erstimmer wieder Zeiten des Hungers
geburtsrecht wegen dessen wirtund somit der Erschöpfung. Dass
schaftlicher und gesellschaftlicher Bedeutung
Esau hungrig und erschöpft ist, bedeutet, dass er
tagelang keinen Erfolg auf der Jagd gehabt hat.
einen immensen Wert darstellt, ist die GeDer Hirt dagegen hat durch seine Planung und
ringschätzung dieses Rechts durch Esau völlig
Vorsorge jeden Tag zu essen. In der Erzählung
unbegreiflich. Für einen Jäger und noch nicht
zivilisierten Naturmenschen wie Esau, dessen
vom Linsengericht wird der kluge, vorausschauZukunft sich durch kein Recht der Welt sichern
ende, planende und darum letztlich erfolgreiche
lässt, sondern einzig und allein von seiner perHirt (Jakob) dem nicht planenden, keine Vorsorge
treffenden, im Augenblick lebenden, unzivilisiersönlichen Fähigkeit zu überleben abhängt, kann
ten Jäger (Esau) gegenübergestellt, dem letztlich
das Erstgeburtsrecht gar kein grosser Wert sein.
kein Erfolg beschieden ist. Dieser Jäger wird – obDie Erzählung vom Linsengericht wurde von
wohl er sich während Tausenden von Jahren mit
«Hirten» und d. h. von zivilisierten Menschen
verfasst und weitererzählt. In der spöttischen
Erfolg behaupten konnte! – als roh und dumm
hingestellt. Dies geschieht, indem der Erzähler
und geringschätzigen Darstellungsweise der
dem Esau die Worte in den Mund legt: «Lass mich
Gestalt Esaus kommt der Triumph der damals
modernen, zivilisierten Lebensweise der Hirten
doch schlingen von dem Roten, dem Roten da»
(Vers 30). D. h. der rohe Jäger isst nicht wie ein
über die veraltete, unzivilisierte Lebensweise
zivilisierter Mensch, sondern schlingt wie ein
der Jäger und Sammler zum Ausdruck. Bei allem Verständnis für diesen Stolz empfinde ich
Tier. Und er ist so dumm und unwissend, dass er
diese Geringschätzung als problematisch und
nicht einmal die alltäglichsten Dinge wie Linsen
schmerzlich. Sie erinnert mich daran, dass die
benennen kann.
zivilisierten Menschen ihre unzivilisierten Ge«Jakob aber sagte: Verkaufe mir erst deine
schwister (die Angehörigen von Naturvölkern)
Erstgeburt! Esau antwortete: Siehe, ich werde
bis zum heutigen Tag immer und immer wieder
gleich [vor Hunger] sterben. Was
gering geschätzt und für dumm verkauft haben
Die zivilisierten
soll mir da die Erstgeburt» (Verse
– so wie Jakob seinen Bruder Esau in der ErzähMenschen schätzen
31 f). Als Hirt denkt Jakob an die
lung vom Linsengericht.
bis zum heutigen Tag
Sicherung seiner Zukunft. Der
Beim Verfassen meiner Nacherzählung war
ihre unzivilisierten
Jäger und Naturmensch Esau hines mir daher ein grosses Anliegen, weder das
Geschwister gering.
gegen ist voll und ganz mit der SiLob des schlauen Hirten Jakob zu singen, noch
cherung der Existenz im Hier und
den Jäger Esau als dumm hinzustellen, sondern
Jetzt beschäftigt. Wenn er heute nicht zu Essen
vielmehr die Problematik der Haltung Jakobs
bekommt und heute nicht überlebt, werden alle
Fragen, welche die Zukunft betreffen, sowieso
und die Fragwürdigkeit seines Verhaltens seinem
gegenstandslos. Ohne zu zögern willigt er in
Bruder Esau gegenüber spürbar zu machen und
den Handel ein und beschwört ihn auf Jakobs
Esau als einen Menschen darzustellen, den man
Aufforderung bereitwillig (Vers 33).
lieben und achten kann.
10
1/2005 Wege zum Kind
1 Die Brüder Jakob und Esau
Erzählen – Entdeckungen ermöglichen
Die beiden Brüder Jakob und Esau
Es wird erzählt:
Isaak und Rebekka sind schon viele Jahre miteinander verheiratet. Und noch immer haben
sie keine Kinder. Dabei wünschen sie sich nichts
sehnlicher. Rebekka wird immer mutloser, trauriger und hoffnungsloser. Isaak mag die Hoffnung
nicht aufgeben. Er weiss: Alles Leben kommt
von Gott, auch Kinder. Er betet darum zu Gott
und bittet ihn, dass er ihnen ein Kind schenkt,
wenigstens ein einziges Kind. Lange geschieht
nichts, obwohl Isaak immer wieder betet.
Doch eines Tages sagt Rebekka zu Isaak: «Ich
erwarte ein Kind! Nun geschieht doch noch,
was ich nicht mehr zu hoffen gewagt habe. Gott
schenkt uns ein Kind!» Rebekka strahlt. Ihre
Augen leuchten. Die ganze Mutlosigkeit und
Traurigkeit der letzten Jahre fällt von ihr ab.
In den darauf folgenden Wochen und Monaten geht es Rebekka so gut wie schon lange
nicht mehr. Sie mag wieder leben. Das Kind in
ihr wächst und wächst. Schliesslich ist das Kind
in ihr schon so gross, dass es sich zu bewegen
beginnt. Rebekka spürt die Bewegungen. Voll
Freude sagt sie zu Isaak: «Unser Kind bewegt sich.
Das bedeutet: Es geht ihm gut.»
Die Bewegungen des Kindes werden immer
stärker. Schliesslich werden sie so heftig, dass es
Rebekka schmerzt. Rebekka wird ganz angst und
bang. In ihrer Not und Verzweiflung geht sie zu
Isaak: «Ich habe furchtbare Angst! Ich habe Angst,
das Kind zu verlieren! Und ich habe Angst um
mich! Ich könnte sterben!»
Isaak weiss nicht, was er sagen oder tun soll.
Etwas hilflos sagt er: «Ich weiss auch nicht …
Vielleicht weiss eine der Hirtenfrauen Rat?» Doch
diese können Rebekka auch nicht helfen. Und
eine Hirtenfrau, die schon sehr alt ist, sagt: «Das
sieht bös aus. In meinem ganzen Leben habe ich
noch nie so etwas gesehen. – Ich kann dir nur
einen einzigen Rat geben: Du musst Gott fragen,
was das zu bedeuten hat. Geh zu einem Gottesmann.» – «Du meinst zu einem Mann, durch
den man Gott fragen kann, und durch den Gott
Antwort gibt?», erkundigt sich Rebekka. – «Ja, ge-
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nau.» – «Aber wo finde ich einen solchen?» – «Das
kann ich dir sagen. Ich habe von einem gehört,
der gar nicht weit von hier wohnt. Ich werde dir
den Weg beschreiben.» Rebekka nickt: «Gut», sagt
sie, «ich werde gehen und Gott fragen.»
Am anderen Morgen, als gerade die Sonne
aufgeht, macht Rebekka sich auf den Weg zum
Gottesmann. Der Gottesmann sitzt unter einem
grossen Baum. Erfürchtig und scheu bleibt Rebekka in einiger Entfernung von ihm stehen und
wartet. Sie wagt nicht, den Gottesmann von sich
aus anzusprechen. Dieser sitzt tief in Gedanken
versunken da. Nach einer Weile hebt der Gottesmann den Kopf, schaut Rebekka an und sagt:
«Tritt näher, Rebekka, Frau Isaaks. Fürchte dich
nicht.» – «Wieso weiss der Gottesmann, wer ich
bin?», denkt Rebekka ganz verwundert. «Wir sind
einander ja noch nie begegnet.» Aber sie wagt
nicht, ihn zu fragen. Statt dessen geht sie auf den
Gottesmann zu und bleibt vor ihm stehen.
«Gott hat mir gezeigt, dass du kommen wirst»,
sagt der Gottesmann zu ihr. «Gott hat mir gesagt,
was du ihn fragen willst. Und auch die Antwort
auf deine Frage hat Gott mir gegeben.» Als Rebekka das hört, wird sie ganz aufgeregt: «Was hat
Gott dir gesagt? Bitte, sprich!»
«Gott lässt dir sagen: Zwei Völker sind in deinem Leib, und zwei Stämme werden aus deinem
Mutterschoss herauskommen.» – «Zwei Völker?»,
fragt Rebekka erstaunt. «Ja. Du bist nicht nur mit
einem Kind schwanger, sondern mit Zwillingen.
Diese stossen sich. Es sind zwei Brüder. Von beiden wird je ein Volk abstammen. Ein Volk wird
stärker sein als das andere. Und der ältere Bruder
wird dem jüngeren dienen.» Der Gottesmann
schweigt einen Moment, dann fährt er weiter:
«Sei ohne Sorge. Du wirst am Leben bleiben und
auch deine Kinder werden am Leben bleiben.»
Rebekka ist tief beeindruckt. Voll Ehrfurcht
verneigt sie sich vor dem Gottesmann bis zur
Erde. Dann kehrt sie nach Hause zurück. Zu Isaak
sagt sie: «Der Gottesmann hat gesagt, dass ich
Zwillinge erwarte. Diese stossen sich. Sie haben
schon jetzt Streit miteinander.» Isaak macht grosse Augen und sagt: «Wenn das nur gut geht!»
Obwohl die starken Bewegungen in ihr weiter
11
anhalten, und obwohl sie weiterhin Schmerzen
hat, geht es Rebekka besser. Seitdem der Gottesmann ihr gesagt hat, dass sie und die Kinder in
ihr am Leben bleiben werden, ist ihr leicht ums
Herz geworden. Sie ist nun ganz ruhig und hat
keine Angst mehr.
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1 Die Brüder Jakob und Esau
Wege zum Kind 1/2005
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