Behinderung und sexualität kein taBu
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Behinderung und sexualität kein taBu
Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit Behinderung und sexualität kein tabu Foto: © muro/fotolia.com Brühl 20 | 31134 Hildesheim Telefon: 0 51 21/881-178,-179 E-Mail: [email protected] Internet: http://gleichstellung.hawk-hhg.de Handlungsempfehlung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in sozialen Einrichtungen INHALT Vorwort ...................................................................................... …03 1 Rechtliche Grundlagen ........................................................ …04 2 Selbstbestimmung .............................................................. …07 3 Privatsphäre ........................................................................ …10 4 Nähe und Distanz ................................................................ …12 5 Sexuelle Bildung und Sexualaufklärung ............................... …14 6 Sexualassistenz und -begleitung ......................................... …19 7 Sexuelle Gewalt ................................................................... …22 8 Prävention ........................................................................... …24 9 Teamkultur .......................................................................... …26 Wichtige Quellen ....................................................................... …28 Impressum Herausgeberin: HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit, Brühl 20, 31134 Hildesheim | Projekt: Liebe, Lust und Leidenschaft bei geistig behinderten Menschen (Sommersemester 2013/Wintersemester 2013/2014) | Projektleitung: Prof. Dr. Gisela Hermes | Praxisanleiterin: Kristina Schmidt, Lebenshilfe Hildesheim e.V. | Mitwirkende Studentinnen: Alexandra Crisand, Marie Lenz, Martina Nölting, Michèle Saenz-Montes, Kristina Schwengler, Bianca Wassermann | Gestaltung: CI/CD-Team der HAWK, Stand: 02/2015 VORWORT Wir sind eine Gruppe von sechs Studentinnen der HAWK Hildesheim, die im Rahmen eines Projektseminars zum Thema „Liebe, Lust und Leidenschaft bei Menschen mit einer geistigen Behinderung“, gemeinsam mit unserer Dozentin Frau Prof. Dr. Gisela Hermes und einer Lehrbeauftragten aus der Praxis, Frau Kristina Schmidt, eine Handreichung zum Thema Sexualität erstellt haben. Die Handreichung ist eine Hilfestellung für Mitarbeiter/innen in der Praxis. Sie beinhaltet verschiedene Themen und Informationen zu Sexualität, damit verbundener Selbstbestimmung, sexueller Gewalt und Prävention, Sexualaufklärung und sexueller Bildung, Nähe und Distanz, Privatsphäre und Teamkultur. Das Thema Liebe, Lust und Leidenschaft in Einrichtungen ist nach wie vor sehr umstritten. Einige Einrichtungen sind mit der Thematik vertraut und praktizieren einen lockeren Umgang, andere wiederum sind oft verunsichert und meiden das Thema. Wir stellten durch Hospitationen und Interviews fest, dass sie dieses wichtige Thema häufig aus Unwissenheit außer Betracht lassen. In dieser Handreichung klären wir ethische und rechtliche Grundlagen in einer kurzen Zusammenfassung und hoffen, dass wir dadurch die Bereitschaft in Ihrer Einrichtung erhöhen können, sich mit dem Thema Sexualität im Sinne der Bewohner/innen auseinanderzusetzen. Zu den jeweiligen Themenfeldern geben wir Handlungsempfehlungen. Foto: © muro/fotolia.com Wir bedanken uns für die gute Zusammenarbeit mit der Lebenshilfe e.V., Wohnen im Stadtteil, der HAWK Hildesheim und für die Aufgeschlossenheit vieler anderer Einrichtungen, ohne die dieses Projekt nur schwer zum gewünschten Ergebnis gekommen wäre. 1 1 Rechtliche Grundlagen Rechtliche Grundlagen „Menschen mit einer geistigen Behinderung haben sexuelle Bedürfnisse wie Nicht-Behinderte [Menschen] auch. Das Recht, diese Bedürfnisse zu befriedigen, das Recht auf sexuelle Verwirklichung, ist ein Menschenrecht, das Behinderten wie Nicht-Behinderten [Menschen] gleichermaßen zusteht.“ (pro familia, 2013). 04 Foto: © ki33/fotolia.com Gilt das Grundgesetz (GG) auch für Menschen mit einer geistigen Behinderung? Der Artikel (Art.) 1 des GG besagt, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Im folgenden Art. 2, Satz 1 steht: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“ (GG 2013). Des Weiteren gibt es ein Gleichbehandlungsgesetz (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG). Dieses gewährt die Gleichbehandlung aller Menschen ungeachtet einer Behinderung. Was bedeutet das? Für behinderte Menschen gelten die gleichen rechtlichen Voraussetzungen in Bezug auf Sexualität, Partnerschaft, Ehe und Elternschaft, wie für alle anderen Menschen auch. Gesetzliche Betreuer haben darauf keinen Einfluss! Somit hat jeder Mensch das Recht Sexualität zu leben, da diese zur freien Entfaltung der Persönlichkeit gehört. Eine Ehemündigkeit wird eingeschränkt, wenn der behinderte Mensch sich nicht selbst geschäftlich vertritt. 05 2 1 Rechtliche Grundlagen Selbstbestimmung ist Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Bundesverfassungsgericht). Dazu zählt auch die freie Wahl der Wohnform und des Wohnortes. Dies wird geregelt im Sozialgesetzbuch (SGB) IX sowie in den Art. 19, 19a, 22 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Das Recht auf Privatsphäre muss ebenfalls gewährleistet sein (Art. 22 Abs. 1 UN-BRK). Was bedeutet das? Menschen mit Behinderung haben das Recht, zu bestimmen wo sie als erwachsener Mensch wohnen wollen, ob alleine oder mit anderen gemeinsam. Selbstbestimmung Was dürfen gesetzliche Betreuer/innen nicht entscheiden? Gesetzliche Betreuer/innen helfen zu Betreuenden nur bei bestimmten rechtlichen Dingen (z. B. bei Verträgen, gesundheitlichen Entscheidungen, oder Wohnungs-/Wohnortwechsel). Nicht entscheiden können Betreuer/innen bei Kinderwunsch sowie bei allen anderen privaten Angelegenheiten. Handlungsempfehlung Informieren Sie sich und Ihre Mitarbeiter/innen über die Rechte von Menschen mit Behinderung. Klären Sie zu Betreuende über ihre Rechte auf. 6 Foto: © muro/fotolia.com Was bedeutet das? Die elterliche Sorge bleibt von der Bestellung eines gesetzlichen Betreuers unberührt. Nur bei Geschäftsunfähigkeit der behinderten Eltern ruht die elterliche Sorge. Weder die gesetzliche Betreuung noch die Feststellung einer Geschäftsunfähigkeit kann einen Kinderwunsch bei einer zu Betreuenden/einem zu Betreuenden unterbinden. 7 2 Selbstbestimmung Selbstbestimmung beschreibt die Unabhängigkeit jedes Individuums nach seinem Willen und seinen Wünschen bestimmen zu dürfen. Unabhängig von der Vorstellung allgemeiner moralischer Kriterien eines guten Lebens und frei von gesellschaftlichen Zwängen, der staatlichen Gewalt und jeglicher Art der Fremdbestimmung. Selbstbestimmung endet jedoch dort, wo die Grenzen anderer Menschen verletzt werden. Jeder Mensch hat das Recht auf selbstbestimmtes Leben (siehe Kapitel 1). 8 2 Selbstbestimmung Menschen die durch Ihr Lebensumfeld behindert werden, sollte Raum für eigene und positive Erfahrungen der Selbstkompetenz gegeben werden. Dies dient der Entwicklung des Selbstbewusstseins. Behinderungen des Lebensumfeldes können auftreten durch mangelnde Akzeptanz und Bevormundung in Hinblick auf selbstbestimmte Sexualität. Selbstbestimmtes Leben bietet behinderten Menschen das Recht, seine Angelegenheiten eigenständig zu regeln, am öffentlichen Leben in der Gemeinschaft teilzuhaben und Entscheidungen über das eigene Leben zu treffen. Dieses Recht wird bei manchen Menschen durch rechtliche Betreuung in bestimmten Fragen eingegrenzt. Behinderte Menschen brauchen Unterstützung und Verständnis um die erforderliche Selbstbestimmung zu erlangen. Beeinträchtigte Menschen werden durch Ihren Alltag in vielerlei Hinsicht behindert. Neben der Bewältigung des Alltages müssen sie mit fehlender Anerkennung, übertriebener Anteilnahme und Respektlosigkeit umgehen. Sie müssen sich gegen Mobbing oder Ausgrenzung wehren können, ohne sozial unangemessene oder gar aggressive Umgangsformen zu ergreifen. Die Erwartungshaltung an sie ist immens groß. Die Erfahrung eigener Stärken bewirkt die Entwicklung der Selbstbestimmung. Behinderte Menschen brauchen soziale Kompetenzen, um Probleme selbstständig zu lösen, Hilfsangebote anzunehmen und den Mut zu einem klaren „Ja“ oder „Nein„ zu entwickeln. Sie werden gestärkt durch die konkrete Erfahrung eigener Fähigkeiten, Selbstbestimmtheit und Bestätigung. Handlungsempfehlung Versetzen Sie sich in die Lage der zu Betreuenden und stellen Sie sich folgende Frage: In wie weit kann ich als Mensch mit Unterstützungsbedarf meinen Alltag selbst bestimmen? Voraussetzung für die Erreichung größtmöglicher Selbstbestimmung ist die Beachtung der Bedürfnisse des einzelnen Menschen. Sorgen Sie für die Bereitstellung persönlicher Assistenz sowie für Sexualassistenz (siehe Kapitel 6). Informieren Sie behinderte Menschen in Trainings- und Bildungsveranstaltungen über ihre Rechte! Klären Sie sie auf! Machen Sie das Thema selbstbestimmte Sexualität durch Öffentlichkeitsarbeit, Angehörigen- und Elternarbeit, Fort- und Weiterbildungen für Betreuende und Mitarbeitende transparent. Sprechen Sie behinderte Menschen auf ihre Stärken an. Reden Sie mit ihnen über ihre Wünsche und Bedürfnisse und versuchen Sie ihnen bei der Umsetzung Unterstützung zu gewährleisten. Machen Sie behinderte Menschen darauf aufmerksam, dass es selbstbestimmte Sexualität gibt. Fördern Sie selbstbestimmte Sexualität durch Beratungsgespräche und durch das Aufzeigen individueller und lebensweltbezogener Möglichkeiten. 9 3 3 Privatsphäre 3 Privatsphäre Privatsphäre Unter Privatsphäre versteht man einen nicht öffentlichen, geschützten Bereich, der das persönliche und intime Leben einer Person betrifft. Was gehört zur Privatsphäre? ein eigenes, abschließbares Zimmer – Rückzugsmöglichkeit persönliche Beziehungen Vertraulichkeit von persönlichen Informationen (z. B. über psychische Befindlichkeiten, private Probleme, intime pflegerische Fragen) Wahrung des Postgeheimnisses Achtung der persönlichen Grenzen Die UN-Behindertenrechtskonvention gewährleistet das Recht behinderter Menschen auf Privatsphäre (siehe Kapitel 1). Die Verletzung der Privatsphäre kann bestraft werden. 10 Foto: © B. Wylezich/fotolia.com Handlungsempfehlung Behandeln Sie persönliche Informationen immer vertraulich und geben Sie diese nur mit Zustimmung des behinderten Menschen an Dritte weiter. Setzen Sie sich mit den rechtlichen Gegebenheiten zum Thema Datenschutz auseinander. Holen Sie sich eine schriftliche Genehmigung zur Weitergabe persönlicher Daten von den behinderten Menschen ein. Schaffen Sie den behinderten Menschen Räumlichkeiten für Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeiten. Rufen Sie keine intimen Details über die behinderten Menschen über den Flur. Vermeiden Sie die Weitergabe von persönlichen Informationen bei „Tür- und Angelgesprächen“. 11 4 4 Nähe und Distanz Nähe und Distanz In der Arbeit mit behinderten Menschen geht es immer auch um Beziehungsgestaltung, das heißt, das Verhältnis von Nähe und Distanz muss ständig neu ausbalanciert werden. Das Nähe-Distanz-Verhältnis birgt ein großes Gefahrenpotential. Wenn unerwünschte Zonen betreten und Grenzen überschritten werden, entwickeln sich bei den betroffenen Menschen Schamgefühle, Aggressionen, sowie Angst und Misstrauen. Ein reflektierter Umgang mit Nähe-Distanz wahrt uns vor der Verletzung der persönlichen Grenzen. Die persönlichen Bedürfnisse des Gegenübers müssen dabei respektiert werden. 12 Foto: © philidor/fotolia.com Handlungsempfehlung Setzen Sie sich zunächst mit Ihren persönlichen Grenzen auseinander. Lernen Sie die Grenzen Ihres Gegenübers kennen und agieren Sie nur so, wie Sie es selbst auch für sich wünschen. Versichern Sie sich, dass der behinderte Mensch Sie auch wirklich als Ansprech- und Vertrauenspartner/in akzeptiert. Schaffen Sie Räume und machen Sie „Übungen“ mit den behinderten Menschen, um Nähe und Distanz zu erlernen. 13 14 Sexuelle Bildung und Sexualaufklärung Foto: © Krasimira Nevenova/fotolia.com 5 5 Sexuelle Bildung und Sexualaufklärung Definition Sexualaufklärung Die Sexualaufklärung belehrt über geschlechtliche Vorgänge und den Körper. Die allgemeine Aufklärung beinhaltet beispielsweise die Entwicklung des Körpers, Verhütung, Schwangerschaft und Sexuelle Neigungen. Damit Sexualaufklärung in der Arbeit mit behinderten Menschen eine lebenslange Auseinandersetzung bleibt, wurde sie durch die Sexuelle Bildung ergänzt. Definition Sexuelle Bildung Der Begriff „Sexuelle Bildung“ steht folglich für ein erweitertes Bewusstsein in Bezug auf Sexualpädagogische Angebote. Allein durch den Begriff „Bildung“ in diesem Zusammenhang ergeben sich neue Perspektiven: 1.Sexuelle Bildung ist selbstbestimmt, denn nur durch das Sammeln von eigenen Erfahrungen wird die Möglichkeit zur persönlichen Weiterentwicklung gegeben. 2.Sexualität ist ein Grundbedürfnis und sollte als solches gefördert werden. 3.Sexuelle Bildung ist konkret und lebens praktisch, weltoffen und ressourcenorientiert. 4.Sexuelle Bildung spricht den ganzen Menschen an, alle Lebensalter, alle Kompetenzebenen und die Ganzheit jedes Individuums. 5.Sexuelle Bildung fördert die Befähigung zur Mitbestimmung, denn nur eine unaufgeklärte Gesellschaft unterliegt dem Risiko einer politischen Manipulation. Warum ist eine adäquate Sexualaufklärung bei behinderten Menschen überhaupt wichtig? Häufig wird behinderten Menschen unterstellt, dass sie gar kein oder ein stark ausgeprägtes Bedürfnis nach Sexualität, Geschlechtlichkeit oder Partnerschaft haben. Sexualaufklärung oder sexuelle Bildung seien aufgrund ihrer körperlichen, psychischen oder intellektuellen Beeinträchtigung kein wirkliches Anliegen, was oftmals dazu führt das viele behinderte Menschen auch im Erwachsenenalter sehr unaufgeklärt sind. Behinderte Menschen haben dieselben Grundbedürfnisse wie nicht behinderte Menschen. Es fehlen ihnen jedoch dieselben Möglichkeiten sich Informationen einzuholen. Sexuelle Selbstbestimmung setzt grundlegende Kenntnisse über Sexualität, über eigene Körpervorgänge und das eigene Körperbewusstsein voraus. Sexualaufklärung heißt auch, seine eigenen Wünsche und auch Grenzen kennen zu lernen. 15 5 Sexuelle Bildung und Sexualaufklärung 5 Sexuelle Bildung und Sexualaufklärung Handlungsempfehlung Mögliche Folgen: auffälliges Sexualverhalten Isolation ungewollte Schwangerschaft fehlende Sexualerziehung häufiger Opfer sexueller Gewalt (s. Kapitel 7) Ansteckung von Geschlechtskrankheiten empfinden sexuelle oder körperliche Vorgänge manchmal aus Unwissenheit als bedrohlich fehlende Sexualerziehung mangelhaftes, fehlendes Köperbewusstsein Wann ist der richtige Zeitpunkt für die Aufklärung? Die Antwort lautet: Jetzt und immer wieder! Damit eine gelungene Aufklärung überhaupt funktionieren kann, sollten bestimmte Voraussetzungen in Einrichtungen gegeben sein. Sie sollten eine institutionelle Verankerung in den Leitbildern der Einrichtungen haben. Langfristige und kontinuierliche Weiterbildungen. Schaffen Sie ein offenes Klima und Transparenz im Team. Erarbeiten Sie ein konkretes sexualpädagogisches Handlungskonzept. Themenschwerpunkte für die Sexualaufklärung Aufklärung heißt, sich mit den unterschiedlichsten Bereichen des Menschen, seiner Gefühlswelt, der Entwicklung eigener Identität und der Interaktion mit anderen Menschen auseinanderzusetzen. In der pädagogischen Arbeit der Sexualaufklärung gibt es eine große Anzahl verschiedener Themenschwerpunkte. Diese werden hier nun kurz aufgeführt: mein Körper/dein Körper sich als Mann/Frau fühlen Verhütungsmittel Emotionen/Gefühlslagen Geschlechtskrankheiten Selbstbefriedigung Geschlechtsformen Partnerschaft/Beziehungen Sexualhygiene Schwangerschaft/Kinderwunsch/ Elternschaft Freiwilligkeit/Grenzüberschreitungen 16 Wie bereiten Sie eine Aufklärungssituation vor? Sexualaufklärung geschieht nicht nebenher, sondern sollte gut vorbereitet werden, denn ohne Zeit, Geduld und Einfühlungsvermögen gelingt eine gute Beratung nur selten. Schaffen Sie „Lern- und Erfahrungsräume“ in geschützter und vertraulicher Atmosphäre. Sexualpädagogische Angebote müssen selbstbestimmt und freiwillig bleiben und nicht aufgezwungen werden. Besprechen Sie vorab mit der behinderten Person, dass es immer die Möglichkeit gibt, jederzeit aus einer Übung oder Veranstaltung auszusteigen. Wählen sie gezielt eine Vielfalt an Materialien (wie z. B. Bildmaterial), die verschiedene Sinne ansprechen und stellen Sie dies in der Einrichtung zur Verfügung. Setzen Sie sich mit dem Thema Sexualität und Ihren persönlichen Werten und Normen professionell auseinander. Wie können Sie methodisch vorgehen? Die Einbeziehung des Körpers ist ein grundlegender Teil der Aufklärungsarbeit. Sie können Übungen zur Körperwahrnehmung durchführen. Oft fehlen Worte für die Bezeichnung der eigenen Körperteile. Unterstützen Sie die zu Betreuenden bei dem Erlernen der Begriffe für die Geschlechtsteile. Verzichten Sie auf Verniedlichungen und Umschreibungen. Differenzierte und zielgruppenbezogene Angebote sollten von Ihnen entwickelt und ausgebaut werden, beispielsweise Reflexion von Geschlechterrollen und -identitäten. Zeigen Sie Möglichkeiten der Verhütung auf, klären Sie, wie viel Eigenverantwortung für die Verhütung übernommen werden kann. Erklären Sie, dass Selbstbefriedigung etwas ganz normales ist, denn es hilft den eigenen Körper kennen zu lernen. Verdeutlichen Sie auch, dass es klare Grenzen zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit gibt. Entwickeln Sie mit den zu Betreuenden Partnerschaftsmodelle, welche den persönlichen Wünschen entsprechen, sowie Schritte zur Umsetzung. Beziehen Sie die Partner der zu betreuenden Person in die Paarberatung mit ein. 17 6 5 Sexuelle Bildung und Sexualaufklärung Handlungsempfehlung (Fortsetzung) Bieten Sie frühzeitig Beratungsgespräche zum Thema Kinderwunsch und Elternschaft an. Der Wunsch nach einem Kind kann somit umfassend reflektiert werden und auf neutraler Ebene, verschiedene Perspektiven und Möglichkeiten aufzeigen. Die Inhalte, sowie die Form der Vermittlung sollten sich nach den Erfahrungen der zu Betreuenden richten, ebenso sollten Sie den derzeitigen Entwicklungsstand berücksichtigen. Die leichte Sprache spielt eine tragende Funktion in der Aufklärungsarbeit. Achten Sie darauf eine klare, deutliche und angemessene Sprache zu verwenden. Es ist wichtig, dass Sie eine eigene Sprache für sich finden, um die Thematik offen und angemessen anwenden zu können. Sie sollten eigene Rechte alters- und entwicklungsangemessen vermitteln. Wissen gibt Stärke (s. Kapitel 1). Sensibilisieren Sie im Beratungs- und Aufklärungsprozess immer wieder die Wahrnehmung der zu betreuenden Person, somit kann auf eigene Wünsche und Bedürfnisse aufmerksam gemacht werden. Sie können Eltern, Betreuer und Angehörige dabei unterstützen Hemmungen und Unsicherheiten abzubauen, indem sie transparent mit dem Thema umgehen und Beratungsgespräche anbieten. Es ist gar nicht schlimm, wenn Sie eigene Unsicherheiten thematisieren. Im Gegenteil, es wirkt authentisch und hilft ihrem Gegenüber eigene Verunsicherungen abzubauen. Besondere Situationen und Fragestellungen der zu Betreuenden bedürfen einer speziellen Beratung. Es ist keinesfalls schlimm, wenn Sie sich an eine externe Beratungsstelle wenden. In der Sexualaufklärung geht es immer um lebendiges Lernen, mit Spaß, Beteiligung und Selbstbestimmung. ☺ Sexualassistenz und -begleitung 18 Foto: © Sunny studio/fotolia.com Ziele der sexualpädagogischen Angebote Ziel sollte sein, jedem Menschen die Möglichkeit zu bieten, die individuelle Sexualität mit den dazugehörigen Wünschen und Bedürfnissen leben zu können. Dies kann durch die Aufklärung, also der Vermittlung von Wissen, gelingen. Hierdurch wird erlernt, Verantwortung für das eigene Handeln und der gelebten Sexualität zu übernehmen. 19 6 Sexualassistenz und -begleitung Die Sexualität von behinderten Frauen und Männern wird oft als problematisch angesehen. Erst allmählich wird die Frage diskutiert, wie das Recht der behinderten Frauen und Männer auf freie Entfaltung der eigenen Sexu alität nicht nur formuliert, sondern auch umgesetzt werden kann und welche Angebote und Bedingungen die Praxis dazu bereithalten muss. Wenn Frauen und Männer aufgrund ihrer Behinderung ihre Sexualität nicht ohne die Unterstützung von anderen leben können, brauchen sie unter Umständen sexuelle Dienstleistungen. Diese können von der Hilfe bei der Suche nach einem intimen Raum, der Beschaffung von Verhütungsmitteln bis hin zum Geschlechtsverkehr gegen Bezahlung reichen. Solche Dienstleistungen werden hier unter dem Begriff „Sexualassistenz und Sexualbegleitung“ zusammengefasst. Situation in Deutschland Nach niederländischem Beispiel wurde in Wiesbaden „Sensis“, ein so genannter Körperkontaktservice für behinderte Frauen und Männer, gegründet. Gegen Bezahlung wurden Dienste für Menschen angeboten, die aufgrund ihrer körperlichen Behinderung ihre sexuellen Bedürfnisse nicht ohne Hilfe von Dritten realisieren konnten. 20 6 Sexualassistenz und -begleitung Inzwischen gibt es „Sensis“ in dieser Form nicht mehr. Der Nachfolgeverein „Sexualität für körperlich behinderte Menschen“ (SKBM) bietet praktische Sexualbegleitung an. Darüber hinaus gibt es andere Organisationen für erotische, sexuelle Kontakte. Ebenso bieten freiberufliche, speziell ausgebildete, so genannte Sexualbegleiter/innen, sowie Prostituierte ihre Dienste für Menschen mit einer körperlichen und geistigen Behinderung an. Außerdem eröffnete 1997 in Trebel (Wendland) eine Praxis zur Sexualassistenz, in der ebenfalls Sexualbegleiter/innen ausgebildet werden. Passive Sexualassistenz Von passiver Sexualassistenz spricht man, wenn: Sie Bedingungen schaffen, damit behinderte Menschen ihre individuelle Sexualität ausleben können. Dazu gehört z. B. das Geben von Infor mationen, Aufklärung, Beschaffung von Hilfsmitteln zur Selbstbefriedigung und Erklärung der Funktion am Modell, das zur Verfügung stellen von Medien und Materialien ( z. B. Pornografie, Aufklärungsbroschüren, Sex-Toys, etc.) oder aber auch die Vermittlung von Prostituierten/Sexualbegleiter/inne/n. Aktive Sexualassistenz Aktive Sexualassistenz bedeutet: Die direkte Unterstützung bei sexuellen Handlungen, z. B. Handführung bei Selbstbefriedigung, die Einführung eines sexuellen Hilfsmittels, die Einführung des Penis in die Vagina, um Geschlechtsverkehr eines Paares zu ermöglichen. Aktive Sexualassistenz ist dann erlaubt, wenn kein Betreuungsverhältnis (Abhängigkeitsverhältnis) vorliegt. Sexualbegleitung Das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG gewährt behinderten Menschen das Recht auf eine freie und selbst bestimmte Entfaltung ihrer Sexualität. Dieses Recht umfasst auch die Freiheit, bei Bedarf Sexualassistenz und Sexualbegleitung in Anspruch zu nehmen. Aktive Sexualassistenz darf grundsätzlich nur auf der Basis von erkennbarem und nicht alleine vermutetem Einvernehmen geleistet werden. Gelingt es Sexualassistent/inn/en im Kontakt mit schwerstbehinderten Menschen nicht, deren Willen zu ermitteln, so sind diese Personen in der Situation als juristisch widerstandsunfähig (§ 179 StGB) einzustufen und sexuelle Handlungen sind dann strafbar. Die Ausübung aktiver Sexualassistenz mit unmittelbarem Körperkontakt ist nach § 174a Abs. 2 StGB strafbar, wenn es sich bei den Sexualassistent/inn/en um Personen handelt, die im Vorfeld als Angestellte oder als externe professionelle oder ehrenamtliche Kräfte in einer Einrichtung Betreuungs- oder Aufsichtsfunktionen gegenüber den Menschen mit Behinderungen (Assistenznehmer/innen) übernommen hatten bzw. diese laufend ausüben (auch wenn vom Assistenznehmer erwünscht). 21 22 Definition Bei Gewalt auf sexueller Ebene steht das Erleben von Macht und Dominanz im Vordergrund. Dazu gehört: Verletzung der Intimsphäre, Grenzverletzung in Form von Blicken, Worten und Gesten, sexualisiertes Verhalten während der Pflege und erzwungener Vaginal-, Oral- oder Analverkehr. Zur Gewalt zählt auch die Geheimhaltung des Missbrauchs. Anhand einer repräsentativen Studie des BMFSFJ die 2012 erschienen ist, lässt sich erkennen wie häufig behinderte Frauen Gewalt ausgesetzt sind. Insgesamt wurden 1561 behinderte Frauen befragt. Das Ergebnis dieser Studie zeigt Folgendes: 58 % – 75 % aller befragten Frauen waren schon mindestens einmal körperlicher Gewalt ausgesetzt. 21 % – 43 % aller befragten Frauen haben schon mindestens einmal sexuelle Gewalt erlebt. 68 % – 90 % aller befragten Frauen waren schon mindestens einmal psychischer Gewalt ausgesetzt. Sexuelle Gewalt Foto: © Photocreo Bednarek/fotolia.com 7 7 Sexuelle Gewalt Insgesamt wurde festgestellt, dass behinderte Frauen doppelt so häufig von Gewalt betroffen sind wie nicht behinderte Frauen (vgl. BMFSFJ, 2012, S. 9+10, 20 – 25). Mit diesen Zahlen möchten wir auf ein sehr wichtiges Thema aufmerksam machen. Besonders in Einrichtungen stehen die Bewohner/innen in einem starken Abhängigkeitsverhältnis zu Mitarbeiter/inne/n und Mitbewohner/inne/n. Unaufgeklärtheit, Fremdbestimmung, Tabuisierung des Themas und fehlende Konsequenzen bei Missbrauchsfällen verstärken die Gefahr für sexuelle Übergriffe. Handlungsempfehlung Thematisieren Sie in der Einrichtung was sexuelle Übergriffe sind. Blenden Sie eventuelle Vorfälle während ihrer Arbeit nicht aus. Entwickeln Sie ein Konzept für den Umgang mit Missbrauchsfällen in Ihrer Einrichtung. Akzeptieren Sie, dass behinderte Menschen sexuelle Bedürfnisse haben. Arbeiten Sie präventiv (s. Kapitel 8). Klären Sie die behinderten Menschen regelmäßig und umfassend auf (s. Kapitel 5). 23 8 8 Prävention Was beinhaltet Präventionsarbeit? Präventive Maßnahmen sollen sexuellem Missbrauch vorbeugen und diesen verhindern. Das Wort Prävention kommt aus dem Lateinischen und bedeutet übersetzt: Zuvorkommen, Vorbeugen und kann eine abschreckende Wirkung enthalten. Prävention soll Menschen und ihr näheres Umfeld vor Übergriffen und abweichendem Verhalten schützen. Prävention Entwickeln Sie ein klares Präventionskonzept und klären Sie, wer für Prävention zu ständig ist. Präventionsarbeit beinhaltet drei Ebenen auf denen gearbeitet werden sollte. 1. Ebene > primär > Vorbeugende Maßnahmen. Hier sollen Übergriffe verhindert werden. Handlungsempfehlung Gehen Sie offen mit dem Thema Sexualität und auch mit sexuellen Übergriffen um. Sprechen Sie das Thema Sexualität bei Einstellungsgesprächen offen an. Ermöglichen Sie behinderten Menschen regelmäßige Schulungen in Bezug auf Sexualität. Stellen Sie klare Regeln und Grenzen im Umgang miteinander auf. Diese sollten dauerhaft beachtet und wiederholt darauf aufmerksam gemacht werden. 2. Ebene > sekundär > Schnelles Erkennen und Beenden sexueller Übergriffe. Handlungsempfehlung 24 Foto: © Africa Studio/fotolia.com Entwickeln Sie ein Konzept zum Umgang mit Übergriffen. Schaffen Sie eine Teamkultur die es ermöglicht offen über einen Verdacht zu sprechen. 3. Ebene > tertiär > Behandlung, Begleitung und Betreuung der Opfer/Täter. Handlungsempfehlung Stellen Sie sicher, dass Opfer nicht allein gelassen werden. Holen Sie sich externe Hilfe bei Fachberatungsstellen und Vereinen. 25 9 9 Teamkultur Teamkultur Wie sieht eine gute Arbeitsatmosphäre aus? Im Team sollte es gemeinsame Wertvorstellungen geben mit denen sich jeder identifizieren kann. Gegenseitige Wertschätzung, Vertrauen und Offenheit zwischen den Teammitgliedern ist wichtig. Des Weiteren ist gegenseitige Akzeptanz zwischen dem Team und der Leitung notwendig. Untereinander sollte das Thema Sexualität besprochen werden können. Was gehört zu einer professionellen Reflexion? Um die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben mit Sexualität zu schaffen, muss der hausinterne Ablauf darauf ausgerichtet sein. Die Einstellungen der Einrichtung, Leitung sowie aller Mitarbeiter/innen zu Sexualität und sexueller Gewalt und die Fähigkeit das eigene Handeln zu reflektieren, spielen hierbei eine wichtige Rolle. Was bedeuten Strukturen für die Teamarbeit? Konzeptionen und Leitlinien schaffen Klarheit und Handlungssicherheit für Alltag und Ausnahmefälle. Kompetenzteams oder ThemenBeauftragte, z. B. für Sexualität, setzen sich gezielt mit Themen auseinander und stehen dem Team bei Fragen zur Verfügung. Des Weiteren kann Offenheit für externe Hilfen, sei es für das Team selbst oder die zu Betreuenden, das Team und die Atmosphäre entlasten. Wie kann Wissen erweitert werden? Der Wissensstand der Mitarbeiter/innen sollte regelmäßig durch Informationen, Weiterbildungen und Fortbildungen, auf dem aktuellsten Stand sein. Besonderes Augenmerk muss auf die rechtlichen Grundlagen der zu Betreuenden gerichtet werden, die allen transparent und verständlich zugänglich sein müssen. 26 Foto: © DragonImages/fotolia.com Handlungsempfehlung Sprechen Sie in einer Teamdiskussion über die verschiedenen Haltungen der Mitarbeiter/innen, und setzen Sie sich mit den Haltungen auseinander. Seien Sie sich im Team einig. Achten Sie beim Einstellen von Personal bereits darauf, dass offen über Gefühle, Liebe, Sexualität, aber auch Missbrauch geredet werden kann. Klären Sie im Vorfeld den Umgang mit sexuellen Übergriffen. Klären Sie Verdachtsmomente von unkorrektem Verhalten institutionsintern. Keine Bagatellisierung: Machen Sie Ihre Standpunkte klar und halten Sie sie ein! (Er-)kennen Sie Ihre eigenen Grenzen. Behandeln Sie regelmäßig das Thema Sexualität. Ernennen Sie Themen-Beauftragte. Seien Sie offen für externe Hilfen. Reflektieren Sie ihr Handeln und das des Teams. Gewährleisten Sie regelmäßige Weiter- und Fortbildungen für das Team. 27 WICHTIGE QUELLEN BMFSFJ (Hrsg.): Studie zur Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigung und Behinderung in Deutschland, 2012 Clausen, Jens/Herrath, Frank (Hrsg.): Sexualität leben ohne Behinderung. Das Menschenrecht auf sexuelle Selbstbestimmung, Stuttgart, 2013 Herrath, Frank: Was behindert Sexualität? Vortrag im Rahmen einer Fachtagung von ISP und der AWO Dortmund, 2005 Fegert, Jörg M./Fetzer, Anette E./König, Cornelia/ff.: Ich bestimme mein Leben und Sex gehört dazu, Ulm, 2007 Tschan, Werner: Sexualisierte Gewalt. Praxishandbuch zur Prävention von sexuellen Grenzverletzungen bei Menschen mit Behinderungen. Bern, 2012 Dörr, Müller (2006): Nähe und Distanz. Ein Spannungsfeld pädagogischer Professionalität, Juventa-Verlag Valtl, Karlheinz: Sexuelle Bildung als neues Paradigma einer lernzentrierten Sexualpädagogik für alle Lebensalter. Vortrag auf der Tagung „Sexuelle Bildung entsteht“, Zürich 2006 BZgA Forum Sexualaufklärung und Familienplanung: Sexualität und Behinderung, Frankfurt am Main, 1. Auflage, 2010 Pro familia: Körper und Sexualität, Sexualität und geistige Behinderung, Frankfurt am Main, 4. Auflage, 2011 Pro Familia Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e.V.: Expertise Sexuelle Assistenz für Frauen und Männer mit Behinderung, Stand 2005 Materialien in leichter Sprache von „Pro Familia“ Julia ist eine Frau und Peter ist ein Mann, Frankfurt am Main, 3. Auflage 2012 Julia und Peter werden ein Paar, Frankfurt am Main, 2006 Julia und Peter entdecken ihre Lust, Frankfurt am Main, 3. Auflage 2013 Landesverband NRW: Verhütung in leichter Sprache, Wuppertal 2013 Sexualität – was sind unsere Rechte? In leichter Sprache, Frankfurt am Main 2013 Materialien in leichter Sprache von der „AWO“ Schriftenreihe Theorie und Praxis: Liebe(r) selbstbestimmt, Praxisleitfaden für die psychosoziale Beratung und sexualpädagogische Arbeit für Menschen mit Behinderung, AWO, 2006 28