Leben und Werk des Joachim Ringelnatz
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Leben und Werk des Joachim Ringelnatz
Inhaltsverzeichnis GELEITWORT ZUR SCHRIFTENREIHE ............................................................................... 7 VORWORT DES HERAUSGEBERS ...................................................................................... 9 FRANK WOESTHOFF „KLEINER SEEMANN UND BEDEUTENDER MENSCH“: DIE MARITIME BIOGRAPHIE DES HANS BÖTTICHER ALIAS JOACHIM RINGELNATZ .......................................................... 13 WERNER RAHN DIE KAISERLICHE MARINE UND DER ERSTE WELTKRIEG .............................................. 39 FRANK MÖBUS LAPIDARER DEFÄTISMUS. DIE AUTOBIOGRAPHIE DES MARINERS HANS BÖTTICHER . 91 FRIEDERIKE SCHMIDT-MÖBUS LEBEN UND WERK DES JOACHIM RINGELNATZ ............................................................. 119 DIE AUTOREN .................................................................................................................. 125 Geleitwort zur Schriftenreihe Die Kleine Schriftenreihe zur Militär- und Marinegeschichte will ein Forum für neue und kontroverse Forschungsergebnisse zu ausgewählten Themenkreisen der Militärgeschichte und für marinespezifische bzw. marineberührende Fragen bieten. Damit öffnet sich diese Reihe einem weiten inhaltlichen Spektrum und dem Interessentenkreis aktiver und ehemaliger Angehöriger des deutschen Militärs und insbesondere der deutschen Seestreitkräfte sowie militär- oder maritim-historisch interessierter Leser. Die Veröffentlichungspalette soll von der Schriftfassung von Vortragsreihen über wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten bis zur Publikation unbekannter oder seltener Dokumente reichen. Ein besonderes Augenmerk möchten die Herausgeber auf Publikationen richten, welche sich der kommentierenden Bearbeitung von Selbstzeugnissen widmen. Steht zwar das erzählende Ich im Mittelpunkt und muß gebührend zu Wort kommen, so soll doch eine umfassende Kommentierung den erklärenden Rahmen bieten. Auf diese Weise soll versucht werden, Ereignisse und Strukturen – vielleicht auch nur die Normalität – vergangener Zeiten aus der personalen Perspektive heraus sichtbar zu machen, wissenschaftlich begründet einzufassen und insgesamt für weitergehende Forschungen zu öffnen. Die Kleine Schriftenreihe zur Militär- und Marinegeschichte wird vom Freundeskreis der Marineschule Mürwik, Wehrgeschichtliches Ausbildungszentrum e.V. und von der Stiftung Deutsches Marinemuseum gemeinsam herausgegeben. Beide Einrichtungen wollen mit der Schriftenreihe Kenntnis und Verständnis der politischen, militärstrategischen, technischen, sozialen und kulturellen Aspekte deutscher Militärund Marinegeschichte erweitern und vertiefen. Wilhelmshaven und Flensburg, im März 2001 Jens Graul Jörg Hillmann 7 Vorwort des Herausgebers Mit der Ausstellung „Ringelnatz als Mariner im Krieg 1914-1918“, zu der dieser Begleitband erscheint, widmet sich das Deutsche Marinemuseum zum zweiten Mal seit seinem Bestehen einer Thematik an der Schnittstelle von Kunst und Militär. Während die Ausstellung „Kunst braucht Gunst!“ die Marinemalerei der Kaiserzeit ins Bild setzte1 und die maritimen Sehnsüchte Wilhelms II. in Gestalt Meeres durchpflügender Kriegsschiffe visualisierte, betrachtet die gemeinsam mit der Joachim-RingelnatzStiftung in Cuxhaven erarbeitete Schau ein weiteres Kapitel der Marinegeschichte des deutschen Kaiserreichs. Nicht um Herrscherphantasien geht es, sondern um deren Rezeption in der Bevölkerung. Neben dem glanzvollen Aufstieg der Marine in den – wenn auch nicht spannungsfreien, so doch friedlichen – Jahren 1888-1914, wird diesmal vor allem ihr Einsatz im Ersten Weltkrieg und schließlich ihrer Krise an seinem Ende in den Blick genommen. Wiewohl Joachim Ringelnatz sich zu Lebzeiten einen gewissen Namen als Maler gemacht hatte – was erst durch eine Ausstellung wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt wurde,2 die ihrerseits den Anstoss zu dieser Ausstellung gab – wird hier ein literarisches Werk in den Mittelpunkt der Betrachtungen gerückt. Die Rede ist nicht von Kuttel Daddeldu, Ringelnatz literarischem Alter Ego, dessen Erlebnisse am Weihnachtsabend alljährlich auf maritimen Weihnachtsfeiern rezitiert werden und so zum literarischen Erbe der Deutschen Marine zählen.3 Es geht vielmehr um Ringelnatz weitgehend unbekannte Autobiographie der Kriegsjahre, 1928 erstmalig unter dem Titel „Als Mariner im Krieg“4 erschienen. Diese weist, wie der Beitrag von Frank Möbus in diesem Band zeigt, ein ungewöhnlich hohes Maß an Authentizität auf. Ohne die Memoiren häufig eigene Verklärung des Vergangenen schildert Ringelnatz darin sein Kriegserleben. Typisches bzw. Erwartetes mischt sich darin mit Atypischem und Unerwartetem. Ringelnatz’ Kriegsbegeisterung zu Beginn und Kriegsmüdigkeit zu Ende des Ersten Weltkrieges kann als geradezu paradigmatisch für seine Zeitgenossen gelten, wie die Gegenüberstellung der von Frank Woesthoff verfassten biografischen Skizze mit der Überlicksdarstellung der von Werner Rahn skizzierten Kriegsereignisse zeigt. Vor dem Hintergrund des weitverbreitenen Ringelnatz-Bildes in unseren Köpfen mutet es seltsam an, dass dieser Spaßmacher und Tunichtgut den ganzen Krieg hindurch von dem Gedanken beseelt war, den gesellschaftlichen Aufstieg vom in Wilhelmshaven verachteten „Kuli“ zum gesellschaftlich akzeptierten Offizier zu erreichen. Dass ihm dies schließlich auch gelang, ist das Resultat gleichfalls unerwarteter und für Ringelnatz keineswegs typischer Zielstrebigkeit, die die Wichtigkeit dieses Ansinnens unterstreichen mag. Den Ausstellungsmachern und Autoren geht es nicht nur darum, eine bisher wenig bekannte Seite des Künstlers aufzuzeigen. Die Einnahme dieser Perspektive von unten soll auch dazu dienen,5 dem Besucher respektive Leser über die ihr innewohnenden Identifikationsmöglichkeiten Zugang zum Verständnis von Ursachen und Verlauf der maritimen Aspekte des Ersten Weltkriegs zu eröffnen. Dass dieser Krieg die weiteren schicksalhaften Entwicklungen des kurzen 20. Jahrhunderts vorbereitete, wird in dem von George F. Kennan geprägten Begriff der „Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts“ deutlich.6 Dass das Verständnis dieses Krieges neben der Ana9 lyse der Kriegsereignisse auch die Betrachtung des Kriegserlebens und seiner Verarbeitung, die Kriegserinnung umfasst und durch diese Trias geformt wird,7 ist erst im Zuge der Ausweitung historischer Fragestellung auf kultur- und mentalitätsgeschichtliche Ansätze deutlich geworden.8 Die Gegenüberstellung von Kriegserinnerung und Kriegsereignis leitet daher die Konzeption des Bandes wie auch der Ausstellung. Sie steht gleichberechtigt neben der Vermittlung biographischer Inhalte. Diese hat Friederike Schmidt-Möbus abschließend überblickshaft zusammengefasst. Ausstellung und Band wären ohne die Mitarbeit verschiedener Personen nicht zu realisieren gewesen. Zunächst ist den wissenschaftlichen Mitarbeitern der Ringelnatz-Stiftung in Cuxhaven für die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Deutschen Marinemuseum herzlich zu danken. Der Klosterkammer Hannover gebührt Dank für die Übernahme des Hauptanteils der Finanzierung der Ausstellung. Nicht minderen Dank schuldet der Herausgeber den Autoren dieses Bandes, die bereitwillig ungebührlich kurze Fertigstellungsfristen für ihre Manuskripte akzeptierten, um die Bereicherung der Ausstellung um diese Publikation zu ermöglichen. Schließlich ist der Gesellschaft für Materialkreislauf und Abfallwirtschaft mbH & Co. Kg, Wangerland, sowie der REUNION für die Bezuschussung der Druckkosten zu danken. Wilhelmshaven im März 2003 Stephan Huck Anmerkungen 1 Vgl. den Begleitband zur Ausstellung: Jörg-M. Horrmann, Friedrich Scheele, „Kunst braucht Gunst!“. Willy Stöwer. Marinemaler und Illustrator der Kaiserzeit, Oldenburg 2000. 2 Die Ausstellung Ringelnatz! Ein Dichter malt seine Welt war im Jahr 2000 in Göttingen, Cuxhaven und Wurzen zu sehen. Vgl. den Begleitband Frank Möbus, Friederike Schmidt-Möbus, Frank Woesthoff und Indina Woesthoff (Hrsg.), Ringelnatz! Ein Dichter malt seine Welt, Göttingen 2000. 3 Vgl. „Die Weihnachtsfeier des Seemanns Kuttel Daddeldu“, in: GW 1, S. 123-125. Die Sigle GW mit angehängter Ziffer verweist hier wie in allen folgenden Beiträgen auf einen Band der 1994 in Zürich erschienene Gesamtausgabe der Werke Joachim Ringelnatz: Joachim Ringelnatz, Das Gesamtwerk in sieben Bänden, hrsg. von Walter Pape, Zürich 1994. 4 Gustav Hester, Als Mariner im Krieg, hrsg. von Joachim Ringelnatz, Berlin 1928. Zahlreiche Nachdrucke, zuletzt in GW 7. 5 Vgl. Wolfgang Wette (Hrsg.), Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten (= Serie Piper, 1420), München 1992. 6 Erst jüngst hat das Militärgeschichtliche Forschungsamt einen facettenreichen Sammelband vorgelegt, der Diskontinuitäten und Kontinuitäten vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg beleuchtet. Vgl. Bruno Thoß, Hans Erich Volkmann (Hrsg), Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich, Paderborn 2002. 7 Vgl. hierzu Bruno Thoß, Die Zeit der Weltkriege – Epochen als Erfahrungseinheit?, in: Thoß, Volkmann (Hrsg.), Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg (wie Anm. 6), S. 7-30, hier S. 9. 8 Einen profunden Überblick über den Methodenkanon heutiger Militärgeschichte bietet Thomas Kühne, Benjamin Ziemann (Hrsg.), Was ist Militärgeschichte? (= Krieg in der Geschichte, Bd 6), Paderborn, München, Wien, Zürich 2000. Zur Erforschung des Nutzens der derzeit viel diskutierten Kategorie „Kriegserfahrung“ wurde an der Universität Tübingen ein eigener Sonderforschungsbereich eingerichtet, dessen erste Ergebnisse neben einer Vielzahl von Einzelveröffentlichungen in dem Band Nikolaus Buschmann, Horst Carl (Hrsg.), Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn, München, Wien, Zürich 2001 (= Krieg in der Geschichte, Bd 9) veröffentlicht wurden. 11 „Kleiner Seemann und bedeutender Mensch“1: Die maritime Biographie des Hans Bötticher alias Joachim Ringelnatz von Frank Woesthoff Wie die meisten Künstler beantwortete der, von dem hier die Rede sein soll, prosaische Journalisten-Fragen über sein Leben nicht übermäßig gern – er stellte sie sich in seinen Gedichten, biographischen Texten oder auch in seinen Kabarett- und Rundfunk-Conférencen lieber selbst. Wenige authentische Presseinterviews gibt es mit dem so besonderen Mann, der 1883 als Hans Bötticher in der östlich von Leipzig gelegenen Kleinstadt Wurzen geboren wurde und 51 Jahre später als Joachim Ringelnatz in Berlin starb. Wenige Monate zuvor war gab er einem Wiener Feuilleton zu Protokoll: „Ach ja, ich bin Deutscher; stamm’ ich aus Passau, Leipz’ch oder von der Waterkant? Ich weiß es nicht. Meine Heimat ist die See, meine Heimat ist das Abenteuer, die Dauer im Wechsel. Oder eigentlich auch nicht. Seht, heute mit meinen einundvierzig Jahren liebe ich eine Häuslichkeit […] Vielleicht gerade deshalb, weil ich fünfunddreißig Berufe gehabt habe und in ebensovielen Ländern herumgekommen bin. Ich war Auslagenarrangeur, Hirte, Tapezierer, Sekretär bei zwei Fürsten und so weiter … hauptsächlich aber Seemann. Und nebenbei schrieb ich immer wieder. […] Künstlerisch kenne ich keine Richtung. Ich schreibe immer mich selbst. Da ist auch äußerlich viel los. Ich begann als Schiffsjunge auf einer Segelbarke. Ich avancierte in den Krieg hinein und war zuletzt Kommandant eines Minensuchers, bravo. Wenn ich aus einer Luke emporstieg, sagten meine Kameraden immer: ‚Es kommt nichts anderes als eine Nase heraus, an der, schaut man genauer hin, ein Tröpfchen hängt, das ist der Ringelnatz.’“2 Dieser Aufzählung der Berufe wäre noch der eine oder andere hinzuzufügen: Schlangenträger auf dem Jahrmarkt und Mitarbeiter der Postzensur, Kommis bei einer Dachpappenfabrik und Inhaber eines Tabakladens, Fremdenführer auf einer Ritterburg – und nicht zuletzt, mit am erfolgreichsten: Kunstmaler. Dass man dem Star der Kabarettbühnen in der Weimarer Republik unter all diesen Erwerbstätigkeiten den erund befahrenen Seemann stets am ehesten abgenommen hat, lag sicher nicht nur an der Matrosen-Figur „Kuttel Daddeldu“, die er sich als Alter Ego geschaffen hatte und mit der er ab 1919 berühmt geworden war. Es lag gewiss auch daran, dass Bötticher den Seemannsberuf von der Pike auf erlernt und es vom Schiffsjungen bis zum Leutnant und Kommandanten gebracht hatte. Rund acht Jahre bei der Handels- und Kriegsmarine hatten ihre Spuren an Glaubwürdigkeit hinterlassen, obwohl er nach ei13 genem Bekenntnis „als Matrose, es noch nicht einmal bis zu einer Durchschnittsqualität gebracht“3 hatte und an gleicher Stelle, in der wunderbar wahrhaftigen Impressionen-Sammlung „Matrosen“ von 1927, lakonisch feststellte: „Ich bin nicht der olle ehrliche Seemann.“4 Wer oder was war er wirklich? Mittelpunkt eines ganzen Straußes von Rätseln und Legenden auf jeden Fall. Nehmen wir nur den „nom de plûme“ „Ringelnatz“, der im wahrsten Sinne des Wortes ein „nom de guerre“ war. Obgleich er erst 1919 die ersten Gedichte unter diesem Namen schrieb, hatte er ihn – auch der Schluss des Eingangszitats deutet darauf hin – ganz offenbar bereits in den Kriegsjahren im Cuxhavener Land „erbeutet“: Im dortigen Idiom versteht man unter „Ringelnatz“ nämlich eine Blindschleiche, was unter den Kameraden ein gängiger Spitzname des mit geringer Sehkraft geschlagenen Mariners Hans Bötticher war, der sich wiederum als Reptilfänger und Betreiber eines Terrariums mit Blindschleichen (sowie Ringelnattern!) in seinem Cuxhavener Außenposten Seeheim eine gewisse lokale Berühmtheit erworben hatte.5 Dass Seeleute ganz allgemein zudem mit „Ringelnass“ das Seepferdchen bezeichnen, verschlägt in dieser Beziehung nichts, denn Ringelnatz widmete beiden Spezies Gedichte.6 Vielleicht hatte er auch den (leider nicht erhaltenen) SeepferdchenBrunnen im Hof des Küstenforts an der Cuxhavener Kugelbake vor Augen… Hans Bötticher war Sachse. Diese zieht es nach einem bekannten Sprichwort stets in die Ferne. Das galt nicht nur für bekannte Abenteuerautoren wie Karl May oder Marineschriftsteller wie den „Seeteufel“ Graf Luckner, überhaupt waren die Mitteldeutschen auch in der deutschen Seefahrt stark vertreten. Admiral Brommy, 1848 im Auftrag des Paulskirchen-Parlaments Gründer der ersten deutschen Marine, stammte von dort. Böttichers Vater Georg war freilich nicht Seemann, sondern Graphiker und nebenher ein gefragter humoristischer Schriftsteller und Kinderbuchautor. Dem kleinen Binnengewächs Hans Gustav jedenfalls muss es gegangen sein wie dem „Arm Kräutchen“, dem er im „Kinder-Verwirrbuch“ die folgenden Verse widmete: „Ein Sauerampfer auf dem Damm Stand zwischen Bahngeleisen, Machte vor jedem D-Zug stramm, Sah viele Menschen reisen. Und stand verstaubt und schluckte Qualm, Schwindsüchtig und verloren, Ein armes Kraut, ein schwacher Halm, Mit Augen, Herz und Ohren. Sah Züge schwinden, Züge nahn. Der arme Sauerampfer Sah Eisenbahn um Eisenbahn, Sah niemals einen Dampfer.“7 Als sächsischer Sauerampfer wollte der Sohn des Tapetenmusterzeichners nicht enden. Hans war fünf Jahre alt, als Wilhelm II. den deutschen Kaiserthron bestieg und verfügte, Deutschlands Zukunft liege auf dem Wasser. Das machte sich auch der 14 Sprössling im Matrosenanzug zu Eigen, dreißig Jahre vor der späten Geburt von Joachim Ringelnatz und Kuttel Daddeldu. In seinen Jugenderinnerungen schrieb er: „Es stand lange bei mir fest: Ich wollte Seemann werden“8, und auch der Vater berichtet von dem begeisterten Spiel des Elfjährigen unterm Weihnachtsbaum: „Hans stellt seine Marine auf“9, und Ringelnatz selbst erzählt von der Faszination, die in Wurzen die Mulde und später, nach dem Umzug der Familie, in Leipzig die Alte Elster auf ihn ausübten. Auf Leipzigs einzigem Vergnügungsdampfer den schmalen Fluss zu befahren, war ihm „höchste Wonne“, und gar zu kleinen Hilfsdiensten an Bord herangezogen zu werden, ließ den Knaben sich „sehr seemännisch“ fühlen.10 Den Interessengegensatz zwischen dem wirtschaftlich aktiven Bürgertum, das die sprunghafte Industrialisierung der Gründerjahre vorantrieb, und dem preußischagrarischen Junkertum, das weiterhin über die politisch-gesellschaftliche Macht verfügte, hoffte die Reichsregierung unter der Regentschaft Wilhelms II. durch eine im Zeichen des Imperialismus stehende offensive Kolonialpolitik lösen zu können. Einen „Platz an der Sonne“, das heißt konkurrenzlose Absatzmärkte, versuchte sie mit militärischem Druck in Übersee zu sichern.11 Einzelne Plantagen und Fabriken waren schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von deutschen Handelshäusern in den sogenannten „Schutzgebieten“ im Bismarck-Archipel, auf Samoa und einzelnen Inseln Mikronesiens aufgebaut worden. 1882 war der „Deutsche Kolonialverein“ gegründet worden. In der kurzen Episode Bismarckscher Kolonialpolitik, zwei Jahre später, entstand die „Gesellschaft für deutsche Kolonisation“. Gebiete in Afrika wurden erworben.12 In der Wirtschaftskrise der 1880er Jahre und auch mangels entsprechender Flottenressourcen – in den ersten Jahren nach der Reichsgründung war die Marinedoktrin auf die Verteidigung der deutschen Küste gerichtet – geriet die Expansion freilich ins Stocken. Nachdem Bismarck 1890 als „Lotse von Bord“ hatte gehen müssen, holte der junge Kaiser mit Admiral Alfred Tirpitz einen Verfechter aggressiver Flotten- und Kolonialpolitik in die Regierung. Die neue Politik suchte die wirtschafts- und sozialpolitischen Probleme des Landes über die Kolonien und in der dezidierten Konfrontation mit England zu lösen. Die Flottengesetze von 1898 und 1900 waren ein gigantisches Aufrüstungs- und daneben ein Konjunkturprogramm für die Industrie. Sie führten allerdings in eine Spirale des Wettrüstens. Nachdem England 1905 mit der „Dreadnought“ das erste Großkampfschiff entwickelt hatte, das schneller, massiver gepanzert und mit schwererer Artillerie als die bis dahin die Planungen bestimmenden Linienschiffe ausgerüstet war, erwiesen sich die bis 1917 vorausgeplanten Flottenrüstungspläne als überholt. Die Flotte verschlang immer größere Summen, so dass um 1910 der Versuch des Gleichziehens mit England aufgegeben werden musste. Der Aufbau der zweitgrößten Flotte der Welt entpuppte sich als außenpolitische und, das stellte sich im Weltkrieg ziemlich bald heraus, zudem fatale militärische Fehlspekulation gigantischen Ausmaßes. Unterseeboote und Verminungen waren von der Führung unterschätzte, aber erheblich effektivere Waffensysteme gegen die englische Seeverbindungen.13 Das seemännische Schicksal des Hans Bötticher verläuft in geradezu beispielhafter Weise parallel zu den Linien der „großen“ Politik. Zunächst war er ein Opfer der kaiserlichen Flotten-Propaganda. Die Mittel für den Bau einer großen Kriegsmari- 15 ne ließen sich insbesondere auch gegen die Lobby der Landstreitkräfte nur dadurch durchsetzen, dass man das Nautische als Generalthema im öffentlichen Bewusstsein der deutschen Untertanen verankerte. Der 1898 gegründete „Flottenverein“ wurde auf breitester Basis zum Instrument nicht nur der politischen Einflussnahme. Frontmann dieses Werbefeldzugs war der Kaiser selbst mit seinem von Kritikern bald verspotteten „Marinefimmel“. Wilhelm II. pflegte die See- und Marinemalerei als intensives Hobby, dessen Ergebnisse er gern in der Presse publiziert sah; zu Theateraufführungen mit ansatzweise nautischer Thematik, beispielsweise Richard Wagners „Fliegendem Holländer“, trug er die Uniform eines Marineoffiziers. Er ließ sich nicht nur eine stattliche Yacht mit der Tonnage eines mittleren Ozeandampfers bauen, er gliederte die schwimmende Residenz sogar formal als „Kriegsschiff zu besonderen Zwecken“14 in den Flottenverband ein. Die allgemeine Mode konnte hinter dieser Tendenz der Zeit nicht zurückstehen: War der „Marine-Look“ schon Ende des 18. Jahrhunderts in England und Frankreich im besonderen für Kinder als äußerst zweckmäßig propagiert worden, so gehörte es nun auch in Deutschland zum guten Ton, die Söhne und Töchter in blaues Tuch zu stecken. Das mochte einerseits tatsächlich praktisch sein, vergleicht man die locker sitzende Matrosenkleidung mit der eher steifen und einengenden bürgerlichen Kleidung, doch wurde so andererseits von klein auf das Bewusstsein für die als erstrebenswert, ja für den Fortbestand des Reiches als notwendig angesehene Flotte gefördert. Die Frage der Seemacht wurde mit all ihren Begleiterscheinungen zu einem breite Bevölkerungsschichten einigenden und identitätsstiftenden Moment: Seit der Reichsgründung hatte es einen derartigen Konsens nicht mehr gegeben. Im Hause Bötticher war diese Politik stärker spürbar als anderswo: Einer der zahlreichen Nennonkel war der sogenannte „Flotten-Professor“ Julius Lohmeyer, der 1899 im nicht-offiziellen Auftrag des Nachrichtenbureaus des Reichsmarineamtes eine „Freie Vereinigung für deutsche Flottenvorträge“ organisierte, die die Hauptlast der Propaganda für das zweite Flottengesetz trug.15 Außerdem verfasste er maritime Schriften, die Meeresrauschen und Flottenmanöver in deutsche Kinderstuben brachten. Seine Sammlung deutscher Seemannslieder „für Haus und Schule, vaterländische Vereine und Feste“ war „Zur See, mein Volk!“ betitelt16, die von ihm herausgegebene Reihe „Deutsche Jugend“ bot zahlreiche Seeabenteuer und Schifffahrtsgeschichten. Der junge Hans Bötticher muss viele dieser Texte verschlungen haben. Zu sehen bekam er zwar nicht das wirkliche Meer, aber mancherlei Derivate der Ferne: Vor allem die immer wieder zu Geburts- und Feiertagen aus China eintreffenden Geschenke eines leiblichen Onkels, des Kapitäns Martin Engelhart. Darunter war Wertvolles wie goldene Manschettenknöpfe oder bestickte Seide, dazu zählten geschnitzte Waffen, alte Vasen, Silberbecher und Holzschnitte. Auch manche der beliebten deutsch-chinesischen Postkarten mag ihren Weg nach Leipzig gefunden haben, nachdem Deutschland ab 1898 einen Kolonialstandort in Kiautschou aufbaute. Das Bild, das durch Presseberichte über ferne Länder entstand, bekam besondere Farbigkeit durch Ereignisse wie die 1896 erstmals veranstaltete Deutsche KolonialAusstellung, das im selben Jahr eröffnete Bremer Übersee-Museum und die 1899/1900 erfolgten Erwerbungen von großen Inselarchipelen (Marianen, Karolinen, Palau, Mar- 16 schallinseln und Teilen Samoas) in der Südsee. Einen wissenschaftlichen Anstrich suchten sich die Völkerschauen zu geben, mit denen Hagenbeck und andere Unternehmen jahrelang durch Deutschland zogen. Eine dieser Attraktionen wurde Bötticher zum Verhängnis: Seine Begeisterung für die „stattlichen Gestalten“ einer SamoanerGruppe im Leipziger Zoo, vor allem aber seine Zuneigung zu deren zärtlichen „bronzefarbenen, dunkelhaarigen Weibern“ ließ ihn auf die (schon sehr seemännische) Idee verfallen, sich in einer Schulpause von einer der Frauen tätowieren zu lassen – das Ergebnis war nicht nur ein „H“ auf dem Unterarm, sondern auch der sofortige Schulverweis.17 Hans Böttichers Wunsch nach einer persönlichen Zukunft auf dem Wasser gründete sich also auf irrationale Vorstellungen von Ferne und Abenteuer, hervorgerufen und genährt durch die allgegenwärtigen reichsdeutschen Flottenphantasien. Nach einer einigermaßen missglückten Schullaufbahn schien sich Hans Bötticher nun eine gesellschaftlich akzeptierte Möglichkeit zu bieten, der als zu eng empfundenen Bürgerlichkeit zu entkommen. I. „Ja, es war häßlich, das Leben, das ich führte“18: Als „Fünfhundertmarksjunge“ an Bord Natürlich wurde vor allem Kapitän Martin Engelhart, Bruder der Mutter, um Rat gefragt, als es um die Berufswahl des Siebzehnjährigen ging. Seiner dringenden Empfehlung, dem „beseelten Kinderwillen“19 nicht zu entsprechen, folgten jedoch weder Eltern noch der Neffe. Anders als in Ringelnatz’ Erzählung „Nervosipopel“ 20 versagte man dem Jungen seinen Wunsch, Seemann zu werden, nicht. Anfang April 1901 brachte Georg Bötticher seinen Sohn in Hamburg an Bord des französischen Schiffes „Thérèse et Marie“, nicht ohne ihm vorher eine teure Seeausrüstung erworben zu haben. In Le Havre sollte Hans auf „Elli“ überwechseln, die mit einer Ladung Pflastersteine nach Mittelamerika gehen sollte. Die noch aus Holz gebaute Dreimastbark hatte schon fast 25 Jahre auf dem Kiel, ihr Heimathafen war Oldersum bei Emden. Die folgenden Monate waren geprägt, so schildern es seine Aufzeichnungen „Was ein Schiffsjungen-Tagebuch erzählt“, die er 1911 und als Teil seiner Jugendautobiographie 1931 sogar ein zweites Mal veröffentlichte,21 von Entbehrungen, Erniedrigungen, härtester Arbeit und stupidester Langeweile an Bord – eher Regelfall als Ausnahme in der damaligen seemännischen Ausbildung. Wie in Deutschland seit 1869 gesetzlich vorgeschrieben und noch bis 1931 im Großen und Ganzen praktiziert, begann die seemännische Laufbahn mit dem Dienst als Schiffsjunge „vor dem Mast“.22 Das Achterschiff hinter dem Mast war Kapitän und Steuerleuten vorbehalten – hierher aufzurücken, war der Traum vieler, den allerdings nur die wenigsten verwirklichen konnten. Das Gros der anfangs wie Hans Bötticher begeisterten Schiffsjungen brachte es gerade bis zum Matrosen oder aber sah zu, so bald wie möglich wieder Land unter die Füße und eine weniger harte Arbeit zu bekommen. Der Seemannsberuf, vor allem auf den personalaufwendigen Segelschiffen, war entbehrungsreich, gefährlich, körperlich extrem belastend und darüber hinaus sehr schlecht bezahlt. Wer nicht unbedingt in Not war oder eine familiäre Tradition fortsetzen wollte, fuhr nicht zur See. Auch das geläufige Bild des Ausreißers oder Tunichtguts, der aus Abenteuerlust oder gezwungenermaßen den Weg an Bord nahm, 17 Die Kaiserliche Marine und der Erste Weltkrieg1 von Werner Rahn Die Thesen des amerikanischen Seeoffiziers Alfred Th. Mahan über den Einfluss von Seemacht auf die europäische Geschichte von 1660 bis 17832 führten im ausgehenden 19. Jahrhundert dazu, dass Seestreitkräfte in Form einer Schlachtflotte mehr und mehr als unverzichtbares Instrument einer Großmacht galten, die Weltinteressen vertreten und durchsetzen wollte. Diese Zielsetzung bestimmte auch bald die maritime Rüstungspolitik des Deutschen Reiches, als Kaiser Wilhelm II. 1897 einen dynamischen Konteradmiral zum Staatssekretär des Reichsmarineamtes berufen hatte. Es war der damals 48-jährige Alfred Tirpitz, der den systematischen Aufbau einer Schlachtflotte durchsetzte.3 Mit dem Griff zur Seemacht sollte das Reich an der britischen maritimen Hegemonie vorbei eine Stellung als „Weltmacht neben anderen“ erringen und dabei ein Bedrohungspotential aufbauen, um den potentiellen Gegner abzuschrecken und letztlich zur friedlichen Preisgabe seiner Hegemonialstellung zu bringen. Es war das Szenario eines kalten Krieges mit dem Risiko eines heißen Krieges, den Tirpitz beim Aufbau des Abschreckungspotentials möglichst lange vermeiden wollte, um allmählich eine Wandlung der globalen Machtverhältnisse zugunsten Deutschlands zu erreichen.4 Tirpitz ließ sein langfristiges Bauprogramm ab 1898 im Reichstag durch Flottengesetze absichern, die den Sollbestand an Schiffen und die Dauer ihrer Indiensthaltung festlegten. Er war sich allerdings darüber im Klaren, dass der potentielle Gegner auf diese Herausforderung mit verstärkten Rüstungsanstrengungen reagieren und damit die Abschreckungsfunktion der deutschen Flotte aushebeln würde, wenn die deutsche Seite beim Schlachtschiffbau nicht entsprechend mithalten konnte. Diese Krise zeichnete sich 1905 ab, als die britische Admiralität unter der maßgeblichen Führung ihres Ersten Seelords, des Admirals Sir John Fisher, mit der Kiellegung des Linienschiffes „Dreadnought“ zum Großkampfschiffbau überging.5 Mit diesem in Rekordzeit von 14 Monaten gebauten Schiff vollzog die Royal Navy bei Bewaffnung, Panzerung und Geschwindigkeit der Linienschiffe eine so enorme Kampfkraftsteigerung, dass Tirpitz in Zugzwang geriet, wenn er im Schiff-Schiff-Vergleich dem potentiellen Gegner gewachsen bleiben wollte. Mit dem Übergang zum Großkampfschiffbau begann das eigentliche deutsch-britische Wettrüsten. Die durchaus realistischen Chancen einer Rüstungsbeschränkung und damit eines deutsch-britischen Ausgleichs scheiterten nicht zuletzt am Ressortegoismus von Tirpitz, der mit seiner Politik der Stärke sowohl beim Kaiser als auch in der Öffentlichkeit einen starken Rückhalt fand.6 Vor 1914 waren moderne Kriegsschiffe nicht nur Teil des Militärpotentials eines Staates, sondern zugleich eindrucksvolle Zeugnisse seiner industriellen und technologischen Leistungsfähigkeit. Nur hoch industrialisierte Länder sahen sich überhaupt in 39 der Lage, die komplexen technischen Probleme, die mit dem Übergang zum Großkampfschiffbau verbunden waren, eigenständig zu lösen. Dies galt insbesondere für die Antriebs- und Waffentechnik sowie für die Weiterentwicklung der Standfestigkeit durch hochwertige Stahlpanzerung. Der Aufbau der Hochseeflotte erfolgte in einer Epoche des rasanten technologischen Umbruchs, der Seekriegsmittel sehr schnell veralten ließ. Im 20. Jahrhunderts haben Kriegsschiffe im Schiff-Schiff-Vergleich zu keiner Zeit mehr so schnell an Kampfkraft eingebüßt wie in den zehn Jahren von 1904 bis 1914. Dies gilt sowohl für Linienschiffe und Kreuzer als auch für Torpedoboote und UBoote. Besonders drastisch fiel dabei die Kampfkraftsteigerung beim Übergang vom Panzerkreuzer zum Schlachtkreuzer aus, was zwischen 1907 und 1914 zu einer explosionsartigen Kostensteigerung führte.7 Das Reich konnte den Rüstungswettlauf mit Großbritannien aus innenpolitischen Gründen finanziell nicht durchhalten. Nach einer strategischen Neuorientierung der Reichsleitung verlor die Marinerüstung ab 1912/13 an Bedeutung, denn die unmittelbare Verteidigung des Reiches war zunächst eine Aufgabe des Heeres und erst in zweiter Linie die der Marine. Folglich lag der Schwerpunkt der Rüstungsausgaben vor 1914 eindeutig beim Heer.8 Die Kaiserliche Marine stieg zwar bis 1914 zur zweitstärksten Marine der Welt auf, doch in der Juli-Krise 1914 erwies sich die erhoffte und stets propagierte Abschreckungswirkung der Hochseeflotte als grandiose Fehlkalkulation, da Großbritannien im Vertrauen auf seine überlegene Flotte und seine weltweiten strategischen Positionen die Existenz der deutschen Flotte, die nur aus der Nordsee heraus operieren konnte, nicht als ein unkalkulierbares Risiko für die Sicherheit seiner Seeverbindungen ansah. I. Die strategische Ausgangslage Die seestrategischen Vorstellungen der führenden Seeoffiziere der Kaiserlichen Marine gingen von der Voraussetzung aus, dass die Royal Navy in einem Krieg gegen das Reich offensiv vorgehen und eine enge Blockade vor der deutschen Nordseeküste errichten würde. Aus einer solchen Blockade sollte sich dann in der Nähe von Helgoland unter für Deutschland günstigen Bedingungen eine „Entscheidungsschlacht“ entwickeln. Diese Schlacht stand auf deutscher Seite wie ein Dogma im Mittelpunkt aller operativen Überlegungen und der praktischen Flottenausbildung. Der Blick für die seestrategischen Dimensionen eines Seekrieges gegen Großbritannien blieb dagegen unscharf. Bei der Konzentration der Kriegsvorbereitung auf die „Entscheidungsschlacht“ blieb nämlich unklar, was eigentlich mit der Schlacht erreicht werden sollte.9 Schätzte man die eigenen Kräfte nüchtern ein, konnte die deutsche Seite 1914 billigerweise nur einen Achtungserfolg in der Defensive, nicht jedoch einen Vernichtungssieg und damit eine strategische Entscheidung erwarten. Bei der bereitwilligen Übernahme der Seemachttheorie von Mahan hatte die deutsche Marineführung ein wichtiges Element dieser Theorie kaum beachtet: Die Bedeutung der geographischen Position und der damit verbundenen strategischen Möglichkeiten für eine Seemacht.10 Der Nordsee als europäischem Randmeer des Atlantiks sind im Westen die britischen Inseln wie eine Schranke vorgelagert, so dass der Schiffsverkehr von und nach Deutschland zwangsläufig den Ärmelkanal oder die En40 ge zwischen Schottland und Norwegen passieren muss. Die Seewege im Skagerrak und durch die dänische Meerengen boten dem Reich in Verbindung mit dem KaiserWilhelm-Kanal, dem heutigen Nord-Ostsee-Kanal, zwar die begrenzte Möglichkeit, eine Blockade der Nordseeküste zu umgehen, solange Dänemark und Norwegen neutral blieben und den freien Seeverkehr in den eigenen Territorialgewässern gewährleisten konnten. Doch der Admiralstab berücksichtigte in seinen Überlegungen die Ostsee mit ihren Zugängen vor allem unter dem Aspekt, ob dort mit einem Einbruch des Gegners zu rechnen sei und ob sich die Ostseezugänge für die Nordseekriegführung nutzen ließen.11 Die Verkennung der Geographie in ihren Auswirkungen für die britische Seekriegführung führte auf deutscher Seite zu einer Fehleinschätzung der britischen Seestrategie. Großbritannien lag nämlich nicht daran, die gegnerische Flotte um jeden Preis auszuschalten, sondern nur dann, wenn diese die britischen Inseln selbst sowie die Seeverbindungswege im Atlantik ernsthaft bedrohte. Jene Seewege blieben jedoch - von wenigen Kreuzern und später U-Booten abgesehen - außerhalb des Wirkungsbereiches deutscher Seestreitkräfte. Zur Aufrechterhaltung einer engen Blockade wäre zwar für die Royal Navy die baldige Vernichtung der deutschen Flotte von Vorteil gewesen, doch die britische Admiralität wusste sehr wohl, dass eine derartige strategische Offensive hohe Verluste einschließen musste. Vor allem die wachsende Bedrohung, die von deutschen Torpedobooten, U-Booten und Minen ausging, ließ der Admiralität den Einsatz der Grand Fleet in der südlichen Nordsee ab 1911/12 als zu riskant erscheinen. Es kam daher zu einer Umstellung der Operationsplanung, die nunmehr verstärkt die günstige Lage der britischen Inseln ausnutzte und zu der weitgehend risikolosen Fernblockade überging, um die deutschen Seeverbindungen bereits in großer Entfernungen zu unterbrechen, und zwar im Westen im Ärmelkanal und im Norden in der Enge zwischen Schottland und Norwegen.12 Diese Planung war mit einer neuen Kriegsdislozierung der Grand Fleet in Scapa Flow verbunden. Als der deutsche Admiralstab 1912 die Neuorientierung des potentiellen Gegners erkannte, ließ er in einem Kriegsspiel untersuchen, ob und wie die Hochseeflotte gegen eine Fernblockade vorgehen könne. Das Ergebnis war ernüchternd: Eine Seeschlacht unter für Deutschland günstigen Bedingungen ließ sich nicht mehr erzwingen. Der langjährige Leiter des Marine-Archivs, Vizeadmiral a.D. Dr. h.c. Eberhard v. Mantey, kam im Herbst 1932 nach Durchsicht der Akten zu dem Ergebnis, dass weder Tirpitz noch irgend ein anderer führender Flaggoffizier damals oder später im Weltkrieg einen überzeugenden Ansatz entwickelt habe, „wie denn eine Schlacht unter für uns günstigen Umständen zustande kommen sollte. Eine Schlacht ohne Rücksicht auf die Umstände [...] konnten wir natürlich immer haben.“ Für Mantey blieb im Rückblick unverständlich, warum Tirpitz nicht ab 1912 eine Umstellung des Flottenbaus zu Gunsten von Kreuzern und Blockadebrechern vorgenommen habe. Damit deutete er eine seestrategische Option an, die Tirpitz offensichtlich in Überschätzung der Machtposition des Reiches und in fahrlässiger Unterschätzung der strategischen Möglichkeiten des Gegners nicht sah bzw. nicht sehen wollte, wie Mantey resignierend feststellte: „Wir hatten uns im Schlachtflottenbau gewissermaßen zu sehr festgelegt, und aus den Akten geht hervor, dass wir durch jahrelange etwas einseitige Arbeit in 41 unseren Gedanken verrannt waren.“ Dies sei „ein menschlicher Irrtum von Tirpitz“ gewesen, der die gesamte Marine beeinflusst habe. „Tirpitz selbst aber hat [...] bis ans Lebensende dies nicht empfunden, oder wollte es nicht empfinden.“13 - Es liegen daher auch keine Anzeichen vor, dass die Marineführung in den letzten beiden Jahren vor Kriegsausbruch eine Neuverteilung und Verstärkung der in Übersee dislozierten Kreuzer und Panzerkreuzer durch modernere Einheiten anstrebte, um die britischen Seeverbindungen effektiver, als dann ab August 1914 geschehen, angreifen zu können. Bei Kriegsausbruch 1914 stand die Führung der Kaiserlichen Marine ganz unter dem Eindruck der großen materiellen Überlegenheit des Gegners: Allein in der Nordsee verfügte die Royal Navy über 24 einsatzbereite Großkampfschiffe (Schlachtschiffe und Schlachtkreuzer), denen auf deutscher Seite zunächst nur 16 vergleichbar moderne Einheiten gegenüberstanden. Bei älteren Linienschiffen sowie bei Kreuzern und Torpedobooten war die britische Überlegenheit noch gravierender. Lediglich bei hochseefähigen U-Booten war die Kaiserliche Marine mit 28 Booten der Royal Navy überlegen, die nur über 18 vergleichbare Einheiten und weitere 40 kleinere Küsten-U-Boote verfügte. Bei den Großkampfschiffen wurde das Kräfteverhältnis nach wenigen Monaten für die deutsche Seite noch ungünstiger, als die im Mittelmeer bzw. in Übersee stationierten vier britischen Schlachtkreuzer in die Heimatgewässer verlegten, ein Schlachtkreuzer seine Grundreparatur beendet hatte und die Royal Navy sieben weitere Großkampfschiffe in Dienst stellen konnte. Darunter drei für die Türkei und Chile gebaute Großkampfschiffe, die bei Kriegsausbruch sofort für die Royal Navy beschlagnahmt und bald darauf in Dienst gestellt wurden. Demgegenüber erhielt die Hochseeflotte bis Anfang 1915 lediglich einen Zuwachs von fünf neuen Großkampfschiffen. Ein für Griechenland auf einer Hamburger Werft in Bau befindliches Großkampfschiff (Stapellauf im November 1914) fand dagegen nicht das Interesse des Reichsmarineamtes.14 Angesichts dieser Lage setzte die deutsche Marineführung zunächst ihre Hoffnung auf einen Kräfteausgleich, der durch offensive Vorstöße gegen die Blockadestreitkräfte in der Deutschen Bucht „sowie durch eine bis an die britische Küste getragene rücksichtslose Minen- und U-Boots- Offensive“ erzielt werden sollte. Danach war der Einsatz der Flotte in einer Schlacht „unter günstigen Umständen“ vorgesehen, wobei man noch immer davon ausging, dass auch der Gegner die Konfrontation in der südlichen Nordsee suchen würde.15 Der wichtigste Träger des angestrebten Kleinkrieges zur See sollte die Mine sein. Damit rückte plötzlich ein Seekriegsmittel in den Vordergrund, auf dessen Einsatz sich die Führung bislang weder gedanklich noch materiell angemessen vorbereitet hatte.16 Das Lagebild über die Dislozierung des Gegners war unzureichend, das verfügbare Minenmaterial und die Minenlegekapazitäten reichten für eine weitreichende Offensive bei weitem nicht aus, so dass bei nüchterner Betrachtung von der Minenkriegführung kein Kräfteausgleich zu erwarten war. II. Die ersten Erfahrungen Bereits wenige Tage nach Kriegsausbruch ließ der Flottenchef, Admiral Friedrich v. Ingenohl, zehn U-Boote in einem breiten Aufklärungsstreifen in der Nordsee bis zur Höhe der Orkney Inseln (etwa 59° Nord) vorstoßen, um den Aufenthaltsort der Grand 42 Lapidarer Defätismus. Die Autobiographie des Mariners Hans Bötticher von Frank Möbus I. Die Amseln in der Arcisstraße München, Juli 1914: „Erregte stundenlange Debatten über die Möglichkeiten und Aussichten eines Krieges. Maassen, der einen schneidigen Husarenoffizier zum Bruder hatte, war der festen Überzeugung, daß wir im Falle eines Krieges unseren Gegner mächtig verdreschen würden. […] Als schärfster Gegner dieser Ansicht trat der besonnene Dolch auf, der Sozialdemokrat und gegen den Krieg war. Zwischen ihm und Maassen kam es zu hitzigen Wortgefechten. Ich stand mit Kopf und Herz ganz auf Dolchs Seite.“1 Der Schriftsteller, Büchersammler, Bohemien Carl Georg von Maassen (1880-1940) und der Kunsthändler und –kritiker Oskar Dolch (?-1914), der nur Monate später an der Front fiel, gehörten in München zum engsten Freundeskreis des bislang nur regional bekannten Dichters Hans Bötticher, der diese an manchen Stellen beinahe tagebuchhaften Sätze gegen Ende seiner autobiographischen Schrift „Mein Leben bis zum Kriege“ niederschrieb. Sie stammt aus dem Jahre 1931, als Hans Bötticher sich schon längst den Künstlernamen Joachim Ringelnatz zugelegt hatte, den er seit 1919 trug. Nur wenige Absätze später wird das Buch mit folgenden, symbolträchtigen Zeilen enden: „Die Amseln pickten vor meinem Fenster in dem Futter, das ich ihnen gestreut hatte. Sie kamen von dem nahen Friedhof herüber, wo sie in den schönen Bäumen nisteten und flirteten. […] Aber die Amseln nahmen nicht alles von dem Futter. Käserinden lehnten sie ab. Sie waren wählerisch und verwöhnt. Es war Juli. Juli 1914.“2 Einen Monat später wird der Krieg ausgebrochen sein und Hans Bötticher als Mariner an der deutschen Nordseeküste stehen. Besonders die avantgardistischen Lyriker des sogenannten „expressionistischen Jahrzehnts“ (zu denen Bötticher nicht zählte) hatten schon seit Jahren Kriegsvisionen aufgeschrieben. In Jakob von Hoddis Gedicht „Weltende“ aus dem Jahre 1911, das einen der Auftakttexte jener Epoche bildet, war eine fröhliche Apokalypse beschworen worden,3 und Georg Heym hatte bereits 1910 in seinem Tagebuch notiert: „Es ist immer das gleiche, so langweilig, langweilig, langweilig. Es geschieht nichts, nichts, nichts. Wenn doch einmal etwas geschehen wollte, was nicht diesen faden Geschmack von Alltäglichkeit hinterläßt […] sei es auch nur, daß man einen Krieg begänne, er kann ungerecht sein. Dieser Frieden ist so faul ölig und schmierig wie eine Leimpolitur auf alten Möbeln.“4 Gustav Sack schrieb in seinem Roman „Ein verbummelter Student“: „Käme der Krieg! […] Volk gegen Volk, 91 Land gegen Land, ein Stern nichts denn ein tobendes Gewitterfeld, eine Menschendämmerung, ein jauchzendes Vernichten.“5 In den Jahren bis 1914 entstanden buchstäblich Hunderte von Gedichten und Romanen, in denen die Idee von einem bevorstehenden Krieg verherrlicht worden ist; das wilhelminische Kaiserreich mit seinem behaglich-konservativen, satten und duckmäuserischen Bürgertum, dem eine relativ lange Friedenszeit beschieden gewesen war, hielten namentlich viele Künstler und Dichter für einen geistigen Friedhof. Ein Krieg erschien ihnen als die einzige Chance auf die Erneuerung einer Gesellschaft, die in Langeweile erstarrt war, als ein „möglicher Motor der Moderne, einer Moderne, die eine Ablösung von der als statisch empfundenen Grundstimmung jener Jahre verhieß“, wie Uwe Schneider und Andreas Schumann in ihrer Einführung zum Band „‚Krieg der Geister’“. Erster Weltkrieg und literarische Moderne“ schreiben.6 Eben diese Geisteshaltung wird mit unaufdringlicher Sprache am Ende von „Mein Leben bis zum Kriege“ charakterisiert, wenn von den verwöhnten Amseln des Juli 1914 die Rede ist, die auf dem Friedhof wohnen. Diese Sätze der Autobiographie lassen sich ohne Widerstand zu leisten symbolisch verstehen. Anders steht es mit ihrem Faktenwert: Es erscheint nur wenig glaubwürdig, dass der Erzähler mitten im Juli Vogelfutter ausgestreut haben will und den Wohnort der Amseln zu benennen weiß. Solch literarische Verfahren sind ein Kennzeichen fiktionaler Schreibweisen und haben in faktischen Texten eigentlich nichts zu suchen. Der historischen Realität verpflichtet ist, strenggenommen, auch die Autobiographie, in der ein Mensch (angeblich jedenfalls) getreulich dasjenige berichtet, was er erlebt und gesehen hat.7 So mag der aufmerksame Leser die Schlusssätze der autobiographischen Schrift „Mein Leben bis zum Kriege“ (freilich ohne jedes Übelnehmen) mit dem Prädikat „erfunden“ kennzeichnen wollen, als Schilderung einer fiktionalen Beobachtung, die geeignet ist, die Zeit zu charakterisieren. Freilich zeigt ein Blick auf den Münchner Stadtplan, dass Hans Böttichers damalige Wohnung in der Arcisstraße in direkter Nachbarschaft zum Alten Nördlichen Friedhof lag. Aus zahlreichen Quellen wissen wir, dass er zeitlebens Wert darauf legte, Tiere um sich zu haben: Hunde, Katzen, Vögel, Schlangen, Lurche. So lässt es sich zumindest nicht ausschließen, dass im Juli 1914 tatsächlich das passierte, was der Dichter uns berichtet; etwas, was er in der Natur beobachtet hat, wird als Gleichnis der Zeitläufte berichtet. Das wäre sehr typisch für ihn, denn Joachim Ringelnatz hatte einen ausgeprägten realistischen Tic: Wann immer man Gelegenheit findet, Angaben seiner autobiographischen Schriften mit der historischen Wirklichkeit zu vergleichen, stellt man (gelegentlich mit einiger Überraschung) sehr weitgehende Übereinstimmung fest. Das gilt auch und besonders für das unter dem Pseudonym Gustav Hester publizierte Werk „Als Mariner im Krieg“, jenem von ihm selbst vielfach als „Kriegstagebuch“ bezeichneten Bericht über die Jahre 1914 bis 1918,8 der als eines der eindrücklichsten literarischen Zeugnisse dieser Zeit überhaupt gelten kann. II. Gebrüder Petersen Der Autobiographie „Als Mariner im Krieg“ liegen die während der Kriegsjahre niedergeschriebenen, mittlerweile verlorenen Tagebücher Hans Böttichers zugrunde, und 92 die daraus resultierende Autobiographie enthält nicht nur Berichte über „kriegsrelevante“ Ereignisse, sondern schildert mit nachgerade protokollarischer Treue die Gesamtheit alltäglicher, scheinbar oft banaler Ereignisse der Jahre 1914 bis 1918. Der dokumentarische Charakter des Buches offenbart sich, wenn man beispielsweise die schriftlichen Aufzeichnungen mit Photographien vergleichen kann. Die entsprechenden Notizen in „Als Mariner im Krieg“ lauten: „Der Furier Petersen sah aus wie ich […]. Wir wurden immer verwechselt, oder wir wurden Brüder genannt, und wir redeten einander mit Bruder an. Weil unsere Freundschaft von Tag zu Tag inniger wurde, kultivierten wir diese Ähnlichkeit noch, indem wir gleichzeitig […] unsere Bärte in gleicher Art zustutzen ließen.“9 Wenige Seiten später heißt es: „Mein Bruder Petersen gab mir bis zum Bahnhof das Geleite. Wir hatten uns noch in theatralischer Stellung vor der großen Strandkanone photographieren lassen.“10 Der Hinweis auf das Entstehen dieses Photos ist für die kontextuell geschilderten Ereignisse bzw. für den Leser in keiner Hinsicht wichtig; er ist nicht mehr – und nicht weniger – als ein kleiner Baustein für die Rekonstruktion eines Tagesablaufes. Aber die Tatsache, dass dieses vor der großen Strandkanone aufgenommene Bild wirklich existiert und tatsächlich zwei einander brüderlich ähnliche Menschen mit identischer Barttracht zeigt, wirft ein bezeichnendes Bild auf den faktischen Gehalt dieser Autobiographie. III. „Komm, wir wollen sterben gehen“ „Als Mariner im Krieg“ beginnt mit den Worten: „Ich weinte, während ich mein Testament schrieb.“11 Hans Bötticher war zur Marine einberufen worden, und das – hier ironisierte – Anfertigen eines Letzten Willens war angesichts dieser Situation für einen Soldaten, der sich an seinen heroischen Vorstellungen besoff, nichts Ungewöhnliches: „Denn nun war wirklich der Krieg erklärt. Ich dachte an Kriegsromantik und Heldentod, und meine Brust war bis an den Rand mit Begeisterung und Abenteuerlust gefüllt.“12 Seine von sozialdemokratischen Positionen genährte, antikriegerische Haltung hatte sich seit Juli 1914 verflüchtigt; Hans Bötticher schwamm auf eben jener Woge der Kriegsbegeisterung, die das ganze Kaiserreich überschwemmte. Als am 1. August 1914 das Ultimatum verstrich, das Russland vom deutschen Kaiser gestellt worden war, hatte sich vor dem Berliner Schloss eine Menge von vielen Tausend Menschen versammelt, um dort abzuwarten, ob es nun zum Kriege kommen würde. Um Punkt 17 Uhr erschien ein Offizier am Schlosstor und verkündete die deutsche Mobilmachung gegen Russland. Die Menschenmasse begann spontan, einen Choral anzustimmen: „Nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen, | der große Dinge tut an uns und allen Enden.“ Wilhelm II. hatte in seiner berühmt-berüchtigten Berliner Balkonrede vom 1. August 1914 die Losung ausgegeben: „Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder.“ Alle sind ihm gefolgt: Christen und Juden, Deutsch-Nationale und Sozialdemokraten, sogar Kommunisten. Deutschland geriet in einen nationalen Taumel, und auch Menschen wie der Dramatiker Gerhart Hauptmann ergaben sich bedingungslos der Opferrhetorik des Kaisers, der bedingungslosen Einsatz für Volk und Vaterland forderte: 94 „Komm, wir wollen sterben gehen“, dichtete der einstmals so sozial und autoritätskritisch engagierte Schriftsteller.13 Im „Soldatenabschied“ von Heinrich Lersch heißt es: Nun lebt wohl, ihr Menschen, lebet wohl! Und wenn wir für euch und unsre Zukunft fallen, Soll als letzter Gruß zu euch hinüberhallen: Nun lebt wohl, ihr Menschen, lebet wohl! Ein freier Deutscher kennt kein kaltes Müssen: Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!14 Selbst der junge Bertolt Brecht schwor darauf, dass nun „Großes“ gegeben werden müsse, „um Großes zu erlangen“: Deutsche Ehre und Würde sei „aller Opfer wert“.15 Thomas Mann, Rainer Maria Rilke und Gustav Sack, Otto Dix, George Grosz und Franz Marc, auch der schwermütige Prager Vegetarier Franz Kafka schwenkten ein auf die kaiserliche Linie. Richard Dehmel schrieb sein „Lied an Alle“: Gläubig greifen wir zur Wehre Für den Geist in unserm Blut; Volk, tritt ein für deine Ehre, Mensch, dein Glück heißt Opfermut – Dann kommt der Sieg, Der herrliche Sieg!16 Wohl kein anderes Ereignis der deutschen Geschichte hat eine vergleichbare Lyrikflut hervorgebracht, wie der Ausbruch des Ersten Weltkriegs das tat. Julius Bab, der „Die deutsche Kriegslyrik 1914-1918“ zu sammeln versucht hat, schätzte aufgrund einer seriösen Erhebung, dass allein im August 1914 von Verfassern aller gesellschaftlichen Schichten circa eineinhalb Millionen(!) Gelegenheitsgedichte auf den Kriegsausbruch verfasst wurden, die mit der Bitte um Veröffentlichung an Verlage und Zeitungsredaktionen geschickt worden seien; immerhin ungefähr 100 .000 davon wurden tatsächlich gedruckt.17 Selbst dann, wenn man – wozu wenig Anlass besteht – diese Zahl für zehnfach übertrieben halten würde, müsste man erschauern. „Dank dem Schicksal, Volk in Waffen, | Deutschland gegen alle Welt!“18 – das war die Parole der fast einzigartigen Hysterie einer Masse, die sich enthusiastisch in einen Blutrausch hineinsteigerte, der fast ebenso beispiellos wie ihre Verblendung war. Auch Hans Bötticher hat dabei mitgetan. Als er zunächst ohne Wenn und Aber einstimmte in den allgemeinen Hurrapatriotismus und die „Jubelhymnen“ auf Kaiser und Vaterland,19 schrieb er zum Beispiel sein Gedicht „Deutsche Matrosen“, das mit dem Verfassernamen „Bootsmann Bötticher“ in der „Jugend“ gedruckt wurde. Darin heißt es u.a.: Und wenn ihr [der Matrosen] Sieg oder Sterben nah, Sie, die im Frieden so wortverlegen, Sie brausen laut im Granatenregen Der Flagge, dem Kaiser ein dreifach Hurrah. 95 Leben und Werk des Joachim Ringelnatz von Friederike Schmidt-Möbus 1883 1886/1887 1892 1901 1902 1903 1904 Joachim Ringelnatz wird am 7. August als Hans Gustav Bötticher in Wurzen bei Leipzig als jüngstes von drei Geschwistern geboren. Sein Vater Georg Bötticher entstammt einer angesehenen thüringischen Gelehrtenfamilie und führt als Musterzeichner ein erfolgreiches Atelier; außerdem verfasst er als Unterhaltungsschriftsteller humorige Texte besonders für Kinder und Jugendliche. Die Mutter Rosa Marie, geb. Engelhart, Tochter eines Sägewerksbesitzers, zeichnet, entwirft Muster für Perlstickereien und stellt Puppenbekleidung her. Umzug der Familie nach Leipzig. Der Vater gehört zur Leipziger Künstler- und Gelehrtenszene und widmet sich ab 1900 ganz der Schriftstellerei. Ab 1901 gibt er „Auerbach’s Deutschen Kinderkalender“ heraus. Hans Bötticher, der seit frühester Jugend dichtet und zeichnet, verfasst für seinen Vater „Landpartie der Tiere“, den ersten unter seinem Namen publizierten Text. Abschluss der wenig erfolgreichen Schulzeit – auf dem Abgangszeugnis notiert sein Lehrer, Hans Bötticher sei „ein Schulrüpel ersten Ranges“ gewesen. Sein Berufswunsch ist es, zur See zu fahren. Von April bis September des Jahres arbeitet er als Schiffsjunge auf der Dreimastbark „Elli“, doch die ersten Erfahrungen mit der Seefahrt sind ernüchternd. Ende des Jahres verdingt er sich in „Malferteiners Schlangenbude“ auf dem Hamburger „Dom“ – das ist nur einer von ca. 35 Nebenberufen, die er nach seiner Seemannszeit ausübte. Sein „Ostermärchen“ mit Illustrationen von P. Krieger und zwei Geschichten „Vom Alten Fritz“ erscheinen in „Auerbach’s Deutschem Kinderkalender“. Als Leichtmatrose auf mehreren Schiffen unterwegs auf den Weltmeeren; längerer Aufenthalt in Hull (GB). Kaufmännische Lehre bei einer Speditionsfirma in Hamburg, bevor er wieder zur See fährt. Schließlich darf er dann den Beruf des Matrosen nicht weiter ausüben, da ihm die nötige Seeschärfe fehlt. Er absolviert aber noch die Qualifikationsfahrt für den Militärdienst bei der Marine. Einjährig-Freiwilliger bei der Kaiserlichen Marine in Kiel. Ausbildung auf dem Kreuzer „Nymphe“ und dem Artillerie-Schulschiff „Carola“; Beförderung zum Bootsmaat. 119 1905 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 120 Fortsetzung der kaufmännischen Lehre bei der Dachpappenfirma Ruberoid G.m.b.H. in Hamburg. In dieser Zeit entstehen seine ersten bekannten Ölbilder: „Kriegsschiff“ und „Dachpanorama“. Das Gedicht „Untergang der Jeanette“ mit Illustrationen von Fritz Koch erscheint in „Auerbach’s Deutschem Kinderkalender“. Commis (Handlungsgehilfe) in Leipzig. Commis in Frankfurt am Main. Er reist erneut nach Hull, nachdem er als fahrender Sänger und Gelegenheitsarbeiter das Geld dafür verdient hat. Kehrt enttäuscht zurück, scheitert dann als Buchhalter im Reisebüro Bierschenk in München. Publiziert Gedichte, Witze, Anekdoten sowie das Märchen „Der ehrliche Seemann“ in der satirischen Wochenschrift „Grobian“. Erste Auftritte bei Kathi Kobus in der Schwabinger Künstlerkneipe „Simplicissimus“ („Simpl“) und Ernennung zu dessen „Hausdichter“. Er gehört zum Freundeskreis um u.a. Carl Georg von Maassen, Erich Mühsam, Frank Wedekind. Er betreibt das Tabakhaus „Zum Hausdichter“, doch die Hoffnung, dieses als Treffpunkt der „gebildeten Raucherwelt“ Münchens zu etablieren und damit gleichzeitig seinen Lebensunterhalt zu sichern, geht nicht in Erfüllung: Alsbald kommt es zur Pleite und Schließung des Ladens. Veröffentlichung des autobiographischen Essays „Viellieber Freund“ und verschiedener Gedichte in der satirischen Zeitschrift „Simplicissimus“; er verwendet u.a. die Pseudonyme Pinko Meyer und Fritz Dörry. „Kleine Wesen“ mit Illustrationen von Fritz Petersen (München: J. F. Schreiber), „Was Topf und Pfann’ erzählen kann“ mit Texten von Ferdinand Kahn und Bildern von Franziska Schenkel (Fürth in Bayern: G. Löwensohn), sowie der Band „Gedichte“ (München, Leipzig: Hans Sachs-Verlag), den er seinem Vater widmet, erscheinen. Die Novelle „Die wilde Miß vom Ohio“ wird in der Zeitschrift „Die Jugend“ veröffentlicht. Reisen nach Tirol und nach Riga. Er verbringt den Sommer auf dem kurländischen Gut Halswigshof, das den Schwiegereltern seines Freundes Thilo von Seebach gehört. Auf einer Ausstellung im lettischen Friedrichstadt an der Düna verkauft er zwei Landschaftsbilder in Öl. Den Winter verbringt er unter härtesten Bedingungen in einem Strandhaus bei Riga. „Was ein Schiffsjungen-Tagebuch erzählt“ (München: Die Lese) erscheint. Von Februar bis Dezember als Bibliothekar beim Grafen Yorck von Wartenburg auf dem Schloss Klein-Oels, wo er vor allem den Nachlass Wilhelm Diltheys († 1911) ordnet. Die Gedichtsammlung „Die Schnupftabaksdose“ mit Illustrationen von J. M. Seewald (München: R. Piper) erscheint. Von Januar bis März Bibliothekar beim Kammerherrn Börries Freiherr von Münchhausen, anschließend Fremdenführer auf Burg Lau- Die Autoren Frank Möbus, Priv.-Doz. Dr. phil. habil., geboren 1958, studierte vor seiner Promotion über Franz Kafka an der Universität Göttingen (1993) Germanistik, Publizistik- und Kommunikationswissenschaften, Soziologie und politische Wissenschaften. Im Jahre 1999 wurde er mit einer Arbeit zur Geschichte der Faust-Thematik mit der Venia legendi für Deutsche Philologie habilitiert; er lehrt neuere deutsche Literatur an der Universität Göttingen. Er hat zahlreiche Bücher und Aufsätze zur Literatur, Kultur- und Geistesgeschichte des 16. bis 20. Jahrhunderts vorgelegt. Frank Möbus zählt zu den Gründungs- und Vorstandsmitgliedern der Joachim-Ringelnatz-Stiftung, die das Cuxhavener Ringelnatz-Museum betreibt. Außerdem ist er Vorsitzender der Jury für die Verleihung des Cuxhavener Joachim-Ringelnatz-Preises für Lyrik. Werner Rahn, Dr. phil., Kapitän zur See a.D., hat nach verschiedenen Bord- und Landverwendungen Geschichte an der Universität Hamburg studiert und sich dort mit einer Arbeit über die „Reichsmarine und Landesverteidigung 1919-1928“ am Lehrstuhl von Prof. Dr. Moltmann im Jahre 1974 promoviert. Anschließend wurde Rahn Lehrstabsoffizier für Wehrgeschichte an der Marineschule Mürwik und Dozent für Militärgeschichte an der Führungsakademie. Von 1980 bis 1997 war er am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr in Freiburg/Breisgau und übernahm die Leitung dieses Amtes, mittlerweile nach Potsdam umgezogen, von 1995-1997. Rahn hat zahlreiche Aufsätze zur Militär- und Marinegeschichte verfasst. Besonders hervorzuheben ist seine Mitarbeit am Band 6 des Reihenwerkes „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ und seine Mitherausgeberschaft der Faksimileedition des Kriegstagebuches der Seekriegsleitung 1939-1945 in 68 Bänden (erschienen Herford/ Bonn 1988-1997). Friederike Schmidt-Möbus, Dr. phil., geboren 1957, studierte Kunstgeschichte, Germanistik, Publizistik- und Kommunikationswissenschaften und Soziologie an der Universität Göttingen. Als freiberufliche Ausstellungsmacherin hat sie in Zusammenarbeit mit verschiedenen Museen, Universitäten, Theatern und Stiftungen zahlreiche Projekte zur Kunst- und Kulturgeschichte von der Renaissance bis zur Gegenwartskunst realisiert, u.a. in Cuxhaven, Göttingen, Hamburg und Hannover. Ihr Publikationsspektrum umfasst kunst- und kulturwissenschaftliche Studien vor allem vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Als Gründungs- und Vorstandsmitglied der Joachim-RingelnatzStiftung ist sie Kuratorin des Cuxhavener Joachim-Ringelnatz-Museums. Frank Woesthoff, Dr. phil., M.A., geboren 1959, Literaturwissenschaftler, Dramaturg und Publizist. Hat unter anderem zur Literatur, Wissenschaft und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts publiziert. Darüberhinaus hat er verschiedene TV- und Hörfunkfeatures verfasst und an Theaterinszenierungen mitgewirkt. Er ist seit 2001 Pressesprecher des niedersächsischen Justizministeriums. 125