Republikanische Träume von der Macht

Transcrição

Republikanische Träume von der Macht
I.
Einleitung
In seinem 1651 erschienen Leviathan mahnt Thomas Hobbes, dass man nicht
nur die Taten, sondern auch die Worte der Untertanen an den politischen Willen
des Souveräns binden solle. Hobbes schrieb unter den Eindrücken des englischen Bürgerkrieges, der darauf folgenden Hinrichtung Charles I. und der Abschaffung der Monarchie in England. Auf die Sagengestalt des Ogmios anspielend, von dem es heißt, dass die Ohren seiner Zuhörer wie mit Ketten an seinen
Mund gebunden waren, fordert Hobbes, dass die Gesetze wie unsichtbare Ketten
die Ohren und Lippen der Untertanen fesseln sollen (Leviathan, Kap. 21).1
Hobbes wusste wovon er sprach. Die politische Sprache und die Macht der
Wörter hatten an der Radikalisierung der Auseinandersetzung zwischen Krone
und Parlament in England einen gewichtigen Anteil, eine Auseinandersetzung
die (man möchte meinen) als gewöhnlicher Interessenskonflikt zwischen dem
König und seinen Ständen begonnen hatte und schließlich in eine Revolution
mündete. Welche Rolle spielte die Utopie in diesem Verhältnis zwischen der
politischen Sprache und der Radikalisierung der politischen Wahrnehmungsmuster und Handlungsweisen? War sie dabei behilflich, die von Hobbes geforderten Ketten (als Sinnbild für die herrschaftliche Zügelung politischer Kommunikation) zu lockern, gar zu sprengen oder vielleicht doch eher zu festigen?
Ist die Utopie ein kommunikationsgeschichtlich relevanter Gegenstand? Für
diese Fragen möchte das vorliegende Buch Antworten liefern.
Die Weltkriege, der Totalitarismus, das nukleare Zeitalter und die stets
wachsenden Möglichkeiten des Menschen, in die Natur transformativ einzugreifen, haben im 20. und 21. Jahrhundert nicht bloß die Konjunktur dystopischer Projektionen befeuert, sie sind auch als Erklärungsgrund für die Ver1 Hobbes kannte diese legendäre Figur unter Umständen aus der Rhetorik des Thomas Wilson
von 1564, wo das Sinnbild beschrieben wird (s. Wilson 1564, S. A3v-A4r). Wilsons The Arte of
Rhetorick wurde im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert in England, als Hobbes seine
Grundausbildung genoß, stark rezipiert. Lukian und – durch ihn beeinflusst – die frühneuzeitlichen Kenner dieses Sinnbilds setzten die keltische Sagengestalt des Ogmios mit Herkules
gleich.
10
Einleitung
nachlässigung der Utopie in der Wissenschaft heranzuziehen. Merkmale der
Utopie als Fiktion eines imaginären Gemeinwesens sind unter anderem ein
umfassender Anspruch, das Leben, die Tätigkeiten und das Denken der Menschen zu regulieren ebenso wie die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Ordnung festzulegen. Karl Popper rechnet die Utopie bekanntlich zu den
feindseligen Kräften, die die offene Gesellschaft bedrohen. Ralph Dahrendorf
sucht in einem Essay aus dem Jahre 1967 nach »Pfaden aus Utopia«.2 Die Erfahrung des historisch realen Sozialismus hat die Skepsis gegenüber den Befreiungsversprechen politischer Utopien anwachsen lassen. Interessanterweise
fällt das Urteil über die Utopie im marxistischen Denken nicht viel positiver aus.
Der Begriff Utopie bezeichnet bei Friedrich Engels (in Die Entwicklung des
Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft) einen bloß träumenden, realitätsflüchtigen, unwissenschaftlichen und daher die bestehenden Verhältnisse
reproduzierenden Habitus.3
Die Utopie wurde in den letzten Jahrzehnten in der deutschen Geschichtswissenschaft, aber auch in der geschichtswissenschaftlichen Forschung anderer
Länder vernachlässigt.4 Dies gilt besonders für die Frühneuzeitforschung. Die
Erforschung utopischer Texte, die in England in der Zeitspanne vom Ausbruch
des Bürgerkriegs bis zur Restauration entstehen, ist derzeit feste Ägide literaturwissenschaftlicher und mit literaturwissenschaftlichen Methoden verfahrender Forschung.5 Der Totalitarismusverdacht, der nach der Erfahrung des
Nationalsozialismus und später im Kulturkampf des Kalten Krieges gegenüber
2 Dahrendorf bezieht sich auch auf Marx’ »klassenlose Gesellschaft« als Utopie und am Beispiel
Lenins auf die Gefahr einer Realisierung von marxistischen Utopien (Dahrendorf 1974,
S. 247). Zum Totalitarismusverdacht gegen die Utopie als Hemmfaktor für ihre wissenschaftliche Würdigung in der Philosophie und in den Sozialwissenschaften Saage 1990, S. 1 f.
3 »Es handelte sich [bei den Utopien der Frühsozialisten wie Saint-Simon und Owen, S.S.]
darum, ein neues, vollkommneres System der gesellschaftlichen Ordnung zu erfinden und
dies der Gesellschaft von außen her, durch Propaganda, womöglich durch das Beispiel von
Musterexperimenten aufzuoktroyieren. Diese neuen sozialen Systeme waren von vornherein
zur Utopie verdammt; je weiter sie in ihren Einzelnheiten ausgearbeitet wurden, desto mehr
mußten sie in reine Phantasterei verlaufen. Dies einmal festgestellt, halten wir uns bei dieser,
jetzt ganz der Vergangenheit angehörigen Seite keinen Augenblick länger auf. Wir können es
literarischen Kleinkrämern überlassen, an diesen, heute nur noch erheiternden Phantastereien feierlich herumzuklauben« (Engels 1973, S. 194, Hervorh. S.S.).
4 Ausnahmen hiervon bilden aus althistorischer Sicht: Bichler 1995 und ders. 2008 sowie jüngst
Winiarczyk 2011; aus mediävistischer Sicht: Seibt 1969 und ders. 1980 und aus frühneuzeitlicher Sicht: Nipperdey 1975 und jüngst Bernet 2007 und Prodi 2013. Zu erwähnen ist auch
die unveröffentlichte Dissertationsschrift von Eberhard Jäckel (1955), die sich mit Morus
befasst. Zur Utopiediskussion in der Geschichtswissenschaft Seibt 1985. Aufgabe der Geschichtswissenschaft in der Utopieforschung sei laut Bernet, den Realitätscharakter utopischer Imaginationen und deren Auswirkungen auf gesellschaftliche Praxen zu untersuchen
(2007, S. 6).
5 Bedeutende Studien sind: Davis 1981, Saage 1990, Boesky 1996, Appelbaum 2002.
Einleitung
11
der Utopie ausgesprochen wurde, mag auch ursächlich gewesen sein für die
Vernachlässigung der Utopie.6 Dass die utopischen Schriften republikanischer
Autoren, die im Interregnum und nach der Restauration entstehen, selbst bei der
Cambridge School kein sonderliches Interesse geweckt haben, ist hingegen mit
der in Kürze zu behandelnden Inkommensurabilitätsannahme hinsichtlich des
Verhältnisses zwischen Republikanismus und Utopie zu erklären.7
Die politische Geschichte Englands ermangelt im 17. Jahrhundert nicht an
Phänomenen der politischen Radikalisierung, der Fanatisierung und der »totalen« Hingabe an eine politische oder religiöse Sache. Michael Walzer galten die
Englische Revolution und vor allem der sich in ihr entladende puritanische
Aktionseifer daher als Geburtsstunde des »modernen« politischen Radikalismus und Aktionismus.8 Die Warnungen vor der Utopie und vor ihrem Totalitarisierungspotential erscheinen, wenn man sie auf die Englische Revolution
bezieht, trotz des Anachronismus, der mit der Projektion der Kategorie »Totalitarismus« auf die Frühe Neuzeit verbundenen ist, auf interessante Weise aktuell. Wir werden sehen, dass politische Akteure und politische Beobachter (aus
verschiedenen Lagern) im 17. Jahrhundert der Utopie mit einem ähnlichen
Vorbehalt gegenübertreten, wie es die liberalen Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts tun, die soeben zur Sprache kamen. Die utopieskeptischen Stimmen
der Gegenwart ähneln denjenigen der Zeitgenossen und Kommentatoren der
Englischen Revolution.
Die Utopie erlebt in den Jahrzehnten zwischen dem Ausbruch des Englischen
Bürgerkriegs im August 1642, der in der Absetzung und Hinrichtung des Stuartkönigs Charles I. am 30. Januar 1649 gipfelte, und der Restauration der Stuartherrschaft unter seinem Sohn Charles II. im Mai 1660 in mehrfacher Hinsicht
eine Blütezeit. Es entstehen zahlreiche utopische Traktate, die in der Tradition
von Thomas Morus unbekannte Inseln und Welten, deren Sitten, religiöse
Überzeugungen und Gesellschaftsstrukturen, aber auch stark idealisierte politische Ordnungen beschreiben.9 Diese Prosperität utopischen Schreibens, der
6 Zum Totalitarismusverdacht gegenüber der Utopie aus geschichtswissenschaftlicher Sicht
Fest 1991. »Doch seitdem der moderne Staat seinen totalen Gipfelpunkt erreicht hat, nicht
zuletzt auch durch Versuche, politische Utopien zu verwirklichen, ist utopisches Denken nicht
mehr glaubwürdig« (Reinhard 2000, S. 106).
7 Quentin Skinner hat sich mit Morus und seiner Bedeutung für die politische Sprache des
Humanismus beschäftigt (Skinner 1987). Zu John Pococks Vernachlässigung des utopischen
Charakters von Harringtons The Commonwealth of Oceana siehe S. 29 ff. Es ist der Verdienst
von Eric Nelson (2004), in kritischer Auseinandersetzung mit Skinner und Pocock die Bedeutung der Utopie und der simultanen Rezeption von Morus und Machiavelli für den
frühneuzeitlichen Republikanismus herausgestellt zu haben.
8 Walzer 1966.
9 Studien zum reichhaltigen utopischen Textkorpus aus den Bürgerkriegs- und Revolutionsjahren bei Davis 1981, Boesky 1996 und Appelbaum 2002.
12
Einleitung
Produktion von Fiktionen eines als wirklich vorgestellten idealen Gemeinwesens, setzt sich nach der Restauration ungebrochen fort.10 Darüber hinaus wird
der Begriff »Utopie« in England im 17. Jahrhundert als polemischer Kampfbegriff in der politischen Sprache verwendet. Er wird, die Lager übergreifend, in
der politischen Rhetorik eingesetzt. Die begriffsgeschichtliche Forschung hat
auf den zeitlichen Vorsprung hingewiesen, den die englische politische Sprache
im 17. Jahrhundert im Vergleich zum Rest Europas hinsichtlich ihrer Aufnahme
des Begriffs »Utopie« in die politische und Alltagssprache aufweist. Der Begriff
ist in England nicht mehr dem exklusiven Sprachgebrauch der Gelehrten vorbehalten. Dieser zeitliche Vorsprung zeigt sich in der Aufnahme des Begriffs in
die Lexikographie, aber auch in dessen abstrakter Verwendung in der Sprache
politischer Akteure oder politischer Beobachter.11 Die Utopie wird aber auch in –
hinsichtlich ihrer literarischen Form – nicht-utopischen Texten diskutiert
(beispielsweise in Newsbook-Artikeln oder in der Poesie). Zentrale Semantiken,
Topoi und Themen werden aus der Utopie entlehnt. Dem Ort »Utopia« oder
verwandten fiktiven Ortsbezeichnungen begegnet man zudem als Druckort
anonymer Schriften.12 Die Verbindungen der Utopie und der semantischen
Berufungen auf sie zu den beiden konfliktantreibenden Kräften der Zeit, dem
politischen Kampf zwischen Parlament und Krone und andererseits dem protestantischen Anliegen einer Vollendung der religiösen Reformation sind in
diesen Texten von Fall zu Fall unterschiedlich gewichtet und lassen sich oft nicht
gründlich voneinander trennen. Aus diesem ausgesprochen umfangreichen
Quellenkorpus sollen für die nachfolgende Untersuchung vorwiegend Textdokumente herausgegriffen werden, die dem Republikanismus nahe stehen, der
vor allem im Jahrzehnt nach der Hinrichtung Charles’ I. prosperiert, in England
aber auch auf eine längere Vorgeschichte und Tradition zurückblickt, die in
neueren Forschungsarbeiten herausgearbeitet wurde.13 Das zu untersuchende
Quellenmaterial reicht von literarischen Utopien im engeren Sinne (den Fiktionen erfundener Länder und Gemeinwesen) über wissenschaftliche Traktate
und politische Pamphlete bis zu Zeitungsartikeln und den Sprechakten politi-
10 Zu den Utopien nach der Restauration Claeys 2000.
11 Zum semantischen Vorsprung hinsichtlich der Verwendung des Begriffs »Utopie« in England im Vergleich zum Kontinent Hölscher 1990, S. 735 – 737, 754 ff. »In den politischen und
Alltagssprachen ging der Utopiebegriff vor der Mitte des 18. Jahrhunderts einzig im Englischen ein« (ebd., S. 754). Beispiele zur Verwendung des Utopie-Begriffs in der politischen
Rhetorik während des Bürgerkrieges und des Interregnums, aber auch nach der Restauration S. 13, 33 f., 60 f.
12 Anonym 1637, Anonym 1647, Anonym 1659.
13 Zur Vorgeschichte republikanischen Denkens und republikanischer Werte- und Handlungssysteme in England seit dem Tudor-Zeitalter Peltonen 1995; Norbrook 2000; Scott
2004, S. 233 – 251 und Kap. IV.1.
Einleitung
13
scher Akteure und Beobachter, die in Reden, Briefen und Memoiren enthalten
sind.
Das Forschungsinteresse der vorliegenden Untersuchung betrifft das Verhältnis, das republikanische Formen des Denkens, Sprechens und Handelns in
der Politik mit der Utopie von der Zeitspanne vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs bis zum Ende des ersten Restaurationsjahrzehnts (1640 – 1670) eingehen.
Dass die Untersuchung dieses Beziehungsverhältnisses in dieser Zeitspanne
lohnt, ist anhand von Aussagen bei Autoren fassbar, die nach der Restauration
kritisch auf den Republikanismus zurückblicken, der während des Interregnums in England aufblühte. Der Republikanismus und die Utopie werden in
diesen Beispielen (in negativer Hinsicht) geradezu als Synonyme verstanden. So
notiert der Poet Samuel Butler, der während des Interregnums Proteg¦ von
Samuel Luke war, einem Offizier aus dem militärischen Führungsstab Oliver
Cromwells, vermutlich in den 1670er Jahren in seinem Tagebuch:
A Republican is a civil Fanatic, an Utopian Senator ; and as all Fanatics cheat themselves
with Words, mistaking them for Things; so does he with the false Sense of Liberty. He
builds Governments in the Air, and shapes them with his Fancy, as Men do Figures in
the Clouds.14
Butler beschreibt hier das Profil des Republikaners als notorisch von einem
realitätsfernen und fanatischen Utopismus (»civil Fanatic«, »Utopian«) befallen.
Seine Stellungnahme thematisiert aber auch die Bedeutung der Sprache und
Wörter, die die Republikaner mit den Dingen selbst verwechselt hätten (»cheat
themselves with Words, mistaking them for Things«). Einen ähnlich lautenden
Vorwurf hatte vorher bereits Hobbes in seinem Leviathan von 1651 den politisch
und religiös radikalen Gruppierungen gemacht. Laut Hobbes hatten die Republikaner und andere radikalen Kräfte die Sprache und die Wörter nicht als das
aufgefasst, was sie sind, als System der Zeichensetzung, mit dem die Sprechenden die Realität bezeichnen können, sondern als realitätsschaffende und
identitätsstiftende Kategorien missverstanden. Sie hätten das Bezeichnende und
das Bezeichnete durcheinandergebracht. Dies zeigt etwa Hobbes’ vehemente
Kritik am libertas-Kult der Republikaner.15 Durch diese sprachlichen Verir14 Butler 1908, S. 55. Weitere Stellungnahmen aus der Zeit kurz vor und nach der Restauration,
die nahelegen, dass »republikanisch« und »utopisch« eine nahezu synonyme Bedeutung
hatten, S. 33 f., 100 f., 140 ff. Zur Verwendung des Begriffs »Utopie« in Bezug auf die LevellerBewegung und zur Einstufung der Levellers als Utopisten in Newsbook-Artikeln der späten
1640er Jahre s. S. 142f.
15 Für Hobbes, der Freiheit negativ als Abwesenheit gesetzlicher Vorschriften definiert und sie
im gesetzesfreien Raum verortet, ist Freiheit unabhängig von der politischen Regierungsform invariabel: »The Athenians and Romans were free; that is, free Commonwealths: not
that any particular men had the liberty to resist their own representative, but that their
representative had the liberty to resist, or invade, other people. There is written on the turrets
14
Einleitung
rungen seien die politischen Vorstellungen und Einstellungen der englischen
Untertanen völlig in Verwirrung geraten.
Die Zeitgenossen brachten die Utopie mit dem Republikanismus in Verbindung. Es ist deshalb ein Anliegen der vorliegenden Untersuchung, das Bild zu
korrigieren, das Lucian Hölscher in seinem Artikel zur »Utopie« in den Geschichtlichen Grundbegriffen skizziert hat, wonach der Begriff »Utopie« in
England im 17. Jahrhundert zwar bereits als politischer Kampfbegriff verwendet
wurde und damit in seiner Ausprägung anderen europäischen Sprachen vorauseilte, allerdings noch nicht in einer bestimmten politischen Weltsicht verwurzelt war bzw. mit einer konkreten politischen Strömung in Verbindung gebracht wurde. Eine solche dominante Einbettung des Utopiebegriffs in eine
bestimmte politische Ideologie erfolge laut Hölscher erst im 18. Jahrhundert
während der Französischen Revolution und dann vor allem im 19. Jahrhundert,
wo die Utopie zum Synonym des Sozialismus und Kommunismus wurde.16
Meine Fragestellung greift das von J. C. Davis benannte Desiderat auf, die
Utopie innerhalb einer nichtutopischen Tradition politischen Denkens zu verorten bzw. innerhalb eines politischen Denkens, das mit der Utopie nicht deckungsgleich ist (in unserem Fall dem Republikanismus): »A history of utopian
thought which related it to mainstream traditions of non-utopian thought would
be both possible and desirable«.17
Damit verbunden stellt die Untersuchung – bereits im Titel – die Frage nach
dem Stellenwert der Utopie in der politischen Kommunikation und als Bestandteil politischer Sprache. Dieser Frage soll auf verschiedenen Ebenen
nachgegangen werden: So soll erstens der Gebrauch politischer Sprache(n) in
dem mehr oder weniger abgesonderten Kommunikationsraum der Utopie untersucht werden; in der Utopie als Textgenre sowie im weiteren Sinne in der
publizistischen Sphäre politischer, religiöser und wissenschaftlicher Reformtraktate, die mit der Utopie in Verbindung stehen. Der Kommunikationsraum
der Utopie kommt dabei einmal hinsichtlich der Kommunikation über Herrschaft ins Blickfeld, deren Vokabular und rhetorische Strategien es zu untersuchen gilt. Andererseits findet in der Utopie auch eine Kommunikation mit
Herrschaft statt. Für den letzteren Kasus sticht das Beispiel der Kommunikation
mit Oliver Cromwell hervor, die im Mittelpunkt von Utopien wie Gerrard
Winstanleys The Law of Freedom (1652) oder James Harringtons The Commonwealth of Oceana (1656) steht. In den 1640er Jahren finden sich hingegen
of the city of Lucca in great characters at this day, the word LIBERTAS; yet no man can thence
infer that a particular man has more liberty or immunity from the service of the Commonwealth there than in Constantinople. Whether a Commonwealth be monarchical or
popular, the freedom is still the same. But it is an easy thing for men to be deceived by the
specious name of liberty« (Hobbes 1996, S. 149 = Leviathan, 21).
16 Hölscher 1990, S. 756.
17 Davis 1981, S. 3.
Einleitung
15
interessante Quellen, in denen die Utopie in der Kommunikation mit dem
Langen Parlament verwendet wird, in den 1660er Jahren hinwieder Quellen, in
denen mithilfe der Utopie der neue Stuart-König Charles II. angesprochen wird.
Zweitens soll der Gebrauch der Utopie in der politischen Sprache untersucht
werden; etwa die Verwendung des Begriffs »Utopie« oder semantischer Felder,
die eine besonders enge Verbindung zur Utopie aufweisen (z. B. die invasive
Reglementierung der wirtschaftlichen Ordnung, wenn nicht gar die Aufhebung
des Privatbesitzes). So lässt sich die Verwendung des Begriffs »Utopie« in den
Sprechakten politischer Akteuren (z. B. Charles I.), in den Zeitungen (Newsbooks) oder in der Kommunikation in bzw. mit einer politischen Institution wie
dem Parlament untersuchen.
Drittens wird der Frage nachgegangen, ob sich die Utopie als eigene politische
Sprache auffassen lässt, der eine spezifische semantische Ordnung zugrundeliegt. Hierbei wird es vor allem um die Beziehung zum semantischen Feld des
Republikanismus gehen, um die Verwendung und Transformation politischer
Semantiken, die aus diesem Feld stammen. Zur Debatte steht, ob die (republikanische) Utopie als eine Art Nebenzweig, als Dialekt oder Jargon des Republikanismus verstanden werden kann. Die politischen Akteure und die Autoren
politischer Schriften (auch die republikanisch gesinnten) beherrschten im
England des 17. Jahrhunderts verschiedene Sprachen und Semantiken, zu denen
auch diejenige der Utopie gehört. Es wird daher der Inanspruchnahme und
Funktionalisierung der Utopie im weiten Sinne (der Utopie als Begriff, als
Textgattung, als sozialkritischem Denk- und Sprechhabitus) in der politischen
Sprache der Republikaner (aber nachrangig auch der Royalisten und anderer
politischer Gruppierungen) nachgegangen werden.
Die vorliegende Untersuchung legt den Fokus auf die semantischen Möglichkeiten, die die Utopie in der politischen Kommunikation und bei der Ausübung politischer Sprechakte zur Verfügung stellen kann. Dies führt zur Frage
nach dem Verhältnis von Sprache und Politik; ein theoretisches und methodisches Problem, dem die politische Ideengeschichte und allgemein die Geschichtswissenschaft in letzter Zeit auf der Grundlage der sprachtheoretischsemantologischen Ansätze der Cambridge School (Quentin Skinner, John
Pocok), aber auch der Begriffsgeschichte (Reinhart Koselleck) verstärkt ihre
Aufmerksamkeit geschenkt hat.18
Laut Quentin Skinner lässt sich die Verwendung der Sprache im Text, lassen
sich textuell manifestierte Sprechakte im Sinne politischer Handlungen unter-
18 Skinner 2002, S. 98 – 101, 105 ff., 107 f.; ders. 2010; Pocock 1987; Koselleck 1972; ders. 1978;
De Benedictis/Corni/Mazohl/Schorn-Schütte 2009; Steinmetz 2007; Meier/Papenheim/
Steinmetz 2012.
16
Einleitung
suchen (»words are deeds«).19 Das Wechselverhältnis zwischen der Sprache und
den politischen Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten der Zeitgenossen ist dabei nicht bloß höchst komplex, sondern weist zudem unterschiedliche
und auch widersprüchliche Wirkungsweisen auf. So tritt politische Sprachen
mithilfe der historischen Quellenanalyse als Werkzeug in Erscheinung, das im
politischen Handeln funktional eingesetzt wurde, um Ziele zu verwirklichen,
wie die Genese von Ordnung, die Steigerung von Macht, die Lösung kollektiver
Probleme oder die Konsolidierung von Herrschaft – je nachdem mit Erfolg oder
Misserfolg. Dies ist freilich nur eine von vielen Eigenschaften der Sprache und
ihrer Wirkungsweise im Bereich der Politik und des politischen Denkens. Die
politisch dysfunktionale und herrschafts- oder ordnungsdestabilisierende
Wirkungsweise der Sprache wäre hingegen ein weiterer, nicht minder aufschlussreicher Untersuchungsbereich. Der funktionale Gebrauch von Sprache
kann zum Ziel der Festigung bestehender Herrschaftsformen geschehen oder
aber zum Zweck des Widerstandes gegen eine (als ungerecht oder illegitim
empfundene) Herrschaftsordnung bzw. zu ihrer Destabilisierung. Mit anderen
Worten kann Sprache in der Politik stets herrschaftskonservativ oder herrschaftsoppositionell eingesetzt werden.20 Es wird im Folgenden daher auch um
die Frage gehen, ob und wie die Utopien zwischen 1640 und 1670 unter den
unterschiedlichen Rahmenbedingungen des Bürgerkrieges, des Interregnums
und der Restauration im gerade erläuterten Sinne herrschaftskonservativ oder
herrschaftsoppositionell in Erscheinung traten.
Einleitend sollen der Gegenstand und das Erkenntnissinteresse des vorliegenden Bandes ebenso wie seine wissenschaftliche Relevanz anhand von drei
Forschungskontroversen konkretisiert werden, die unmittelbar in den Kern der
Sache führen (I.). Dem Hauptteil der Untersuchung liegt ein Dreischritt zugrunde. Im ersten Schritt befasst er sich mit der Definition des Begriffs »Utopie«
und mit den von der Forschung vorgeschlagenen Definitionsmöglichkeiten (II.).
Im zweiten Schritt wird das Quellenmaterial anhand von vier historischen
Momentaufnahmen und Fallstudien vorgestellt und kontextualisiert (III.). Im
dritten Schritt wird auf einer abstrakteren analytischen Ebene danach gefragt,
welche Aufgaben der Utopie in der politischen Sprache bzw. der Utopie als
politische Sprache im untersuchten Zeitraum zukamen. Eine durchaus heterogene Gruppe von Funktionen kommt dabei in Betracht (IV.). Dieser Abschnitt
des Hauptteils gliedert sich wiederum in drei Unterabschnitte: Der erste untersucht die republikanische Semantik aus dem ausgewählten Quellenmaterial,
die Inanspruchnahme der Utopie vonseiten der englischen Republikaner und
19 Skinner 2002, S. 103 ff.
20 Der kommunikationsgeschichtliche und semantologische Ansatz, der der vorliegenden
Arbeit zugrundeliegt, wird in Abschnitt II.2 ausführlicher erläutert.
Politik und Religion
17
ihren Beitrag zur Konstruktion und Tradierung des republikanischen Denkens
und Sprechens in England (IV.1). Der zweite Abschnitt befasst sich mit dem
Verhältnis der untersuchten Utopien zur Satire und zur satirischen politischen
Kommunikation (IV.2). Der dritte Abschnitt kommt auf die Genese von Staatlichkeit und staatsbezogener Semantiken in den utopisch-republikanischen
Quellen zu sprechen (VI.3). Eine Auseinandersetzung mit der Annahme der
Forschung, dass die Utopie in der Frühen Neuzeit (trotz oder gerade wegen der
noch nicht existenten staatlichen Strukturen politischer Organisation) durch
einen Etatismus und durch eine staatsfreundliche Haltung gekennzeichnet sei,
ist dabei unumgänglich.
a)
Politik und Religion: Die Streitfrage nach der politischen oder
konfessionell-religiösen Signatur der Englischen Revolution
Die Historiographie zum Englischen Bürgerkrieg und zum Interregnum hat
einen beachtlichen Wandel durchlaufen. Bis in das 20. Jahrhundert hinein war
die Perspektive der Whig-Historiographie einflussreich, in deren Narrative das
Parlament und dessen mutiger Kampf gegen die absolutistische Stuart-Monarchie gleichermaßen als Sternstunde und Sonderfall in der europäischen Geschichte der Frühen Neuzeit gefeiert wurde. Mit der Verteidigung der politischen
Freiheit und weiterer liberaler Normen gegen die Monarchie habe das Land den
Weg zum modernen Parlamentarismus eingeschlagen.21 An die Stelle des WhigParadigmas sind Mitte des 20. Jahrhunderts zunächst Forschungsperspektiven
getreten, die zwar alternative Interpretationen zu dieser verzerrenden und teleologischen Sichtweise vorschlagen, allerdings gleichwohl eine zentrale Prämisse mit der Whig-Historiographie gemeinsam haben: die Annahme einer
primär politischen Signatur der Ereignisse und Entwicklungen zwischen 1640
und 1660 und daraus folgend die Vernachlässigung des religiösen Bereichs.
Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die sogenannte Gentry-Debatte zu
Rate zieht, die den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandel und
den Niedergang des Feudalismus in England zum Gegenstand hatte ebenso wie
die aus diesem Wandel resultierende Stärkung der politischen Rolle eines sich
radikal wandelnden Mittelstandes.22 Gleiches gilt für die marxistische Ge21 Bahnbrechend für die Whig-Historiographie des 19. Jahrhunderts zum Englischen Bürgerkrieg war das Werk von Thomas Macaulay (dazu Ottmann 2006, S. 322 f.).
22 Im Mittelpunkt der Kontroverse stand die Frage, inwiefern die für die Englische Revolution
als ausschlaggebend erachtete politische Stärkung neuer, aufstrebender Machtgruppen auf
dem Niedergang der alten Aristokratie (peers) und auf dem Aufstieg des niederen Adels und
des mittleren Bürgertums (gentry, commons) beruhte; konkret, ob man es mit einem (durch
neue Formen des Wirtschaftens begünstigten) Aufstieg der gentry zu tun hat (so Tawney
18
Einleitung
schichtsschreibung, die den Bürgerkrieg und das Interregnum als Phänomene
einer (protokapitalistischen) bürgerlichen Revolution untersucht hat.23 Auch
Wolfgang Reinhards Versuch, die Auseinandersetzungen in England auf einen
politischen Strukturwandel zurückzuführen, der in gesamteuropäischer Perspektive anzutreffenden ist, liefert primär ein politisches, präziser ein staatsgenetisches Erklärungsmuster. Laut Reinhard sind der (versuchte und misslungene) Ausbau des staatlichen Machtapparates durch die Stuart-Könige (v. a.
der fiskalen und militärischen Macht der Zentralregierung) und die hieraus
hervorgehenden Widersetzungsbestrebungen des Parlaments24 mit analogen
Entwicklungen auf dem Kontinent zwar nicht identisch, aber doch ähnlich und
vergleichbar.25 Die jüngere englische Historiographie betont bei der Erforschung des Bürgerkrieges und seiner Ursachen zudem die strukturellen
Schwierigkeiten der Stuart-Monarchie als Königreich, das aus heterogenen
Herrschaftsterritorien (England, Schottland, Irland) zusammengesetzt war, und
vergleicht dies mit dem analogen Beispiel Spaniens und dessen Schwierigkeiten
bei der Zentralisierung von Herrschaft.26 Der Primat des Politischen bleibt in
diesen Deutungen unangetastet.27
Seit den 1980er Jahren macht sich in der Forschung zunehmend eine Auffassung Bahn, die die Rolle der Religion bei der historischen Rekonstruktion der
politischen Weltanschauungen der im Konflikt gegeneinander streitenden Akteure in den Mittelpunkt stellt. Diese Forschungsrichtung rückt vom Primat des
Politischen in der Whig-Historiographie ebenso wie vom Primat des Ökonomischen als causa prima der geschichtlichen Entwicklung gemäß dem marxistischen Paradigma ab. Vielmehr betont sie die Verzahnung der politischen und
der religiösen Dimension.28 Trotz aller Differenzen in ihrer inhaltlichen Kon-
23
24
25
26
27
28
1941 und Stone 1948) oder aber im Gegenteil mit den Folgen der Schwächung der gentry
(oder mancher Teile der gentry) und des Aufstiegs gesellschaftlicher Gruppen unterhalb und
oberhalb von ihr (Trevor-Roper 1951, ders. 1953); zur gentry-Debatte Hexter 1958 und
Coleman 1966.
Siehe die Arbeiten von Christopher Hill (Hill 1958, vgl. Hill 1986, 1991), vgl. Macpherson
1990 (1962).
Man denke etwa an das Beispiel des Schiffsgeldes, eine von Charles am Parlament vorbei
eingerichtete Steuerabgabe, die die 1630er und 1640er Jahre hindurch Gegenstand heftiger
Auseinandersetzungen war.
Reinhard 2000, etwa S. 49, 174 f.
Cust 2007, S. 197ff; Russel 1987.
»Für ein Verständnis jener Zeit ist dies nicht immer von Vorteil. Man kann es nicht lassen,
aus einem konfessionellen Krieg einen Klassenkampf und aus den Menschen, denen nichts
mehr am Herzen lag als ihr Glaube, Agenten von Interessen und Klassen zu machen«
(Ottmann 2006, S. 323).
Wende 1980, v. a. S. 40, Schröder 1986, S. 78 f. (»Der religiöse Faktor war bei denjenigen, die
bei Ausbruch des Bürgerkrieges aktiv für die eine oder die andere Seite aus Gründen der
Überzeugung Partei ergriffen, in der Regel ausschlaggebend«, ebd.); Worden 2009, S. 7 f.;
aber auch bereits Lamont 1969 und Walzer1966: »Only some sensitivity to religious zeal can
Politik und Religion
19
kretisierung sind die beiden religiösen Kernanliegen, einmal die Abwehr des
Katholizismus (»popish« ist für die Zeitgenossen gleichermaßen ein Schimpfund Schmähwort) und andererseits die Bewahrung und nach Möglichkeit
Vollendung der Reformation in England, geteiltes Ziel sowohl auf Seiten der
Royalisten wie der Parlamentarier. Vor dem Hintergrund dieser durch Mark und
Knochen der englischen Gesellschaft gehenden Abneigung gegen den »papistischen Aberglauben« wird der erhebliche politische und propagandistische
Schaden deutlich, der Charles I. dadurch entstand, dass er aus dynastischen
Erwägungen mit der Katholikin Henrietta Maria (der jüngsten Tochter Heinrichs IV. von Frankreich) verheiratet war, deren freie Glaubensausübung per
Ehevertrag ebenso zugesichert wurde, wie das Recht, am Hof katholische
Geistliche zu unterhalten. Jüngere Forschungen haben das enorme politische
Motivations- und Mobilisierungspotential veranschaulicht, das religiösen Fragen und primär mit religiösen Kategorien zu fassenden Ereignissen innewohnte.29 Dieser Befund sollte jedoch nicht zum modernistischen Vorurteil
verleiten, dass man es in England im 17. Jahrhundert mit unpolitisch oder
apolitisch denkenden und handelnden Akteuren zu tun hat, in deren Handlungsauffassung die Politik neben der Religion keine unabhängige Daseinsberechtigung bekommt. Vielmehr ist vor Augen zu halten, dass es im England des
17. Jahrhunderts die Religion ist, die am ehesten vermochte, ständeübergreifend
Gemeinsinn zu stiften, aber ebenso im Konfliktfall die Mobilisierung aller Bevölkerungsschichten und die Entstehung verschiedener politischer Lager herbeizuführen. Religion ist in England in den Auseinandersetzungen der 1640er
und 1650er Jahre Politik in ihrer Reinform. Die komplizierten Streitfragen nach
den verfassungsgemäßen Schranken königlicher Gewalt und nach den Rechten
des Parlaments, die in der Retrospektive die besondere Aufmerksamkeit der
politischen Historiographie auf sich lenken, betrafen im Zeitgeschehen direkt
nur einen sehr engen Kreis von Angehörigen der politischen Elite.30 Aber selbst
der Versuch, die politischen Konfliktpunkte von den religiös-konfessionellen zu
scheiden, ist zu hinterfragen. Eine solche Scheidung spiegelt eher die für die
heutige politische Kultur geradezu selbstverständliche Ausgrenzung primär
make the behavior of the English in the sixteen-forties and fifties explicable. Politics for the
moment was the pursuit of a religious goal« (S. 12); »In the Stuart era, religion led, and
political questions followed« (Purkiss 2006, S. 26).
29 Dies herauszuarbeiten ist ein Schwerpunkt der neuen Überblicksdarstellung von Braddick
(2008) zum Englischen Bürgerkrieg.
30 »Doch letztlich waren es weder Verfassungsfragen noch Steuerdruck, die in weiten Kreisen
der Führungsschicht und des Volkes die Bereitschaft hervorriefen, über den passiven Widerstand hinauszugehen, sondern es war die Religion, als der einzige Gegenstand eines
allgemeinen politischen Interesses, die den Auseinandersetzungen jene nationale Dimension
verlieh, die erst Bürgerkrieg und Revolution ermöglichten. Das 17. Jahrhundert ist auch und
erst recht in England die Epoche der religiösen Kämpfe« (Wende 1980, S. 40).
20
Einleitung
religiös-dogmatischer Fragen aus dem politischen Diskurs wider, als die Sichtweise der Zeitgenossen. Der von der Krone für den Gottesdienst verordnete
Gebrauch des Common Book of Prayer, der am Vorabend des Bürgerkriegs den
Aufstand der Schotten auslöste, oder die im Parlamentslager einheitsstiftende
Entrüstung über die Aufwertung von Ritus und Ornat durch Bischof William
Laud in den 1630er Jahren sind zwei Beispiele, die die Verzahnung von Politik
und Religion veranschaulichen. Andrew Marvell bringt es 1672 in der Retrospektive auf den Punkt: »Whether it was a war of religion, or of liberty, is not
worth the labour to enquire. Whichsoever was at the top, the other was at the
bottom«.31 Auch Thomas Hobbes’ monarchiefreundliche »historiographische«
Darstellung des Bürgerkrieges im Behemoth zeigt eindeutig, dass Religion und
Politik in der politischen Auseinandersetzung in England aufs engste miteinander verzahnt sind.32 Die religionspolitische Lösung von Hobbes, um einer
zukünftigen Desintegration politischer Regierung und staatlicher Ordnung
durch konfessionelle Konflikte zuvorzukommen, ist deshalb ganz auf ein dezisionistischen Souveränitätsverständnis gemünzt: Politische Debatten ebenso
wie religiöse Streitfragen sollen zukünftig in kollektiv verbindlicher Form allein
vom Souverän entschieden werden. Nach den Erfahrungen der »paper wars«
und der wutentbrannten, reformatorisch eifernden Politik der Straße aus den
frühen 1640er Jahren, die den militärischen Kämpfen auf den Schlachtfeldern
des Bürgerkrieges vorausgingen und sie später dann auch begleiteten, sollen
religiöse Debatten im Eigentlichen nur noch im deliberativen Forum des
fürstlichen Gewissens stattfinden, sind jedoch aus dem öffentlichen Raum zu
verbannen.
Die Erfahrung, die Hobbes und seine Zeitgenossen mit dem religiösen und
bisweilen eschatologischen Eifer der Protagonisten des Cromwell-Regimes oder
mit millennaristischen Bewegungen wie den Fifth-Monarchy-Men gemacht
hatten ebenso wie mit der Präsenz millennaristischer Argumentationsformen in
anderen politischen Gruppierungen, bei denen eschatologische Erwägungen an
31 Marvell 1672, S. 150.
32 Dies betrifft sogar die sprachlich-philologische Ebene. War es einerseits das reformatorische
Anliegen einer Wiederbesinnung auf die Heilige Schrift (»sola scriptura«) gewesen, das das
Studium der antiken Sprachen (und auch des Griechischen und Lateinischen) dringlich
werden ließ, so war der Erwerb dieser Sprachkompetenzen andererseits verantwortlich für
die Lektüre von Aristoteles und Cicero, die die Insubordinationsneigung der Untertanen
Englands laut Hobbes befeuerte: »Denn die Leute, die der Unverschämtheit der Priester
schließlich müde wurden und die Wahrheit jener Lehren prüften, die ihnen auferlegt wurden, begannen den Sinn der Heiligen Schrift zu untersuchen, wie er in den gelehrten
Sprachen steht, indem sie Griechisch und Latein studierten, und wurden deshalb bekannt
mit den demokratischen Grundsätzen von Aristoteles und Cicero, und aus Liebe zu deren
Beredsamkeit wurden sie für deren Politik mehr und mehr eingenommen, bis es in die
Empörung ausartete, von der wir jetzt sprechen« (Hobbes 1999, S. 50); vgl. Leviathan, 1996,
S. 149 f.
Utopie und Millennarismus als Gegensatz?
21
sich nicht im Vordergrund standen, wird für die Entstehung des hobbesschen
religionspolitischen Etatismus prägend gewesen sein. Das Verhältnis der Utopie
zum Millennarismus, das als nächstes geklärt werden soll, veranschaulicht die
für die Englische Revolution charakteristische Verzahnung politischer und religiöser Formen der Sinnstiftung.
b)
Utopie und Millennarismus als Gegensatz?
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der politisch-philosophischen Kategorie der Utopie und der theologischen Kategorie des Millenniums führt zurück
zum mittelalterlichen Denker Joachim von Fiore (ca. 1130 – 1202) und zur Patristik. Bei Fiore, aber auch schon bei einigen Kirchenvätern (etwa bei Irinäus,
Tertullian und Laktanz) wird das Millennium als innerweltlicher und innergeschichtlicher Zustand der Vollkommenheit gedacht und als Zeitabschnitt, der
dem endgültigen heilsgeschichtlichen Eingreifen Gottes mit der Wiederkehr
Christi im Jüngsten Gericht vorausgeht.33 Referenzpunkt dieser theologischen
Denktradition ist die Offenbarung des Johannes, die ihrerseits auf älteren jüdischen eschatologischen Vorstellungen gründet.34 Ob der Millennarismus, der
die Entstehung einer optimalen Gesellschaftsordnung noch im saeculum, im
»Zeitalter des Heiligen Geistes« bzw. im »tausendjährigen Zwischen-Reich«,
denkbar macht, eine treibende Kraft auch der frühneuzeitlichen Utopie ist oder
aber aufgrund seiner heilsgeschichtlichen Prämissen mit der Utopie inkompatibel, ist nachwievor ein ungelöster Streitpunkt. Diese Streitfrage hat in den
letzten Jahrzehnten zunehmend das wissenschaftliche Interesse auf sich gezogen.35 Für die Untersuchung der Auswirkungen millennaristischen Denkens und
33 Zum Millennarismus in der Patristik und bei Joachim von Fiore und im Joachimismus Groh
2003, S. 81 f., 113 f., 134 ff., 422 – 473; Kehl 2003, S. 176ff, 183 ff. Zur Erwartung von Campanellas Solariern, dass eine Erneuerung der Welt und schließlich ihr Ende bevorstünden,
Campanella 2008, S. 57.
34 Offb. 20, 1 – 6.
35 Ferdinand Seibt (1980) plädiert dafür, den Joachimismus als mittelalterliche Ausprägung
von Utopie anzusehen. Ebenso bezeichnet Ernst Bloch Fiores Denken als »folgenreichste
Sozialutopie des Mittelalters« (Bloch 1959, S. 590). Zur Verbindung zwischen Utopie und
Millennarismus äußern sich positiv Bernet 2007; Prodi 2013; Kehl 2003, S. 171 – 193. Hans
Freyer scheidet hingegen den Millennarismus von der Utopie: »Das tausendjährige Reich
liegt nicht irgendwo, sondern es ereignet sich. Es wird nicht entdeckt, sondern es wird
erwartet, weil es geweissagt ist« (Freyer 1936, S. 82). Freyer wendet sich dabei vor allem
gegen Quabbe 1933. Eine Kritik an Seibts Deutung von Joachim von Fiore als Utopist bei
Schölderle 2012, S. 60 f. Auch Davis (1981, S. 31 ff.) definiert die Utopie im Kontrast zum
Millennarismus. Der Millennarismus ziele auf eine »perfect form of time«, nicht auf eine
»perfect form of society« (ebd.). Davis betont auch, dass die Vorstellungen zur Gesellschaftsordnung in millennaristischen Traktaten im Gegensatz zur Utopie sehr vage bleiben.
22
Einleitung
millennaristischer Semantiken auf die Utopie ist hinderlich, dass (aus gebotenen
Gründen) der säkulare Wesenszug der politischen Immagination der Utopie als
eines ihrer Charakteristika allgemein anerkannt ist; selbst wenn es sich wie bei
Thomas Morus um einen philosophisch-experimentellen Säkularismus eines
zutiefst religiösen Menschen handelt.36 Paolo Prodi führt hingegen die neuzeitliche Utopie auf die mittelalterliche Tradition der Prophetie zurück und
betrachtet sie als ihren säkularisierten Nachfahren (»profetismo secolarizzato«),
der sich allerdings erst mit der Zeit gänzlich von ihren religiösen Wurzeln loslöse. Laut Prodi laufen beispielsweise bei Tommaso Campanella Prophetie und
Utopie noch nebenher.37 Eine besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang die Studie von Claus Bernet, die sich mit dem Einfluss der
christlich-millennaristischen Utopie des Neuen Jerusalem auf chiliastisch geprägte Siedlungsgründungen und Architekturprojekte im Alten Reich auseinandersetzt.38 Die in der Forschung betonte Spannung, die in der Utopie aufgrund
ihrer Fiktion einer idealen Gesellschaftsordnung zum christlichen Dogma des
Sündenfalls bestehe, muss vor dem Hintergrund des Millennarismus nicht zu
hoch veranschlagt werden. Gesellschaftliche, politische Perfektion kann – aus
der Perspektive des Millennarismus – als menschengemacht (zumindest als von
den Heiligen und Auserwählten Gottes gemacht) gedacht werden.
Es ist der Verdienst des Mediävisten Ferdinand Seibt, nicht bloß auf die
Bedeutung des Millennarismus für die Utopieforschung hingewiesen, sondern
das Stereotyp eines gänzlich »utopiefreien Mittelalters« in Frage gestellt zu
haben.39 Die Bedeutung epochaler Entwicklungen, die den Übergang vom
Mittelalter zur Frühen Neuzeit markieren, wie die Entdeckungsfahrten der
iberischen Seemächte oder das innovative (säkulare) Text- und Moralverständnis des Humanismus, für Thomas Morus und für die Begründung der
utopischen Gattung kann nicht in Abrede gestellt werden. Und doch sollte man
die mittelalterlichen Einflüsse auf das Genre, etwa des Mönchstums, der Reformbewegungen der Bettelorden und eben der apokalyptischen und millen-
36 Der Nestor der deutschen Utopieforschung Richard Saage legt einen dezidierten Akzent auf
den säkularen Zug der Utopie und definiert sie als »Fiktionen innerweltlicher Gesellschaften
[…], die sich entweder zu einem Wunsch- oder einem Furchtbild verdichten« (Saage 1990,
S. 2, Hervh. S.S.). Auch Luigi Firpo deutet die Utopie als Genre, dessen hervorstechendes
Merkmal der radikale, experimentelle und säkularisierte Rationalismus sei, s. Firpo 1990,
S. 19 – 21, 29 – 33. Shklar betont die Spannung zwischen der Utopie und dem christlichen
Dogma des Sündenfalls, s. Shklar 1970, S. 143. Zu Morus dieszbezüglich Jäckel 1955.
37 Prodi 2013, S. 7 – 31. Prodi betont, dass die Prophetie und die Utopie zudem dadurch verbunden sind, dass es sich in beiden Fällen um herrschaftsoppositionelle Gattungen handelt.
38 Bernet 2007.
39 Ein utopiefreies Mittelalter und eine Geisteshaltung, die der Produktion von Utopien im
Mittelalter im Weg stand, betont Eliav-Feldon 1981, S. 5 – 10.
Utopie und Millennarismus als Gegensatz?
23
naristischen Modi des Denkens und Handelns nicht unterschätzen.40 Morus’
Utopia wurde von einer Person geschaffen, die früher in ihrem Leben mit dem
Gedanken gespielt hatte, in den Franziskanerorden einzutreten.41
Chiliastischen und allgemein endzeitlichen Denk- und Deutungsmustern
begegnet man in England während des Bürgerkrieges und in der Ära Cromwells,
aber auch nach der – nicht minder mit heilsgeschichtlichen Sinnzuschreibungen
behafteten – Restauration der Stuart-Monarchie auf Schritt und Tritt. Peter
Wende spricht von einem »in zunehmendem Maß prägende[n] Chiliasmus als
das während des Revolutionsjahrzehnts hervorstechende Merkmal des englischen Calvinismus«.42 Der Millennarismus und eine Zeit- und Geschichtsauffassung, die auf dem Einfluss der Providentia Dei gründet, müssen in England
als treibender Motor der politischen Entwicklung angesehen werden. Es ist
beispielsweise nur schwer vorstellbar, dass die Protagonisten der Anklage und
Hinrichtung des Königs im Januar 1649 zur Tat geschritten wären, hätten sie sich
nicht in endzeitlicher Erwartung als Werkzeuge Gottes verstanden.43 In den
1640er Jahren steht die Publikation millennaristischer Traktate in England in der
Blüte. Diese Blüte wird vereinfacht durch den Zusammenbruch der königlichen
Zensurorgane (1641) und ist beeinflusst von der Rezeption der apokalyptischen
Schriften von Johann Heinrich Alsted und von Josef Mede. Die apokalyptische
Traktatistik betonte, dass das von Johannes geweissagte tausendjährige Reich
sich bald und zwar in dieser Welt ereignen werde.44 Die in den 1650er Jahren
(und vor allem gegen Ende des Protektorats) einflussreiche politische Bewegung
der Fifth-Monarchy-Men, in deren Aktivitäten der Millennarismus im Mittelpunkt steht, ist bloß ein besonders hervorstechendes Beispiel für die Symbiose
zwischen Politik und christlicher Endzeiterwartung im Interregnum. Da das
40 Seibt 1969.
41 Sargent 2003, S. 31 f.
42 Wende 1980, S. 100. Zum Millennarismus in England in der Frühen Neuzeit allgemein Firth
1979; Patrides/Wittreich 1984.
43 Dies geht aus einer Aussage Cromwells, die im Kontext des Prozesses gegen Charles I.
geäußert wurde, klar hervor: »If any man whatsoever had carried on this design of deposing
the King, and disinheriting his posterity or if any man had yet such a design, he should be the
greatest traitor and rebel in the world. But since the Providence of God hath cast this upon us, I
cannot but submit to Providence« (zitiert nach Gentles 1992, S. 302). Die Forschung betont,
dass sich Cromwell in entscheidenden Momenten, vor große Entscheidungen gestellt, als
Instrument göttlicher Vorsehung begriff und – mit den Worten von Woolrych – versuchte,
»[to] read the will of providence« (Woolrych 2003, S. 83 f.). Zur Berufung auf Gottes Vorsehung als Grund für die Ablehnung der Königswürde, die Cromwell im Februar 1657
angetragen worden war, unten Anm. 390.
44 Im millennaristischen Traktat A Glimpse of Sion’s Glory (1641) wird betont, dass die in der
Offenbarung verkündete Herrschaft Christi in dieser Welt stattfinden werde: »it must be
meant of Jesus Christ coming and reigning here gloriously for a thousand years« (Woodhouse 2006, S. 237, Hervorh. S.S.).
24
Einleitung
Jahr 1666 aufgrund der herausragenden Bedeutung der Zahl 6 für das millennaristische Denken als wahrscheinliches Datum für den Beginn des Millenniums
angesehen wurde, blieben die Fifth-Monarchists auch nach der Restauration der
Monarchie weiterhin aktiv. Aus ihren Reihen ging 1661 eine (von den Behörden
aufgedeckte) Verschwörung gegen den König hervor.45
Die Auswirkungen des Millennarismus auf das intellektuelle und wissenschaftliche Milieu während der Englischen Revolution sind gut erforscht. Die
Implikationen des puritanischen Millennarismus für die Entstehung der New
Science hat Charles Webster in seiner bahnbrechenden Untersuchung zur Entwicklung der Naturwissenschaften im Interregnum als Vorgeschichte der Royal
Society eingehend untersucht.46 Die Entwicklungen und Fortschritte in den
Wissenschaften wurden von den Zeitgenossen als Zeichen des Anbruchs des
Millenniums gedeutet.47 Wissenschaftlicher Fortschritt ist hier oftmals gleichbedeutend mit der Wiederherstellung der prälapsarischen Naturkenntnis und
Naturbeherrschung, über die der erste Mensch Adam verfügte. Erforschung der
Natur wird zudem verstanden als Sichtbarmachung des göttlichen Willens an
den Werken des Schöpfers, als Studium der Offenbarung anhand des Buchs der
Natur.48 Francis Bacon möchte mit seinem wissenschaftlichen Reformprogramm
den Weg aufzeigen, der der Menschheit erlauben soll, die Salomonische Weisheit
wiederzuerlangen oder – allegorisch gesprochen – den Salomonischen Tempel
wiederaufzurichten.49 Er stellt sein wissenschaftliches Reformprogramm in der
45 Zur Fifth-Monarchy-Bewegung und ihrem Millennarismus Capp 1972. Zur Deutung des
Großen Londoner Brandes von 1666 als eschatologisches Vorzeichen Keeble 2002, S. 164 f.
Zur Bedeutung der Zahl 6 in den eschatologischen Spekulationen der Millennaristen unten
Anm. 54. Im millennaristischen Traktat A Glimpse of Sion’s Glory (1641) wird hingegen der
Berechnung des Eschatologen Thomas Brightman (1562 – 1607) gefolgt, dessen Exegese der
Offenbarung in England 1644 neu gedruckt wurde und der das Millennium bereits für das
Jahr 1650 erwartete (vgl. Brightman 1644 und Woodhouse 1966, S. 240 f.)
46 Webster 1975, S. 1 – 100; vorher bereits Tuveson 1949.
47 »[…] eschatology drew attention to the fact that man had fallen from a position of high
attainment, and that in the not-too-distant future he was destined to regain his dominion
over nature. […] The Puritans genuinely thought that each step in the conquest of nature
represented a move towards the millennial condition, and that each extension of the power of
parliament reflected the special providential status of their nation. […] The millennial
context was important because it carried the guarantee of utopian rewards in the near future«
(Webster 1975, S. 506 f.).
48 Zum theologischen Sinn der für Bacon und für den Baconianismus zentralen wissenschaftlichen Begriffe »instauratio« und »restauratio« als Wiederherstellung der prälapsarischen Naturkenntnis und Naturbeherrschung durch die Wissenschaften Bacon 1990,
S. 31 ff., 77, 247; dazu und allgemein zum prophetisch-apokalyptischen Denken Bacons
Whitney 1989 und Ottmann 2013, S. 35. Robert Boyle beschreibt, wie der Anatom im Buch
der Natur lesen und die »stenography of God’s omniscient hand« dechiffrieren könne (Boyle
1772a, S. 63).
49 Zur Deutung der auf dem berühmten Titelbild der Instauratio Magna von Bacon zu sehenden Säulen (des Herakles) als »Säulen des Salomonischen Tempels« Ottmann 2013,
Utopie und Millennarismus als Gegensatz?
25
Instauratio Magna unter das apokalyptische Motto aus dem Buch David: »Multi
pertransibunt & augebitur scientia«. Autoren wie Samuel Hartlib oder John
Dury, die der apokalyptischen Konzeption der Naturwissenschaft bei Bacon
nahestehen, möchten mit ihren wissenschaftlichen Reformtraktaten aus einer
eschatologischen Grunderwartung heraus die Politik (in Gestalt des Parlaments)
zum Handeln bewegen.50
Dass der Millennarismus aber auch in primär als republikanisch zu kennzeichnenden Utopien eine bedeutende Rolle spielt, ist aus Sicht des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Untersuchung besonders implikationsreich. Dies
deutet auf die enge Verzahnung religiöser und politischer Wertesysteme und
Reformanliegen hin. Zudem scheint dieser Befund der Säkularisierungsthese zu
widersprechen, die den englischen und allgemein den atlantischen Republikanismus als säkulare politische Lehre ansieht, die die Vermengung von Politik
und Heilsgeschichte ablehnt.51 Spezialforschungen haben herausgestellt, dass
utopisch-republikanische Autoren wie Gerrard Winstanley, James Harrington
und John Milton aus einem zutiefst puritanisch konnotierten und biblizistisch
fundierten Denkmilieu stammen.52
Betrachten wir nur zwei Beispiele für die Verwendung millennaristischer
Motive und Semantiken in utopisch-republikanischen Texten des Interregnums:
Beispiel 1: In Anspielung auf Bacon präsentiert die anonyme utopisch-republikanische Reformschrift Chaos: Or, a Discourse wherein is presented to the view
of the Magistrate, and all others who shall peruse the same, a Frame of
Government by way of a Republique (1659) ihr Reformprogramm in Form eines
Sechs-Tage-Werkes. Dieses sechsstufige Reformprogramm soll den Sabbat auf
S. 35 f. und Abb. 2. Bacons Neu-Atlantiden besitzen Werke Salomons, die in der nichtutopischen Welt verschollen sind: »Wir besitzen nämlich einige Teile seiner Werke, die euch
verlorengegangen sind, und zwar seine Naturgeschichte, in der er alles beschreibt, was da
lebt und webt, insbesondere alle Pflanzen« (Bacon 1982, S. 28). Daran anknüpfend wird in
der anonymen Fortsetzungsutopie New Atlantis continued berichtet, dass man bei den NeuAtlantiden alle »plants and herbs as […] believed Solomon knew« finden könne (R. H. 1660,
S. 80).
50 Der Hartlib-Kreis liefert zahlreiche Beispiele für die Interferenzen zwischen der naturwissenschaftlichen Apokalyptik, der Utopie und der Politik des Parlaments, s. Kap. III.1.
51 Pocock begreift den Republikanismus in England als Fortsetzung von Machiavellis säkularer
Politikauffassung und als Unternehmen, das sich gegen die puritanische Vermengung von
Heilsgeschichte und Politik richtet. Wie das Denken Machiavellis das Scheitern von Savonarolas Millennarismus zur Voraussetzung habe, gehe der Blüte des englischen Republikanismus die Enttäuschung der im Parlament und in den Armeekreisen, aber auch in der
Bevölkerung verbreiteten chiliastischen Hoffnungen der 1640er Jahre voran: »English Machiavellism appeard – as Machiavelli’s own thinking had done – in the defeat of a chiliastic
revolution« (Pocock 1975, S. 360). Zum Gegensatz zwischen der puritanisch-religiösen
Einbettung des politischen Denkens der Levellers und dem erst nach der Niederschlagung
der Leveller aufkeimenden säkularen Denken der Republikaner Smith 1998, S. 144.
52 Holstun 1987, Tuttle 1995; Nelson 2010.
26
Einleitung
Erden einleiten.53 Die Anlehnung an Genesis 1, 1 – 2, 4 und an die chiliastische
Symbolik der Sieben Siegel aus der Offenbarung des Johannes, aber auch an die
jüdisch-christliche Zahlenmystik ist hier überdeutlich.54 Beispiel 2: Zur Rechtfertigung der imperialen Politik des Gemeinwesens von Oceana stimmt die
Gallionsfigur des englischen Republikanismus James Harrington in The Commonwealth of Oceana (1656) einen prophetisch-millennaristischen Ton an, der
aus dem Tonfall seiner utopischen Schrift hervorsticht. Harrington führt den
Leser in einen biblischen Sinnhorizont, indem er ausgiebig aus dem Schlachtgesang aus Deuteronomium 20, 1 sowie aus dem Hohelied Salomons zitiert.55
Auftrag der Oceaner sei es, die bei ihnen praktizierte konfessionelle Toleranz in
die Welt zu tragen und damit das Königreich Christi auf Erden einzuleiten.56 Eine
noch deutlichere millennaristische Semantik begegnet dort, wo davon die Rede
ist, dass das zu errichtende Reich der Welt Ruhe und Frieden verschaffen, den
Sabbat auf Erden einleiten solle:
[…] with the blessing of God, may spread the arms of your commonwealth like an holy
asylum unto the distressed world, and give the earth her Sabbath of years or rest from
her labours, under the shadow of your wings.57
James Holstun hat die Bedeutung der puritanischen Spielarten des Millennarismus für die utopischen Traktate und utopischen Reformprogramme im Interregnum herausgestellt. Er fasst die millennaristische Utopie als Untergattung
der Utopie auf.58 Sein ausgesprochen differenzierter Zugang zur Thematik
nimmt allerdings die Einwände sehr ernst, die gegen eine zu enge Zusammenführung von Utopie und Millennarismus vorgebracht werden. Den Millennaristen charakterisiere der Modus des Wartens auf Gottes Eingriff und die Suche
nach Spuren und Zeichen, durch die Gott den Menschen seine Absichten offenbare. Dies sei mit der Rationalität und Säkularität der politisch-gesellschaftlichen Entwürfe in der Utopie schwer in Einklang zu bringen:
53 Anonym 1659. Dies ist eine Anspielung auf Bacons Nova Atlantis, wo die visionäre Forschungsanstalt im Hause Salomons den Namen »Gesellschaft der Werke der sechs Tage« trägt
(Bacon 1960, S. 175, 194).
54 Zwei mystische Überzeugungen sind hier zu berücksichtigen: Einmal die Auffassung, dass
die Welt entsprechend ihrer siebentägigen Entstehungszeit gemäß Genesis 1, 1 – 4 nur sieben
Schöpfungs- bzw. Gottestage lang bestehen werde, andererseits dass ein Tag Gottes tausend
Jahre währt (gemäß Psalm 90, 4).
55 Harrington 1992, S. 216, 233.
56 »Now if you add unto the propagation of civil liberty, what is so natural unto this commonwealth that it cannot be omitted, the propagation of the liberty of conscience, this
empire, this patronage of the world, is the kingdom of Christ« (ebd., S. 231 f.).
57 Ebd., S. 221.
58 Holstun 1983; ders. 1987.
Utopie und Millennarismus als Gegensatz?
27
From the point of view of the history of ideas, Puritan utopia is something of an
oxymoron, one that spontaneously generates such cognate absurdities as »theocratic
rationalism« and »secular millennialism«.59
In millennaristischen Traktaten seien Erkennungsmerkmale der Utopie (im
Sinne einer auf Morus’ Utopia bezogenen Textgattung) wie die humanistisch
geprägte Gestaltung des Textes und die Heranziehung antiker Textvorlagen,
ferner der säkulare Rationalismus, das Vertrauen in die menschliche Vernunft
oder der Einsatz satirischer Fiktionalität abwesend.
Holstun versucht jedoch das aus ideengeschichtlicher Perspektive sich aufdrängende Bild einer Unvereinbarkeit von Utopie und Millennarismus durch
eine hilfreiche Unterscheidung abzuschwächen. So unterscheidet er zwischen
zwei Spielarten millennaristischen Denkens und Handelns, einerseits dem
»heuristischen Millennarismus« und andererseits dem »katalytischen Millennarismus«.60 Im ersten Fall handle es sich um Reflexionen und Praxen des
Gläubigen, die auf die Interpretation von Zeichen in Vergangenheit und Gegenwart konzentriert sind sowie auf die religiöse Meditation und Spekulation
über die heilsgeschichtliche Zukunft. Im Mittelpunkt des Interesses stehen hier
die Fragen nach dem genauen Anfangszeitpunkt des Millenniums oder die
Kontroverse, ob die Wiederkehr Christi erst nach dem Verstreichen des »Tausendjährigen Reiches« zu erwarten sei oder aber an dessen Anfang stehe oder ob
dessen Anbruch womöglich bereits stattgefunden habe. Im Falle des »katalytischen Millennarismus«, dem politisch betrachtet interessanteren Fall, sei der
Modus des Wartens und Deutens nicht vorherrschend. Vielmehr konzentriere
sich der Millennarist darauf, aus der chiliastischen Theologie, aber auch aufgrund millennaristischer Spekulationen (etwa über den Anbruch des Reiches)
sinnvolle Handlungsmuster abzuleiten und einzuleiten. Diese Form des Millennarismus strebt nach Handlungen und Taten, von denen zu erwarten ist, dass
sie den Übergang zum »Tausendjährigen Reich« beschleunigen. So etwa die
Vollendung der Reform der Kirche und des Glaubens oder aber die Bekehrung
der Juden und Heiden, die als Voraussetzung der Wiederkehr Christi galt (gemäß
Offenbarung, 33, 9). Die Bekehrung der Juden stellt bei einigen, der hier untersuchten Quellen, einen thematischen Schwerpunkt dar, der vor dem geschilderten Hintergrund auffällig erscheint.61 Berichte, die eine Abstammung
59 Holstun 1987, S. 4.
60 Ebd., S. 44 – 46.
61 Siehe etwa den millennaristischen Traktat A Glimpse of Sion’s Glory (1641), in: Woodhouse
1966, S. 237. In Samuel Hartlibs Schrift Englands Thankfulnesse, die er Anfang 1642 an das
Lange Parlament adressiert, wird die Bekehrung der Juden durch die protestantischen
Kirchen als eine zentrale Prämisse zur Vollendung der Reformation und für das »advancing
[of] Gods Kingdome« dargestellt (s. Hartlib 1970, S. 95). Dass das millennaristische Denken
auf Cromwells Judenpolitik und auf die Wiederansiedlung jüdischer Gemeinden unterm
28
Einleitung
der amerikanischen Indianer von den verlorenen Stämmen Israels behaupteten,
waren für den millennaristischen Bekehrungsaktivismus in der Neuen Welt
folgenreich, den Holstun untersucht.62 Der Historiker Claus Bernet hat hingegen
die chiliastischen Siedlungs- und Bauprogramme protestantischer und pietistischer Gruppierungen im Alten Reich untersucht und die Rezeption der Verheißung des Himmlischen Jerusalem in der Offenbarung, die hierbei eine Rolle
spielte. Auch hier fungiert die menschliche Bau- und Siedlungstätigkeit als
Katalysator zur Herbeiführung des »Tausendjährigen Reiches«. Die Bautätigkeit
führe zudem zu einer utopischen Ver-Ortung des Millenniums als eigentlich
temporale Kategorie.63 Das Beispiel der Täuferbewegung in Münster, die später
den Fifth-Monarchists in England als Vorbild diente, belegt ebenfalls, dass in
einer frühneuzeitlichen chiliastischen Bewegung das Abwarten in den Hintergrund gedrängt zu werden vermag und einem praktischen Aktivismus weicht.64
Spielarten eines solchen »do-it-yourself millennarism« sind auch während der
Englischen Revolution weit verbreitet.65 In einer Predigt, die im September 1647
am Rande der Putney-Debatten gehalten wurde, betont Thomas Collier, dass die
verheißene Herrschaft Christi auf Erden nicht von einem (den Menschen extrinsischen) göttlichen Eingriff abhänge, sondern vom Eingriff in die weltliche
Ordnung durch die im Geiste Christi Handelnden:
Some apprehend that Christ shall come and reign personally, subduing his enemies and
exalting his people, and that this is the new heaven and the new earth. But this is not my
apprehension; but that Christ will come in the Spirit and have a glorious kingdom in
the spirits of his people, and they shall, by the power of Christ in them, reign over the
world, and this is the new heavens and the new earth.66
Colliers Predigt veranschaulicht aber auch den Gegensatz, der zwischen dem
religiösen Millennarismus und der politischen Utopie besteht, da sein Millennarismus die Zeitenwende zum Tausendjährigen Reich mit einer ontologischen
Veränderung der Menschennatur verbindet, mit einer (von innen bewirkten)
Menschheitsverbesserung, mit der Entstehung eines neuen Adams. Die zentrale
62
63
64
65
66
Protektorat Einfluss hatte, ist belegt, s. Webster 1970, S. 39. Zur dringlichen Aufgabe der
Judenbekehrung, der sich die Neu-Atlantiden mit großem Eifer annehmen, s. R. H. 1660,
S. 47, 68 = New Atlantis continued.
Hierzu Holstun 1987, S. 111 ff.
Bernet 2007, v. a. S. 6, 18.
»Die Ansicht, dass die Chiliasten sich eine Veränderung des status quo ausschließlich durch
einen transzendenten Eingriff erträumt hätten oder dass die Konkretisierung ihrer gesellschaftlichen Vorstellungen vage geblieben wäre, ist unzutreffend. In Münster wurde nicht
gewartet, sondern hier wurde ein Modell der permanenten Revolution und der dynamischen
Herrschaftsausübung praktiziert und bis zuletzt durchgehalten« (Bernet 2007, S. 92). Zur
Vorbildfunktion der Täuferbewegung in Münster für die Fifth-Monarchists Capp 1972,
S. 116.
Holstun 1987, S. 46 – 48. Vgl. Appelbaum 2002, S. 105.
Collier, Thomas, A Discovery of the New Creation, in: Woodhouse 1966, S. 390.
Utopie und Republikanismus als Gegensatz?
29
Prämisse utopischer Ordnungskonzeptionen ist hingegen die Annahme, dass
die menschliche Natur moralisch und intellektuell defizient und zudem unveränderbar ist, was schwerwiegende Folgen für die soziale Ordnung mit sich
bringt.67
Auf die Herausstellung der Verbindungen zwischen dem puritanischen Millennarismus und der republikanischen Utopie soll in der vorliegenden Untersuchung ein dezidierter Schwerpunkt gelegt werden. In Abgrenzung zu den
Säkularisierungs- und Modernisierungsnarrativen älterer Forschungen soll der
religiöse, konfessionelle und biblizistische Wesenszug der Utopie in ihrer Verbindung mit dem Republikanismus beleuchtet werden.
c)
Utopie und Republikanismus als Gegensatz?
Das in der Forschung wahrgenommene Spannungsverhältnis zwischen der
Utopie und dem Republikanismus lässt sich gut an der Zurückhaltung der
Exegeten veranschaulichen, James Harringtons The Commonwealth of Oceana
(1656) als Utopie anzusehen. Wenn John Pocock, der bedeutende HarringtonForscher und Herausgeber seiner Werke, James Harrington den Rang eines
utopischen Autors und Denkers abspricht, so ist man gut beraten, diesen Einwand ernst zu nehmen. Nicht nur deshalb, weil dieses Urteil von einem der
wichtigsten Exponenten der Cambridge School stammt, sondern weil Pocock
Gründe für diese Einschätzung vorbringt, die schwerwiegend erscheinen und
uns daher im Folgenden noch genauer beschäftigen müssen. Pocock liest Harringtons The Commonwealth of Oceana als politischen Reformtraktat, dessen
Fundament die Geschichtsinterpretation ist und nicht die Fiktion eines als real
vorgestellten Idealstaates.68 Auf der Grundlage einer historischen Analyse, die
67 Collier spricht von einer »[…] renovation or renewing of the mind: an internal and spiritual
change, a transformation out of the nature of the first, into the nature of the second, Adam.
[…] The glorious appearing of light in the spirits of Christians will so cover the earth which is
within them, that they shall be in a great measure freed from those corruptions, those
distractions, which formerly were prevalent in them« (ebd., S. 390 f.) Zum anthropologischen Pessimismus in der Utopie s. S. 42.
68 »There is a deeper reason why Oceana is not a utopia in More’s, Bacon’s or Campanella’s
sense. It does not portray a no-place or outopia, an imaginary island in unknown seas, but a
fictionalized yet instantly recognizable England […]. Oceana is not a utopia so much as an
occasione, a moment of revolutionary opportunity at which old historical forms have destroyed themselves and there is a chance to construct new forms immune from the contingencies of history (known as fortuna). […] We cannot understand Oceana’s character as
utopia unless we first understand its character as history« (Pocock in: Harrington 1992, S.
xvii). Die Frage nach dem Charakter der Oceana als utopische Schrift wird im HarringtonKapitel von Pococks The Machiavellian Moment nicht thematisiert (Pocock 1975, S. 383 –
400). Auch Tawney (1941, S. 207) streitet Harrington den Rang eines utopischen Autors ab.
30
Einleitung
die Tragfähigkeit der monarchischen Regierungsform für England fundamental
in Abrede stellt, schlage Harrington hierin ein republikanisches Reformprogramm für das um eine stabile politische Ordnung ringende Land unter dem
Protektorat Cromwells vor. Der Text stehe in erster Linie in der Tradition des
republikanischen Denkens Machiavellis und allgemein des florentinischen politischen Realismus und Säkularismus. Pocock stellt Harringtons Oceana des
Weiteren als Schlüsseltext heraus, der an der Genese des Republikanismus auf
der anderen Seite des Atlantiks Anteil hatte und noch auf die Gründerväter der
Vereinigten Staaten (vor allem auf John Adams) Einflüsse ausübte. Pocock erläutert seinen Begriff der Utopie nicht, scheint aber die Utopie aus dem Gegensatz von (historisch fundiertem) Realismus und (utopischem) Idealismus
heraus zu begreifen, als abstraktes politisches Modell, das keine Ansprüche auf
Verwirklichung stellt, was zum Ausschluss Harringtons (aber offensichtlich
auch Machiavellis) aus dem Kanon utopischen Denkens führt. Das politische
Programm Harringtons weise folglich einen anti-utopischen Wesenszug auf und
grenze sich von utopischen Bewegungen wie denjenigen der Levellers und
Diggers scharf ab, die in den ersten Jahren des Commonwealth von der Regierung niedergeschlagen wurden.69
Harringtons Oceana weist allerdings nicht nur Textmerkmale auf, die sie von
der frühneuzeitlichen Raumutopie unterscheiden (Pocock betont etwa, dass in
der Oceana der für die Utopie typische Verfremdungseffekt entfällt, der dadurch
zustande kommt, dass die Texthandlung in einem irrealen und nichtexistenten
Raum angesiedelt wird). So lassen sich ebenfalls deutlich erkennbare Anspielungen auf das utopische Genre feststellen, die die Textexegeten leichtfertig
übersehen.70 Wenn die Ortsbezeichnungen oder auch historische Personennamen bei Harrington durch unterhaltsame Gräzismen umgebildet werden,71 und
zudem berichtet wird, dass die Oceaner eine ausgeprägte Abneigung gegen den
Juristenstand hegen und der Auffassung sind, dass das Gemeinwesen auf wenige,
Ottmann (2006, S. 330) pflichtet dem bei: »[Es] entsteht der irreführende Eindruck, als ob
Harrington eine Utopie hätte schreiben wollen. Stattdessen hatte er an einem Verfassungsentwurf gedacht«.
69 Die einseitige und kontrastive Zuweisung des Attributs des Idealismus an Morus und des
Attributs des Realismus an Machiavelli wird hingegen in Frage gestellt und als ideengeschichtliches Missverständnis dargestellt bei Schölderle 2013.
70 So bedient sich Harrington etwa der für das Genre charakteristischen Reisemetaphorik. Der
Ich-Erzähler reist, am Ende seines Berichts vom Gemeinwesen von Oceana angelangt, aus
diesem Land ab (s. Harrington 1992, S. 264). Dass die Oceana keine Handlung aufweist, wie
Helmut Swoboda (1972, S. 167) meint, ist nicht haltbar.
71 Nur drei Beispiele: Parthenia (altgr. parthenos für Jungfrau) steht für Königin Elisabeth I.,
Emporium (altgr. emporion für Handelsplatz) für London und die fiktive Person Epimonus
de Garrula (altgr. epimone für Durchhalten und lat. garrulus für Schwätzer).
Utopie und Republikanismus als Gegensatz?
31
kurze und allgemein verständliche Gesetze zu gründen sei, handelt es sich um
Erkennungsmerkmale der Utopie.72
Neben derartigen gattungstechnischen und textmorphologischen Gesichtspunkten steht jedoch der Einwand Pococks, dass Harringtons Republikanismus
ihn zum Utopisten disqualifiziere und daher die quasi-utopische Form des
Textes nur eine sekundäre Bedeutung besitze, was die Frage nach der systematischen Beziehung zwischen Utopie und republikanischem Denken aufwirft.
Folgt man J. C. Davis, dessen Untersuchung die englischen Utopien von Morus
bis zur Glorious Revolution im Überblick behandelt, so ist von einem stark
kontradiktorischen Verhältnis zwischen Republikanismus und Utopie auszugehen. Das Anliegen des Republikanismus bestehe Davis zufolge darin, die
Stabilität der Republik und die politische Freiheit ihrer Bürger im Fluss der Zeit
zu gewährleisten. Dies werde durch die Teilhabe der Bürger am politischen
Leben, zudem durch die Herrschaft der Gesetze und schließlich mithilfe des
dynamischen Gleichgewichts bewerkstelligt, das zwischen den verschiedenen
Ständegruppen und den Verfassungsorganen in der Mischverfassung aufrecht
erhalten werde. Sei der Ausgangspunkt der Utopie auch ähnlichen Charakters,
nämlich das Anliegen, die Korruption und Degeneration der gerechten politischen Ordnung des utopischen Gemeinwesens zu vermeiden,73 so unterscheiden
sich jedoch die Mittel von Grund auf, nämlich in der Utopie der politische
Kollektivismus, die Umverteilung ökonomischer Güter oder gar die kommunistische Besitzordnung, schließlich die Disziplin, die durch ein strenges
Strafregime aufrecht erhalten werde.74 Davis’ Kontrastierung von Republikanismus und Utopie legt einen besonderen Fokus auf zwei Kernaspekte, die im
Republikanismus und in der Utopie begegnen, jedoch unterschiedlich bewertet
werden, nämlich die politische Partizipation und das Eigentum; zwei Aspekte,
die bereits in Aristoteles’ Kritik am Utopismus Platons eine zentrale Rolle
spielten (Politik II/6). Diese Aspekte müssen bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen utopischen und republikanischen Formen des Denkens und
72 Harrington 1992, S. 41, 136, 239; vgl. Morus 1983, S. 111. Auch das allgemeine Ausreiseverbot für die Oceaner und die Genehmigungspflicht für ausnahmsweise durchgeführte
Auslandsreisen könnten von Morus inspiriert sein, vgl. Harrington, ebd., S. 191 f. und
Morus ebd., S. 79 f.
73 So sei Anliegen der Utopie »to bring an end to moral uncertainty and to the fear that history
must be an endless and meaningless flux, a moral chaos« (Davis 1981, S. 61). Vgl. Pocock
1975, S. viii.
74 »The participatory citizens of the classical republic, exercising their civic virtue through
freedom of choice, are replaced in utopia by subjects constrained, as far as possible, to act out
a predetermined pattern of morality over which they have no control and which they may not
change. There is, in other words, an antipathy between the classical republic and utopia«
(Davis 1981, S. 207). Davis beruft sich in seiner Konzeption des republikanischen Denkens
auf Pocock; s. ebd., S. 39, 43, 57 – 59, 207 ff. Zu den Strafen in den frühneuzeitlichen Utopien
siehe Cambi 1996 und unten IV.3 b.
32
Einleitung
Sprechens über Politik in den Mittelpunkt gestellt werden. Systematisch betrachtet sind die Grundanliegen des Republikanismus und der Utopie auch
insofern divergent, als es ersterem um die politische Freiheit geht (die auf der
politischen und juridischen Gleichheit der Bürger, aber nicht auf ihrer sozioökonomischen Gleichheit gründet) und letzterer in den meisten Fällen um die
Umsetzung einer egalitaristischen Gesellschaftsordnung (etwa bei Morus,
Campanella, Andreae und Winstanley). Die vorliegende Untersuchung möchte
in Abgrenzung zu Pocock und Davis die These vertreten, dass die Utopie und der
Republikanismus im Interregnum ungeachtet dieser Spannungspunkte eine
unterstützende, symbiotische Verbindung eingehen. Es wird zudem argumentiert, dass Pocock den utopischen Charakter von Harringtons Oceana unterschätzt.75
Dass das Verhältnis zwischen Utopie und Republikanismus im frühneuzeitlichen England nicht derart gegensätzlich gedeutet werden muss, wie es Pocock
und Davis tun, kann anhand der Bedeutung republikanischer Ordnungs- und
Partizipationselemente im Architext der utopischen Gattung, in Thomas Morus’
Utopia von 1516, plausibel gemacht werden. Vermutlich beeinflusst von seinen
eigenen Erfahrungen in der Londoner Kommunalpolitik beschreibt Morus in
seiner Utopie ein System lokaler Gremien, die Repräsentanten für die Stadt- und
Landesregierung bestimmen und entsenden.76 Utopia ist zudem in Form eines
republikanischen Städtebundes organisiert, der aus 54 Stadtstaaten besteht.77
Die Interpretation der im zweiten Buch der Utopia von Raphael Hythlodaeus
skizzierten politischen Regierungsform als republikanische Alternativordnung,
die der monarchischen Herrschaftsrealität unter den Tudors entgegengestellt
wird, bildet eine attraktive Deutungsmöglichkeit, die der komplexe und mehrschichtige Text von Morus anbietet.78 Freilich ist davor zu warnen, die republi75 Davis rechnet Harrington im Unterschied zu Pocock zum utopischen Textkorpus, das im
England des 17. Jahrhunderts entsteht, grenzt ihn dafür aber vom republikanischen Denken
ab. Die starke Dichotomie Republikanismus-Utopie bleibt bestehen. Siehe Davis 1981, S. 39,
208.
76 Die Regierungsorganisation in Utopia fußt auf drei Institutionen: Der Volksversammlung,
die aus den Syphogranten besteht, dem Senat, der von den Traniboren gebildet wird, und
dem von der Volksversammlung auf Lebenszeit gewählten Fürsten/Wahlmonarchen. Jeweils
30 Haushalte wählen einen Syphogranten als ihren Repräsentanten. An der Spitze von je 10
Syphogranten bzw. 300 Haushalte steht ein Tranibor. Abgesehen vom Fürstenamt gilt in
Utopia bei der Ämtervergabe das Prinzip der Annuität, s. Morus 1983, S. 65 f.
77 »Utopia is a republican league of city-states. The only central organization Utopia has
consists of a council of the whole Island« (Davis 1981, S. 52).
78 In der modernen Forschung hat Russel Ames Morus erstmals mit dem Republikanismus in
Verbindung gebracht: »Utopia is not an accident of individual genius but a product of
capitalism’s attack on feudalism, a part of a middle-class and humanist criticism of a decayed
social order. […] Though it is true that the Utopia is somewhat anti-capitalist […] the core of
the book is republican, bourgeois and democratic – the result of More’s experience as a man of
Utopie und Republikanismus als Gegensatz?
33
kanische Komponente in Hythlodaeus’ Beschreibung des »optimus status rei
publicae« (so die Wendung im Titel von Morus’ Schrift) von Utopia zu hoch zu
veranschlagen. Andere Ordnungsparadigmen, etwa der christliche Urkommunismus und Monastizismus, sind für das Gemeinwesen von Utopia ebenso
ausschlaggebend, wenn nicht noch bedeutender. Und doch ist bemerkenswert,
dass die Einreihung von Morus’ Utopia in den republikanischen Textkanon bei
frühneuzeitlichen Denkern häufig vorkommt. Jean Bodin zählt Morus etwa
zusammen mit Machiavelli und Contarini zu den wichtigsten Befürwortern der
Mischverfassung, die Bodin aufgrund seiner neuen, auf die Souveränität fokussierten Konzeption von Herrschaft ablehnt.79 In der (nach meinem Kenntnisstand) einzigen namentlichen Erwähnung von Morus in Harringtons Werk
reiht dieser Morus in den Kanon wichtiger republikanischer Denker ein, statt ihn
als utopischen Denker herauszustellen. Morus wird in einem Zug mit Aristoteles, Livius und Machiavelli genannt.80 Ebenso aufschlussreich ist es jedoch,
wenn Gegner der Republik, etwa der royalistisch gesinnte Autor der Fortsetzungsutopie New Atlantis continued der republikanischen Deutung von Morus
beipflichtet. Der nur mit seinem Akronym R. H. bekannte Autor dieses Textes
veröffentlichte seine Schrift kurz nach der Restauration im September 1660 und
wollte mit ihr einen Beitrag zur Wiederherstellung und Festigung der althergekommenen Ordnung leisten. Er sieht es als seine Aufgabe an, die Utopie aus
der republikanisch-ideologischen Umklammerung zu befreien, in die sie seit
Morus und insbesondere bei seinen Nachahmern im Interregnum geraten sei:
[…] supposing the ground-work Monarchiall [sic.] Government […] the most perfect
and surest foundation to build on […]. Thus much therefore is said to satisfie the
Reader only, least prima facie he should suspect that the following frame of a Commonwealth should be squared according to the Lacedemonian Copy, or those Agrarian
laws in Rome, or should smel of Platoes community, revived by King Utopus [d.i.
Morus], or any later Republican.81
business, as a politician, and as an Erasmian reformer« (Ames 1949, S. 6, Hervorh. S.S.; vgl.
Nendza 1984).
79 Bodin 1981, S. 319. Zera Fink interpretiert das Regierungssystem aus Morus’ Utopia als
republikanische Mischverfassung und stellt die Bedeutung dieses Textes für den klassischen
Republikanismus in England und Amerika heraus (Fink 1945, S. 21 f.).
80 »It was in the time of Alexander, the greatest prince and commander of his age, that Aristotle,
with scarce inferior applause and equal fame, being a private man, wrote that excellent piece
of prudence in his cabinet which is called his Politics, going upon far other principles than
those of Alexander’s government, which it hath long out-lived. The like did Titus Livius in the
time of Augustus, Sir Thomas More in the time of Henry the Eighth, and Machiavel when
Italy was under princes that afforded him not the ear« (Harrington 1977, S. 395 = The
Prerogative of Popular Government, I).
81 Anonym 1660, Vorwort, unpaginiert [S. 15]. Man beachte, dass Morus (= »king Utopus«)
hier ohne Bedenken in das republikanische Lager eingereiht wird. Mit »agrarian laws« wird
auf Harringtons Utopie angespielt, in der den Agrargesetzen eine zentrale Bedeutung zukommt.
34
Einleitung
Die Sympathien von R. H. liegen daher eindeutig bei anderen Autoren von
Utopien, die im Gegensatz zu Morus eine monarchische Herrschaftsordnung im
Sinn hatten, wie Francis Bacon und Robert Burton.82 Eine Stellungnahme des
einflussreichen Neuplatonikers Henry More, ebenfalls aus dem Jahre 1660, betont gleichfalls die Filiation, die zwischen den Republikanern und der Textform
der Utopie bestand, und zerstreut andererseits Zweifel an der Einstufung Harringtons als utopischen Denker und seiner Oceana als Utopie. Mit antirepublikanischem Impetus stellt More brutal und sarkastisch die Frage, ob man die
(unterlegenen) Republikaner am besten durch Erhängen oder durch Ertränken
in ihre imaginierten Welten von Utopia und Oceana befördern solle: »Whether
hanging or drowning be the best ways of transportation of our late republicans to
the commonwealths of Utopia and Oceana?«83 Nicht bloß die Sympathisanten
eines absolutistischen Royalismus, sondern auch die Anhänger der ancient
constitution, der überkommenen Herrschaft von Commons, Lords und König,
brachten nach der Restauration ihre Abneigung gegen den Republikanismus mit
dem utopischen Genre in Verbindung. Zielscheibe der Polemik ist auch hier, wie
das Beispiel von William Portmann zeigt, die republikanisch-utopische Ordnung, die Harrington vorgeschlagen hatte:
No longer let the vain Republican / Fill with Chimera’s his fantastic Noddle: / Balance,
and Ballot, and Agrarian, / And all the Whimsies of th’ Utopian Model / Are out of
doors: to the old Form we cling, / Our good old Form; Commons, and Lords, and
KING.84
Aber zurück zu Morus. Das Gemeinwesen von Utopia ist keine Monarchie. Lediglich ein (in seinen Herrschaftsbefugnissen beschränkter) Wahlmonarch hat
in der Verfassung Utopias einen Platz. Er lässt sich als monokratische Komponente in der Mischverfassung Utopias deuten, die oligokratischen und polykratischen Regierungsinstanzen gegenübersteht. Der mythische Staatsgründer
Utopus, auf den die politischen, ökonomischen und moralischen Einrichtungen
des Gemeinwesens von Utopia zurückgehen sollen, ist somit Schöpfer einer
nichtmonarchischen Ordnung.85 Morus war für die gegenüber der Monarchie
kritisch bis feindlich eingestellten Republikaner im England des 17. Jahrhunderts auch wegen seiner Biographie ein attraktiver Autor, hatte er doch Heinrich
82 Vgl. ebd., S. 15 ff.
83 [More] 1660, S. 2.
84 Portmann 1660, S. 2 (Hervorh. S. S.). Die Begriffe »balance«, »ballot« und »agrarian« sind
Schlüsseltermini aus Harringtons politiktheoretischem Vokabular.
85 Morus 1983, S. 129 ff. Zur Wahlmonarchie in einer italienischen Utopie von 1626, Lodovico
Zuccolos La republica d’Evandria, die nach dem Vorbild des spartanischen Königtums und
der venezianischen Dogen konzipiert wird (s. Zuccolo 1944, S. 46 f.).
Utopie und Republikanismus als Gegensatz?
35
VIII. und seiner Kirchenpolitik Widerstand geleistet und seine Insubordination
mit dem Leben bezahlt.
Überblickt man bedeutende utopische Projektionen des 16. und 17. Jahrhunderts, so stellt man fest, dass die Utopie in der weiteren Gattungsentwicklung
insoweit Morus gefolgt ist, als sie die geringe Affinität der Utopia zur Monarchie
weiterführt – von einem Antimonarchismus bei Morus zu sprechen wäre jedoch
wohl übertrieben.86 Die institutionelle Ordnung, die in frühneuzeitlichen Utopien vorgeschlagen wird, changiert zwischen Formen kommunaler Selbstverwaltung und meritokratisch-expertokratischer Elitenherrschaft. Diese Ordnungskonzeption erscheint damit den Partizipationsformen verwandt, die in
den historisch realen Republiken in der Frühen Neuzeit anzutreffen sind. Es ist
außerdem zu beachten, dass England bereits vor 1649 und ungeachtet seiner
monarchischen Verfassung auf der Ebene der cities und counties eine besonders
starke Tradition der politischen Partizipation der Bürger in lokalen und kommunalen Regierungsgremien aufweist, in denen republikanische Traditionen
auch im Zeitalter der Tudors und der Stuarts fortgeführt werden konnten.87 Die
Formen der breitgestreuten, kommunalen Partizipation werden in den englischen republikanischen Utopien folgerichtig auf die Spitze getrieben; etwa bei
Harrington, in dessen Oceana etwa ein Fünftel der wahlberechtigten Männer auf
kommunaler Ebene Ämter bekleiden und Aufgaben versehen.88 In der anonymen utopischen Schrift The Free State of Noland (1701) rückt die kommunale
Partizipation in den Mittelpunkt des politischen Freiheitsverständnisses:
86 Anklänge an den republikanischen »Monarchiehass« finden sich bei Morus jedoch in der
Verwendung des Begriffs »Tyrannis«. Der Sturz und die Ermordung von Tyrannen werden
explizit als außenpolitisches Ziel der Utopier genannt. Die Utopier betreiben zudem auf
Kosten monarchischer, nichtrepublikanischer Gemeinwesen eine Expansionspolitik. Die
Verhinderung einer hausgemachten Tyrannis ist hingegen Zweck vieler politischer Institutionen; Morus 1983, S. 115ff; vgl. Baumann 1988, Ransom 2013, Smith 2013. Bereits in
antiken Utopien sticht eine antimonarchische Gesinnung hervor, etwa im Hellenismus in
Euhemeros’ Panchaia , deren Bewohner als »autonomoi kai abasileutoi« bezeichnet werden
(Diodor, V, 42, 5), dazu Bichler 2008, S. 38.
87 Collinson 1987, Roy 1988, Reinhard 2000, S. 199 ff. Braddick 2008, S. 60 – 63. Goldie (2001)
spricht vor diesem Hintergrund sogar von England als »unacknowledged republic«.
88 Harrington 1992, S. 77 ff. Die 10.000 Gemeinden Oceanas entsenden ein Fünftel der Wahlberechtigten als Vertreter in die 1.000 Hundertschaften, aus denen wiederum Wahlmänner in
die Versammlungen der 50 Stämme entsandt werden, die ihrerseits die Abgeordneten für das
Parlament wählen. Braddick schätzt für die Mitte des 17. Jahrhunderts in England den Anteil
der wahlberechtigten (männlichen) Bevölkerung, der kommunale Ämter versieht, auf ein
Zehntel der Gesamtbevölkerung (Braddick 2008, S. 60). Braddick betont, dass in der englischen Monarchie »there was a republic of office holders« (ebd., S. 63).
36
Einleitung
»In these [in den Gemeinden von Noland, S.S.] the People have the Government among
themselves: with Laws and Orders of their own making and Magistrates of their own
choosing. Which is the summ of civil liberty.«89
Die Utopieforscher Richard Saage und Peter Nitschke betonen den nichtmonarchischen und partizipativen Wesenszug, der die Gestaltung von Politik bei
Morus und bei seinen Nachahmern bestimmt. Sie sprechen (ebenso wie Ernst
Bloch) von einem demokratischen Zug in der frühneuzeitlichen Utopie, dem
allerdings ein ebenso prägnanter autokratischer Zug gegenüberstehe. Dieser
demokratische Zug unterscheide Morus etwa vom elitären Utopismus Platons,
der die Partizipation in die Hände eines philosophisch und moralisch kompetenten Herrscherstandes gelegt, jedoch den Nährstand von ihr ausgeschlossen
hatte.90 Wenn man die negativ-pejorative Bedeutung des Begriffs »Demokratie«
bedenkt, die in der Frühen Neuzeit vorherrschend ist, hat dieser Sprachgebrauch
einen unnötigen terminologischen Anachronismus zur Folge.91 Von einem republikanischen statt von einem demokratischen Wesenszug in den frühneuzeitlichen Utopien zu sprechen, wird der politischen Semantik der Zeit eher
gerecht. Das Problem der Begriffsdefinition, was unter Republikanismus und
unter dem republikanischen Denken und Sprechen über Politik (aus Sicht der
Frühen Neuzeit) konkret zu verstehen ist, wird uns an anderer Stelle noch genauer beschäftigen.92 An dieser Stelle kann man jedoch bereits festhalten, dass
republikanische Elemente wie die Bürgerpartizipation, die Mischverfassung, die
Geltung der Gesetze bzw. die Ehrfurcht der Bürger gegenüber den geltenden
Gesetzen, schließlich eine gegenüber der Monarchie kritische Grundhaltung in
der Tradition des Morus die frühneuzeitliche Utopie charakterisieren. Hierin
liegt ihre Attraktivität für die englischen Republikaner begründet. Auf den
Spuren des Morus wandeln in England – wie man sehen wird – republikanische
Akteure verschiedener Lager und Gruppierungen (aristokratisch-moderate,
demokratisch-radikale, religiöse, säkulare). Die Rezeption der Utopie spielt
89 Anonym 1701, S. 8.
90 Nitschke 1995, S. 68; Saage 1990, S. 50. Bloch deutet das Herrschaftssystem von Utopia bei
Morus als Demokratie. Er kontrastiert zudem Morus’ »Utopie der Freiheit« mit Campanellas
Utopie, die auf Zwang und Unfreiheit beruhe (Bloch 1959, S. 598 – 614, v. a. S. 603, 609, 614).
Saage betont, dass die Herrschaftsform frühneuzeitlicher Utopien eine Mischung aus demokratischen und autokratischen Elementen, aus Partizipation und Obrigkeitsgehorsam
darstelle (Saage ebd., 50 f.): »Im Gegensatz zu Platon erkennen […] die frühneuzeitlichen
Utopisten das Volk als politische Größe an« (S. 322). Zur Distanzierung vom platonischen
Ständemodell der Politeia in Morus’ Utopia hingegen Baker-Smith 1994, S. 96.
91 Dazu Nippel 2008.
92 Zur Definition von »Republikanismus« und zur Eingrenzung des semantischen Feldes des
Republikanismus als politische Sprache im England des 17. Jahrhunderts unten IV.1. Hier
auch eine Kritik an der epochenübergreifenden und aus historischer Sicht problematischen
Republikanismus-Definition bei Pocock.
Utopie und Republikanismus als Gegensatz?
37
zeitlich betrachtet im prärevolutionären, wie im revolutionären und postrevolutionären Republikanismus in England eine Rolle.
Andererseits hat Eric Nelson überzeugend herausgestellt, dass Morus der
republikanischen Tradition politischen Denkens nicht unkritisch gegenüberstand. Seine Utopia beinhaltet einen gräzistischen (vom altgriechischen politischen Denken inspirierten) Frontalangriff gegen das neurömisch-ciceronische
Verständnis vom Bürger und von der res publica. Dadurch, dass sich Morus’
Utopier aus dem politischen Schlüsselgut der Ehre und aus dem Privatbesitz
gleichermaßen nichts machen, stellen sie zwei zentrale Normen des altrömischen politischen Handlungsverständnisses in Frage: Einerseits das im öffentlichen Bereich vorherrschende Konzept der Ehre und Ehrhaftigkeit (honestum)
des Bürgers und andererseits die Bedeutung des Besitzes und seiner Unverletzlichkeit für den privaten Bereich gemäß dem Grundsatz des »ius suum cuique tribuendi« aus dem römischen Recht.93 Auch aus dieser Perspektive trifft
man erneut Spannungspunkte zwischen der utopischen und republikanischen
Tradition an. Nelsons Arbeiten deuten jedoch, eher als auf eine Unvereinbarkeit
von Utopie und Republikanismus, auf einen Nebenstrang der republikanischen
Sprache hin, der in den frühneuzeitlichen Utopien entstehe und in dem griechische Quellen eine besondere Bedeutung besitzen. In der Konsequenz würden
im gräzistischen (utopischen) Republikanismus andere Probleme und Aspekte
in den Vordergrund gerückt, die in der römischen Tradition keine hervorragende Bedeutung besaßen, etwa die dem utopischen Denken, aber auch altgriechischen Philosophen wie Platon und Aristoteles am Herzen liegende Frage
nach der gerechten Eigentumsordnung und nach der Zulässigkeit einer Umverteilung oder gar Kollektivierung von Besitz.94 Es liegt nahe, in der vorliegenden Untersuchung die zu analysierenden Textquellen auch in Bezug auf die
Frage nach der Rezeption des altgriechischen freistaatlichen Denkens zu
durchleuchten. Bevor wir uns allerdings der Auswertung des Quellenmaterials
zuwenden, soll der Begriff »Utopie« geklärt und die wissenschaftliche Kontroverse über seine Definition dargestellt werden.
93 Digesta 1.1.10; vgl. Cicero, De off. II/21, 73 und II/22, 78. »This conspicuous Hellenism [in
Morus’ Utopia, S.S.] provides a powerful backdrop for More’s thoroughgoing subversion of
the Roman republican tradition« (Nelson 2006, S. 1039). Zu den römischen Quellen des
englischen Republikanismus und zur Rezeption des ciceronischen Bürger- und Tugendideals in England Peltonen 1995.
94 Dazu und zum griechischen Strang republikanischen Denkens in der Frühen Neuzeit Nelson
2004. Auch der Neologismus »Utopia« und die fiktiven griechischen Namen, die Morus den
Personen, Institutionen und Ortsbezeichnungen von Utopia gibt, können als Hinweise auf
seinen gräzistischen Republikanismus gelten, der zur römischen Tradition republikanischen
Denkens auf Distanz geht, Nelson 2004, S. 102 – 105. Zu Harrington als Nachahmer von
Morus’ gräzistischem Republikanismus ebd., S. 87 – 124.

Documentos relacionados