Republikanische Träume von der Macht
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Republikanische Träume von der Macht
I. Einleitung In seinem 1651 erschienen Leviathan mahnt Thomas Hobbes, dass man nicht nur die Taten, sondern auch die Worte der Untertanen an den politischen Willen des Souveräns binden solle. Hobbes schrieb unter den Eindrücken des englischen Bürgerkrieges, der darauf folgenden Hinrichtung Charles I. und der Abschaffung der Monarchie in England. Auf die Sagengestalt des Ogmios anspielend, von dem es heißt, dass die Ohren seiner Zuhörer wie mit Ketten an seinen Mund gebunden waren, fordert Hobbes, dass die Gesetze wie unsichtbare Ketten die Ohren und Lippen der Untertanen fesseln sollen (Leviathan, Kap. 21).1 Hobbes wusste wovon er sprach. Die politische Sprache und die Macht der Wörter hatten an der Radikalisierung der Auseinandersetzung zwischen Krone und Parlament in England einen gewichtigen Anteil, eine Auseinandersetzung die (man möchte meinen) als gewöhnlicher Interessenskonflikt zwischen dem König und seinen Ständen begonnen hatte und schließlich in eine Revolution mündete. Welche Rolle spielte die Utopie in diesem Verhältnis zwischen der politischen Sprache und der Radikalisierung der politischen Wahrnehmungsmuster und Handlungsweisen? War sie dabei behilflich, die von Hobbes geforderten Ketten (als Sinnbild für die herrschaftliche Zügelung politischer Kommunikation) zu lockern, gar zu sprengen oder vielleicht doch eher zu festigen? Ist die Utopie ein kommunikationsgeschichtlich relevanter Gegenstand? Für diese Fragen möchte das vorliegende Buch Antworten liefern. Die Weltkriege, der Totalitarismus, das nukleare Zeitalter und die stets wachsenden Möglichkeiten des Menschen, in die Natur transformativ einzugreifen, haben im 20. und 21. Jahrhundert nicht bloß die Konjunktur dystopischer Projektionen befeuert, sie sind auch als Erklärungsgrund für die Ver1 Hobbes kannte diese legendäre Figur unter Umständen aus der Rhetorik des Thomas Wilson von 1564, wo das Sinnbild beschrieben wird (s. Wilson 1564, S. A3v-A4r). Wilsons The Arte of Rhetorick wurde im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert in England, als Hobbes seine Grundausbildung genoß, stark rezipiert. Lukian und – durch ihn beeinflusst – die frühneuzeitlichen Kenner dieses Sinnbilds setzten die keltische Sagengestalt des Ogmios mit Herkules gleich. 10 Einleitung nachlässigung der Utopie in der Wissenschaft heranzuziehen. Merkmale der Utopie als Fiktion eines imaginären Gemeinwesens sind unter anderem ein umfassender Anspruch, das Leben, die Tätigkeiten und das Denken der Menschen zu regulieren ebenso wie die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Ordnung festzulegen. Karl Popper rechnet die Utopie bekanntlich zu den feindseligen Kräften, die die offene Gesellschaft bedrohen. Ralph Dahrendorf sucht in einem Essay aus dem Jahre 1967 nach »Pfaden aus Utopia«.2 Die Erfahrung des historisch realen Sozialismus hat die Skepsis gegenüber den Befreiungsversprechen politischer Utopien anwachsen lassen. Interessanterweise fällt das Urteil über die Utopie im marxistischen Denken nicht viel positiver aus. Der Begriff Utopie bezeichnet bei Friedrich Engels (in Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft) einen bloß träumenden, realitätsflüchtigen, unwissenschaftlichen und daher die bestehenden Verhältnisse reproduzierenden Habitus.3 Die Utopie wurde in den letzten Jahrzehnten in der deutschen Geschichtswissenschaft, aber auch in der geschichtswissenschaftlichen Forschung anderer Länder vernachlässigt.4 Dies gilt besonders für die Frühneuzeitforschung. Die Erforschung utopischer Texte, die in England in der Zeitspanne vom Ausbruch des Bürgerkriegs bis zur Restauration entstehen, ist derzeit feste Ägide literaturwissenschaftlicher und mit literaturwissenschaftlichen Methoden verfahrender Forschung.5 Der Totalitarismusverdacht, der nach der Erfahrung des Nationalsozialismus und später im Kulturkampf des Kalten Krieges gegenüber 2 Dahrendorf bezieht sich auch auf Marx’ »klassenlose Gesellschaft« als Utopie und am Beispiel Lenins auf die Gefahr einer Realisierung von marxistischen Utopien (Dahrendorf 1974, S. 247). Zum Totalitarismusverdacht gegen die Utopie als Hemmfaktor für ihre wissenschaftliche Würdigung in der Philosophie und in den Sozialwissenschaften Saage 1990, S. 1 f. 3 »Es handelte sich [bei den Utopien der Frühsozialisten wie Saint-Simon und Owen, S.S.] darum, ein neues, vollkommneres System der gesellschaftlichen Ordnung zu erfinden und dies der Gesellschaft von außen her, durch Propaganda, womöglich durch das Beispiel von Musterexperimenten aufzuoktroyieren. Diese neuen sozialen Systeme waren von vornherein zur Utopie verdammt; je weiter sie in ihren Einzelnheiten ausgearbeitet wurden, desto mehr mußten sie in reine Phantasterei verlaufen. Dies einmal festgestellt, halten wir uns bei dieser, jetzt ganz der Vergangenheit angehörigen Seite keinen Augenblick länger auf. Wir können es literarischen Kleinkrämern überlassen, an diesen, heute nur noch erheiternden Phantastereien feierlich herumzuklauben« (Engels 1973, S. 194, Hervorh. S.S.). 4 Ausnahmen hiervon bilden aus althistorischer Sicht: Bichler 1995 und ders. 2008 sowie jüngst Winiarczyk 2011; aus mediävistischer Sicht: Seibt 1969 und ders. 1980 und aus frühneuzeitlicher Sicht: Nipperdey 1975 und jüngst Bernet 2007 und Prodi 2013. Zu erwähnen ist auch die unveröffentlichte Dissertationsschrift von Eberhard Jäckel (1955), die sich mit Morus befasst. Zur Utopiediskussion in der Geschichtswissenschaft Seibt 1985. Aufgabe der Geschichtswissenschaft in der Utopieforschung sei laut Bernet, den Realitätscharakter utopischer Imaginationen und deren Auswirkungen auf gesellschaftliche Praxen zu untersuchen (2007, S. 6). 5 Bedeutende Studien sind: Davis 1981, Saage 1990, Boesky 1996, Appelbaum 2002. Einleitung 11 der Utopie ausgesprochen wurde, mag auch ursächlich gewesen sein für die Vernachlässigung der Utopie.6 Dass die utopischen Schriften republikanischer Autoren, die im Interregnum und nach der Restauration entstehen, selbst bei der Cambridge School kein sonderliches Interesse geweckt haben, ist hingegen mit der in Kürze zu behandelnden Inkommensurabilitätsannahme hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Republikanismus und Utopie zu erklären.7 Die politische Geschichte Englands ermangelt im 17. Jahrhundert nicht an Phänomenen der politischen Radikalisierung, der Fanatisierung und der »totalen« Hingabe an eine politische oder religiöse Sache. Michael Walzer galten die Englische Revolution und vor allem der sich in ihr entladende puritanische Aktionseifer daher als Geburtsstunde des »modernen« politischen Radikalismus und Aktionismus.8 Die Warnungen vor der Utopie und vor ihrem Totalitarisierungspotential erscheinen, wenn man sie auf die Englische Revolution bezieht, trotz des Anachronismus, der mit der Projektion der Kategorie »Totalitarismus« auf die Frühe Neuzeit verbundenen ist, auf interessante Weise aktuell. Wir werden sehen, dass politische Akteure und politische Beobachter (aus verschiedenen Lagern) im 17. Jahrhundert der Utopie mit einem ähnlichen Vorbehalt gegenübertreten, wie es die liberalen Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts tun, die soeben zur Sprache kamen. Die utopieskeptischen Stimmen der Gegenwart ähneln denjenigen der Zeitgenossen und Kommentatoren der Englischen Revolution. Die Utopie erlebt in den Jahrzehnten zwischen dem Ausbruch des Englischen Bürgerkriegs im August 1642, der in der Absetzung und Hinrichtung des Stuartkönigs Charles I. am 30. Januar 1649 gipfelte, und der Restauration der Stuartherrschaft unter seinem Sohn Charles II. im Mai 1660 in mehrfacher Hinsicht eine Blütezeit. Es entstehen zahlreiche utopische Traktate, die in der Tradition von Thomas Morus unbekannte Inseln und Welten, deren Sitten, religiöse Überzeugungen und Gesellschaftsstrukturen, aber auch stark idealisierte politische Ordnungen beschreiben.9 Diese Prosperität utopischen Schreibens, der 6 Zum Totalitarismusverdacht gegenüber der Utopie aus geschichtswissenschaftlicher Sicht Fest 1991. »Doch seitdem der moderne Staat seinen totalen Gipfelpunkt erreicht hat, nicht zuletzt auch durch Versuche, politische Utopien zu verwirklichen, ist utopisches Denken nicht mehr glaubwürdig« (Reinhard 2000, S. 106). 7 Quentin Skinner hat sich mit Morus und seiner Bedeutung für die politische Sprache des Humanismus beschäftigt (Skinner 1987). Zu John Pococks Vernachlässigung des utopischen Charakters von Harringtons The Commonwealth of Oceana siehe S. 29 ff. Es ist der Verdienst von Eric Nelson (2004), in kritischer Auseinandersetzung mit Skinner und Pocock die Bedeutung der Utopie und der simultanen Rezeption von Morus und Machiavelli für den frühneuzeitlichen Republikanismus herausgestellt zu haben. 8 Walzer 1966. 9 Studien zum reichhaltigen utopischen Textkorpus aus den Bürgerkriegs- und Revolutionsjahren bei Davis 1981, Boesky 1996 und Appelbaum 2002. 12 Einleitung Produktion von Fiktionen eines als wirklich vorgestellten idealen Gemeinwesens, setzt sich nach der Restauration ungebrochen fort.10 Darüber hinaus wird der Begriff »Utopie« in England im 17. Jahrhundert als polemischer Kampfbegriff in der politischen Sprache verwendet. Er wird, die Lager übergreifend, in der politischen Rhetorik eingesetzt. Die begriffsgeschichtliche Forschung hat auf den zeitlichen Vorsprung hingewiesen, den die englische politische Sprache im 17. Jahrhundert im Vergleich zum Rest Europas hinsichtlich ihrer Aufnahme des Begriffs »Utopie« in die politische und Alltagssprache aufweist. Der Begriff ist in England nicht mehr dem exklusiven Sprachgebrauch der Gelehrten vorbehalten. Dieser zeitliche Vorsprung zeigt sich in der Aufnahme des Begriffs in die Lexikographie, aber auch in dessen abstrakter Verwendung in der Sprache politischer Akteure oder politischer Beobachter.11 Die Utopie wird aber auch in – hinsichtlich ihrer literarischen Form – nicht-utopischen Texten diskutiert (beispielsweise in Newsbook-Artikeln oder in der Poesie). Zentrale Semantiken, Topoi und Themen werden aus der Utopie entlehnt. Dem Ort »Utopia« oder verwandten fiktiven Ortsbezeichnungen begegnet man zudem als Druckort anonymer Schriften.12 Die Verbindungen der Utopie und der semantischen Berufungen auf sie zu den beiden konfliktantreibenden Kräften der Zeit, dem politischen Kampf zwischen Parlament und Krone und andererseits dem protestantischen Anliegen einer Vollendung der religiösen Reformation sind in diesen Texten von Fall zu Fall unterschiedlich gewichtet und lassen sich oft nicht gründlich voneinander trennen. Aus diesem ausgesprochen umfangreichen Quellenkorpus sollen für die nachfolgende Untersuchung vorwiegend Textdokumente herausgegriffen werden, die dem Republikanismus nahe stehen, der vor allem im Jahrzehnt nach der Hinrichtung Charles’ I. prosperiert, in England aber auch auf eine längere Vorgeschichte und Tradition zurückblickt, die in neueren Forschungsarbeiten herausgearbeitet wurde.13 Das zu untersuchende Quellenmaterial reicht von literarischen Utopien im engeren Sinne (den Fiktionen erfundener Länder und Gemeinwesen) über wissenschaftliche Traktate und politische Pamphlete bis zu Zeitungsartikeln und den Sprechakten politi- 10 Zu den Utopien nach der Restauration Claeys 2000. 11 Zum semantischen Vorsprung hinsichtlich der Verwendung des Begriffs »Utopie« in England im Vergleich zum Kontinent Hölscher 1990, S. 735 – 737, 754 ff. »In den politischen und Alltagssprachen ging der Utopiebegriff vor der Mitte des 18. Jahrhunderts einzig im Englischen ein« (ebd., S. 754). Beispiele zur Verwendung des Utopie-Begriffs in der politischen Rhetorik während des Bürgerkrieges und des Interregnums, aber auch nach der Restauration S. 13, 33 f., 60 f. 12 Anonym 1637, Anonym 1647, Anonym 1659. 13 Zur Vorgeschichte republikanischen Denkens und republikanischer Werte- und Handlungssysteme in England seit dem Tudor-Zeitalter Peltonen 1995; Norbrook 2000; Scott 2004, S. 233 – 251 und Kap. IV.1. Einleitung 13 scher Akteure und Beobachter, die in Reden, Briefen und Memoiren enthalten sind. Das Forschungsinteresse der vorliegenden Untersuchung betrifft das Verhältnis, das republikanische Formen des Denkens, Sprechens und Handelns in der Politik mit der Utopie von der Zeitspanne vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs bis zum Ende des ersten Restaurationsjahrzehnts (1640 – 1670) eingehen. Dass die Untersuchung dieses Beziehungsverhältnisses in dieser Zeitspanne lohnt, ist anhand von Aussagen bei Autoren fassbar, die nach der Restauration kritisch auf den Republikanismus zurückblicken, der während des Interregnums in England aufblühte. Der Republikanismus und die Utopie werden in diesen Beispielen (in negativer Hinsicht) geradezu als Synonyme verstanden. So notiert der Poet Samuel Butler, der während des Interregnums Proteg¦ von Samuel Luke war, einem Offizier aus dem militärischen Führungsstab Oliver Cromwells, vermutlich in den 1670er Jahren in seinem Tagebuch: A Republican is a civil Fanatic, an Utopian Senator ; and as all Fanatics cheat themselves with Words, mistaking them for Things; so does he with the false Sense of Liberty. He builds Governments in the Air, and shapes them with his Fancy, as Men do Figures in the Clouds.14 Butler beschreibt hier das Profil des Republikaners als notorisch von einem realitätsfernen und fanatischen Utopismus (»civil Fanatic«, »Utopian«) befallen. Seine Stellungnahme thematisiert aber auch die Bedeutung der Sprache und Wörter, die die Republikaner mit den Dingen selbst verwechselt hätten (»cheat themselves with Words, mistaking them for Things«). Einen ähnlich lautenden Vorwurf hatte vorher bereits Hobbes in seinem Leviathan von 1651 den politisch und religiös radikalen Gruppierungen gemacht. Laut Hobbes hatten die Republikaner und andere radikalen Kräfte die Sprache und die Wörter nicht als das aufgefasst, was sie sind, als System der Zeichensetzung, mit dem die Sprechenden die Realität bezeichnen können, sondern als realitätsschaffende und identitätsstiftende Kategorien missverstanden. Sie hätten das Bezeichnende und das Bezeichnete durcheinandergebracht. Dies zeigt etwa Hobbes’ vehemente Kritik am libertas-Kult der Republikaner.15 Durch diese sprachlichen Verir14 Butler 1908, S. 55. Weitere Stellungnahmen aus der Zeit kurz vor und nach der Restauration, die nahelegen, dass »republikanisch« und »utopisch« eine nahezu synonyme Bedeutung hatten, S. 33 f., 100 f., 140 ff. Zur Verwendung des Begriffs »Utopie« in Bezug auf die LevellerBewegung und zur Einstufung der Levellers als Utopisten in Newsbook-Artikeln der späten 1640er Jahre s. S. 142f. 15 Für Hobbes, der Freiheit negativ als Abwesenheit gesetzlicher Vorschriften definiert und sie im gesetzesfreien Raum verortet, ist Freiheit unabhängig von der politischen Regierungsform invariabel: »The Athenians and Romans were free; that is, free Commonwealths: not that any particular men had the liberty to resist their own representative, but that their representative had the liberty to resist, or invade, other people. There is written on the turrets 14 Einleitung rungen seien die politischen Vorstellungen und Einstellungen der englischen Untertanen völlig in Verwirrung geraten. Die Zeitgenossen brachten die Utopie mit dem Republikanismus in Verbindung. Es ist deshalb ein Anliegen der vorliegenden Untersuchung, das Bild zu korrigieren, das Lucian Hölscher in seinem Artikel zur »Utopie« in den Geschichtlichen Grundbegriffen skizziert hat, wonach der Begriff »Utopie« in England im 17. Jahrhundert zwar bereits als politischer Kampfbegriff verwendet wurde und damit in seiner Ausprägung anderen europäischen Sprachen vorauseilte, allerdings noch nicht in einer bestimmten politischen Weltsicht verwurzelt war bzw. mit einer konkreten politischen Strömung in Verbindung gebracht wurde. Eine solche dominante Einbettung des Utopiebegriffs in eine bestimmte politische Ideologie erfolge laut Hölscher erst im 18. Jahrhundert während der Französischen Revolution und dann vor allem im 19. Jahrhundert, wo die Utopie zum Synonym des Sozialismus und Kommunismus wurde.16 Meine Fragestellung greift das von J. C. Davis benannte Desiderat auf, die Utopie innerhalb einer nichtutopischen Tradition politischen Denkens zu verorten bzw. innerhalb eines politischen Denkens, das mit der Utopie nicht deckungsgleich ist (in unserem Fall dem Republikanismus): »A history of utopian thought which related it to mainstream traditions of non-utopian thought would be both possible and desirable«.17 Damit verbunden stellt die Untersuchung – bereits im Titel – die Frage nach dem Stellenwert der Utopie in der politischen Kommunikation und als Bestandteil politischer Sprache. Dieser Frage soll auf verschiedenen Ebenen nachgegangen werden: So soll erstens der Gebrauch politischer Sprache(n) in dem mehr oder weniger abgesonderten Kommunikationsraum der Utopie untersucht werden; in der Utopie als Textgenre sowie im weiteren Sinne in der publizistischen Sphäre politischer, religiöser und wissenschaftlicher Reformtraktate, die mit der Utopie in Verbindung stehen. Der Kommunikationsraum der Utopie kommt dabei einmal hinsichtlich der Kommunikation über Herrschaft ins Blickfeld, deren Vokabular und rhetorische Strategien es zu untersuchen gilt. Andererseits findet in der Utopie auch eine Kommunikation mit Herrschaft statt. Für den letzteren Kasus sticht das Beispiel der Kommunikation mit Oliver Cromwell hervor, die im Mittelpunkt von Utopien wie Gerrard Winstanleys The Law of Freedom (1652) oder James Harringtons The Commonwealth of Oceana (1656) steht. In den 1640er Jahren finden sich hingegen of the city of Lucca in great characters at this day, the word LIBERTAS; yet no man can thence infer that a particular man has more liberty or immunity from the service of the Commonwealth there than in Constantinople. Whether a Commonwealth be monarchical or popular, the freedom is still the same. But it is an easy thing for men to be deceived by the specious name of liberty« (Hobbes 1996, S. 149 = Leviathan, 21). 16 Hölscher 1990, S. 756. 17 Davis 1981, S. 3. Einleitung 15 interessante Quellen, in denen die Utopie in der Kommunikation mit dem Langen Parlament verwendet wird, in den 1660er Jahren hinwieder Quellen, in denen mithilfe der Utopie der neue Stuart-König Charles II. angesprochen wird. Zweitens soll der Gebrauch der Utopie in der politischen Sprache untersucht werden; etwa die Verwendung des Begriffs »Utopie« oder semantischer Felder, die eine besonders enge Verbindung zur Utopie aufweisen (z. B. die invasive Reglementierung der wirtschaftlichen Ordnung, wenn nicht gar die Aufhebung des Privatbesitzes). So lässt sich die Verwendung des Begriffs »Utopie« in den Sprechakten politischer Akteuren (z. B. Charles I.), in den Zeitungen (Newsbooks) oder in der Kommunikation in bzw. mit einer politischen Institution wie dem Parlament untersuchen. Drittens wird der Frage nachgegangen, ob sich die Utopie als eigene politische Sprache auffassen lässt, der eine spezifische semantische Ordnung zugrundeliegt. Hierbei wird es vor allem um die Beziehung zum semantischen Feld des Republikanismus gehen, um die Verwendung und Transformation politischer Semantiken, die aus diesem Feld stammen. Zur Debatte steht, ob die (republikanische) Utopie als eine Art Nebenzweig, als Dialekt oder Jargon des Republikanismus verstanden werden kann. Die politischen Akteure und die Autoren politischer Schriften (auch die republikanisch gesinnten) beherrschten im England des 17. Jahrhunderts verschiedene Sprachen und Semantiken, zu denen auch diejenige der Utopie gehört. Es wird daher der Inanspruchnahme und Funktionalisierung der Utopie im weiten Sinne (der Utopie als Begriff, als Textgattung, als sozialkritischem Denk- und Sprechhabitus) in der politischen Sprache der Republikaner (aber nachrangig auch der Royalisten und anderer politischer Gruppierungen) nachgegangen werden. Die vorliegende Untersuchung legt den Fokus auf die semantischen Möglichkeiten, die die Utopie in der politischen Kommunikation und bei der Ausübung politischer Sprechakte zur Verfügung stellen kann. Dies führt zur Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Politik; ein theoretisches und methodisches Problem, dem die politische Ideengeschichte und allgemein die Geschichtswissenschaft in letzter Zeit auf der Grundlage der sprachtheoretischsemantologischen Ansätze der Cambridge School (Quentin Skinner, John Pocok), aber auch der Begriffsgeschichte (Reinhart Koselleck) verstärkt ihre Aufmerksamkeit geschenkt hat.18 Laut Quentin Skinner lässt sich die Verwendung der Sprache im Text, lassen sich textuell manifestierte Sprechakte im Sinne politischer Handlungen unter- 18 Skinner 2002, S. 98 – 101, 105 ff., 107 f.; ders. 2010; Pocock 1987; Koselleck 1972; ders. 1978; De Benedictis/Corni/Mazohl/Schorn-Schütte 2009; Steinmetz 2007; Meier/Papenheim/ Steinmetz 2012. 16 Einleitung suchen (»words are deeds«).19 Das Wechselverhältnis zwischen der Sprache und den politischen Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten der Zeitgenossen ist dabei nicht bloß höchst komplex, sondern weist zudem unterschiedliche und auch widersprüchliche Wirkungsweisen auf. So tritt politische Sprachen mithilfe der historischen Quellenanalyse als Werkzeug in Erscheinung, das im politischen Handeln funktional eingesetzt wurde, um Ziele zu verwirklichen, wie die Genese von Ordnung, die Steigerung von Macht, die Lösung kollektiver Probleme oder die Konsolidierung von Herrschaft – je nachdem mit Erfolg oder Misserfolg. Dies ist freilich nur eine von vielen Eigenschaften der Sprache und ihrer Wirkungsweise im Bereich der Politik und des politischen Denkens. Die politisch dysfunktionale und herrschafts- oder ordnungsdestabilisierende Wirkungsweise der Sprache wäre hingegen ein weiterer, nicht minder aufschlussreicher Untersuchungsbereich. Der funktionale Gebrauch von Sprache kann zum Ziel der Festigung bestehender Herrschaftsformen geschehen oder aber zum Zweck des Widerstandes gegen eine (als ungerecht oder illegitim empfundene) Herrschaftsordnung bzw. zu ihrer Destabilisierung. Mit anderen Worten kann Sprache in der Politik stets herrschaftskonservativ oder herrschaftsoppositionell eingesetzt werden.20 Es wird im Folgenden daher auch um die Frage gehen, ob und wie die Utopien zwischen 1640 und 1670 unter den unterschiedlichen Rahmenbedingungen des Bürgerkrieges, des Interregnums und der Restauration im gerade erläuterten Sinne herrschaftskonservativ oder herrschaftsoppositionell in Erscheinung traten. Einleitend sollen der Gegenstand und das Erkenntnissinteresse des vorliegenden Bandes ebenso wie seine wissenschaftliche Relevanz anhand von drei Forschungskontroversen konkretisiert werden, die unmittelbar in den Kern der Sache führen (I.). Dem Hauptteil der Untersuchung liegt ein Dreischritt zugrunde. Im ersten Schritt befasst er sich mit der Definition des Begriffs »Utopie« und mit den von der Forschung vorgeschlagenen Definitionsmöglichkeiten (II.). Im zweiten Schritt wird das Quellenmaterial anhand von vier historischen Momentaufnahmen und Fallstudien vorgestellt und kontextualisiert (III.). Im dritten Schritt wird auf einer abstrakteren analytischen Ebene danach gefragt, welche Aufgaben der Utopie in der politischen Sprache bzw. der Utopie als politische Sprache im untersuchten Zeitraum zukamen. Eine durchaus heterogene Gruppe von Funktionen kommt dabei in Betracht (IV.). Dieser Abschnitt des Hauptteils gliedert sich wiederum in drei Unterabschnitte: Der erste untersucht die republikanische Semantik aus dem ausgewählten Quellenmaterial, die Inanspruchnahme der Utopie vonseiten der englischen Republikaner und 19 Skinner 2002, S. 103 ff. 20 Der kommunikationsgeschichtliche und semantologische Ansatz, der der vorliegenden Arbeit zugrundeliegt, wird in Abschnitt II.2 ausführlicher erläutert. Politik und Religion 17 ihren Beitrag zur Konstruktion und Tradierung des republikanischen Denkens und Sprechens in England (IV.1). Der zweite Abschnitt befasst sich mit dem Verhältnis der untersuchten Utopien zur Satire und zur satirischen politischen Kommunikation (IV.2). Der dritte Abschnitt kommt auf die Genese von Staatlichkeit und staatsbezogener Semantiken in den utopisch-republikanischen Quellen zu sprechen (VI.3). Eine Auseinandersetzung mit der Annahme der Forschung, dass die Utopie in der Frühen Neuzeit (trotz oder gerade wegen der noch nicht existenten staatlichen Strukturen politischer Organisation) durch einen Etatismus und durch eine staatsfreundliche Haltung gekennzeichnet sei, ist dabei unumgänglich. a) Politik und Religion: Die Streitfrage nach der politischen oder konfessionell-religiösen Signatur der Englischen Revolution Die Historiographie zum Englischen Bürgerkrieg und zum Interregnum hat einen beachtlichen Wandel durchlaufen. Bis in das 20. Jahrhundert hinein war die Perspektive der Whig-Historiographie einflussreich, in deren Narrative das Parlament und dessen mutiger Kampf gegen die absolutistische Stuart-Monarchie gleichermaßen als Sternstunde und Sonderfall in der europäischen Geschichte der Frühen Neuzeit gefeiert wurde. Mit der Verteidigung der politischen Freiheit und weiterer liberaler Normen gegen die Monarchie habe das Land den Weg zum modernen Parlamentarismus eingeschlagen.21 An die Stelle des WhigParadigmas sind Mitte des 20. Jahrhunderts zunächst Forschungsperspektiven getreten, die zwar alternative Interpretationen zu dieser verzerrenden und teleologischen Sichtweise vorschlagen, allerdings gleichwohl eine zentrale Prämisse mit der Whig-Historiographie gemeinsam haben: die Annahme einer primär politischen Signatur der Ereignisse und Entwicklungen zwischen 1640 und 1660 und daraus folgend die Vernachlässigung des religiösen Bereichs. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die sogenannte Gentry-Debatte zu Rate zieht, die den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandel und den Niedergang des Feudalismus in England zum Gegenstand hatte ebenso wie die aus diesem Wandel resultierende Stärkung der politischen Rolle eines sich radikal wandelnden Mittelstandes.22 Gleiches gilt für die marxistische Ge21 Bahnbrechend für die Whig-Historiographie des 19. Jahrhunderts zum Englischen Bürgerkrieg war das Werk von Thomas Macaulay (dazu Ottmann 2006, S. 322 f.). 22 Im Mittelpunkt der Kontroverse stand die Frage, inwiefern die für die Englische Revolution als ausschlaggebend erachtete politische Stärkung neuer, aufstrebender Machtgruppen auf dem Niedergang der alten Aristokratie (peers) und auf dem Aufstieg des niederen Adels und des mittleren Bürgertums (gentry, commons) beruhte; konkret, ob man es mit einem (durch neue Formen des Wirtschaftens begünstigten) Aufstieg der gentry zu tun hat (so Tawney 18 Einleitung schichtsschreibung, die den Bürgerkrieg und das Interregnum als Phänomene einer (protokapitalistischen) bürgerlichen Revolution untersucht hat.23 Auch Wolfgang Reinhards Versuch, die Auseinandersetzungen in England auf einen politischen Strukturwandel zurückzuführen, der in gesamteuropäischer Perspektive anzutreffenden ist, liefert primär ein politisches, präziser ein staatsgenetisches Erklärungsmuster. Laut Reinhard sind der (versuchte und misslungene) Ausbau des staatlichen Machtapparates durch die Stuart-Könige (v. a. der fiskalen und militärischen Macht der Zentralregierung) und die hieraus hervorgehenden Widersetzungsbestrebungen des Parlaments24 mit analogen Entwicklungen auf dem Kontinent zwar nicht identisch, aber doch ähnlich und vergleichbar.25 Die jüngere englische Historiographie betont bei der Erforschung des Bürgerkrieges und seiner Ursachen zudem die strukturellen Schwierigkeiten der Stuart-Monarchie als Königreich, das aus heterogenen Herrschaftsterritorien (England, Schottland, Irland) zusammengesetzt war, und vergleicht dies mit dem analogen Beispiel Spaniens und dessen Schwierigkeiten bei der Zentralisierung von Herrschaft.26 Der Primat des Politischen bleibt in diesen Deutungen unangetastet.27 Seit den 1980er Jahren macht sich in der Forschung zunehmend eine Auffassung Bahn, die die Rolle der Religion bei der historischen Rekonstruktion der politischen Weltanschauungen der im Konflikt gegeneinander streitenden Akteure in den Mittelpunkt stellt. Diese Forschungsrichtung rückt vom Primat des Politischen in der Whig-Historiographie ebenso wie vom Primat des Ökonomischen als causa prima der geschichtlichen Entwicklung gemäß dem marxistischen Paradigma ab. Vielmehr betont sie die Verzahnung der politischen und der religiösen Dimension.28 Trotz aller Differenzen in ihrer inhaltlichen Kon- 23 24 25 26 27 28 1941 und Stone 1948) oder aber im Gegenteil mit den Folgen der Schwächung der gentry (oder mancher Teile der gentry) und des Aufstiegs gesellschaftlicher Gruppen unterhalb und oberhalb von ihr (Trevor-Roper 1951, ders. 1953); zur gentry-Debatte Hexter 1958 und Coleman 1966. Siehe die Arbeiten von Christopher Hill (Hill 1958, vgl. Hill 1986, 1991), vgl. Macpherson 1990 (1962). Man denke etwa an das Beispiel des Schiffsgeldes, eine von Charles am Parlament vorbei eingerichtete Steuerabgabe, die die 1630er und 1640er Jahre hindurch Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen war. Reinhard 2000, etwa S. 49, 174 f. Cust 2007, S. 197ff; Russel 1987. »Für ein Verständnis jener Zeit ist dies nicht immer von Vorteil. Man kann es nicht lassen, aus einem konfessionellen Krieg einen Klassenkampf und aus den Menschen, denen nichts mehr am Herzen lag als ihr Glaube, Agenten von Interessen und Klassen zu machen« (Ottmann 2006, S. 323). Wende 1980, v. a. S. 40, Schröder 1986, S. 78 f. (»Der religiöse Faktor war bei denjenigen, die bei Ausbruch des Bürgerkrieges aktiv für die eine oder die andere Seite aus Gründen der Überzeugung Partei ergriffen, in der Regel ausschlaggebend«, ebd.); Worden 2009, S. 7 f.; aber auch bereits Lamont 1969 und Walzer1966: »Only some sensitivity to religious zeal can Politik und Religion 19 kretisierung sind die beiden religiösen Kernanliegen, einmal die Abwehr des Katholizismus (»popish« ist für die Zeitgenossen gleichermaßen ein Schimpfund Schmähwort) und andererseits die Bewahrung und nach Möglichkeit Vollendung der Reformation in England, geteiltes Ziel sowohl auf Seiten der Royalisten wie der Parlamentarier. Vor dem Hintergrund dieser durch Mark und Knochen der englischen Gesellschaft gehenden Abneigung gegen den »papistischen Aberglauben« wird der erhebliche politische und propagandistische Schaden deutlich, der Charles I. dadurch entstand, dass er aus dynastischen Erwägungen mit der Katholikin Henrietta Maria (der jüngsten Tochter Heinrichs IV. von Frankreich) verheiratet war, deren freie Glaubensausübung per Ehevertrag ebenso zugesichert wurde, wie das Recht, am Hof katholische Geistliche zu unterhalten. Jüngere Forschungen haben das enorme politische Motivations- und Mobilisierungspotential veranschaulicht, das religiösen Fragen und primär mit religiösen Kategorien zu fassenden Ereignissen innewohnte.29 Dieser Befund sollte jedoch nicht zum modernistischen Vorurteil verleiten, dass man es in England im 17. Jahrhundert mit unpolitisch oder apolitisch denkenden und handelnden Akteuren zu tun hat, in deren Handlungsauffassung die Politik neben der Religion keine unabhängige Daseinsberechtigung bekommt. Vielmehr ist vor Augen zu halten, dass es im England des 17. Jahrhunderts die Religion ist, die am ehesten vermochte, ständeübergreifend Gemeinsinn zu stiften, aber ebenso im Konfliktfall die Mobilisierung aller Bevölkerungsschichten und die Entstehung verschiedener politischer Lager herbeizuführen. Religion ist in England in den Auseinandersetzungen der 1640er und 1650er Jahre Politik in ihrer Reinform. Die komplizierten Streitfragen nach den verfassungsgemäßen Schranken königlicher Gewalt und nach den Rechten des Parlaments, die in der Retrospektive die besondere Aufmerksamkeit der politischen Historiographie auf sich lenken, betrafen im Zeitgeschehen direkt nur einen sehr engen Kreis von Angehörigen der politischen Elite.30 Aber selbst der Versuch, die politischen Konfliktpunkte von den religiös-konfessionellen zu scheiden, ist zu hinterfragen. Eine solche Scheidung spiegelt eher die für die heutige politische Kultur geradezu selbstverständliche Ausgrenzung primär make the behavior of the English in the sixteen-forties and fifties explicable. Politics for the moment was the pursuit of a religious goal« (S. 12); »In the Stuart era, religion led, and political questions followed« (Purkiss 2006, S. 26). 29 Dies herauszuarbeiten ist ein Schwerpunkt der neuen Überblicksdarstellung von Braddick (2008) zum Englischen Bürgerkrieg. 30 »Doch letztlich waren es weder Verfassungsfragen noch Steuerdruck, die in weiten Kreisen der Führungsschicht und des Volkes die Bereitschaft hervorriefen, über den passiven Widerstand hinauszugehen, sondern es war die Religion, als der einzige Gegenstand eines allgemeinen politischen Interesses, die den Auseinandersetzungen jene nationale Dimension verlieh, die erst Bürgerkrieg und Revolution ermöglichten. Das 17. Jahrhundert ist auch und erst recht in England die Epoche der religiösen Kämpfe« (Wende 1980, S. 40). 20 Einleitung religiös-dogmatischer Fragen aus dem politischen Diskurs wider, als die Sichtweise der Zeitgenossen. Der von der Krone für den Gottesdienst verordnete Gebrauch des Common Book of Prayer, der am Vorabend des Bürgerkriegs den Aufstand der Schotten auslöste, oder die im Parlamentslager einheitsstiftende Entrüstung über die Aufwertung von Ritus und Ornat durch Bischof William Laud in den 1630er Jahren sind zwei Beispiele, die die Verzahnung von Politik und Religion veranschaulichen. Andrew Marvell bringt es 1672 in der Retrospektive auf den Punkt: »Whether it was a war of religion, or of liberty, is not worth the labour to enquire. Whichsoever was at the top, the other was at the bottom«.31 Auch Thomas Hobbes’ monarchiefreundliche »historiographische« Darstellung des Bürgerkrieges im Behemoth zeigt eindeutig, dass Religion und Politik in der politischen Auseinandersetzung in England aufs engste miteinander verzahnt sind.32 Die religionspolitische Lösung von Hobbes, um einer zukünftigen Desintegration politischer Regierung und staatlicher Ordnung durch konfessionelle Konflikte zuvorzukommen, ist deshalb ganz auf ein dezisionistischen Souveränitätsverständnis gemünzt: Politische Debatten ebenso wie religiöse Streitfragen sollen zukünftig in kollektiv verbindlicher Form allein vom Souverän entschieden werden. Nach den Erfahrungen der »paper wars« und der wutentbrannten, reformatorisch eifernden Politik der Straße aus den frühen 1640er Jahren, die den militärischen Kämpfen auf den Schlachtfeldern des Bürgerkrieges vorausgingen und sie später dann auch begleiteten, sollen religiöse Debatten im Eigentlichen nur noch im deliberativen Forum des fürstlichen Gewissens stattfinden, sind jedoch aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Die Erfahrung, die Hobbes und seine Zeitgenossen mit dem religiösen und bisweilen eschatologischen Eifer der Protagonisten des Cromwell-Regimes oder mit millennaristischen Bewegungen wie den Fifth-Monarchy-Men gemacht hatten ebenso wie mit der Präsenz millennaristischer Argumentationsformen in anderen politischen Gruppierungen, bei denen eschatologische Erwägungen an 31 Marvell 1672, S. 150. 32 Dies betrifft sogar die sprachlich-philologische Ebene. War es einerseits das reformatorische Anliegen einer Wiederbesinnung auf die Heilige Schrift (»sola scriptura«) gewesen, das das Studium der antiken Sprachen (und auch des Griechischen und Lateinischen) dringlich werden ließ, so war der Erwerb dieser Sprachkompetenzen andererseits verantwortlich für die Lektüre von Aristoteles und Cicero, die die Insubordinationsneigung der Untertanen Englands laut Hobbes befeuerte: »Denn die Leute, die der Unverschämtheit der Priester schließlich müde wurden und die Wahrheit jener Lehren prüften, die ihnen auferlegt wurden, begannen den Sinn der Heiligen Schrift zu untersuchen, wie er in den gelehrten Sprachen steht, indem sie Griechisch und Latein studierten, und wurden deshalb bekannt mit den demokratischen Grundsätzen von Aristoteles und Cicero, und aus Liebe zu deren Beredsamkeit wurden sie für deren Politik mehr und mehr eingenommen, bis es in die Empörung ausartete, von der wir jetzt sprechen« (Hobbes 1999, S. 50); vgl. Leviathan, 1996, S. 149 f. Utopie und Millennarismus als Gegensatz? 21 sich nicht im Vordergrund standen, wird für die Entstehung des hobbesschen religionspolitischen Etatismus prägend gewesen sein. Das Verhältnis der Utopie zum Millennarismus, das als nächstes geklärt werden soll, veranschaulicht die für die Englische Revolution charakteristische Verzahnung politischer und religiöser Formen der Sinnstiftung. b) Utopie und Millennarismus als Gegensatz? Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der politisch-philosophischen Kategorie der Utopie und der theologischen Kategorie des Millenniums führt zurück zum mittelalterlichen Denker Joachim von Fiore (ca. 1130 – 1202) und zur Patristik. Bei Fiore, aber auch schon bei einigen Kirchenvätern (etwa bei Irinäus, Tertullian und Laktanz) wird das Millennium als innerweltlicher und innergeschichtlicher Zustand der Vollkommenheit gedacht und als Zeitabschnitt, der dem endgültigen heilsgeschichtlichen Eingreifen Gottes mit der Wiederkehr Christi im Jüngsten Gericht vorausgeht.33 Referenzpunkt dieser theologischen Denktradition ist die Offenbarung des Johannes, die ihrerseits auf älteren jüdischen eschatologischen Vorstellungen gründet.34 Ob der Millennarismus, der die Entstehung einer optimalen Gesellschaftsordnung noch im saeculum, im »Zeitalter des Heiligen Geistes« bzw. im »tausendjährigen Zwischen-Reich«, denkbar macht, eine treibende Kraft auch der frühneuzeitlichen Utopie ist oder aber aufgrund seiner heilsgeschichtlichen Prämissen mit der Utopie inkompatibel, ist nachwievor ein ungelöster Streitpunkt. Diese Streitfrage hat in den letzten Jahrzehnten zunehmend das wissenschaftliche Interesse auf sich gezogen.35 Für die Untersuchung der Auswirkungen millennaristischen Denkens und 33 Zum Millennarismus in der Patristik und bei Joachim von Fiore und im Joachimismus Groh 2003, S. 81 f., 113 f., 134 ff., 422 – 473; Kehl 2003, S. 176ff, 183 ff. Zur Erwartung von Campanellas Solariern, dass eine Erneuerung der Welt und schließlich ihr Ende bevorstünden, Campanella 2008, S. 57. 34 Offb. 20, 1 – 6. 35 Ferdinand Seibt (1980) plädiert dafür, den Joachimismus als mittelalterliche Ausprägung von Utopie anzusehen. Ebenso bezeichnet Ernst Bloch Fiores Denken als »folgenreichste Sozialutopie des Mittelalters« (Bloch 1959, S. 590). Zur Verbindung zwischen Utopie und Millennarismus äußern sich positiv Bernet 2007; Prodi 2013; Kehl 2003, S. 171 – 193. Hans Freyer scheidet hingegen den Millennarismus von der Utopie: »Das tausendjährige Reich liegt nicht irgendwo, sondern es ereignet sich. Es wird nicht entdeckt, sondern es wird erwartet, weil es geweissagt ist« (Freyer 1936, S. 82). Freyer wendet sich dabei vor allem gegen Quabbe 1933. Eine Kritik an Seibts Deutung von Joachim von Fiore als Utopist bei Schölderle 2012, S. 60 f. Auch Davis (1981, S. 31 ff.) definiert die Utopie im Kontrast zum Millennarismus. Der Millennarismus ziele auf eine »perfect form of time«, nicht auf eine »perfect form of society« (ebd.). Davis betont auch, dass die Vorstellungen zur Gesellschaftsordnung in millennaristischen Traktaten im Gegensatz zur Utopie sehr vage bleiben. 22 Einleitung millennaristischer Semantiken auf die Utopie ist hinderlich, dass (aus gebotenen Gründen) der säkulare Wesenszug der politischen Immagination der Utopie als eines ihrer Charakteristika allgemein anerkannt ist; selbst wenn es sich wie bei Thomas Morus um einen philosophisch-experimentellen Säkularismus eines zutiefst religiösen Menschen handelt.36 Paolo Prodi führt hingegen die neuzeitliche Utopie auf die mittelalterliche Tradition der Prophetie zurück und betrachtet sie als ihren säkularisierten Nachfahren (»profetismo secolarizzato«), der sich allerdings erst mit der Zeit gänzlich von ihren religiösen Wurzeln loslöse. Laut Prodi laufen beispielsweise bei Tommaso Campanella Prophetie und Utopie noch nebenher.37 Eine besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang die Studie von Claus Bernet, die sich mit dem Einfluss der christlich-millennaristischen Utopie des Neuen Jerusalem auf chiliastisch geprägte Siedlungsgründungen und Architekturprojekte im Alten Reich auseinandersetzt.38 Die in der Forschung betonte Spannung, die in der Utopie aufgrund ihrer Fiktion einer idealen Gesellschaftsordnung zum christlichen Dogma des Sündenfalls bestehe, muss vor dem Hintergrund des Millennarismus nicht zu hoch veranschlagt werden. Gesellschaftliche, politische Perfektion kann – aus der Perspektive des Millennarismus – als menschengemacht (zumindest als von den Heiligen und Auserwählten Gottes gemacht) gedacht werden. Es ist der Verdienst des Mediävisten Ferdinand Seibt, nicht bloß auf die Bedeutung des Millennarismus für die Utopieforschung hingewiesen, sondern das Stereotyp eines gänzlich »utopiefreien Mittelalters« in Frage gestellt zu haben.39 Die Bedeutung epochaler Entwicklungen, die den Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit markieren, wie die Entdeckungsfahrten der iberischen Seemächte oder das innovative (säkulare) Text- und Moralverständnis des Humanismus, für Thomas Morus und für die Begründung der utopischen Gattung kann nicht in Abrede gestellt werden. Und doch sollte man die mittelalterlichen Einflüsse auf das Genre, etwa des Mönchstums, der Reformbewegungen der Bettelorden und eben der apokalyptischen und millen- 36 Der Nestor der deutschen Utopieforschung Richard Saage legt einen dezidierten Akzent auf den säkularen Zug der Utopie und definiert sie als »Fiktionen innerweltlicher Gesellschaften […], die sich entweder zu einem Wunsch- oder einem Furchtbild verdichten« (Saage 1990, S. 2, Hervh. S.S.). Auch Luigi Firpo deutet die Utopie als Genre, dessen hervorstechendes Merkmal der radikale, experimentelle und säkularisierte Rationalismus sei, s. Firpo 1990, S. 19 – 21, 29 – 33. Shklar betont die Spannung zwischen der Utopie und dem christlichen Dogma des Sündenfalls, s. Shklar 1970, S. 143. Zu Morus dieszbezüglich Jäckel 1955. 37 Prodi 2013, S. 7 – 31. Prodi betont, dass die Prophetie und die Utopie zudem dadurch verbunden sind, dass es sich in beiden Fällen um herrschaftsoppositionelle Gattungen handelt. 38 Bernet 2007. 39 Ein utopiefreies Mittelalter und eine Geisteshaltung, die der Produktion von Utopien im Mittelalter im Weg stand, betont Eliav-Feldon 1981, S. 5 – 10. Utopie und Millennarismus als Gegensatz? 23 naristischen Modi des Denkens und Handelns nicht unterschätzen.40 Morus’ Utopia wurde von einer Person geschaffen, die früher in ihrem Leben mit dem Gedanken gespielt hatte, in den Franziskanerorden einzutreten.41 Chiliastischen und allgemein endzeitlichen Denk- und Deutungsmustern begegnet man in England während des Bürgerkrieges und in der Ära Cromwells, aber auch nach der – nicht minder mit heilsgeschichtlichen Sinnzuschreibungen behafteten – Restauration der Stuart-Monarchie auf Schritt und Tritt. Peter Wende spricht von einem »in zunehmendem Maß prägende[n] Chiliasmus als das während des Revolutionsjahrzehnts hervorstechende Merkmal des englischen Calvinismus«.42 Der Millennarismus und eine Zeit- und Geschichtsauffassung, die auf dem Einfluss der Providentia Dei gründet, müssen in England als treibender Motor der politischen Entwicklung angesehen werden. Es ist beispielsweise nur schwer vorstellbar, dass die Protagonisten der Anklage und Hinrichtung des Königs im Januar 1649 zur Tat geschritten wären, hätten sie sich nicht in endzeitlicher Erwartung als Werkzeuge Gottes verstanden.43 In den 1640er Jahren steht die Publikation millennaristischer Traktate in England in der Blüte. Diese Blüte wird vereinfacht durch den Zusammenbruch der königlichen Zensurorgane (1641) und ist beeinflusst von der Rezeption der apokalyptischen Schriften von Johann Heinrich Alsted und von Josef Mede. Die apokalyptische Traktatistik betonte, dass das von Johannes geweissagte tausendjährige Reich sich bald und zwar in dieser Welt ereignen werde.44 Die in den 1650er Jahren (und vor allem gegen Ende des Protektorats) einflussreiche politische Bewegung der Fifth-Monarchy-Men, in deren Aktivitäten der Millennarismus im Mittelpunkt steht, ist bloß ein besonders hervorstechendes Beispiel für die Symbiose zwischen Politik und christlicher Endzeiterwartung im Interregnum. Da das 40 Seibt 1969. 41 Sargent 2003, S. 31 f. 42 Wende 1980, S. 100. Zum Millennarismus in England in der Frühen Neuzeit allgemein Firth 1979; Patrides/Wittreich 1984. 43 Dies geht aus einer Aussage Cromwells, die im Kontext des Prozesses gegen Charles I. geäußert wurde, klar hervor: »If any man whatsoever had carried on this design of deposing the King, and disinheriting his posterity or if any man had yet such a design, he should be the greatest traitor and rebel in the world. But since the Providence of God hath cast this upon us, I cannot but submit to Providence« (zitiert nach Gentles 1992, S. 302). Die Forschung betont, dass sich Cromwell in entscheidenden Momenten, vor große Entscheidungen gestellt, als Instrument göttlicher Vorsehung begriff und – mit den Worten von Woolrych – versuchte, »[to] read the will of providence« (Woolrych 2003, S. 83 f.). Zur Berufung auf Gottes Vorsehung als Grund für die Ablehnung der Königswürde, die Cromwell im Februar 1657 angetragen worden war, unten Anm. 390. 44 Im millennaristischen Traktat A Glimpse of Sion’s Glory (1641) wird betont, dass die in der Offenbarung verkündete Herrschaft Christi in dieser Welt stattfinden werde: »it must be meant of Jesus Christ coming and reigning here gloriously for a thousand years« (Woodhouse 2006, S. 237, Hervorh. S.S.). 24 Einleitung Jahr 1666 aufgrund der herausragenden Bedeutung der Zahl 6 für das millennaristische Denken als wahrscheinliches Datum für den Beginn des Millenniums angesehen wurde, blieben die Fifth-Monarchists auch nach der Restauration der Monarchie weiterhin aktiv. Aus ihren Reihen ging 1661 eine (von den Behörden aufgedeckte) Verschwörung gegen den König hervor.45 Die Auswirkungen des Millennarismus auf das intellektuelle und wissenschaftliche Milieu während der Englischen Revolution sind gut erforscht. Die Implikationen des puritanischen Millennarismus für die Entstehung der New Science hat Charles Webster in seiner bahnbrechenden Untersuchung zur Entwicklung der Naturwissenschaften im Interregnum als Vorgeschichte der Royal Society eingehend untersucht.46 Die Entwicklungen und Fortschritte in den Wissenschaften wurden von den Zeitgenossen als Zeichen des Anbruchs des Millenniums gedeutet.47 Wissenschaftlicher Fortschritt ist hier oftmals gleichbedeutend mit der Wiederherstellung der prälapsarischen Naturkenntnis und Naturbeherrschung, über die der erste Mensch Adam verfügte. Erforschung der Natur wird zudem verstanden als Sichtbarmachung des göttlichen Willens an den Werken des Schöpfers, als Studium der Offenbarung anhand des Buchs der Natur.48 Francis Bacon möchte mit seinem wissenschaftlichen Reformprogramm den Weg aufzeigen, der der Menschheit erlauben soll, die Salomonische Weisheit wiederzuerlangen oder – allegorisch gesprochen – den Salomonischen Tempel wiederaufzurichten.49 Er stellt sein wissenschaftliches Reformprogramm in der 45 Zur Fifth-Monarchy-Bewegung und ihrem Millennarismus Capp 1972. Zur Deutung des Großen Londoner Brandes von 1666 als eschatologisches Vorzeichen Keeble 2002, S. 164 f. Zur Bedeutung der Zahl 6 in den eschatologischen Spekulationen der Millennaristen unten Anm. 54. Im millennaristischen Traktat A Glimpse of Sion’s Glory (1641) wird hingegen der Berechnung des Eschatologen Thomas Brightman (1562 – 1607) gefolgt, dessen Exegese der Offenbarung in England 1644 neu gedruckt wurde und der das Millennium bereits für das Jahr 1650 erwartete (vgl. Brightman 1644 und Woodhouse 1966, S. 240 f.) 46 Webster 1975, S. 1 – 100; vorher bereits Tuveson 1949. 47 »[…] eschatology drew attention to the fact that man had fallen from a position of high attainment, and that in the not-too-distant future he was destined to regain his dominion over nature. […] The Puritans genuinely thought that each step in the conquest of nature represented a move towards the millennial condition, and that each extension of the power of parliament reflected the special providential status of their nation. […] The millennial context was important because it carried the guarantee of utopian rewards in the near future« (Webster 1975, S. 506 f.). 48 Zum theologischen Sinn der für Bacon und für den Baconianismus zentralen wissenschaftlichen Begriffe »instauratio« und »restauratio« als Wiederherstellung der prälapsarischen Naturkenntnis und Naturbeherrschung durch die Wissenschaften Bacon 1990, S. 31 ff., 77, 247; dazu und allgemein zum prophetisch-apokalyptischen Denken Bacons Whitney 1989 und Ottmann 2013, S. 35. Robert Boyle beschreibt, wie der Anatom im Buch der Natur lesen und die »stenography of God’s omniscient hand« dechiffrieren könne (Boyle 1772a, S. 63). 49 Zur Deutung der auf dem berühmten Titelbild der Instauratio Magna von Bacon zu sehenden Säulen (des Herakles) als »Säulen des Salomonischen Tempels« Ottmann 2013, Utopie und Millennarismus als Gegensatz? 25 Instauratio Magna unter das apokalyptische Motto aus dem Buch David: »Multi pertransibunt & augebitur scientia«. Autoren wie Samuel Hartlib oder John Dury, die der apokalyptischen Konzeption der Naturwissenschaft bei Bacon nahestehen, möchten mit ihren wissenschaftlichen Reformtraktaten aus einer eschatologischen Grunderwartung heraus die Politik (in Gestalt des Parlaments) zum Handeln bewegen.50 Dass der Millennarismus aber auch in primär als republikanisch zu kennzeichnenden Utopien eine bedeutende Rolle spielt, ist aus Sicht des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Untersuchung besonders implikationsreich. Dies deutet auf die enge Verzahnung religiöser und politischer Wertesysteme und Reformanliegen hin. Zudem scheint dieser Befund der Säkularisierungsthese zu widersprechen, die den englischen und allgemein den atlantischen Republikanismus als säkulare politische Lehre ansieht, die die Vermengung von Politik und Heilsgeschichte ablehnt.51 Spezialforschungen haben herausgestellt, dass utopisch-republikanische Autoren wie Gerrard Winstanley, James Harrington und John Milton aus einem zutiefst puritanisch konnotierten und biblizistisch fundierten Denkmilieu stammen.52 Betrachten wir nur zwei Beispiele für die Verwendung millennaristischer Motive und Semantiken in utopisch-republikanischen Texten des Interregnums: Beispiel 1: In Anspielung auf Bacon präsentiert die anonyme utopisch-republikanische Reformschrift Chaos: Or, a Discourse wherein is presented to the view of the Magistrate, and all others who shall peruse the same, a Frame of Government by way of a Republique (1659) ihr Reformprogramm in Form eines Sechs-Tage-Werkes. Dieses sechsstufige Reformprogramm soll den Sabbat auf S. 35 f. und Abb. 2. Bacons Neu-Atlantiden besitzen Werke Salomons, die in der nichtutopischen Welt verschollen sind: »Wir besitzen nämlich einige Teile seiner Werke, die euch verlorengegangen sind, und zwar seine Naturgeschichte, in der er alles beschreibt, was da lebt und webt, insbesondere alle Pflanzen« (Bacon 1982, S. 28). Daran anknüpfend wird in der anonymen Fortsetzungsutopie New Atlantis continued berichtet, dass man bei den NeuAtlantiden alle »plants and herbs as […] believed Solomon knew« finden könne (R. H. 1660, S. 80). 50 Der Hartlib-Kreis liefert zahlreiche Beispiele für die Interferenzen zwischen der naturwissenschaftlichen Apokalyptik, der Utopie und der Politik des Parlaments, s. Kap. III.1. 51 Pocock begreift den Republikanismus in England als Fortsetzung von Machiavellis säkularer Politikauffassung und als Unternehmen, das sich gegen die puritanische Vermengung von Heilsgeschichte und Politik richtet. Wie das Denken Machiavellis das Scheitern von Savonarolas Millennarismus zur Voraussetzung habe, gehe der Blüte des englischen Republikanismus die Enttäuschung der im Parlament und in den Armeekreisen, aber auch in der Bevölkerung verbreiteten chiliastischen Hoffnungen der 1640er Jahre voran: »English Machiavellism appeard – as Machiavelli’s own thinking had done – in the defeat of a chiliastic revolution« (Pocock 1975, S. 360). Zum Gegensatz zwischen der puritanisch-religiösen Einbettung des politischen Denkens der Levellers und dem erst nach der Niederschlagung der Leveller aufkeimenden säkularen Denken der Republikaner Smith 1998, S. 144. 52 Holstun 1987, Tuttle 1995; Nelson 2010. 26 Einleitung Erden einleiten.53 Die Anlehnung an Genesis 1, 1 – 2, 4 und an die chiliastische Symbolik der Sieben Siegel aus der Offenbarung des Johannes, aber auch an die jüdisch-christliche Zahlenmystik ist hier überdeutlich.54 Beispiel 2: Zur Rechtfertigung der imperialen Politik des Gemeinwesens von Oceana stimmt die Gallionsfigur des englischen Republikanismus James Harrington in The Commonwealth of Oceana (1656) einen prophetisch-millennaristischen Ton an, der aus dem Tonfall seiner utopischen Schrift hervorsticht. Harrington führt den Leser in einen biblischen Sinnhorizont, indem er ausgiebig aus dem Schlachtgesang aus Deuteronomium 20, 1 sowie aus dem Hohelied Salomons zitiert.55 Auftrag der Oceaner sei es, die bei ihnen praktizierte konfessionelle Toleranz in die Welt zu tragen und damit das Königreich Christi auf Erden einzuleiten.56 Eine noch deutlichere millennaristische Semantik begegnet dort, wo davon die Rede ist, dass das zu errichtende Reich der Welt Ruhe und Frieden verschaffen, den Sabbat auf Erden einleiten solle: […] with the blessing of God, may spread the arms of your commonwealth like an holy asylum unto the distressed world, and give the earth her Sabbath of years or rest from her labours, under the shadow of your wings.57 James Holstun hat die Bedeutung der puritanischen Spielarten des Millennarismus für die utopischen Traktate und utopischen Reformprogramme im Interregnum herausgestellt. Er fasst die millennaristische Utopie als Untergattung der Utopie auf.58 Sein ausgesprochen differenzierter Zugang zur Thematik nimmt allerdings die Einwände sehr ernst, die gegen eine zu enge Zusammenführung von Utopie und Millennarismus vorgebracht werden. Den Millennaristen charakterisiere der Modus des Wartens auf Gottes Eingriff und die Suche nach Spuren und Zeichen, durch die Gott den Menschen seine Absichten offenbare. Dies sei mit der Rationalität und Säkularität der politisch-gesellschaftlichen Entwürfe in der Utopie schwer in Einklang zu bringen: 53 Anonym 1659. Dies ist eine Anspielung auf Bacons Nova Atlantis, wo die visionäre Forschungsanstalt im Hause Salomons den Namen »Gesellschaft der Werke der sechs Tage« trägt (Bacon 1960, S. 175, 194). 54 Zwei mystische Überzeugungen sind hier zu berücksichtigen: Einmal die Auffassung, dass die Welt entsprechend ihrer siebentägigen Entstehungszeit gemäß Genesis 1, 1 – 4 nur sieben Schöpfungs- bzw. Gottestage lang bestehen werde, andererseits dass ein Tag Gottes tausend Jahre währt (gemäß Psalm 90, 4). 55 Harrington 1992, S. 216, 233. 56 »Now if you add unto the propagation of civil liberty, what is so natural unto this commonwealth that it cannot be omitted, the propagation of the liberty of conscience, this empire, this patronage of the world, is the kingdom of Christ« (ebd., S. 231 f.). 57 Ebd., S. 221. 58 Holstun 1983; ders. 1987. Utopie und Millennarismus als Gegensatz? 27 From the point of view of the history of ideas, Puritan utopia is something of an oxymoron, one that spontaneously generates such cognate absurdities as »theocratic rationalism« and »secular millennialism«.59 In millennaristischen Traktaten seien Erkennungsmerkmale der Utopie (im Sinne einer auf Morus’ Utopia bezogenen Textgattung) wie die humanistisch geprägte Gestaltung des Textes und die Heranziehung antiker Textvorlagen, ferner der säkulare Rationalismus, das Vertrauen in die menschliche Vernunft oder der Einsatz satirischer Fiktionalität abwesend. Holstun versucht jedoch das aus ideengeschichtlicher Perspektive sich aufdrängende Bild einer Unvereinbarkeit von Utopie und Millennarismus durch eine hilfreiche Unterscheidung abzuschwächen. So unterscheidet er zwischen zwei Spielarten millennaristischen Denkens und Handelns, einerseits dem »heuristischen Millennarismus« und andererseits dem »katalytischen Millennarismus«.60 Im ersten Fall handle es sich um Reflexionen und Praxen des Gläubigen, die auf die Interpretation von Zeichen in Vergangenheit und Gegenwart konzentriert sind sowie auf die religiöse Meditation und Spekulation über die heilsgeschichtliche Zukunft. Im Mittelpunkt des Interesses stehen hier die Fragen nach dem genauen Anfangszeitpunkt des Millenniums oder die Kontroverse, ob die Wiederkehr Christi erst nach dem Verstreichen des »Tausendjährigen Reiches« zu erwarten sei oder aber an dessen Anfang stehe oder ob dessen Anbruch womöglich bereits stattgefunden habe. Im Falle des »katalytischen Millennarismus«, dem politisch betrachtet interessanteren Fall, sei der Modus des Wartens und Deutens nicht vorherrschend. Vielmehr konzentriere sich der Millennarist darauf, aus der chiliastischen Theologie, aber auch aufgrund millennaristischer Spekulationen (etwa über den Anbruch des Reiches) sinnvolle Handlungsmuster abzuleiten und einzuleiten. Diese Form des Millennarismus strebt nach Handlungen und Taten, von denen zu erwarten ist, dass sie den Übergang zum »Tausendjährigen Reich« beschleunigen. So etwa die Vollendung der Reform der Kirche und des Glaubens oder aber die Bekehrung der Juden und Heiden, die als Voraussetzung der Wiederkehr Christi galt (gemäß Offenbarung, 33, 9). Die Bekehrung der Juden stellt bei einigen, der hier untersuchten Quellen, einen thematischen Schwerpunkt dar, der vor dem geschilderten Hintergrund auffällig erscheint.61 Berichte, die eine Abstammung 59 Holstun 1987, S. 4. 60 Ebd., S. 44 – 46. 61 Siehe etwa den millennaristischen Traktat A Glimpse of Sion’s Glory (1641), in: Woodhouse 1966, S. 237. In Samuel Hartlibs Schrift Englands Thankfulnesse, die er Anfang 1642 an das Lange Parlament adressiert, wird die Bekehrung der Juden durch die protestantischen Kirchen als eine zentrale Prämisse zur Vollendung der Reformation und für das »advancing [of] Gods Kingdome« dargestellt (s. Hartlib 1970, S. 95). Dass das millennaristische Denken auf Cromwells Judenpolitik und auf die Wiederansiedlung jüdischer Gemeinden unterm 28 Einleitung der amerikanischen Indianer von den verlorenen Stämmen Israels behaupteten, waren für den millennaristischen Bekehrungsaktivismus in der Neuen Welt folgenreich, den Holstun untersucht.62 Der Historiker Claus Bernet hat hingegen die chiliastischen Siedlungs- und Bauprogramme protestantischer und pietistischer Gruppierungen im Alten Reich untersucht und die Rezeption der Verheißung des Himmlischen Jerusalem in der Offenbarung, die hierbei eine Rolle spielte. Auch hier fungiert die menschliche Bau- und Siedlungstätigkeit als Katalysator zur Herbeiführung des »Tausendjährigen Reiches«. Die Bautätigkeit führe zudem zu einer utopischen Ver-Ortung des Millenniums als eigentlich temporale Kategorie.63 Das Beispiel der Täuferbewegung in Münster, die später den Fifth-Monarchists in England als Vorbild diente, belegt ebenfalls, dass in einer frühneuzeitlichen chiliastischen Bewegung das Abwarten in den Hintergrund gedrängt zu werden vermag und einem praktischen Aktivismus weicht.64 Spielarten eines solchen »do-it-yourself millennarism« sind auch während der Englischen Revolution weit verbreitet.65 In einer Predigt, die im September 1647 am Rande der Putney-Debatten gehalten wurde, betont Thomas Collier, dass die verheißene Herrschaft Christi auf Erden nicht von einem (den Menschen extrinsischen) göttlichen Eingriff abhänge, sondern vom Eingriff in die weltliche Ordnung durch die im Geiste Christi Handelnden: Some apprehend that Christ shall come and reign personally, subduing his enemies and exalting his people, and that this is the new heaven and the new earth. But this is not my apprehension; but that Christ will come in the Spirit and have a glorious kingdom in the spirits of his people, and they shall, by the power of Christ in them, reign over the world, and this is the new heavens and the new earth.66 Colliers Predigt veranschaulicht aber auch den Gegensatz, der zwischen dem religiösen Millennarismus und der politischen Utopie besteht, da sein Millennarismus die Zeitenwende zum Tausendjährigen Reich mit einer ontologischen Veränderung der Menschennatur verbindet, mit einer (von innen bewirkten) Menschheitsverbesserung, mit der Entstehung eines neuen Adams. Die zentrale 62 63 64 65 66 Protektorat Einfluss hatte, ist belegt, s. Webster 1970, S. 39. Zur dringlichen Aufgabe der Judenbekehrung, der sich die Neu-Atlantiden mit großem Eifer annehmen, s. R. H. 1660, S. 47, 68 = New Atlantis continued. Hierzu Holstun 1987, S. 111 ff. Bernet 2007, v. a. S. 6, 18. »Die Ansicht, dass die Chiliasten sich eine Veränderung des status quo ausschließlich durch einen transzendenten Eingriff erträumt hätten oder dass die Konkretisierung ihrer gesellschaftlichen Vorstellungen vage geblieben wäre, ist unzutreffend. In Münster wurde nicht gewartet, sondern hier wurde ein Modell der permanenten Revolution und der dynamischen Herrschaftsausübung praktiziert und bis zuletzt durchgehalten« (Bernet 2007, S. 92). Zur Vorbildfunktion der Täuferbewegung in Münster für die Fifth-Monarchists Capp 1972, S. 116. Holstun 1987, S. 46 – 48. Vgl. Appelbaum 2002, S. 105. Collier, Thomas, A Discovery of the New Creation, in: Woodhouse 1966, S. 390. Utopie und Republikanismus als Gegensatz? 29 Prämisse utopischer Ordnungskonzeptionen ist hingegen die Annahme, dass die menschliche Natur moralisch und intellektuell defizient und zudem unveränderbar ist, was schwerwiegende Folgen für die soziale Ordnung mit sich bringt.67 Auf die Herausstellung der Verbindungen zwischen dem puritanischen Millennarismus und der republikanischen Utopie soll in der vorliegenden Untersuchung ein dezidierter Schwerpunkt gelegt werden. In Abgrenzung zu den Säkularisierungs- und Modernisierungsnarrativen älterer Forschungen soll der religiöse, konfessionelle und biblizistische Wesenszug der Utopie in ihrer Verbindung mit dem Republikanismus beleuchtet werden. c) Utopie und Republikanismus als Gegensatz? Das in der Forschung wahrgenommene Spannungsverhältnis zwischen der Utopie und dem Republikanismus lässt sich gut an der Zurückhaltung der Exegeten veranschaulichen, James Harringtons The Commonwealth of Oceana (1656) als Utopie anzusehen. Wenn John Pocock, der bedeutende HarringtonForscher und Herausgeber seiner Werke, James Harrington den Rang eines utopischen Autors und Denkers abspricht, so ist man gut beraten, diesen Einwand ernst zu nehmen. Nicht nur deshalb, weil dieses Urteil von einem der wichtigsten Exponenten der Cambridge School stammt, sondern weil Pocock Gründe für diese Einschätzung vorbringt, die schwerwiegend erscheinen und uns daher im Folgenden noch genauer beschäftigen müssen. Pocock liest Harringtons The Commonwealth of Oceana als politischen Reformtraktat, dessen Fundament die Geschichtsinterpretation ist und nicht die Fiktion eines als real vorgestellten Idealstaates.68 Auf der Grundlage einer historischen Analyse, die 67 Collier spricht von einer »[…] renovation or renewing of the mind: an internal and spiritual change, a transformation out of the nature of the first, into the nature of the second, Adam. […] The glorious appearing of light in the spirits of Christians will so cover the earth which is within them, that they shall be in a great measure freed from those corruptions, those distractions, which formerly were prevalent in them« (ebd., S. 390 f.) Zum anthropologischen Pessimismus in der Utopie s. S. 42. 68 »There is a deeper reason why Oceana is not a utopia in More’s, Bacon’s or Campanella’s sense. It does not portray a no-place or outopia, an imaginary island in unknown seas, but a fictionalized yet instantly recognizable England […]. Oceana is not a utopia so much as an occasione, a moment of revolutionary opportunity at which old historical forms have destroyed themselves and there is a chance to construct new forms immune from the contingencies of history (known as fortuna). […] We cannot understand Oceana’s character as utopia unless we first understand its character as history« (Pocock in: Harrington 1992, S. xvii). Die Frage nach dem Charakter der Oceana als utopische Schrift wird im HarringtonKapitel von Pococks The Machiavellian Moment nicht thematisiert (Pocock 1975, S. 383 – 400). Auch Tawney (1941, S. 207) streitet Harrington den Rang eines utopischen Autors ab. 30 Einleitung die Tragfähigkeit der monarchischen Regierungsform für England fundamental in Abrede stellt, schlage Harrington hierin ein republikanisches Reformprogramm für das um eine stabile politische Ordnung ringende Land unter dem Protektorat Cromwells vor. Der Text stehe in erster Linie in der Tradition des republikanischen Denkens Machiavellis und allgemein des florentinischen politischen Realismus und Säkularismus. Pocock stellt Harringtons Oceana des Weiteren als Schlüsseltext heraus, der an der Genese des Republikanismus auf der anderen Seite des Atlantiks Anteil hatte und noch auf die Gründerväter der Vereinigten Staaten (vor allem auf John Adams) Einflüsse ausübte. Pocock erläutert seinen Begriff der Utopie nicht, scheint aber die Utopie aus dem Gegensatz von (historisch fundiertem) Realismus und (utopischem) Idealismus heraus zu begreifen, als abstraktes politisches Modell, das keine Ansprüche auf Verwirklichung stellt, was zum Ausschluss Harringtons (aber offensichtlich auch Machiavellis) aus dem Kanon utopischen Denkens führt. Das politische Programm Harringtons weise folglich einen anti-utopischen Wesenszug auf und grenze sich von utopischen Bewegungen wie denjenigen der Levellers und Diggers scharf ab, die in den ersten Jahren des Commonwealth von der Regierung niedergeschlagen wurden.69 Harringtons Oceana weist allerdings nicht nur Textmerkmale auf, die sie von der frühneuzeitlichen Raumutopie unterscheiden (Pocock betont etwa, dass in der Oceana der für die Utopie typische Verfremdungseffekt entfällt, der dadurch zustande kommt, dass die Texthandlung in einem irrealen und nichtexistenten Raum angesiedelt wird). So lassen sich ebenfalls deutlich erkennbare Anspielungen auf das utopische Genre feststellen, die die Textexegeten leichtfertig übersehen.70 Wenn die Ortsbezeichnungen oder auch historische Personennamen bei Harrington durch unterhaltsame Gräzismen umgebildet werden,71 und zudem berichtet wird, dass die Oceaner eine ausgeprägte Abneigung gegen den Juristenstand hegen und der Auffassung sind, dass das Gemeinwesen auf wenige, Ottmann (2006, S. 330) pflichtet dem bei: »[Es] entsteht der irreführende Eindruck, als ob Harrington eine Utopie hätte schreiben wollen. Stattdessen hatte er an einem Verfassungsentwurf gedacht«. 69 Die einseitige und kontrastive Zuweisung des Attributs des Idealismus an Morus und des Attributs des Realismus an Machiavelli wird hingegen in Frage gestellt und als ideengeschichtliches Missverständnis dargestellt bei Schölderle 2013. 70 So bedient sich Harrington etwa der für das Genre charakteristischen Reisemetaphorik. Der Ich-Erzähler reist, am Ende seines Berichts vom Gemeinwesen von Oceana angelangt, aus diesem Land ab (s. Harrington 1992, S. 264). Dass die Oceana keine Handlung aufweist, wie Helmut Swoboda (1972, S. 167) meint, ist nicht haltbar. 71 Nur drei Beispiele: Parthenia (altgr. parthenos für Jungfrau) steht für Königin Elisabeth I., Emporium (altgr. emporion für Handelsplatz) für London und die fiktive Person Epimonus de Garrula (altgr. epimone für Durchhalten und lat. garrulus für Schwätzer). Utopie und Republikanismus als Gegensatz? 31 kurze und allgemein verständliche Gesetze zu gründen sei, handelt es sich um Erkennungsmerkmale der Utopie.72 Neben derartigen gattungstechnischen und textmorphologischen Gesichtspunkten steht jedoch der Einwand Pococks, dass Harringtons Republikanismus ihn zum Utopisten disqualifiziere und daher die quasi-utopische Form des Textes nur eine sekundäre Bedeutung besitze, was die Frage nach der systematischen Beziehung zwischen Utopie und republikanischem Denken aufwirft. Folgt man J. C. Davis, dessen Untersuchung die englischen Utopien von Morus bis zur Glorious Revolution im Überblick behandelt, so ist von einem stark kontradiktorischen Verhältnis zwischen Republikanismus und Utopie auszugehen. Das Anliegen des Republikanismus bestehe Davis zufolge darin, die Stabilität der Republik und die politische Freiheit ihrer Bürger im Fluss der Zeit zu gewährleisten. Dies werde durch die Teilhabe der Bürger am politischen Leben, zudem durch die Herrschaft der Gesetze und schließlich mithilfe des dynamischen Gleichgewichts bewerkstelligt, das zwischen den verschiedenen Ständegruppen und den Verfassungsorganen in der Mischverfassung aufrecht erhalten werde. Sei der Ausgangspunkt der Utopie auch ähnlichen Charakters, nämlich das Anliegen, die Korruption und Degeneration der gerechten politischen Ordnung des utopischen Gemeinwesens zu vermeiden,73 so unterscheiden sich jedoch die Mittel von Grund auf, nämlich in der Utopie der politische Kollektivismus, die Umverteilung ökonomischer Güter oder gar die kommunistische Besitzordnung, schließlich die Disziplin, die durch ein strenges Strafregime aufrecht erhalten werde.74 Davis’ Kontrastierung von Republikanismus und Utopie legt einen besonderen Fokus auf zwei Kernaspekte, die im Republikanismus und in der Utopie begegnen, jedoch unterschiedlich bewertet werden, nämlich die politische Partizipation und das Eigentum; zwei Aspekte, die bereits in Aristoteles’ Kritik am Utopismus Platons eine zentrale Rolle spielten (Politik II/6). Diese Aspekte müssen bei der Untersuchung des Verhältnisses zwischen utopischen und republikanischen Formen des Denkens und 72 Harrington 1992, S. 41, 136, 239; vgl. Morus 1983, S. 111. Auch das allgemeine Ausreiseverbot für die Oceaner und die Genehmigungspflicht für ausnahmsweise durchgeführte Auslandsreisen könnten von Morus inspiriert sein, vgl. Harrington, ebd., S. 191 f. und Morus ebd., S. 79 f. 73 So sei Anliegen der Utopie »to bring an end to moral uncertainty and to the fear that history must be an endless and meaningless flux, a moral chaos« (Davis 1981, S. 61). Vgl. Pocock 1975, S. viii. 74 »The participatory citizens of the classical republic, exercising their civic virtue through freedom of choice, are replaced in utopia by subjects constrained, as far as possible, to act out a predetermined pattern of morality over which they have no control and which they may not change. There is, in other words, an antipathy between the classical republic and utopia« (Davis 1981, S. 207). Davis beruft sich in seiner Konzeption des republikanischen Denkens auf Pocock; s. ebd., S. 39, 43, 57 – 59, 207 ff. Zu den Strafen in den frühneuzeitlichen Utopien siehe Cambi 1996 und unten IV.3 b. 32 Einleitung Sprechens über Politik in den Mittelpunkt gestellt werden. Systematisch betrachtet sind die Grundanliegen des Republikanismus und der Utopie auch insofern divergent, als es ersterem um die politische Freiheit geht (die auf der politischen und juridischen Gleichheit der Bürger, aber nicht auf ihrer sozioökonomischen Gleichheit gründet) und letzterer in den meisten Fällen um die Umsetzung einer egalitaristischen Gesellschaftsordnung (etwa bei Morus, Campanella, Andreae und Winstanley). Die vorliegende Untersuchung möchte in Abgrenzung zu Pocock und Davis die These vertreten, dass die Utopie und der Republikanismus im Interregnum ungeachtet dieser Spannungspunkte eine unterstützende, symbiotische Verbindung eingehen. Es wird zudem argumentiert, dass Pocock den utopischen Charakter von Harringtons Oceana unterschätzt.75 Dass das Verhältnis zwischen Utopie und Republikanismus im frühneuzeitlichen England nicht derart gegensätzlich gedeutet werden muss, wie es Pocock und Davis tun, kann anhand der Bedeutung republikanischer Ordnungs- und Partizipationselemente im Architext der utopischen Gattung, in Thomas Morus’ Utopia von 1516, plausibel gemacht werden. Vermutlich beeinflusst von seinen eigenen Erfahrungen in der Londoner Kommunalpolitik beschreibt Morus in seiner Utopie ein System lokaler Gremien, die Repräsentanten für die Stadt- und Landesregierung bestimmen und entsenden.76 Utopia ist zudem in Form eines republikanischen Städtebundes organisiert, der aus 54 Stadtstaaten besteht.77 Die Interpretation der im zweiten Buch der Utopia von Raphael Hythlodaeus skizzierten politischen Regierungsform als republikanische Alternativordnung, die der monarchischen Herrschaftsrealität unter den Tudors entgegengestellt wird, bildet eine attraktive Deutungsmöglichkeit, die der komplexe und mehrschichtige Text von Morus anbietet.78 Freilich ist davor zu warnen, die republi75 Davis rechnet Harrington im Unterschied zu Pocock zum utopischen Textkorpus, das im England des 17. Jahrhunderts entsteht, grenzt ihn dafür aber vom republikanischen Denken ab. Die starke Dichotomie Republikanismus-Utopie bleibt bestehen. Siehe Davis 1981, S. 39, 208. 76 Die Regierungsorganisation in Utopia fußt auf drei Institutionen: Der Volksversammlung, die aus den Syphogranten besteht, dem Senat, der von den Traniboren gebildet wird, und dem von der Volksversammlung auf Lebenszeit gewählten Fürsten/Wahlmonarchen. Jeweils 30 Haushalte wählen einen Syphogranten als ihren Repräsentanten. An der Spitze von je 10 Syphogranten bzw. 300 Haushalte steht ein Tranibor. Abgesehen vom Fürstenamt gilt in Utopia bei der Ämtervergabe das Prinzip der Annuität, s. Morus 1983, S. 65 f. 77 »Utopia is a republican league of city-states. The only central organization Utopia has consists of a council of the whole Island« (Davis 1981, S. 52). 78 In der modernen Forschung hat Russel Ames Morus erstmals mit dem Republikanismus in Verbindung gebracht: »Utopia is not an accident of individual genius but a product of capitalism’s attack on feudalism, a part of a middle-class and humanist criticism of a decayed social order. […] Though it is true that the Utopia is somewhat anti-capitalist […] the core of the book is republican, bourgeois and democratic – the result of More’s experience as a man of Utopie und Republikanismus als Gegensatz? 33 kanische Komponente in Hythlodaeus’ Beschreibung des »optimus status rei publicae« (so die Wendung im Titel von Morus’ Schrift) von Utopia zu hoch zu veranschlagen. Andere Ordnungsparadigmen, etwa der christliche Urkommunismus und Monastizismus, sind für das Gemeinwesen von Utopia ebenso ausschlaggebend, wenn nicht noch bedeutender. Und doch ist bemerkenswert, dass die Einreihung von Morus’ Utopia in den republikanischen Textkanon bei frühneuzeitlichen Denkern häufig vorkommt. Jean Bodin zählt Morus etwa zusammen mit Machiavelli und Contarini zu den wichtigsten Befürwortern der Mischverfassung, die Bodin aufgrund seiner neuen, auf die Souveränität fokussierten Konzeption von Herrschaft ablehnt.79 In der (nach meinem Kenntnisstand) einzigen namentlichen Erwähnung von Morus in Harringtons Werk reiht dieser Morus in den Kanon wichtiger republikanischer Denker ein, statt ihn als utopischen Denker herauszustellen. Morus wird in einem Zug mit Aristoteles, Livius und Machiavelli genannt.80 Ebenso aufschlussreich ist es jedoch, wenn Gegner der Republik, etwa der royalistisch gesinnte Autor der Fortsetzungsutopie New Atlantis continued der republikanischen Deutung von Morus beipflichtet. Der nur mit seinem Akronym R. H. bekannte Autor dieses Textes veröffentlichte seine Schrift kurz nach der Restauration im September 1660 und wollte mit ihr einen Beitrag zur Wiederherstellung und Festigung der althergekommenen Ordnung leisten. Er sieht es als seine Aufgabe an, die Utopie aus der republikanisch-ideologischen Umklammerung zu befreien, in die sie seit Morus und insbesondere bei seinen Nachahmern im Interregnum geraten sei: […] supposing the ground-work Monarchiall [sic.] Government […] the most perfect and surest foundation to build on […]. Thus much therefore is said to satisfie the Reader only, least prima facie he should suspect that the following frame of a Commonwealth should be squared according to the Lacedemonian Copy, or those Agrarian laws in Rome, or should smel of Platoes community, revived by King Utopus [d.i. Morus], or any later Republican.81 business, as a politician, and as an Erasmian reformer« (Ames 1949, S. 6, Hervorh. S.S.; vgl. Nendza 1984). 79 Bodin 1981, S. 319. Zera Fink interpretiert das Regierungssystem aus Morus’ Utopia als republikanische Mischverfassung und stellt die Bedeutung dieses Textes für den klassischen Republikanismus in England und Amerika heraus (Fink 1945, S. 21 f.). 80 »It was in the time of Alexander, the greatest prince and commander of his age, that Aristotle, with scarce inferior applause and equal fame, being a private man, wrote that excellent piece of prudence in his cabinet which is called his Politics, going upon far other principles than those of Alexander’s government, which it hath long out-lived. The like did Titus Livius in the time of Augustus, Sir Thomas More in the time of Henry the Eighth, and Machiavel when Italy was under princes that afforded him not the ear« (Harrington 1977, S. 395 = The Prerogative of Popular Government, I). 81 Anonym 1660, Vorwort, unpaginiert [S. 15]. Man beachte, dass Morus (= »king Utopus«) hier ohne Bedenken in das republikanische Lager eingereiht wird. Mit »agrarian laws« wird auf Harringtons Utopie angespielt, in der den Agrargesetzen eine zentrale Bedeutung zukommt. 34 Einleitung Die Sympathien von R. H. liegen daher eindeutig bei anderen Autoren von Utopien, die im Gegensatz zu Morus eine monarchische Herrschaftsordnung im Sinn hatten, wie Francis Bacon und Robert Burton.82 Eine Stellungnahme des einflussreichen Neuplatonikers Henry More, ebenfalls aus dem Jahre 1660, betont gleichfalls die Filiation, die zwischen den Republikanern und der Textform der Utopie bestand, und zerstreut andererseits Zweifel an der Einstufung Harringtons als utopischen Denker und seiner Oceana als Utopie. Mit antirepublikanischem Impetus stellt More brutal und sarkastisch die Frage, ob man die (unterlegenen) Republikaner am besten durch Erhängen oder durch Ertränken in ihre imaginierten Welten von Utopia und Oceana befördern solle: »Whether hanging or drowning be the best ways of transportation of our late republicans to the commonwealths of Utopia and Oceana?«83 Nicht bloß die Sympathisanten eines absolutistischen Royalismus, sondern auch die Anhänger der ancient constitution, der überkommenen Herrschaft von Commons, Lords und König, brachten nach der Restauration ihre Abneigung gegen den Republikanismus mit dem utopischen Genre in Verbindung. Zielscheibe der Polemik ist auch hier, wie das Beispiel von William Portmann zeigt, die republikanisch-utopische Ordnung, die Harrington vorgeschlagen hatte: No longer let the vain Republican / Fill with Chimera’s his fantastic Noddle: / Balance, and Ballot, and Agrarian, / And all the Whimsies of th’ Utopian Model / Are out of doors: to the old Form we cling, / Our good old Form; Commons, and Lords, and KING.84 Aber zurück zu Morus. Das Gemeinwesen von Utopia ist keine Monarchie. Lediglich ein (in seinen Herrschaftsbefugnissen beschränkter) Wahlmonarch hat in der Verfassung Utopias einen Platz. Er lässt sich als monokratische Komponente in der Mischverfassung Utopias deuten, die oligokratischen und polykratischen Regierungsinstanzen gegenübersteht. Der mythische Staatsgründer Utopus, auf den die politischen, ökonomischen und moralischen Einrichtungen des Gemeinwesens von Utopia zurückgehen sollen, ist somit Schöpfer einer nichtmonarchischen Ordnung.85 Morus war für die gegenüber der Monarchie kritisch bis feindlich eingestellten Republikaner im England des 17. Jahrhunderts auch wegen seiner Biographie ein attraktiver Autor, hatte er doch Heinrich 82 Vgl. ebd., S. 15 ff. 83 [More] 1660, S. 2. 84 Portmann 1660, S. 2 (Hervorh. S. S.). Die Begriffe »balance«, »ballot« und »agrarian« sind Schlüsseltermini aus Harringtons politiktheoretischem Vokabular. 85 Morus 1983, S. 129 ff. Zur Wahlmonarchie in einer italienischen Utopie von 1626, Lodovico Zuccolos La republica d’Evandria, die nach dem Vorbild des spartanischen Königtums und der venezianischen Dogen konzipiert wird (s. Zuccolo 1944, S. 46 f.). Utopie und Republikanismus als Gegensatz? 35 VIII. und seiner Kirchenpolitik Widerstand geleistet und seine Insubordination mit dem Leben bezahlt. Überblickt man bedeutende utopische Projektionen des 16. und 17. Jahrhunderts, so stellt man fest, dass die Utopie in der weiteren Gattungsentwicklung insoweit Morus gefolgt ist, als sie die geringe Affinität der Utopia zur Monarchie weiterführt – von einem Antimonarchismus bei Morus zu sprechen wäre jedoch wohl übertrieben.86 Die institutionelle Ordnung, die in frühneuzeitlichen Utopien vorgeschlagen wird, changiert zwischen Formen kommunaler Selbstverwaltung und meritokratisch-expertokratischer Elitenherrschaft. Diese Ordnungskonzeption erscheint damit den Partizipationsformen verwandt, die in den historisch realen Republiken in der Frühen Neuzeit anzutreffen sind. Es ist außerdem zu beachten, dass England bereits vor 1649 und ungeachtet seiner monarchischen Verfassung auf der Ebene der cities und counties eine besonders starke Tradition der politischen Partizipation der Bürger in lokalen und kommunalen Regierungsgremien aufweist, in denen republikanische Traditionen auch im Zeitalter der Tudors und der Stuarts fortgeführt werden konnten.87 Die Formen der breitgestreuten, kommunalen Partizipation werden in den englischen republikanischen Utopien folgerichtig auf die Spitze getrieben; etwa bei Harrington, in dessen Oceana etwa ein Fünftel der wahlberechtigten Männer auf kommunaler Ebene Ämter bekleiden und Aufgaben versehen.88 In der anonymen utopischen Schrift The Free State of Noland (1701) rückt die kommunale Partizipation in den Mittelpunkt des politischen Freiheitsverständnisses: 86 Anklänge an den republikanischen »Monarchiehass« finden sich bei Morus jedoch in der Verwendung des Begriffs »Tyrannis«. Der Sturz und die Ermordung von Tyrannen werden explizit als außenpolitisches Ziel der Utopier genannt. Die Utopier betreiben zudem auf Kosten monarchischer, nichtrepublikanischer Gemeinwesen eine Expansionspolitik. Die Verhinderung einer hausgemachten Tyrannis ist hingegen Zweck vieler politischer Institutionen; Morus 1983, S. 115ff; vgl. Baumann 1988, Ransom 2013, Smith 2013. Bereits in antiken Utopien sticht eine antimonarchische Gesinnung hervor, etwa im Hellenismus in Euhemeros’ Panchaia , deren Bewohner als »autonomoi kai abasileutoi« bezeichnet werden (Diodor, V, 42, 5), dazu Bichler 2008, S. 38. 87 Collinson 1987, Roy 1988, Reinhard 2000, S. 199 ff. Braddick 2008, S. 60 – 63. Goldie (2001) spricht vor diesem Hintergrund sogar von England als »unacknowledged republic«. 88 Harrington 1992, S. 77 ff. Die 10.000 Gemeinden Oceanas entsenden ein Fünftel der Wahlberechtigten als Vertreter in die 1.000 Hundertschaften, aus denen wiederum Wahlmänner in die Versammlungen der 50 Stämme entsandt werden, die ihrerseits die Abgeordneten für das Parlament wählen. Braddick schätzt für die Mitte des 17. Jahrhunderts in England den Anteil der wahlberechtigten (männlichen) Bevölkerung, der kommunale Ämter versieht, auf ein Zehntel der Gesamtbevölkerung (Braddick 2008, S. 60). Braddick betont, dass in der englischen Monarchie »there was a republic of office holders« (ebd., S. 63). 36 Einleitung »In these [in den Gemeinden von Noland, S.S.] the People have the Government among themselves: with Laws and Orders of their own making and Magistrates of their own choosing. Which is the summ of civil liberty.«89 Die Utopieforscher Richard Saage und Peter Nitschke betonen den nichtmonarchischen und partizipativen Wesenszug, der die Gestaltung von Politik bei Morus und bei seinen Nachahmern bestimmt. Sie sprechen (ebenso wie Ernst Bloch) von einem demokratischen Zug in der frühneuzeitlichen Utopie, dem allerdings ein ebenso prägnanter autokratischer Zug gegenüberstehe. Dieser demokratische Zug unterscheide Morus etwa vom elitären Utopismus Platons, der die Partizipation in die Hände eines philosophisch und moralisch kompetenten Herrscherstandes gelegt, jedoch den Nährstand von ihr ausgeschlossen hatte.90 Wenn man die negativ-pejorative Bedeutung des Begriffs »Demokratie« bedenkt, die in der Frühen Neuzeit vorherrschend ist, hat dieser Sprachgebrauch einen unnötigen terminologischen Anachronismus zur Folge.91 Von einem republikanischen statt von einem demokratischen Wesenszug in den frühneuzeitlichen Utopien zu sprechen, wird der politischen Semantik der Zeit eher gerecht. Das Problem der Begriffsdefinition, was unter Republikanismus und unter dem republikanischen Denken und Sprechen über Politik (aus Sicht der Frühen Neuzeit) konkret zu verstehen ist, wird uns an anderer Stelle noch genauer beschäftigen.92 An dieser Stelle kann man jedoch bereits festhalten, dass republikanische Elemente wie die Bürgerpartizipation, die Mischverfassung, die Geltung der Gesetze bzw. die Ehrfurcht der Bürger gegenüber den geltenden Gesetzen, schließlich eine gegenüber der Monarchie kritische Grundhaltung in der Tradition des Morus die frühneuzeitliche Utopie charakterisieren. Hierin liegt ihre Attraktivität für die englischen Republikaner begründet. Auf den Spuren des Morus wandeln in England – wie man sehen wird – republikanische Akteure verschiedener Lager und Gruppierungen (aristokratisch-moderate, demokratisch-radikale, religiöse, säkulare). Die Rezeption der Utopie spielt 89 Anonym 1701, S. 8. 90 Nitschke 1995, S. 68; Saage 1990, S. 50. Bloch deutet das Herrschaftssystem von Utopia bei Morus als Demokratie. Er kontrastiert zudem Morus’ »Utopie der Freiheit« mit Campanellas Utopie, die auf Zwang und Unfreiheit beruhe (Bloch 1959, S. 598 – 614, v. a. S. 603, 609, 614). Saage betont, dass die Herrschaftsform frühneuzeitlicher Utopien eine Mischung aus demokratischen und autokratischen Elementen, aus Partizipation und Obrigkeitsgehorsam darstelle (Saage ebd., 50 f.): »Im Gegensatz zu Platon erkennen […] die frühneuzeitlichen Utopisten das Volk als politische Größe an« (S. 322). Zur Distanzierung vom platonischen Ständemodell der Politeia in Morus’ Utopia hingegen Baker-Smith 1994, S. 96. 91 Dazu Nippel 2008. 92 Zur Definition von »Republikanismus« und zur Eingrenzung des semantischen Feldes des Republikanismus als politische Sprache im England des 17. Jahrhunderts unten IV.1. Hier auch eine Kritik an der epochenübergreifenden und aus historischer Sicht problematischen Republikanismus-Definition bei Pocock. Utopie und Republikanismus als Gegensatz? 37 zeitlich betrachtet im prärevolutionären, wie im revolutionären und postrevolutionären Republikanismus in England eine Rolle. Andererseits hat Eric Nelson überzeugend herausgestellt, dass Morus der republikanischen Tradition politischen Denkens nicht unkritisch gegenüberstand. Seine Utopia beinhaltet einen gräzistischen (vom altgriechischen politischen Denken inspirierten) Frontalangriff gegen das neurömisch-ciceronische Verständnis vom Bürger und von der res publica. Dadurch, dass sich Morus’ Utopier aus dem politischen Schlüsselgut der Ehre und aus dem Privatbesitz gleichermaßen nichts machen, stellen sie zwei zentrale Normen des altrömischen politischen Handlungsverständnisses in Frage: Einerseits das im öffentlichen Bereich vorherrschende Konzept der Ehre und Ehrhaftigkeit (honestum) des Bürgers und andererseits die Bedeutung des Besitzes und seiner Unverletzlichkeit für den privaten Bereich gemäß dem Grundsatz des »ius suum cuique tribuendi« aus dem römischen Recht.93 Auch aus dieser Perspektive trifft man erneut Spannungspunkte zwischen der utopischen und republikanischen Tradition an. Nelsons Arbeiten deuten jedoch, eher als auf eine Unvereinbarkeit von Utopie und Republikanismus, auf einen Nebenstrang der republikanischen Sprache hin, der in den frühneuzeitlichen Utopien entstehe und in dem griechische Quellen eine besondere Bedeutung besitzen. In der Konsequenz würden im gräzistischen (utopischen) Republikanismus andere Probleme und Aspekte in den Vordergrund gerückt, die in der römischen Tradition keine hervorragende Bedeutung besaßen, etwa die dem utopischen Denken, aber auch altgriechischen Philosophen wie Platon und Aristoteles am Herzen liegende Frage nach der gerechten Eigentumsordnung und nach der Zulässigkeit einer Umverteilung oder gar Kollektivierung von Besitz.94 Es liegt nahe, in der vorliegenden Untersuchung die zu analysierenden Textquellen auch in Bezug auf die Frage nach der Rezeption des altgriechischen freistaatlichen Denkens zu durchleuchten. Bevor wir uns allerdings der Auswertung des Quellenmaterials zuwenden, soll der Begriff »Utopie« geklärt und die wissenschaftliche Kontroverse über seine Definition dargestellt werden. 93 Digesta 1.1.10; vgl. Cicero, De off. II/21, 73 und II/22, 78. »This conspicuous Hellenism [in Morus’ Utopia, S.S.] provides a powerful backdrop for More’s thoroughgoing subversion of the Roman republican tradition« (Nelson 2006, S. 1039). Zu den römischen Quellen des englischen Republikanismus und zur Rezeption des ciceronischen Bürger- und Tugendideals in England Peltonen 1995. 94 Dazu und zum griechischen Strang republikanischen Denkens in der Frühen Neuzeit Nelson 2004. Auch der Neologismus »Utopia« und die fiktiven griechischen Namen, die Morus den Personen, Institutionen und Ortsbezeichnungen von Utopia gibt, können als Hinweise auf seinen gräzistischen Republikanismus gelten, der zur römischen Tradition republikanischen Denkens auf Distanz geht, Nelson 2004, S. 102 – 105. Zu Harrington als Nachahmer von Morus’ gräzistischem Republikanismus ebd., S. 87 – 124.