andreas slominski – das ü des türhüters 14. mai

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andreas slominski – das ü des türhüters 14. mai
ANDREAS SLOMINSKI – DAS Ü DES TÜRHÜTERS
14. MAI – 21. AUGUST 2016
DEICHTORHALLEN/HALLE FÜR AKTUELLE KUNST
Andreas Slominski (geb. 1959) zählt zu den international bekanntesten deutschen Künstlern der
Gegenwart. Er ist ein Meister der ästhetischen Doppelstrategien. Seine Skulpturen beispielsweise, die wie
Fanganlagen aussehen (und manchmal als solche funktionieren), werden bei ihm zu Sinnbildern für Leben
und Tod. Wird eine Falle berührt und löst sie aus, ändert sich schlagartig alles. Ein Denkbild, das nicht nur
nach menschlicher List und Tücke fragen lässt, sondern durchaus auch nach der Unmittelbarkeit in der
Kunst. Ein neues Großprojekt des Künstlers wird unter dem Titel »DAS Ü DES TÜRHÜTERS« vom 14. Mai
bis 21. August 2016 in den Hamburger Deichtorhallen präsentiert.
Slominski ist ein Künstler, der mit allen Registern arbeitet und sich niemals nur auf eine Seite reduzieren
lässt. Für seine Ausstellung in den Deichtorhallen verwandelt Slominski mobile Toilettenkabinen in eine
atemberaubende Inszenierung und nutzt ihr Funktionsdesign für eine subversive Ästhetik. Die
Toilettenkabine steht für die Mobilität in der Moderne, lässt aber auch an Wahlkabinen, Särge und
Telefonzellen denken oder allgemein an Refugien wie Kirchen und Museen. Der Reiz dieser Ausstellung
besteht schon in der großen Geste, in Slominskis Umgang mit dem Raum: einer speziell für die Halle für
aktuelle Kunst entwickelten Gesamtinstallation. Er türmt die Toilettenkabinen zu Andachtswerken, formiert
sie zu militärisch anmutenden Spalieren oder hängt sie als Vitrinen an die Wand. Seinen ausgeprägten Sinn
für Formen des Alltags steigert der Künstler ins Monumentale.
Alle Bilder und Objekte in dieser gesamtkunstwerkartigen Installation, ob an den Wänden, am Boden oder
von der Decke hängend, leiten sich von der Grundfigur der Toilettenkabine ab. Aus der Innenausstattung
wie dem Papierrollenhalter, dem Urinal, dem Entlüftungsrohr oder dem Waschtischtank werden
Kunstwerke geschaffen – die Unterscheidung zwischen Alltagsgegenstand und Kunstobjekt wird obsolet.
Ein Pinsel verbindet Malerpalette und Toilettenbrille. Slominskis Mikroskope verweisen auf die Bedeutung
des Kleinen – »die Wucht des Atomaren«. Puppen in Gelb und Braun thematisieren die Frage des Umgangs
mit dem Fremden. Für Slominski dennoch eine »pure« Ausstellung, die sich nicht zuletzt in den Rhythmus
der Architektur fügt, um deren Schönheit zur Geltung zu bringen. Überraschung, Staunen und Amüsement
stecken wie in vielen seiner Arbeiten auch in diesem neuen Großprojekt.
Andreas Slominskis Werk und Schaffen ist durch Studium und Professur an der HFBK in besonderer Weise
mit
Hamburg
verbunden.
Er
war
an
zahlreichen
renommierten
Institutionen
weltweit
mit
Einzelausstellungen vertreten, darunter die Kunsthalle Zürich, die Fondazione Prada, Mailand und das
Museum Boijmans van Beuningen, Rotterdam.
Zur Ausstellung erscheint eine limitierte Künstleredition von Andreas Slominski. Der Snoeck Verlag
publiziert einen Katalog mit Installationsaufnahmen sowie Texten von Dirk Luckow, Saša Stanišić und
Dörte Zbikowski.
ANDREAS SLOMINSKI – DAS Ü DES TÜRHÜTERS
14. MAI – 21. AUGUST 2016
DEICHTORHALLEN/HALLE FÜR AKTUELLE KUNST
PRESSEKONFERENZ
Am Freitag, 13. Mai 2016 um 11 Uhr mit Dr. Dirk Luckow, Intendant der Deichtorhallen Hamburg und
Andreas Slominski.
ERÖFFNUNG
Am Freitag, 13. Mai 2016 um 19 Uhr in der Halle für aktuelle Kunst. Es spricht Dr. Dirk Luckow, Intendant
der Deichtorhallen Hamburg.
Im Anschluss an die Eröffnung findet eine Party im »Fillet of Soul Café« der Deichtorhallen statt.
PUBLIKATION
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit Installationsaufnahmen sowie Texten von Dirk Luckow, Saša
Stanišić und Dörte Zbikowski in englischer und deutscher Sprache im Snoeck Verlag. Erscheinungsdatum:
voraussichtlich Juni 2016
EDITION
Zur Ausstellung erscheint eine limitierte Edition von Andreas Slominski. Auflage: 36 Exemplare. Signiert,
datiert, nummeriert, in verschiedenen Farben erhältlich. Preis 360 € (inklusive 7% MwSt).
PRESSEMATERIAL
Pressebilder und -texte stehen zum Download auf unserer Website www.deichtorhallen.de unter »Presse«
bereit. Ansprechpartner: Angelika Leu-Barthel, Tel. 040-32 103 250, [email protected]
ÖFFNUNGSZEITEN
Di – So 11 – 18 Uhr. Jeden 1. Do im Monat 11 – 21 Uhr.
EINTRITTSPREISE
10 Euro normal, 6 Euro ermäßigt, freier Eintritt für Kinder und Jugendliche bis einschließlich 17 Jahre.
Div. Gruppenpreise und Rabatte, weitere Infos unter www.deichtorhallen.de/eintrittspreise.
ÖFFENTLICHE FÜHRUNGEN
Jeden Sa und So 16 Uhr
ADRESSE
Deichtorhallen Hamburg, Deichtorstr. 1-2, 20095 Hamburg, Tel. 040- 32 10 30, [email protected]
WWW. DEICHTORHALLEN.DE
UNTERSTÜTZT VON
Katalogtext zu Andreas Slominski/Deichtorhallen Hamburg Mai 2016 -
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Dirk Luckow
DIE WELT VON ANDREAS SLOMINSKI
Dada-Phonetik
„Das Ü des Türhüters“, der Titel der Ausstellung, ließe sich auf die phonetischen Gedichte der
Dadaisten beziehen, aber auch auf die Türhüterlegende in Franz Kafkas Parabel „Vor dem
Gesetz“. Kafka erinnert hier an das göttliche Wirken als für den Menschen unerreichbare,
Sehnsüchte und Ängste weckende ferne Macht. Statt sich alle Freiheiten herauszunehmen, um
Glanz und Sinn im Leben zu finden, lässt sich der Mensch vom Türhüter einschüchtern. Dem
Wagnis, sich trotz der Warnung des Türhüters über die Schwelle zu begeben, um dem erahnten
Lebensmittelpunkt näherzukommen, weicht der Mensch aus. Sein Scheitern ist damit
vorgezeichnet. Kleinmut siegt über Großmut und bestimmt den dumpfen Lauf des Lebens.
Nicht zufällig beruft sich Andreas Slominski auf die Idee, dass die ganze Kunst im Kindesalter
angelegt sei, wie ein Spielzeug, was „ein schöner Anfang“ sei. Der Stecksystem-Baukasten auf
dem Plakat zur Ausstellung in den Deichtorhallen verweist auf das Prinzip des Gestaltens und
könnte dazu dienen, die Welt per Kinderbausatz zu erklären (Abb. 1). Der Hammer ist in
Slominskis Baukasten ein auffälliges Element, klarer Hinweis auf die tätige, schöpferische Welt,
in der der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nimmt, auch wenn es fürchterlich
komplizierte Lebensgeschichten hervorbringen kann. Er ist zugleich der Klöppel, der die Glocke
schlägt, und ragt in seinem zarten Hellblau aus den restlichen Gelenken, Schrauben und
Verbindungen des Stecksystems heraus. Andererseits hat er nur eine untergeordnete
Bedeutung, da es sich um ein reines Schraubset aus Plastik handelt. Ein solcher Baukasten
vermittelt ja nur das Klischee, als kreativer Baumeister im Leben zu stehen. Mit seinen
vorgefertigten Modulen zeugt er vielmehr davon, dass Individualität eigentlich nicht mehr
möglich ist. So spielt das Motiv mit den Assoziationen, die durch es geweckt werden, und wird
zum Bild der Absurdität. Das Spiel mit der Absurdität aber ist so etwas wie eine Grundlage für
Slominskis ganze Kunst.
Vorfreude
Andreas Slominski verbindet eine künstlerische Formensprache, die auf Werkhaftigkeit und
eine fast barocke Abgeschlossenheit abzielt, mit Fragestellungen der Sockellosigkeit und
Performativität. Letztere sind zentrale Parameter seiner Kunst und grenzen sie ab von der
herkömmlichen Plastik, beginnend mit der Renaissance über den Klassizismus bis hin zur
Klassischen Moderne. So baut der Künstler für eine performative Arbeit ein ganzes Feuerwerk
auf, das er am Ende aber nicht zündet (Abb. 2). Slominski ist ein Meister darin, Erwartungen zu
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unterlaufen. Für ihn sind Feuerwerkskörper, die er nicht abbrennt, aber jederzeit abbrennen
könnte, Ausdruck von kindlicher Vorfreude, von Sehnsucht und von ungenutzten Potenzialen.
Es wäre auch gefährlich, würde man sich seiner raffinierten manipulativen Sprengstofffalle
ungewarnt nähern. Slominskis Installation gilt der Intensität des Moments, träte er nur ein, und
weist auf die Sorge des Künstlers um den Verlust der Naivität. So werden die Feuerwerkskörper
zu Sinnbildern des schnell verfliegenden Lebens und lassen uns danach fragen, wie die
Unmittelbarkeit in der Kunst erhalten bleibt.
Slominskis Grundbegriffe
Andreas Slominski ist ein postmoderner Künstler, der mit allen Registern arbeitet, alles in sein
Werk einbaut, nichts ausschließlich macht, sich niemals nur auf eine Seite reduzieren lässt.
Zugleich ist Slominski ein Bildhauer, der bestimmte Dinge nutzt wie herkömmliches Material.
Selbst wenn er seine Werke auf Sockel stellt oder mit Rahmen versieht, schwingt doch immer
das Wissen um die ganze Grammatik der zeitgenössischen Bildhauerei mit, wie die Erweiterung
des skulpturalen Denkens, die Aktivierung des Betrachters, eine Skulptur-Erfahrung unter
Einbeziehung gesellschaftlicher Kontexte und ihrer aktionistischen Momente. So thematisiert
Slominski in einer seiner jüngsten Werkserien Garagentore, die er wie klassische Tafelbilder an
Galeriewände hängt (Abb. 3). Garagentore prägen die Ästhetik der Vorstädte. An sich
abschottend wirkend und die Innenseite mit der mechanischen Verriegelungsvorrichtung zur
Schauseite gemacht, erinnern sie auch an eine Falle, in der wir sitzen – Ausdruck einer
kafkaesken, aber auch komischen Sicht auf die Welt. Bei Slominski kann alles aus allem heraus
entwickelt werden. Unheimliches und Rätselhaftes, bisweilen Boshaftes und Humorvolles
werden zu einer unverwechselbaren bildnerischen Sprache verknüpft, die immer wieder
Fallstricke für den Betrachter bereithält. Jederzeit ist Slominskis unbändige Lust am
Philosophischen spürbar. Ja, er versteht es meisterhaft, mit dem autonomen Status, dem Raum
und den Verweissystemen der Skulptur als elementarem Vokabular seiner Kunst zu jonglieren.
Actio per distans
Skulptur ist bei Slominski immer auch eine Reflexion über die Möglichkeiten der menschlichen
Figur. Das mobile Klosett, kaum größer als das Fass des Diogenes und Thema der Ausstellung
in den Deichtorhallen, hat mit Slominskis Fallen-Objekten den Menschheitsbezug gemein (Abb.
4). Beim Fallenbau analysiert der Mensch kühl, wie groß das Tier ist, wie es sich bewegt und wie
seine Anatomie beschaffen ist, um die effizienteste Falle zu entwerfen. Er muss alle
Möglichkeiten antizipieren und das Verhalten des Tieres besser kennen, als wenn er ihm etwa
ein Gehege oder einen Stall einrichten würde. Das Tier-Objekt muss in der eigenen
Vorstellungskraft genau erfasst sein und kann dann, ohne es in Begriffe zu fassen, gebaut
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werden. Es geht um das Phänomen, das der Philosoph Hans Blumenberg „actio per distans“
genannt hat. Blumenberg sagt über das Wesen der Falle, sie sei „in allem zugerichtet auf die
Figur und die Maße, die Verhaltensweise und Bewegungsart eines erst erwarteten, nicht
gegenwärtigen, erst in Besitz und Zugriff zu bringenden Gegenstandes“. Wie bei der Falle auf
das Tier, sind bei der Toilette alle Funktionen auf den Menschen und seine Physiognomie
ausgerichtet.
So wie Kafkas Tür nicht die Pforte zur Offenbarung des Menschen ist, so sind auch die Türen
der Toilettenhäuschen bei Slominski nicht der Eingang zu etwas Paradiesischem. Sie führen
stattdessen in einen der kleinsten und engsten Räume, in die sich der Mensch freiwillig oder
gezwungenermaßen begibt, vergleichbar etwa einem Sarkophag oder einem Beichtstuhl. Eine
Art Refugium, wie Museen Orte des Rückzugs sind, ständen mobile Toiletten nicht oft an Orten,
die den Blicken von allen Seiten ausgesetzt sind. In der aktuellen Installation steigert Slominski
seine Faszination für Realformen, sein hintergründiges Interesse am trivialen Alltagsobjekt ins
Monumentale. Selten dürfte sich eine auf industrieller Massenfertigung beruhende
Ausgangsform, ihrer ursprünglichen Bestimmung entrissen, in einem Museumsraum so
ausgebreitet haben. Die 3800 Quadratmeter große nördliche Deichtorhalle lädt Künstler ein,
groß zu denken. Weit und von Tageslicht durchflutet, lässt ihre industriell geprägte
Museumsarchitektur ohne optische Haltepunkte die Großzügigkeit des Raumes deutlich
empfinden. Ja ein wenig verlieren wir uns sogar in diesem offenen Gefüge. Auch ein
Toilettenhäuschen wirkt in diesem riesigen leeren Raum erst einmal winzig. Eine große
Inszenierung, die zugleich Stille, Kontemplation und Reflexion verspricht.
Akteure unserer Zeit
Mit den mobilen Toiletten zieht die Stadt vor der Tür als Großinstallation in die nördliche
Deichtorhalle ein. Als Akteure, die eine Bühne betreten und nach dem Ende der Vorstellung
wieder abtreten, als Schauspieler, die eine Formation nachstellen, um wieder hinter dem
Vorhang zu verschwinden. Im Zeitalter der Ressourcenschonung ist das ein Konzept, Räume zu
bespielen, ohne Müll zu produzieren. Die mobilen Klohäuschen wurden in den 1980er Jahren
erstmals hergestellt und boomen heute in einer Welt, in der permanent gebaut wird, ständig
Großveranstaltungen durchgeführt werden und Flüchtlingsströme den Bedarf an mobilen Klos
weiter in die Höhe treiben. Die Botschaft: Mit ihnen kann überall in der Öffentlichkeit sauber die
Notdurft verrichtet werden. Eine solche WC-Kabine mit ihrem glatten, harten Polyethylen,
einem teilkristallinen, thermoplastischen Kunststoff, ist sicher kein Ort, von dem man sich
angezogen fühlt. Sie ist in erster Linie gut zu reinigen, ausspritzbar und hygienisch. Wer ist
nicht froh, wenn das Schloss dieses Pragmatismustempels wieder aufspringt. Mobile Toiletten
stehen für die heutige Moderne und ihre oft unbemerkte Gesetzmäßigkeit. Mit diesem
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Funktionsdesign künstlerisch zu arbeiten, werden viele als absurd empfinden. Für Andreas
Slominski ist darin alles enthalten, die Kunst, der Alltag und die Religion, die zur Zeit in der Welt
eine so wichtige Rolle spielt.
Der Wirklichkeit entsprechen
Andreas Slominski ergreift mit über hundert Toilettenwerken Besitz von der Nordhalle. Sie
sollen nicht nur betrachtet und bestaunt, sondern begangen, ja mit allen Sinnen erlebt werden.
Neue Räume entstehen durch Aneinanderreihung der Kabinen, die damit wie Wände
funktionieren. Ein gewisser Eindruck des Vorläufigen, des Abwartens wird so erweckt. Die
Toiletten zeichnen die architektonische Struktur der Deichtorhalle nach, schaffen
Durchgangsräume und Verbindungswege. Zugleich sind die Kabinen selbst exponierte
Ausstellungsstücke, Leihgaben und damit Readymades, dann wieder gestaltete Objekte und
Wandarbeiten, die die Räume und Außenwände bespielen. Der offene Umgang mit dem
Material soll die Wirklichkeit nicht nur effektvoll repräsentieren, sondern ihr auch entsprechen.
Slominski lässt für die große Schau seine plastischen Schöpfungen als Vitrinen, Stelen, Mobiles,
vertikal aufragende Skulpturen, Bodenplastiken und Kabinettwerke der industriellen Produktion
gemäß ausführen: schneiden, pressen, tiefziehen, verketten oder verklammern. Zwischen dem
kräftigen Rot und dem Marineblau der Kabinen stechen ein Orange, ein frisches Grün als
Farbknaller heraus. Ein neutraleres Grau, aber auch Schwarz-Weiß-Kontraste und ein
verrostetes Blumengitter mit seinem dreckigen, vergammelten Aussehen unterstreichen den
autonomen Charakter der im Raum komponierten Dinge, die sich mit einem besonderen
Rhythmus der Farbe zu einem formalen Spiel zusammenfinden und eben nicht als
Bedeutungsträger zu verstehen sind. Die Innenausstattung der WC-Kabinen, das Urinal, der
Toilettensitz, der Papierrollenhalter oder das Entlüftungsrohr, spielt in vielen Werken eine
wichtige Rolle. Diese Grundformen werden als plastische Schöpfungen begriffen; ihr Aufbau,
die Gliederung, Fragmentierung oder Statik, wird allerdings verwandelt. Die Ergebnisse gehen
über das Sachlich-Moderne der WC-Kabinen hinaus und erinnern an verspielte Salonkunst oder
medizintechnische Apparaturen in Krankenhäusern.
Abstrakte Figuration
Viel beruht bei Slominski auf der menschlichen Figur. So gibt es den sogenannten Gurgelraum,
der anatomische Bezüge eröffnet und etwas vom Innenraum der WC-Kabinen freilegt. Die
Schläuche für Pumpen und Tanks, die mit der Rückseite nach vorn präsentiert werden und
aufgeklappt sind, bringen ein barockes Moment ein. „Der Mensch guckt nach oben und legt die
Gurgel frei“, verweist Slominski auf die Verletzbarkeit des Menschen. Die Werke schöpfen ihren
Reiz auch daraus, dass sie trotz größtmöglicher Erweiterung des Skulpturbegriffs weiterhin auf
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grundlegenden skulpturalen Wirkungen basieren. Slominskis Eingriffe sind so überraschend wie
reduziert, so virtuos wie deformierend. Anregungen aus dem Alltagsgeschäft werden in den
Prozess des Gestaltens aufgenommen. So entstehen etwa beim geöffneten Klo zwei Ovale:
vom Klodeckel und der Kloschüssel, die an zwei Nullen oder an das Unendlichkeitszeichen
erinnern. In einem anderen Teil der Ausstellung entdeckt man das weiße Dach einer Kabine, nun
auf einer schwarzen Palette auf dem Boden liegend. Man denkt an die Minimal Art, bei der
Grau, Weiß, Schwarz, Abstraktes vorherrschten. Man denkt aber auch an Himmel und Erde
zugleich. Eine Konstruktion aus drei zu einem Bogen aufgerichteten roten und blauen Kabinen
ähnelt Brücken in einem Park. Etwas weiter ragt eine Rippenform ganz aus Klotanks mit zwei
aufeinanderstoßenden Toilettensitzen wie Hostien meterhoch auf. Daneben ist eine Stele mit
lässig herunterhängender Klobrille aufgestellt. Nahe dazu eine Skulptur aus schwarzem Gummi
und abgeschnittener Kufe, vorn eine Schattenfuge und eine bildschöne Raute. Bei den
Vitrinenwerken an den Wänden werden die Türen hochgeklappt; Slominski präsentiert sie
einfach und doppelt, mal zwei oder eben vier Meter lang. Sie dienen auch dazu, Objekte mit
und ohne WC-Bezug darin auszustellen wie etwa einen Straßenbegrenzungspfosten.
Entsprechend gibt es Sockel aus sogenannten Duo-Waschtischen, die Wasser- und
Abwassertanks in den WCs verbinden, um unter einer Glashaube etwa ein Mikroskop erst auf
einer Palette und dann auf einem Klositz abzustellen. Slominskis Hinweis auf Untersuchungen
zu Mikroviren auf beiden Untergründen spielt mit unseren Infizierungsängsten. In einem
weiteren Bereich der Ausstellung hat der Künstler einen blauen Raum aus Stehpissoirs
eingerichtet. Der Minimalismusbezug lässt Raum für Romantisches. Er liebe die Dämmerung,
sagt Slominski und erinnert sich an einen Spruch: „Wenn man einen blauen Faden nicht von
einem grauen Faden unterscheiden kann, dann fängt der Sabbat an.“ Versteckte Symbole
weisen auch auf Religiöses und die muslimische Welt. Zugleich steht die Dämmerung für
Ambivalenz. Das Unklare der Bedeutung, das Slominski interessiert, liegt darin, dass der
Betrachter etwas nicht einordnen kann, dass in der Schwebe bleibt, was es bedeutet.
Auf Distanz zu „Duchamp“
Die an der Wand gezeigten reliefartigen Werke erinnern an eine moderne Form des Stilllebens.
Ebenso wie ein Maler beachtet Slominski kompositorische Prinzipien. Wie die Formen bei ihm
auf der Fläche sitzen und zueinander passen, ist meisterhaft, nur dass das Volumen nicht durch
Farben, sondern durch tiefgezogene Formen definiert wird. Die Reliefs sind aus Kunststoffstaub
bestehende, industriell hergestellte Unikate und entsprechend puderleicht. Ihre Ecken sind am
stabilsten, während die Mitte verknittert und fragil wirkt. Beim Tiefziehen wird auf der Gussform
kurz die Luft aus der flachen Kunststoffvorlage herausgezogen. Gegenstände wie ein Baguette,
ein Baumstamm, ein Pinsel oder eine Staffelei wurden neben Toilettensitzen auf die Gussform
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gelegt. Eine Palette oder ein schlanker Pinsel sind Symbole für Malerei schlechthin. Der Pinsel
hat sich bei Slominski auf die Klobrille verirrt. Wie Geschwister begegnen sich der Abdruck
einer Klobrille und der einer Staffelei auf dem Relief. Slominskis komponierte WC-Formen
distanzieren sich durch die an Malerei erinnernde Nutzung vom Duchamp’schen Pissoir; sie sind
nicht als Readymade, sondern als Material und Kommentar zur Kunst zu verstehen (Abb. 5).
Eine andere Wandarbeit besteht aus Metallringen und farbigen Ringen, die sich zu einem
technoiden Blumenstillleben verdichten und gleichzeitig als Klopapier- oder
Küchenpapierhalter dienen. Wieder an anderer Stelle werden Klodeckel wie danaeische Spiegel
an der Wand präsentiert, unterhaltsame Gegenstücke zu den mächtigeren grauen im Raum
verteilten minimalistischen Objekten. Mit dem Zusammentreffen von Außenform und
Innenform, Kleinstem und Größtem, prekärer Balance und Bodennähe, nüchterner Abstraktion
und operettenhafter Theatralik steigert sich das Glück des Schauens von Objekt zu Objekt.
Aura, Feinsinnigkeit und Schönheit entfalten sich, wo man sie niemals vermutet hätte.
Kabinenbewegung
Unter den Werken der großen Inszenierung befinden sich zwei Skulpturen, die sich in einem
bestimmten Takt bewegen und als Perpetuum mobile sofort Aufsehen erregen. Einmal eine
Drehkabine an der Wand und zum anderen eine WC-Kabine in simpler Auf-und-ab-Bewegung,
die, so bemerkt Slominski, etwas Gewöhnliches habe. Wie ein animiertes Monument der
mechanischen Moderne setzt sich die Kabine, die an der Wand befestigt ist, alle sechs bis
sieben Minuten in Bewegung. Ihre Rotation wird von dumpfen Schlägen begleitet, wenn die Tür
aufspringt und wieder zufällt oder die Kabine kopfunter steht und der Kampf mit der Fliehkraft
des Materials sich leise knirschend vollzieht, bis irgendwann vor unseren Augen nur noch die
Umrisse übrigbleiben. Vor der Drehkabine wird jedenfalls der ganze Körper zum Organ der
Erfahrung, sie erinnert an Slominskis Windmühlen-Werke. Die so verspielte wie absurde
Bewegung lässt an Produktionsprozesse in Fabriken denken und an einen überraschenden
Defekt im System.
Skulptur mit brauner und gelber Puppe
Im Zentrum der Ausstellung steht, wie ein filigraner Knotenpunkt im großen Skulpturenpark,
eine vertikale Assemblage auf einem klassischen Sockel. Von fern sieht diese Arbeit Slominskis
aus, als sei eine frühe Materialcollage von Wladimir Tatlin als elegant-dekonstruktivistisches
Gebilde wieder zum Leben erwacht. So ausgeklügelt wie improvisiert, als Objet trouvé und als
vielwinkelige, gestaltete Form funktioniert die Figur als rhythmisch bewegte, raumgreifende
Plastik. Nicht ganz so angenehm erscheint die Arbeit aus der Nähe. In die Konstruktion hat
Slominski zwei Kinderpuppen aus DDR-Zeiten gesteckt: eine „Negerlein“-Puppe in Braun und
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ein Katzenpüppchen in Gelb. Jeweils eine der Gliedmaßen, der rechte bzw. linke Arm der
Kinderpuppen, wurden vertauscht. Die Puppen wirken, als seien sie selbst überrascht darüber,
was gerade mit ihnen passiert ist. Hier ist der schwarze Mensch quasi Teil des hellhäutigen
Katzen-Menschen geworden und andersherum. Das „Negerlein“ hatte Slominskis Schwester als
Kind geschenkt bekommen und lief immer damit herum. Mit diesem nicht ganz unschuldigen
Bild vom Kinderspiel konterkariert der Künstler das futuristische Objekt.
Ende und Anfang
Für die Ausstellung in den Deichtorhallen konzentriert sich Andreas Slominski auf industriell
gefertigte WC-Kabinen, die ja von vielen Unternehmen, wie Dixi, Global, Hansa Baustahl oder
Nonnenmacher, angeboten werden. Treten die Toilettenhäuschen im öffentlichen Raum in
verschiedenen Versionen auf, mit unterschiedlichen Logos und Designs, so hat sich Slominski
dennoch für einen Bautyp entschieden. Er reduziert das Angebot für den Betrachter auf
gleiche, sich wiederholende Kabinen, wodurch er die reine Objekterfahrung unterstreicht und
die gesamträumliche Wirkung in den Deichtorhallen ermöglicht. Das ist auch eine Hommage an
ein Museum, das solche Kunstausstellungen möglich macht, von denen der Künstler sich früh
erträumt hat, dass er sie einmal verwirklicht, um zugleich die Welt eins zu eins abzubilden.
Tatsächlich kehrt Slominski mit dieser Ausstellung zu seinen Hamburger Anfängen zurück (Abb.
6). So benutzte er in den frühen 1980er Jahren während eines Rundgangs in der Hochschule für
bildende Künste kleine farbige Kinderbausteine als Sockelgebilde für Zufallsfunde aus dem
Alltag, darunter auch ein Stück Hundescheiße, als Skulptur präsentiert. Bemerkenswert ist, dass
Slominski damals eine komplette Ausstellung baute und zugleich ersann, was eine Ausstellung
einmal für ihn sein könnte. Ein Versprechen, das er mit seiner Installation in den Deichtorhallen
heute einlöst.
Abbildungen
Abb. 1
Plakat DTH zur Ausstellung
Abb. 2
Installationsansicht Feuerwerk, 2004, Braunschweig
Abb. 3
Abbildung Garagentor (grün, 5-flügelig) aus Ausstellung A-ski bei Bärbel
Grässlin
Abb. 4
Wühlmausfalle, 1984
Abb. 5
Marcel Duchamp, Fountain, 1917
Abb. 6
Ausstellungsansicht der 1. Ausstellung von Slominski an der HfbK
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Saša Stanišić
CHARLOTTE SETZTE SICH UND WISCHTE MIT DEM HANDRÜCKEN DAS RESTLICHE KOKS VOM
TISCH
*
Die Falle ist derart fängisch zu stellen, dass die Toilettenkabine umgestoßen wird, auf der Tür
landet und liegen bleibt und also die darin befindliche Person eingesperrt ist.
*
Mein Sohn möchte pinkeln.
Ich flüstere, das geht jetzt nicht.
Warum nicht?
Ich flüstere, die Kirche hat nur Klos für privat.
Was ist das ‚für privat‘?
Ich bekreuzige mich. Nur für Jesus. Und seine Vertreter auf Erden.
Verstehe, flüstert mein Sohn und sieht vorwurfsvoll, aber auch traurig hinauf zum
vorwurfsvollen, traurigen Mann am Kreuz.
*
Jetzt kommt die Geschichte von Avdija, den wir Džoni nannten, von Johnny Cash. Džoni hatte
sich in Zentralbosnien während des Krieges als Räuber und Hehler einen Namen und einen
Reichtum gemacht. Er begann als Einzelgänger mit Messer und endete als eine Art Pate,
umgeben von Profis aller Couleur, Schlägern und Politikern, aber auch Blauhelme waren
darunter und Ärzte, die abgefangene Medikamentenlieferungen an den Mann brachten. Das war
Methode: Džoni überfiel humanitäre Konvoys oder Hilfslager und verkaufte die Güter. Später
reichte das Schmieren richtiger Stellen, um die Sachen zu einem sehr guten Preis zu erwerben
und sie zu einem besseren zu veräußern.
Džoni trug Cowboy-Hut, Jeans und Stiefel. Den Hut, um die Halbglatze zu verstecken. Er
spielte Country auf der Gitarre und sang, beides sogar recht gut, was irgendwie… irgendwie
falsch war; man erwartet von einem Arschloch ohne nur einer Spur Anstand nicht, dass er
musizieren und passabel singen kann.
Keines seiner Verbrechen wurde ihm nachgewiesen.
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Nach dem Krieg ließ Džoni sich ein Haus an den Hängen über Sarajevo bauen. Im Tal:
die Menschen, die er drei Jahre lang betrogen und belogen und ausgenommen hatte.
Haus ist nicht der richtige Begriff. Eine Art Schloss sollte das werden. Erker, Türme,
Säulen, Säle. Vier Garagen, privates Waldstück, Jagdhunde, ohne dass Džoni jemals jagen
gegangen wäre. Er wollte einen Pool mit einem Fernseher unter der Wasseroberfläche, um vor
der Glotze tauchen zu können, und er bekam einen Pool mit einem Fernseher unter der
Wasseroberfläche. Der Ton war nur verzerrt zu hören, aber wer braucht Ton, wenn er einen
Fernseher unter der Wasseroberfläche hat.
Eine Sache muss man ihm lassen: Für die Bauarbeiten hatte er ausschließlich Leute aus
der Gegend beauftragt. Der Bauleiter war Štefan Kralj, ein Urgestein aus Sarajevo. Die Leute
haben sich gewundert, dass einer wie er, ein anständiger Mann, sich von so jemandem wie
Džoni anheuern ließ. Aber die Zeiten waren, wie die Zeiten bei uns immer sind, und auch der
ehrbarste Mann denkt zuerst an die Familie und nicht daran, woher das Geld kommt.
Džoni hatte ganz klare Vorstellungen, wie das Anwesen aussehen sollte. Kralj warnte ihn
vor wahrscheinlichen Problemen mit der Statik im Westflügel des Hauptgebäudes, und Džoni
rechnete ihm seine Sorgen hoch an und blieb bei seinem Plan.
Anfangs inspizierte er häufig die Baustelle, war mit dem, was er sah, immer zufrieden
und unzufrieden zugleich, wie es alle sind, die das letzte Wort haben wollen. Gelegentlich kam
er spontan auf neue Ideen. Auf einmal waren die Jagdgründe nicht mehr wichtig, stattdessen
sollte der Wald teilweise gerodet werden, um Platz zu schaffen für ein Fußballstadion. Džoni
hatte vor, den FC Liverpool zu kaufen und ihn in der ersten bosnischen Liga antreten zu lassen.
Mit der Zeit zeigte er sich weniger, weil er – wie bei vielen Dingen – das Interesse
verloren hatte. An der montenegrinischen Küste hatte er eine Villa gekauft, zwar nur in der
zweiten Reihe hinter dem Neffen von Putin, aber immerhin war sie so gelegen, dass man von
der Dachterrasse einen Adriazipfel noch sehen konnte. Dort verbrachte er seine Zeit, zuletzt
vergingen Monate, ohne dass er die Baustelle in Sarajevo betreten hätte.
Nach anderthalb Jahren waren die Arbeiten auf dem Grundstück größtenteils
abgeschlossen und das Gebäude – so meldete es Kralj – bezugsfertig. Er bat Džoni zur
Begehung. Der war gerade in der Stadt bei einem Geschäftstermin, und wir vermuten, dass
Kralj das wusste. Zu solchen Terminen reiste Džoni gern ohne Familie an, damit er seine
Geliebten entspannt besuchen konnte.
Er kam also allein zum vereinbarten Termin. Die Baustelle war verlassen, Kralj nirgends
zu sehen. Nur kleinere Erledigungen schienen noch anzustehen, hier und dort lauerte eine
Maschine, Säcke unbekannten Inhalts lagen aufgestapelt vor einer Mauer, eine Schubkarre
lehnte an einem Apfelbaum, ein mobiles Klo thronte im Vorgarten.
Katalogtext zu Andreas Slominski/Deichtorhallen Hamburg Mai 2016 -
3
Džoni betrat das Haus. Zwar fehlten die Möbel, aber der erste Eindruck muss
überwältigend gewesen sein, auch für einen Mann wie ihn. Marmorsäulen, edelholzvertäfelte
Wände, ein Riesenaquarium mit einem einzelnen winzigen gelben Fisch, Wendeltreppen, soweit
das Auge reichte.
Wobei. Das stimmt nur halb. Wir wären begeistert gewesen, du und ich. Džonis
Reaktion ist nicht überliefert.
Kralj war weiterhin unauffindbar.
Džoni rief an, der Baumeister ging nicht ran.
Und dann wollte Džoni aufs Klo, aber Džoni fand kein Klo. Im Erdgeschoß, angrenzend
an das Spielzimmer, sollte eines sein, doch an der Stelle, wo es geplant war, gab es nichts, kein
Raum, keine Tür. Im ersten Stock sollten es zwei sein – er betrat alle Zimmer und fand kein Klo,
kein Badezimmer, da war nichts.
So wie uns nicht überliefert ist, ob Džoni das Gebäude gefiel, wissen wir auch nicht, was
er in dem Moment dachte, als er feststellte, dass auch im zweiten Stock nirgendwo eine Toilette
war. Wir vermuten: ‚Scheiße, wo sind denn die Toiletten?‘
Überliefert ist, dass er anschließend zum Klohäuschen im Vorgarten eilte, um seine
Notdurft zu verrichten und vielleicht auch nachzudenken, wie der falsche Film hieß, in den er da
geraten war. Erwarte aber nicht, dass wir dir verraten, von wem wir das wissen, oder von wem
wir wissen, dass nach einigen Augenblicken auf dem Klo Džoni gerufen hat: „Ist da wer?“.
So viel wirst du begriffen haben: Ja, da war wer.
Wer der Wer war, darüber konnte Džoni freilich nur kurz spekulieren, schon muss er den
Ruck gespürt haben, der die Kabine in Bewegung gesetzt und zum Kippen gebracht hatte. Sie
landete auf der Türseite und blieb so liegen.
Džoni fluchte, rüttelte vergeblich an der Tür und trommelte gegen die Wand, seine Rufe
um Hilfe erstickten bald in Würgegeräuschen.
Schau dir unsere Hände an.
Schau, was sie aushalten mussten.
Schau dir den Hass an, den wir in uns tragen.
Drei Jahre hat man uns belagert.
Unsere Möbel haben wir dem Feuer übergeben, um die Winter zu überdauern. Unsere
Kinder aßen Tage lang nichts als dünne Suppen. Scharfschützen erschossen unsere Mütter und
unsere Hunde und unsere Kindheiten zum Spaß.
Und so einer wie er.
So einer wie Džoni.
So einer soll Scheiße fressen, um zu überleben. In alle Ewigkeit soll er an die Türe
klopfen, die unsere Erde ihm verschlossen hält.
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*
Die erste mobile Toilette mit W-Lan steht nun in Hamburg-Ottensen.
*
Wir flanieren durch den Jardin des Tuileries, lassen uns von schwer atmenden Joggern nicht
irritieren, überqueren die Place de la Concorde und kehren ein ins Ritz, dessen eisgekühltes Bier
Proust sehr zu schätzen wusste. Auch wir erlauben uns das eine oder andere Glas und setzen
den Spaziergang nun etwas beschwingter fort. Über die 1969 eingeweihte Allée Marcel Proust
gelangen wir zu unserem Ziel, dem Chalet de nécessité, einem grünen Toilettenhäuschen, in
dessen muffige Frische die Großmutter des Erzählers von Auf der Suche nach der verlorenen
Zeit kurz eintaucht. Einatmend erinnern wir uns an zahllose verlorene Scheißstunden unseres
Lebens, ausatmend stellen wir fest, im Ritz war es schöner. Dort zurück, saufen wir bis in die
Nacht und stoßen immer wieder auf Proust an und weinen ein wenig, bis man uns höflich bittet,
das Weinen sein zu lassen.
*
Berliner Spezialität: Wolfsbarsch im Toilettenhäuschen.
*
Global Polar. Global Squatty. Global Urino. Auf Wunsch ist der Urino auch mit verschraubbarem
Auslauf erhältlich.
Freedom.
Wir stellen Spezialanfertigungen her wie für Papst Benedikt XVI.
Axis.
Das Polyethylen ist wetterbeständig, robust und stoßfest. Da kann es auf einem Event
schon einmal etwas heftiger zugehen. Bei einem Tankvolumen von 250 l können Sie gelassen
bleiben. Auch bei starkem Andrang.
Integra.
Die „Flüchtlingstoilette“ passt in die gewohnte Kabine, aber sie erlaubt sowohl das
Sitzen als auch das Hocken. Rechts und links der Klobrille befinden sich Fußtritte. Wer auf der
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Brille sitzt, kann die Füße etwas erhöht stellen. In manchen Flüchtlingsunterkünften müssen die
Tanks derzeit zwei Mal am Tag geleert werden.
Ambassador. Senator. Super Senator.
Bei einer erwarteten Besucheranzahl von 3000 Mann und einer Dauer der Veranstaltung
von 6 Stunden wird zu 18 Toilettenkabinen geraten.
Solo. Paris. Lavendel.
Bei der Dachform haben Sie die Auswahl zwischen einem Pult-, Sattel- oder Walmdach.
Fleet Fresh Flush.
Unser Konzept ist die Individualität.
*
In den Tagen vor meiner Geburt hat es mitleidslos geregnet, und dann war es auch noch
Scheißmärz, der weinerlichste, blödeste, unbrauchbarste Monat, im Gebirge schmolz der
Schnee, die Flüsse wuchsen den Ufern über den Kopf, auch meine Drina – die halbe Stadt stand
unter Wasser.
Das Krankenhaus, in dem mich meine Mutter in die Welt hinausschrie, ging ebenfalls
unter. Der Keller ersoff, der Fluss drang durch die Toiletten hinauf in die Freiheit,
Stromgeneratoren und WC-Häuschen mussten Leben retten.
In der Nacht meiner Geburt hat es dann derart heftig gestürmt, dass alle dachten, aha,
soso, jetzt also kommt der Teufel auf die Welt, und mir war das ganz recht, von Teufel an kann
es ja nur aufwärts gehen im Leben, und dann ist mitten in einer Wehe natürlich der Blitz
eingeschlagen, ein Teufel kommt ja nicht ohne Spezialeffekte. Der Strom fiel aus, die
Generatoren sprangen an, und die Hebamme bemerkte eine Komplikation, und ausgerechnet
im Augenblick der größten Krise war die begleitende Ärztin auf dem mobilen Klo, dessen
Mobilität ich jetzt nur wegen der Installation erwähne.
Man schickte nach ihr, und ich möchte die Geschichte an dieser Stelle nicht zu lang
machen, es reicht zu sagen, dass sie die Komplikation mithilfe einer Saugglocke beseitigen
konnte.
Was ich daraus abzuleiten gedenke, ist zweierlei: Wäre die Ärztin, erstens, nicht auf
dem mobilen Klo gewesen, wäre sie vielleicht nicht auf die Saugglocke gekommen, und wer
weiß, ob ich allein jemals aus Mutter herausgefunden hätte.
Den Regen, zweitens, mag ich bis heute. Vielleicht weil er das erste Geräusch war, das
ich auf der Welt akustisch verstand und das nicht meiner Mutter Schmerz war, wobei natürlich
die Wissenschaft sagt, man hört schon im Bauch ganz schön alles. Stimmte das wirklich, dann
wäre mein Lieblingsgeräusch das Magenknurren meiner Mutter, was absolut nicht der Fall ist.
Katalogtext zu Andreas Slominski/Deichtorhallen Hamburg Mai 2016 -
*
TOILETTE
FAUST. MEPHISTOPHELES
FAUST. Es klopft? Bin aufm Klo! Wer will mich wieder plagen?
MEPHISTOPHELES. Ich bin’s.
Faust. Was willst du?
MEPHISTOPHELES. Komm heraus, dann will ich’s dir sagen.
FAUST. Ich sitz hier noch ne Weile. Überlegt. Sprich, sonst müssen wir’s vertagen.
MEPHISTOPHELES. Durch die Türe?
FAUST. Nur der Teufel könnt sich reinwagen.
MEPHISTOPHELES. Ich seh, wir werden uns vertragen!
Ich komme, damit du, losgebunden, frei,
Erfahrest, was das Leben sei.
*
Als mein Vater seine Firma in Minneapolis mit 36 Toilettenkabinen aus Holz gründete, tat er
dies hauptsächlich, um Komfort, Privatsphäre und Würde anbieten zu können.
– Satellite Industries
*
Diese Narbe hier am Hals, die habe ich mir geholt, als ich mit sechs Jahren über einen Zaun
klettern wollte, der zu hoch und zu rutschig war für einen Sechsjährigen. So kommt das oft im
Leben: Probleme beginnen mit zu hohen Zäunen.
Auf dem Sportgelände hinter dem Zaun beaufsichtigte Mutter ihre Klasse beim Sport.
Ich hatte sie durch das Zaungitter die ganze Zeit gut sehen können, doch einen Moment lang
passte ich nicht auf, und schon war sie nicht mehr auffindbar.
Mangels Alternativen kletterte ich eben auf den Zaun in der grundsätzlich richtigen
Annahme, von erhöhter Stelle mehr vom Gelände einsehen zu können. Diesmal war es meine
Tante, die auf mich aufpasste, die einen Augenblick lang nicht aufpasste: Ich rutschte ab, der
Zaun hatte Spitzen, und die Ärzte sagten später, einen Zentimeter höher und ich hätte meine
Stimme für immer verloren. Manche witzelten damals schwärzlich, dass das kein so schlimmer
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Verlust gewesen wäre, wenn man sich vor Augen hält, wie oft und wie laut ich, Teufel, damals
wegen jeder Kleinigkeit geschrien habe.
Wo Mutter gewesen war: In einem der Toilettenhäuschen auf dem Sportgelände.
*
TRIP
Das sind die hundert schönsten Toiletten der Welt.
*
Wer auf öffentlichen Toiletten nicht pinkeln kann, leidet womöglich an Paruresis, auf Englisch
„shy bladder syndrome“, auf Deutsch „schüchterne Blase“. Die Blase des Betroffenen ist derart
schüchtern, dass sie nicht mal ein „Hallo“ rausbringt, wenn eine andere Blase in ihrer Nähe
auftaucht.
Das Ergebnis: ein Leben, das um das Urinieren herum organisiert wird. Das hat freilich
gravierende Folgen für den sozialen Umgang oder auch die Wahl des Arbeitsplatzes.
Stammkneipe ist immer die Kneipe, die der Wohnung am nächsten liegt; Home Office keine
Ausnahme, sondern Voraussetzung für einen glücklichen Paruresis-Arbeitnehmer.
Mobile Toilettenkabinen können Abhilfe schaffen. Es sei denn, es handelt sich um die
extreme Ausprägung der Paruresis, bei der die Blase derart schüchtern ist, dass sie sogar
Selbstgespräche meidet. Die Empfehlung der Gesellschaft deutscher Neurologen und
Psychiater ist ohne Wenn und Aber eine Gruppentherapie.
*
Maximilian Schmölz zerschnitt die Toilette in postkartengroße Teile und verschickte diese an
Freunde und Bekannte.
*
Ein Mieter musste seine Wohnung in Köln räumen, weil er immer wieder in den mitvermieteten
Garten pinkelte. Damit störe er den Hausfrieden in dem Mehrparteienhaus nachhaltig, urteilte
ein Kölner Amtsrichter. Geklagt hatte der Vermieter der Erdgeschosswohnung.
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Nachbarn hatten den Mann wiederholt dabei beobachtet, wie er auf den Rasen und
gegen Bäume urinierte. Einer der Nachbarn litt nach eigener Aussage noch im siebten Stock
des Hauses unter den Gerüchen aus dem Garten.
Der Amtsrichter stellte fest, die Belästigung der Nachbarn berechtige den Vermieter zur
fristlosen Kündigung. Noch in der Woche, in der eine mündliche Verhandlung vor dem
Amtsgericht anberaumt war, wurde der Mieter erneut beim Pinkeln im Garten gesehen.
Az. 210 398/09
*
Eine Sache, die sich in einem Klohäuschen als schwierig erwiesen hat, war das Schifahren.
*
Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen.
BIOGRAFIE
ANDREAS SLOMINSKI
1959 geboren in Meppen
lebt in Werder-Havel
seit 2004 Professor an der Hochschule für Bildende Künste, Hamburg
AUSSTELLUNGEN (AUSWAHL)
G = group show
S = single show
C = catalogue
1988
"Il luogo degli artisti. Aperto ´88", 43rd Venice Biennale (G, C)
1988
"BiNationale. Deutsche Kunst der späten 80er Jahre", Städtische Kunsthalle,
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen und Kunstverein für die Rheinlande u.
Westfalen, Düsseldorf; The Institute of Contemporary Art and Museum of Fine Arts,
Boston (G, C)
1991
Kabinett für aktuelle Kunst, Bremerhaven (S)
1992
"Szenenwechsel II", Museum für Moderne Kunst, Frankfurt a. M. (G, C)
Qui, Quoi, Où? Un regard sur l'art en Allemagne en 1992", Musée d'art moderne de la
Ville de Paris, Paris (G, K)
1993
"Hamburg-Paris-Frankfurt", Kunstverein in Hamburg, Hamburg (G, K)
1994
"Some Went Mad, Some Ran Away…", Serpentine Gallery, London; Nordic Arts Center,
Helsinki; Kunstverein Hannover; Museum of Contemporary Art, Chicago; Portalen,
Copenhagen (G, C)
1995
"Schwontkowski-Slominski", Neues Museum Weserburg Bremen, Bremen (C)
"Fallen", Hamburger Kunsthalle, Hamburg (S, C)
1996
"Zuspiel: Ayse Erkmen, Andreas Slominski", Portikus, Frankfurt a. M. (C)
"Views from Abroad: European Perspectives on American Art II", Whitney Museum of
American Art, New York; Museum für Moderne Kunst, Frankfurt a. M. (G, C)
Galerie Neu, Berlin
1997
Bonnefantenmuseum, Maastricht (S)
"Niemandsland", Museum Haus Lange u. Museum Haus Esters, Krefeld (G, S)
"Passato, Presente, Futuro", Venice Biennale (G, C)
"Skulptur Projekte Münster", Westfälisches Landesmuseum and the City of Münster
(G, C)
"Deutschlandbilder: Kunst aus einem geteilten Land", Martin-Gropius-Bau, Berlin (G,
C)
1998
Kunsthalle Zürich, Zürich (S, C)
"Berlin/Berlin. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst", Akademie der Künste,
Postfuhramt and Kunst-Werke, Berlin (G, C)
1999
Deutsche Guggenheim, Berlin (S, C)
"Das XX. Jahrhundert. Ein Jahrhundert Kunst in Deutschland", Nationalgalerie, Berlin
(G, C)
2000
„HausSchau – Das Haus in der Kunst“, Deichtorhallen Hamburg (G,C)
"Let's Entertain. Life's Guilty Pleasures", Walker Art Center, Minneapolis; Portland Art
Museum, Portland; „Au-delà du spectacle", Centre Georges Pompidou, Musée
nationale d'art moderne, Paris; Kunstmuseum Wolfsburg, Wolfsburg; Miami Art
Museum, Miami (G, C)
2001
"Vom Eindruck zum Ausdruck. Grässlin Collection", Deichtorhallen, Hamburg (G, C)
2003
Fondazione Prada, Milan (S, C)
"Utopia Station", 50th Venice Biennale (G, C)
2004
„Wer bietet mehr - 15 Jahre Deichtorhallen“ - Deichtorhallen, Hamburg (G,C)
Utopia Station - Haus der Kunst, München
Monument to No - Deste Foundation, Athen
2005
Serpentine Gallery, London (S, C)
"Sammlung 2005. Neupräsentation der erweiterten Sammlung", K21 Kunstsammlung
Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf (G, C)
2006
"Roter Sand und ein gefundenes Glück", MMK, Frankfurt a. M. (S, C)
2007
"KölnSkulptur 4", Skulpturenpark Köln, Cologne (G, C)
2008
Review - Galerie Neu, Berlin
Wir nennen es Hamburg - Kunstverein Hamburg
German Angst - Neuer Berliner Kunstverein, Berlin
2009
"Slow Paintings", Museum Morsbroich, Leverkusen (G, C)
2010
Fallen Hochsprunganlage Berg Sportgeräte - MMK, Frankfurt/Main
Sammlung Goetz, München
2011
"MMK 1991-2011. 20 Jahre Gegenwart", Museum für Moderne Kunst, Frankfurt a. M. (G,
C)
„Zwei Sammler – Thomas Olbricht und Harald Falckenberg“, Deichtorhallen Hamburg
2012
"Riding a Saddle Roof", Museum Dhondt-Dhaenens, Deurle (G, C)
„Ecce Homo“, Galerie Neue, Berlin
Andreas Slominski – Walls, Villa Schöningen, Potsdam
Andreas Slominski - Galerie Thaddeus Ropac, Paris
2013
"Room to Live. Recent Acquisitions and Works from the Collection", The Museum of
Contemporary Art, Los Angeles (G)
"Über die Freundschaft", Neuer Berliner Kunstverein, Berlin (S, C)
"Werke aus der Sammlung Bärbel und Manfred Holtfrerich", Kunsthalle Bremen (S, C)
2014
"Coffins", Galerie Bärbel Grässlin (S, C)
Metro Pictures, New York
"Winterpause", Haubrok Foundation, Berlin (S)
2015
De l´Amitié, Galerie Thaddaeus Ropac, Pantin, France
2016
Galerie Bärbel Grässlin (S, C)
Proyectos Monclova, Mexico City (S)
"Das Ü der Tür - The O of the Door", Deichtorhallen Hamburg (S, C)
AUSGEWÄHLTE AUSZEICHUNGEN UND PREISE
1991
Karl-Ströher-Preis, Frankfurt a. M.
1999
Edwin-Scharff-Preis, Hamburg
2004
Kunstpreis Aachen
2013
Lichtwark Preis, Hamburg
Hannah-Höch-Preis, Berlin
ÖFFENTLICHE UND PRIVATE SAMMLUNGEN
Belgien
SMAK Stedelijk Museum voor Actuele Kunst, Gent
Frankreich
FRAC - Nord-Pas de Calais, Dunkerque
FRAC - Languedoc-Roussilon, Montpellier
Deutschland
Sammlung Haubrok, Berlin
Sammlung Falckenberg, Hamburg
Kunstmuseum Bremerhaven, Bremerhaven
Kunsthalle Bremerhaven, Bremerhaven
Museum für Moderne Kunst (MMK), Frankfurt/Main
Hamburger Kunsthalle, Hamburg
Galerie für Zeitgenössische Kunst - GfZK, Leipzig
Kunstraum Grässlin, St. Georgen
Israel
The Israel Museum, Jerusalem
Italien
Villa Manin. Centro d'arte contemporanea, Codroipo (UD)
Fondazione Morra Greco, Naples
Nomas Foundation, Rome
MART- Museo d'Arte Moderna e Contemporanea di Trento e Rovereto, Rovereto
Portugal
Ellipse Foundation, Alcoitão
Spanien
CAC Centro de Arte Contemporáneo Málaga, Málaga
Schweiz
Kunstmuseum Basel, Basel
Museum für Gegenwartskunst - Emanuel Hoffmann-Stiftung, Basel
USA
MOCA - The Museum of Contemporary Art - Grand Avenue, Los Angeles, CA
Solomon R. Guggenheim Museum, New York City, NY

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