Paul Hindemith: Werdegang und Werk

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Paul Hindemith: Werdegang und Werk
Paul Hindemith: Werdegang und Werk
„Folgende „Choralfuge“ (mit allem Komfort: Vergrößerungen, Verkleinerungen, Engfügungen, Basso ostinato) verdankt ihr Dasein lediglich einem unglücklichen Zufall: Sie fiel dem Komponisten ein. Sie bezweckt weiter nichts als
dies: sich stilvoll in den Rahmen dieses Bildes zu fügen und allen „Sachverständigen“ Gelegenheit zu geben, über die ungeheure Geschmacklosigkeit
ihres Schöpfers zu bellen. Hallelujah! – Das Stück muss in der Hauptsache von
zwei Eunuchen mit ganz ungeheuer dicken Bäuchen getanzt (gewackelt)
werden.“ Dieses Zitat, das sich in der Partitur zu Paul Hindemiths frühem und
skandalträchtigem Werk „Das Nusch-Nuschi“ findet, zeigt den Komponisten zu
Beginn seiner musikalischen Laufbahn nicht nur frech und antibürgerlich, sondern verweist auch auf eine Portion Dadaismus und Witz.
Seine Karriere als Komponist begann Paul Hindemith als
Bürgerschreck, als Enfant terrible des Musiktriebs. Er, der
schließlich als Klassiker seine Entwicklung beendete, sah sich
anfänglich als Vertreter der Moderne, als Statthalter der
musikalischen Avantgarde. Diese Rolle hielt er allerdings nicht
durch. Vielmehr wandte er sich spätestens seit den dreißiger
Jahren von der Avantgarde ab, nicht zuletzt weil er der
Meinung war, der Hörer könne Techniken wie Arnold
Schönbergs Dodekaphonie nicht mehr nachvollziehen. Statt
dessen entwickelte er in fortgeschrittenem Alter sein Ideal eines vorwiegend
tonal gebundenen dreistimmigen Satzes und schlug damit eine kompositorische Entwicklung ein, die von Theodor W. Adorno als Hindemiths „fatale
Wendung zum Offiziellen“ kritisiert wurde. Er, der ohne Zweifel zu den meistgespielten deutschen Komponisten des Jahrhunderts gehört, stand im Alter
allein und isoliert neben den vorherrschenden musikalischen Strömungen der
Zeit.
Paul Hindemith, der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammte, wurde am
16. November 1895 in Hanau geboren. Der Vater, selbst ein begeisterter
Zitherspieler, hatte für seinen Ältesten schon früh den Musikerberuf vorgesehen. Die Jahre bis zum Eintritt in die Schule verbrachte Hindemith bei seinen
Großeltern. Danach unterrichtete ihn zunächst der Vater, der seinen Nachwuchs auch als „Frankfurter Kindertrio“ in verschiedenen Dörfern seiner
oberschlesischen Heimat auftreten ließ. Ersten systematischen Musikunterricht
erteilte ihm wenig später Eugen Reinhardt und, nachdem die Familie 1905
nach Frankfurt umgezogen war, die Schweizer Geigerin Anna Hegner. Diese
empfahl ihn einige Jahre später dem Konzertmeister im Frankfurter Opernorchester Adolf Rebner, bei dem Hindemith bis zu seinem Volksschulabschluss
1908 Privatstunden nahm. Anschließend studierte er in Frankfurt am
Hoch’schen Konservatorium, wobei er sich in den ersten Semestern auf das
Geigenspiel konzentrierte. Später belegte er auch die Fächer Kontrapunkt,
Komposition und Dirigieren. Während des Kompositionsunterrichtes bei Arnold
Mendelssohn und Bernhard Sekles entstanden erste Werke, die Hindemith
zwar in sein Werkverzeichnis eintrug, aber nicht mit Opuszahlen versah, und
die heute als verschollen gelten. Zu dieser Zeit verstand sich Hindemith in
erster Linie als Geiger und verdiente ab 1913 mit Anstellungen in verschieden
Kurkapellen mühsam seinen Lebensunterhalt. Nach Beginn des Ersten
Weltkrieges – der Vater fiel schon bald an der Westfront – fühlte Hindemith
sich für seine Mutter und die Geschwister verantwortlich. Er gab privaten
Geigenunterricht, konzertierte vor allem im südhessischen Raum und wurde
Mitglied des Rebner-Quartetts, in dem er abwechselnd die zweite Geige und
die Bratsche übernahm. Im September 1915 wurde Hindemith, erst 20 Jahre
alt, erster Konzertmeister im Frankfurter Opernorchester. In den folgenden
Jahren schuf er die ersten vollgültigen Komponisten, darunter das „Cellokonzert“ op. 3 und die „Lustige Sinfonietta“ op. 4. Folgt das „Cellokonzert“
noch ganz dem Typus des Virtuosenkonzerts des 19. Jahrhunderts, so zeigt die
zum Gedächtnis an Christian Morgenstern geschriebene „Sinfonietta“ schon
typische Züge seines Frühwerks. Parodie und Karikatur, die er auch in späteren
Arbeiten einsetzt, werden hier erstmals exponiert. Das Fugato im ersten Satz
betitelte er mit „Das große Lalula“, der zweite Satz ist „Zoologischen Merkwürdigkeiten“ gewidmet. Uraufgeführt wurde die „Sinfonietta“ zu Lebzeiten
Hindemiths nicht, öffentlich gespielt wurde das Werk erstmals 1980. Als Höhepunkt seines frühen Schaffens hat Hindemith selbst die „Drei Gesänge für
Sopran und großes Orchester“ op.9 bezeichnet. Hier arbeitete er mit dem
größten orchestralen Apparat, den er je eingesetzt hat. Die vertonten Texte
von Else Lasker-Schüler und Ernst Wilhelm Lotz zeigen charakteristische
Ausprägungen des literarischen Expressionismus. Die Textwahl belegt, dass
Hindemith die literarischen Strömungen seiner Zeit gut kannte. Kompositorisch
haben hier Franz Schreker und Richard Strass Pate gestanden. Mit dem
spätromantischen Gestus dieser Orchesterlieder hatte Hindemith noch nicht
seine eigene musikalisch Sprache gefunden: „Um diese Zeit bin ich herumgewackelt und wusste nicht, was los ist. Aber schließlich beleibt einem doch
nichts übrig, als zu komponieren“, notierte er in seinem Werkverzeichnis. 1917
wurde Hindemith zum Militärdienst eingezogen und sein Regiment zunächst
im Elsass, wenig später in Flandern stationiert. Der Regimentsmusik zugeteilt,
spielte er als er neben der klassisch-romantischen Literatur auch das Quartett
Claude Debussys einstudierte. Angesichts des Krieges und der Bedrohung
durch immer häufigeren Granatenbeschuss wurde die Musik für Hindemith zu
einer existentiellen Erfahrung: „Wir fühlten aber hier zum ersten Mal, dass Musik
mehr ist als Stil, Technik und Ausdruck persönlichen Gefühls. Musik griff hier
über politische Grenzen, über nationalen Hass und über die Gräuel des Krieges hinweg. Bei keiner anderen Gelegenheit ist es mir je mit gleicher Deutlichkeit klar geworden, in welcher Richtung sich die Musik zu entwickeln
habe.“ Auch an der Front komponierte Hindemith unablässig weiter. Unter
anderem schrieb er das „2. Streichquartett“ op. 10, Sonaten für Violine und
Viola sowie einzelne Lieder. Nach seiner Entlassung aus der Armee und dem
Ende des Krieges konzentrierte Hindemith sich mehr und mehr auf das
Bratschenspiel und entwickelte sich schon bald zu einem der führenden
Instrumentalisten seiner Zeit. Im Juni 1919 veranstaltete er in Frankfurt einen
Abend mit eigenen Kompositionen, die seinen Ruhm als Komponist begründeten. Vor allem aber mit der triumphalen Uraufführung seines „3. Streichquartetts“ op. 16 während der „Donaueschinger Kammermusik-Aufführung zu
der Förderung zeitgenössischer Tonkunst“ 1921 fand Hindemith auch interna-
tional den Anschluss an die Avantgarde. Eigens für diese Aufführung hatten
sich vier Musiker, unter ihnen auch Hindemith, zusammengetan. Sie nannten
sich Amar-Quartett und avancierten schon bald zu einer der wichtigsten
Quartettformationen in Europa. Bis Ende der zwanziger Jahre gab das AmarQuartett bis zu 130 Konzerte pro Spielzeit und berücksichtigte dabei
insbesondere die zeitgenössische Musik: Werke von Schönberg und Webern,
Strawinsky, Bartók und selbstverständlich von Hindemith selbst standen auf
ihren Programmen.
Wie viele andere Komponisten seiner Generation war auch Hindemith
fasziniert von der Unterhaltungsmusik seiner Zeit. „Können Sie auch Foxtrotts,
Bostons, Rags und anderen Kitsch gebrauchen? Wenn mir keine anständige
Musik mehr einfällt, schriebe ich immer solche Sachen“, ließ er 1920 den
Schott-Verlag wissen. In anderen Werken parodierte er den Musikbetrieb, so
etwa im „Repertorium für Militärmusik“ „Minimax“ oder in der „Ouvertüre zum
„Fliegenden Holländer“, wie sie eine schlechte Kurkapelle morgens um 7 am
Brunnen vom Blatt spielt“. Doch auch in seinen seriösen Werken hinterließ die
Unterhaltungsmusik Spuren, so in der berühmten „Kammermusik“ Nr. 1, in
deren „Finale 1921“ er einen Foxtrott von Wilm-Wilm zitiert. Aber der Bürgerschreck Hindemith hatte noch andere Mittel parat, um den herkömmlichen
Musikbetrieb zu verstören. In der „Kammermusik“ Nr. 1 arbeitete er mit einem
stark geräuschhaften Satz und ausgefallenen Instrumenten wie etwa Sirenen.
Spielanweisungen wie „Wild. Tonschönheit ist Nebensache“ oder „Betrachte
das Klavier als eine interessante Art Schlagzeug und handle dementsprechend“ bringen eine ganz und gar unromantische Musizierhaltung zum
Ausdruck. Hindemith geht völlig bedenkenlos mit dem musikalischen Material
um. Seine Sprache ist rau. Dabei transformiert er häufig barocke OstinatoTechniken zu fast maschinell sich abspulenden Sätzen.
Einen Bruch zwischen seinen frühen, noch während des Krieges entstandenen
Werken und seinen neueren Kompositionen sah Hindemith nicht: „Ich habe
mich gar nicht verwandelt, ich schreibe noch genau so leicht wie früher –
zwischen meinen früheren und jetzigen Sachen ist nur ein gradueller, kein
wesentlicher Unterschied ... In meinem neuen Quartett und vor allem in den
neuen Liedern ist mir zum ersten Male das gelungen, was ich schon immer
wollte, aber nicht konnte.“
Der enge Bezug seiner Werke zu ihrer Entstehungszeit drückt sich auch in einer
Reihe von Titeln aus, die explizit auf das Datum der Kompositionen verweisen,
zum Beispiel „Suite 1922“, „Finale 1921“. Der große Erfolg seines „Streichquartetts“ op. 16 in Donaueschingen, die spektakulären Aufführungen seiner
beiden umstrittenen Einakter „Mörder, Hoffnung der Frauen“ auf einen Text
von Oskar Kokoschka und „Das Nusch-Nuschi“ von Franz Blei, beide mit
Bühnenbildern von Oskar Schlemmer 1921 in Stuttgart, und schließlich der
dritte Einakter „Sancta Susanna“ mit dem Text von August Stramm, im darauf
folgenden Jahr in Frankfurt aufgeführt, etablierten Hindemith endgültig als
Komponist. Er wurde als musikalischer Bilderstürmer gehandelt, der einen
neuen Musikertypus repräsentierte: betont antiromantisch, frech und allem
Neuen gegenüber aufgeschlossen. 1923 war Hindemith schließlich in der
Lage, den Orchesterdienst zu quittieren, da ihm die monatlichen Zahlungen
seines Verlages ein Auskommen garantierten. Im darauf folgenden Jahr
heiratete er Gertrud Rottenberg, die jüngste Tochter des ersten Kapellmeisters
der Frankfurter Oper. In den zwanziger Jahren nahm Hindemith aktiv an der
Programmgestaltung der Donaueschinger Musiktage teil. 1924 sorgte er dafür,
dass Werke Schönbergs, Weberns und Hauers aufgeführt wurden. Doch auch
seine eigenen Arbeiten ließ er dort wiederholt zu Gehör bringen.
Unter dem Eindruck der ungeheuren Vielfalt der neuen Musik, die so
unterschiedliche kompositorische Ergebnisse hervorbrachte, wurde sich Hindemith auch seiner Verantwortung als Komponist bewusst. An den SchottVerlag schrieb er 1925: „Ich bin der festen Überzeugung, dass in den nächsten
Jahren ein schwerer Kampf um die neue Musik anheben wird, die Vorzeichen
dazu sind da. Es wird sich erweisen müssen, ob unsere heutige Musik und
darunter auch die meinige fähig ist, weiterzubestehen. Ich glaube natürlich
sicher daran, weiß aber ebenso gut, dass die Vorwürfe, die man der Mehrzahl
der sogenannten modernen Musik macht, nur allzu berechtigt sind... Ich bin
der Ansicht, dass besonders in den nächsten Jahren größte Reinlichkeit in
dergleichen Dingen unbedingt am Platze ist, und ich selbst will dazu tun, was
ich kann, sie zu erreichen.“
Lange suchte Hindemith vergeblich nach einem geeigneten Opernlibretto.
Der Plan, Brecht für eine Zusammenarbeit zu gewinnen, scheiterte. „Wenn ich
einen Operntext hätte, würde ich in einigen Wochen die größte Oper
herstellen“, schrieb der außerordentlich schnell produzierende Hindemith
selbstbewusst. In „Cardillac“, einem Stoff, den Ferdinand Lion nach einer
Novelle von E.T.A Hoffmann als Libretto gestaltet hatte, fand er schließlich das
Gesuchte. Die Geschichte um den Goldschmied Cardillac, der die Käufer
seiner Schmuckstücke ermordet, weil er sich von seinen Kunstwerken nicht
trennen kann, inspirierte Hindemith zu einer expressiven und gleichzeitig
konstruktivistischen Partitur. Die Musik lässt sich als Zusammenfassung seiner
kompositorischen Erfahrungen der vergangenen Jahre beschreiben.
Hindemith verwendete hauptsächlich Formmodelle der absoluten Musik für
die einzelnen Nummern: Fugato, lyrisches Nachtstück, Passacaglia und
Concertino. An manchen Stellen passte er sogar die Worte des Textes der
bereits komponierten Musik nachträglich an. Die expressionistisch geprägte
Sprache des Librettisten und die sachliche, ohne Pathos und spätromantische
Gesten auskommende Musik Hindemiths stehen in eigentümlichem Kontrast
zueinander. Trotz einer fast streng architektonisch ausgerichteten Struktur
gelingt es dem Komponisten, die dramatischen Szenen äußerst
spannungsreich zu gestalten. Das gilt für die Behandlung der Singstimmen
ebenso wie für die orchestrale Faktur.
1927 wurde Hindemith als Kompositionslehrer an die Berliner Hochschule für
Musik berufen. Die pädagogische Tätigkeit ergänzte fortan sein kompositorisches Schaffen in idealer Weise. Erfahrungen als Lehrer weckten maßgeblich sein Interesse an Laienmusik in den späten zwanziger und dreißiger
Jahren. Hindemith komponierte eine Reihe von Werken für die Laienmusikbewegung wie etwa den „Plöner Musiktag“ oder das Spiel für Kinder
„Wir bauen eine Stadt“. Ab 1930 unterrichtete er auch an der Volkshochschule in Berlin-Neuköln, für deren politisch meist links orientierte Hörerschaft er einige Stücke schrieb. Gleichzeitig bildete er sich autodidaktisch an
nahezu allein Orchesterinstrumenten aus, woraus sich der später auch
realisierte Plan entwickelte, eine Werkreihe von Sonaten für alle gebräuchlichen Instrumente zu erarbeiten. Auch neuen technischen Entwicklungen
stand Hindemith sehr aufgeschlossen gegenüber. Er komponierte in Berlin für
eines der ersten elektronischen Instrumente, das Trautonium, und hatte schon
1921 unter Pseudonym eine Orchesterpartitur für den Stummfilm komponiert
(„In Schnee und Eis“). Den Möglichkeiten des Mediums Rundfunk versuchte er
mit besonders darauf abgestimmten Konzeptionen gerecht zu werden und
experimentierte mit einer grammophon-platteneigenen Musik, indem er
Singstimmen uns Xylophone mixte, die auf Tonträgern mit verschiedenen
Geschwindigkeiten abgespielt wurden. Man könnte diese Produktionen in
gewissem Sinne als Vorläufer der „musique concrète“ betrachten.
Nachdem das Fürstenhaus in Donaueschingen seine Unterstützung der
dortigen Musiktage eingestellt hatte, wurde das Festival nach Baden-Baden
verlegt. Hier hatten 1929 zwei Werke Premiere, „Der Lindberghflug“, eine
Zusammenarbeit von Brecht, Weill und Hindemith, sowie Brechts „Lehrstück“
mit der Musik von Hindemith. Diese zwischen Rundfunkmusik, Oratorium und
Laienmusik vermittelnden Werke versuchten neue Anstöße zu geben und die
Zusammenarbeit mit neuen Medien zu entwickeln. Zum Bruch mit Brecht kam
es im Jahr drauf, als Hindemith im Programmausschuss eine Aufführung des
Lehrstücks „Die Maßnahme“ von Brecht und Eisler ablehnte. Hindemith gewann daraufhin den Dichter Gottfried Benn für eine Zusammenarbeit bei
seinem Oratorium „Das Unaufhörliche“. Mit diesem Werk wollte Hindemith das
Bedürfnis nach ernster und großer Musik käme“, notierte er während der
Arbeit an diesem Werk.
Als Hitler 1933 an die Macht kam, glaubte Hindemith zunächst an ein baldiges
Scheitern der Nationalsozialisten. Auch die Nachricht seines Verlages im April
1933, die Hälfte seiner Werke sei als „ kultur-bolschewistisch“ verboten
worden, erschütterte ihn nicht sonderlich. Stattdessen schrieb er an einer
neuen Oper, die – wie bereits „Cardillac“ – die Rolle des Künstlers in der
Gesellschaft thematisiert. Er arbeitete zunächst an der „Mathis-Sinfonie“ und
anschließend an der Oper „Mathis der Maler“. Im März 1934 kam es zu der
spektakulären Uraufführung der Mathis-Sinfonie durch die Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler. Dieser versuchte nur wenige Monate
später in einem Zeitungsartikel, der Hindemiths Werke verteidigte, deren Verbot zu verhindern, allerdings ohne Erfolg: 1935 wurde Hindemith von seiner
Lehrtätigkeit an der Berliner Hochschule beurlaubt, ein Jahr später erfolgte
das offizielle Verbot seiner Werke. Hindemith konzertierte fortan häufiger im
europäischen Ausland und in den Vereinigten Staaten. Nachdem er auch in
der Ausstellung „Entartete Musik“, die die Nationalsozialisten 1938 in Düsseldorf
veranstalteten, vertreten gewesen war, bleib als deutschsprachiges Urauf-
führungsland für die „Mathis“-Oper nur noch die Schweiz. Die Premiere im Mai
1938 in Zürich wurde ein überwältigender Erfolg für den in seiner Heimat
verfremdeten Komponisten, der im gleichen Jahr in die Schweiz übersiedelte.
Dort verfasste er den letzten Teil seines Lehrbuches „Unterweisung im Tonsatz“,
mit dem er seine Musik theoretisch fundieren wollte. Sein Lehrziel formulierte er
folgendermaßen: „Kein eigenbrödlerisches modernes Tonsystem – dagegen
scharfe Verurteilung aller leichtfertigen melodischen und harmonischen
Experimente... Keine umstürzlerische Ablehnung früherer Satzweisen – dagegen Erweiterungen des engen früheren Tonsatzsystems bis zur regelrechten
Erfassung auch der entlegensten Klangverbindungen. Keine trostlose
Sammlung unverständlicher und weltferner theoretischer Aufsätze – dagegen
ein Buch lebendiger Praxis, verständlich für jeden ernsthaft an der Entwicklung
der Satztechnik Interessierten.“
Vor dem Hintergrund seiner im Lehrbuch zusammengetragenen Überlegungen distanzierte sich Hindemith von vielen seiner früheren Werke. Insbesondere die provokativen Arbeiten aus den frühen zwanziger Jahren ließ er
nicht mehr gelten. Im Zusammenhand mit der „Kammermusik“ Nr. 1 sprach er
gar von „Zeit(un)geschmack“. Andere Werke, wie etwa den Liederzyklus „Das
Marienleben“, bearbeitete er grundlegend, wobei er vor allem Melodik und
Harmonik glättete. Auch die Werke anderer beurteilte Hindemith nun
zunehmend kritisch. Über ein Konzert in Rom mit Werken von Busoni, Respighi,
Ravel und Strawinsky schrieb er: „Ich bin sicher, man wird nach wenigen
Jahren den Zugang zu diesen Dingen ohnehin nicht mehr finden, das sie sich
in einer Richtung ausdehnen, der man nur nachfolgen kann, wenn man mit
den musikhistorischen und sonstigen Voraussetzungen der Entstehungszeit und
den persönlichen Eigenarten der Komponisten einigermaßen vertraut ist.“
Diese neue Ästhetik schlug sich in seinem 1935 vollendeten Bratschenkonzert
„Der Schwanendreher“ nieder, das sich fundamental von seinem früheren
Konzerten für dieses Instrument unterscheidet. In dem programmatischen Vorwort zu Partitur notierte er: „Ein Spielmann kommt in frohe Gesellschaft und
breitet aus, was er aus der Ferne mitgebracht hat: ernste und heitere Lieder,
zum Schluss ein Tanzstück. Nach Einfall und Vermögen erweitert er als rechter
Musikant die Weisen, präludiert und phantasiert. Dieses mittelalterliche Bild
war die Vorlage für die Komposition.“ Von Enfant terrible oder Bürgerschreck
ist hier nicht mehr zu spüren. Hindemith entwickelte satt dessen ein
musikantisches Ideal, dem er auch in seinen späteren Arbeiten treu blieb.
Dieser neue Musikbegriff fand auch in der sich anschließenden großen Serie
von Sonaten für das sämtliche Instrumente seinen Niederschlag.
1940 emigrierte Hindemith in die Vereinigten Staaten. Er ließ sich zunächst in
Buffalo nieder, wo er Kurse gab und Gast-vorträge hielt. In Amerika schuf er
ausgesprochen brillant instrumentierte Orchesterwerke, die sich häufig durch
die Verwendung historischer Musikelemente auszeichnen. Das 1940 vollendete „Cellokonzert“ enthält ein „Trio nach einem alten Marsch“, die
„Sinfonischen Metamorphosen“ nutzen Themen Carl Maria von Weber als
Grundlage, das Klavierkonzert (1945) zitiert einen Mittelalterlichen Tanz, und
die „Sinfonia serena“ nimmt Beethovens Geschwindmarsch auf.
Kontrapunktische Techniken wie Fugen, Kanons und Ostinati spielen in diesen
Werken eine wesentliche Rolle. Im Glanzstück dieser Zeit, dem Fugenzyklus
„Ludus tonalis“, demonstriert er seine Satzkunst in einer Reihe von
Klavierstücken. Trotz der kontrapunktischen Finessen haftet dem Zyklus etwas
Akademisches an.
Parallel zu seiner kompositorischen Arbeit widmete sich Hindemith intensiv
dem Studium alter Musik von Perotinus bis Bach. In Yale gründete er ein
Collegium Musicum, mit dem er diese Werke aus der Zeit des Mittelalters bis
zum Barock auch zu Aufführung brachte.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden Hindemiths Kompositionen
in Deutschland mit großem Erfolg aufgeführt. Die junge deutsche Avantgarde, die sich alljährlich zu den Ferienkursen in Darmstadt versammelte,
stand dem immer eindeutiger auf konservativen Positionen beharrenden
Während seiner ersten Europareisen nach dem Krieg 1947 und 1948/49 konnte
sich Hindemith von dem lebhaften Interesse an seiner Musik überzeugen. Er
zögerte deshalb nicht lange, als ihm in Zürich ein Lehrstuhl angeboten wurde,
und nahm 1951 die Arbeit dort auf. Die Hindemiths lebten zurückgezogen am
Genfer See. 1957 beendete er seine Lehrtätigkeit in Zürich, um sich ganz dem
Komponieren und Dirigieren widmen zu können. Konzertreisen führten ihn
durch ganz Europa, wo er alle wichtigen Orchester dirigierte. Außerdem
unternahm er Tourneen durch Japan und Südamerika. Als Dirigent bevorzugte
Hindemith herkömmliche Sinfoniekonzerte; Programme mit ausschließlich
eigenen Werken lehnte er ab. Mit großem Engagement setze er sich auch für
die alte Musik und eine historische Aufführungspraxis ein.
In den fünfziger Jahren schrieb er nicht nur neue Werke, sondern revidierte
auch viele ältere Kompositionen. Die spektakulärsten Umarbeitungen erfuhren
die Opern „Cardillac“ und „Neues vom Tage“. Die Musik wurde „klassischer“,
harmonischer, was vor allem an einem völlig neu geschriebenen Akt des
„Cardillac“ deutlich wird. Auch das Libretto arbeitete Hindemith noch einmal
um, wobei er die expressionistischen Sprachwendungen zu eliminieren
versuchte. Die Stimmen gestaltete er nun sanglicher als in der Originalfassung.
Lediglich den Orchestersatz beließ er weitgehend unverändert.
In dieser Zeit arbeitete Hindemith auch an einer Oper über den Wissenschaftler Johannes Kepler. Wie bereits bei „Mathis der Maler“ schrieb er
zunächst eine Sinfonie „Die Harmonie der Welt“. In drei Sätzen versucht sie die
Vorstellung einer „Musica Instrumentalis“, einer „Musica Humana“ und einer
„Musica Mundana“ (Sphärenharmonie) zu gestalten in Anlehnung an den
spätantiken Philosophen Boethius. Die Sphärenharmonie realisierte er in Form
einer höchst kunstvollen Struktur, mit Fugato und ausladender Passacaglia. In
einem Werkkommentar merkte Hindemith dazu an: „Die Titel der Sätze
beziehen sich auf die beiden Alten oft anzutreffende Einteilung der Musik in
drei Klassen und wollen damit auf all die früheren Versuche hinweisen, die
Weltenharmonie zu erkennen und die Musik als ihr tönendes Gleichnis zu
verstehen. „Die anschließend konzipierte Oper „Die Harmonie der Welt“, die
1957 unter Leitung der Komponisten in München
Premiere hatte, ist hinsichtlich der inhaltlichen Konzeption das vielleicht persönlichste Werk Hindemiths. Im
Zentrum steht der Wissenschaftler Johannes Kepler und
seine ambivalente Haltung gegenüber seiner Umwelt.
Thematisiert wird die Stellung des Wissenschaftlers
zwischen Kaisertreue und der Gefolgschaft Wallensteins. „Die Harmonie der Welt“ trägt deutliche Züge
eines Spätwerks. Hindemith arbeitete hier mit Zitaten aus Volks- und Kunstmusik. Er ordnete verschiedene Zeitsphären neben- und übereinander an und
erreichte so einen eigentümlichen Pluralismus in der historischen Perspektive.
Diese Gestaltungsweise prägte auch andere Spätwerke wie seinen letzen
Einakter, „Das lange Weihnachtsmahl“ nach Thornton Wilder, oder die
Kantate „Mainzer Umzug“ auf einen Text von Carl Zuckmayer, die von der
1000jährigen Mainzer Geschichte im Dialekt berichtet. Zu den großen Spätwerken gehören vor allem zwei Vokalwerke, die „Zwölf Madrigale nach
Texten von Josef Weinheber“ und sein letztes Werk, die Messe für gemischten
Chor a cappella. Die gleichsam klassische Ästhetik seiner späten Jahre beschrieb der Komponist noch einmal im Vorwort zu den „Madrigalen“: „Ein
Vokalstil muss gefunden werden, der sich grundsätzlich aller gesanglichvirtuosen Ausschläge, aller drastischen Konzertwirkungen, vor allem aber aller
Instrumentalismen enthält. Damit schließen sich extreme Stimmlagen, individuelle Ausrucksmanieren, Farbeffekte, eine ständig sprunghafte Melodik, die
kleine Sekunde als harmonisches und die große Sept als melodisches
Hauptmaterial aus; nichts darf geschrieben werden, das dem hingegebenen,
nicht nach äußeren Wirkungen strebenden Miteinanderwirken einer Sängergruppe störend entgegenwirken könnte.“ Am 12. November 1963 dirigierte
Hindemith die erste Aufführung seiner „Messe“ in Wien. Zurück am Genfer See,
erkrankte er wenige Tage später und wurde schließlich ins Frankfurter
Marienkrankenhaus gebracht. Nach einer Reihe von Schlaganfällen starb
Paul Hindemith dort am 28. Dezember 1963.
Quelle: Martin Demmler: Komponisten des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 1999, S.
174-182.