Eileen Gray - Leslie Strohmeyer
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Eileen Gray - Leslie Strohmeyer
EILEEN GRAY Theoretische Diplomarbeit im Studiengang Industrie-Design an der HfbK Hamburg Leslie Strohmeyer Prüfer: Prof. C. Friemert Prof. L. Rosenbusch September 1999 Inhaltsverzeichnis Vorwort 1 Einleitung 3 Die Kunst des Lackierens 7 Die Wende 13 1. Der De-Stijl-Tisch 17 2. Der Transat 23 3. Der Bibendum-Sessel 31 4. Der Beistelltisch E 1027 39 5. Der Spiegel Satellite 47 6. Die Röhrenleuchte 51 Die Reflexion 54 Schlußwort 60 Anmerkungen 62 Literaturnachweis 64 Vorwort So einfach es ist, sich von Grays Arbeiten verzaubern zu lassen, so schwierig ist es, diesen Zauber zu ergründen. Dabei spreche ich nicht nur für mich selbst. Diverse Autoren, die sich mit Grays Werk beschäftigt haben, schreiben von einem Geist, einem Esprit, vom Charme, vom Witz, von einer Poesie, d.h. sie benutzen diese Begriffe, doch dabei bleibt es. Der Frage nach dem Ursprung der Empfindungen, die durch Grays Arbeiten hervorgerufen werden, geht man aus dem Weg. – Wieso? In der Tat weiß man nur sehr wenig über die Motive, die Gray zu ihren Entwürfen bewogen haben. Bevor sie starb, verbrannte sie einen Großteil ihrer Unterlagen, die vielleicht einige Hinweise auf den Entstehungsprozeß ihrer Arbeiten enthalten hätten. Eine kleine Hilfestellung hat Gray ihrer Nachwelt allerdings gegeben: viele ihrer Arbeiten tragen einen Namen. Dieser war für mich in mehreren Fällen ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des Gegenstands. Viele Entwürfe Grays offenbarten sich mir jedoch erst unter Einbezug ihres Umfelds und der Zeit, in der sie entstanden. Meine Beschäftigung mit Grays persönlicher Geschichte bildete eine weitere Voraussetzung für die Interpretation ihrer Arbeiten. Ich fühle mich über jeden Zweifel erhaben, wenn ich sage, daß ihre Persönlichkeit und ihre Gedanken in vielen ihrer Entwürfe zu finden sind. 1 Das Wissen, das ich über diese Frau, ihren Werdegang und über die Zeit, in der sie lebte, sammeln konnte, bestärkte meinen ersten Eindruck von ihren Möbeln: einige sind stumm, doch viele können sprechen. So möchte ich bei den Dingen bleiben. Einleitend werde ich erzählen, woher Gray stammte, wie ihre Laufbahn begann – als Lackkünstlerin –, welche Arbeitsweise sie entwickelte und fortsetzte. Ich werde allerdings auf eine eingehende Beschreibung ihrer Lackarbeiten verzichten. Vielmehr wird sich der zweite Teil meiner Arbeit auf eine enge Auswahl von Gegenständen konzentrieren, welche erst nach Abschluß der ersten Phase, also in der Zeit nach 1923 entstanden, da Gray sich vom Kunsthandwerk abgewendet hatte und in den Kontext der sogenannten klassischen Moderne getreten war. 2 Einleitung Eileen Gray (S 1878 – = 1976) entstammte einer Adelsfamilie. Die Herkunft ihrer Mutter, Eveleen Gray, läßt sich bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen, als der erste Lord Gray der Haushaltsverwalter von König James II war. Ihr Vater entstammte der oberen Mittelklasse. Er hieß James Maclaren Smith und war Landschaftsmaler. Eileen Gray wurde als das jüngste von fünf Kindern am 9. August 1878 in Brownswood, dem Haus der Familie bei Enniscorthy in Irland geboren. Im Alter von 23 Jahren ging sie von zuhause fort. Zunächst studierte sie an der Slade School of Fine Arts in London, hauptsächlich Malen und Zeichnen. Sie war nicht, wie gerne behauptet wird, eine der ersten Frauen an diesem Institut. Zu ihrer Zeit studierten dort 168 Frauen und 60 Männer.1 Diese Zahlen mögen vielleicht den Anschein von Fortschrittlichkeit erwecken. Man hielt es jedoch damals in höheren Kreisen für sinnvoll, die Tochter für einige Zeit auf eine Kunstschule zu schicken, bevor man sie in den Bund der Ehe entließ.2 Entsprechend unambitioniert wird sich die Lehre an der Slade School allgemein gestaltet haben. Dies war vielleicht ein Grund für Gray, 1902 nach Paris zu gehen und dort ihr Studium fortzusetzen. Anders als zuvor in London war es ihr als alleinstehender Frau in Paris zu dieser Zeit bereits möglich, sich sehr viel freier zu bewegen. 3 Daß Gray in dieser Stadt, fern von ihrer Heimat, eine neue Identität entwickeln konnte, bedarf eigentlich keiner Erklärung. Der Wandel ihres Äußeren – ihrer Kleidung, ihrer Frisur –, geht aus einer Reihe von Fotografien hervor und belegt ihre Entwicklung. Bis Mitte der 20er Jahre hatte sich das viktorianische Mädchen von einst in die Frau verwandelt, deren Bild man heute kennt. 4 Eileen Gray, fotografiert von Berenice Abbott, 1926 5 «Le Magicien de la Nuit», Lackpaneel, 1912 6 Die Kunst des Lackierens Es wird oft behauptet, Gray hätte das Handwerk des Lackierens bereits während ihrer Studienzeit in London erlernt. Laut der Biografie von Peter Adam studierte Gray bereits seit drei Jahren in Paris, als sie 1905 in London das kleine Lackreperaturgeschäft von Mr. D. Charles entdeckte. Dort absolvierte sie ein Praktikum. In der Folgezeit wandte Gray sich immer wieder an Mr. D. Charles, wenn sie Materialproben oder seinen Rat benötigte. Über Charles kam auch der Kontakt zu dem Japaner Sugawara zustande, der in den kommenden Jahren Grays Lehrmeister sein würde. Sugawara stammte aus Jahoji, einem kleinen japanischen Dorf, das für seine Lackkunst bekannt war. Er war nach Paris gekommen, um die japanischen Exponate für die Weltausstellung im Jahr 1900 zu restaurieren. Danach war er in Paris geblieben. Obwohl das französische Möbeldesign seinem Können viel zu verdanken hat, trat Sugawara selbst nie mit eigenen Arbeiten hervor.3 Die Kunst des Lackierens ist bekanntlich ein äußerst anspruchsvolles Handwerk. Neben großer Kunstfertigkeit erfordert es viel Geduld, wenn nicht sogar Starrsinn. Mindestens 22 und bis zu 40 Arbeitsschritte sind nötig, um eine Lackoberfläche herzustellen. Die Aushärtung jeder einzelnen Schicht nimmt drei Tage Wartezeit in Anspruch. Der Lack selbst besteht aus Harz, gewonnen aus der Rinde ostasiatischer Bäume, vermischt mit Öl, Eisensulfaten, Reisessig und anderem mehr. 7 Wird der Lack versehentlich zu dick aufgetragen, löst sich die untere Schicht, und man darf von vorne beginnen. Nebenbei verursacht er einen schmerzhaften Hautausschlag an Händen und Unterarmen. Anfangs arbeitete Gray mit Sugawara in ihrer Wohnung in der Rue Bonaparte (die sie 1907 bezogen hatte und im übrigen bis an ihr Lebensende als festen Wohnsitz in Paris behielt). Später führte sie eigene Ateliers. Nach dem ersten Weltkrieg, auf dem Höhepunkt ihrer Lackproduktion, waren neben Sugawara zusätzliche Hilfskräfte bei Gray angestellt. Sie wurden in einem kleinen Haus an der Seine untergebracht, in welchem sich auch die Werkstatt befand. Gray experimentierte mit verschiedenen Rezepturen und Techniken, um unterschiedliche Farben und Oberflächentexturen zu erreichen. Sie führte ein Buch, in dem sie die Ergebnisse ihrer Versuche peinlichst genau notierte. Eine besondere Leistung, die Gray auf dem Gebiet des Lackierens vollbrachte, war die Entwicklung einer Rezeptur für die Farbe Blau. Das Problem bei der Herstellung dieser Farbe ist ihre Tendenz, ins Grüne umzuschlagen.4 Auf dem Gebiet der traditionellen Lackkunst zählt Gray in der Tat zu den großen Meistern.5 Sie war die erste, die das japanische Handwerk des Lackierens mit Erfolg in das Möbeldesign des beginnenden 20. Jahrhunderts einführte.6 8 Lotus -Tisch, um 1915 Beistelltisch, um 1920 – 23 9 Grays Arbeitsorganisation beruhte auf der Zusammenarbeit mit Handwerkern. Einige arbeiteten exklusiv für sie, andere erhielten einzelne Aufträge. In dieser Weise verwirklichte Gray auch alle zukünftigen Projekte. Beim Bau ihres ersten Hauses, der Villa E1027 (1926 – 29) in Roquebrune an der Côte d’Azur, arbeitete sie Hand in Hand mit einem Maurer und zwei Assistenten. Eine Art „Learning-by-doing“ war dabei für Grays Arbeitsweise charakteristisch, gleich, ob es sich um die Kunst des Lackierens, die Umsetzung ihrer Möbelentwürfe oder den Bau von Häusern handelte. Sie erlernte viele Techniken erst im Prozeß ihrer Anwendung. Dies war nicht zuletzt eine Konsequenz ihrer Situation als Frau. Zu ihrer Zeit hätte eine Tischlerlehre für sie keine Alternative dargestellt. Ebensowenig wäre sie zu einem Architekturstudium zugelassen worden. So war sie gezwungen, sich ihr Können selbständig zu erarbeiten. Dies tat sie, indem sie Bücher und Zeitschriften studierte und, wie beschrieben, für die Umsetzung ihrer Projekte Handwerker hinzuzog. Ferner führte Gray nie ein Büro mit Angestellten, wie es ein Architekt üblicherweise tat. Die Eigenständigkeit, mit der sie ihre frühen Projekte bewältigt hatte, setzte sich durchgehend fort. Ich betrachte die Jahre, in denen Gray sich mit der Lackkunst beschäftigte, im wesentlichen als ihre Lehrjahre, als eine Zeit des intensiven Studiums von Oberflächen, Farben, 10 Formen und Materialien. Gray entwickelte in dieser Zeit eine eigenwillige Arbeitsweise, der sie bis zum Ende ihres Lebens treu bleiben sollte. Es war mir wichtig, dies herauszustellen. Ferner wollte ich darstellen, welchen Aufwand das Handwerk des Lackierens tatsächlich bedeutete, mit welcher Ernsthaftigkeit jedes einzelne Objekt über einen Zeitraum von Monaten zur Vollendung geführt wurde. Umso befreiter erscheinen die Gegenstände, die Gray in der zweiten Phase ihrer Laufbahn entwarf. 11 Schlafzimmer-Boudoir für Monte Carlo, 1923 12 Die Wende Nachdem Gray mit ihren Lackarbeiten seit etwa 1920 auch außerhalb von Frankreich bekannt geworden war, hatte sich ihr Kundenkreis stetig erweitert. Dieser Kreis entstammte ausnahmslos der obersten Gesellschaftsschicht, einer Elite, die in den 20er Jahren von einem übertriebenen Verlangen nach Luxus und Prestige beherrscht war. Dies drückte sich in einer Vorliebe für alles „Mondäne“ und „Exotische“ aus. Einige Lackobjekte Grays wurden dieser Mode durchaus gerecht, doch mit zunehmender Reduzierung der Formen und Farben konnten ihre Entwürfe den Ansprüchen ihres Klientels nicht mehr genügen. Diese Entwicklung spitzte sich zu, als Gray im Frühling des Jahres 1923 im XIV. Salon des Artistes Décorateurs ihr Schlafzimmer-Boudoir für Monte Carlo präsentierte. Es war ihre erste Einzelausstellung. Die Einrichtung dieses Raumes zeigte einerseits eine Affinität zum luxuriösen Art Déco, unterschied sich jedoch von diesem durch eine ungewöhnliche formale Strenge und durch die sparsame Bestückung mit abstrakten Möbeln. Dem französischen „Geschmack“ dieser Zeit entsprach der Monte-Carlo-Raum auf jeden Fall nicht. Kritiker reagierten mit Entsetzen. Einer bezeichnete Grays Entwürfe als »völlig übergeschnappt« und nannte sie »die Tochter von Caligari, in all ihrem Grauen«.7 Positive Reaktionen kamen hingegen von Architekten wie Pierre Chareau, Francis Jourdain, Robert Mallet-Stevens und aus Holland von Jan Wils und J. J. P. Oud. Man lobte die „moderne Ästhetik“ ihrer Möbel, deren Einfachheit und 13 Originalität, die Harmonie der Formen und Farben. In anbetracht der Schmähungen, die Gray von seiten französischer Kritiker erhalten hatte, mag das Lob der Architekten sie bestärkt haben, das Metier zu wechseln. Einen wichtigen Impuls gab Jean Badovici, der auch auf persönlicher Ebene eine wichtige Rolle in Grays Leben spielte. Badovici stammte aus Bukarest und war kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges nach Paris gekommen, um Architektur zu studieren. Zusammen mit dem Kritiker Christian Zervos brachte er 1923 die erste Ausgabe der Zeitschrift L’Architecture Vivante heraus. Diese lief über einen Zeitraum von zehn Jahren und diente Gray als ein wichtiges Lehrbuch. Im Jahr 1924 wurde eine Ausgabe der holländischen Zeitschrift Wendingen ausschließlich der Arbeit Grays gewidmet. Darin schrieb Badovici über sie: »Ihre Schöpfungen bezeugen eine seltene Kühnheit und zeigen eine einmalige und eingeprägte Einbildungskraft. Würde sie gründlichere und genauere Kenntnisse in der Architektur besitzen und sich etwas weniger auf ihren schöpferischen Instinkt verlassen, so könnte sie sehr gut die ausdrucksvollste Künstlerin unserer Zeit sein.«8 Dieses Zitat gibt bereits einen Vorgeschmack darauf, wie Grays Konfrontation mit der klassischen Moderne verlaufen sollte. 14 Hier beginnt meine eigentliche Geschichte. Mit geringer Unterstützung durch Badovici und im wesentlichen als Autodidaktin begann Gray im Alter von 45 Jahren ihr Studium der Architektur. Dies geschah auf dem Höhepunkt ihrer Karriere als Lackkünstlerin. Ihr Wissen bezog sie hauptsächlich aus Büchern und Zeitschriften. Darin vorgefundene Architekturpläne wurden von ihr modifiziert. Sie entwarf Phantasie-Häuser und baute Modelle. Die Auseinandersetzung mit der Architektur wirkte sich auch auf die Gestaltung ihrer Möbel aus. Von nun an wurde der Entwurf im Sinne einer industriellen Produzierbarkeit verstanden. Damit begann die Suche nach neuen Materialien und Herstellungsmethoden. Das Moment der Konstruktion rückte weiter in den Vordergrund. Hatte Gray ihren Zugang zum Möbelentwurf ursprünglich über die Oberfläche gefunden, so veränderte sich jetzt ihre Sicht auf den Gegenstand: die plastische Form löste sich in Linien und Flächen auf. Um 1923, in der Anfangszeit dieser Phase, entstand der De-Stijl-Tisch. Diesen werde ich an erster Stelle vorstellen. 15 De-Stijl-Tisch, um 1923 Berlin-Stuhl von Rietveld, 1923 16 1. Der De-Stijl-Tisch (um 1923) Der Titel dieses Entwurfs stammt nicht von Eileen Gray. Er geht aus der offenbaren Nähe des Tisches zu den Möbelentwürfen Gerrit Rietvelds hervor. Im Folgenden werde ich den De-Stijl-Tisch mit einem Entwurf von Rietveld vergleichen – mit dem Berlin-Stuhl, der 1923 auf der Juryfreien Kunstschau in Berlin präsentiert wurde. Beide Entwürfe können als modellhafte Skizzen der architektonischen Entwurfsregeln ihrer Gestalter angesehen werden. Die Prinzipien des Berlin-Stuhls treten in Rietvelds Entwurf für das Schröder-Haus von 1924 wieder auf.9 Die des Tisches finden Eingang in Grays Entwurf für die Villa E1027 (1926 – 29). Darauf komme ich später zurück. Ein augenfälliges Merkmal des De-Stijl-Tisches ist die abgerundete Ecke. Sie verbindet die linke seitliche Standfläche des Tisches mit der vorderen Tischfläche (siehe Abb.). Diese Verbindung wird durch einen homogenen weißen Farbanstrich betont. Es entsteht eine Einheit, die ich im Folgenden als das „umgeknickte Element“ bezeichne. Eine derartige Figur findet sich beim Berlin-Stuhl nicht. Dieser ist ausschließlich additiv zusammengesetzt. Zudem sind die horizontalen und vertikalen Bauteile des Stuhls durch unterschiedliche Farbgebung differenziert. Rietvelds Anspruch war es, daß die Bedingungen der maschinellen Produktion sich zumindest symbolhaft im Gegenstand niederschlagen. 17 De-Stijl-Tisch, um 1923 18 Die Addition der horizontalen und vertikalen Flächen sollte Ausdruck des Technischen sein und korrespondierte mit den Gestaltungsprinzipien der De-Stijl-Gruppe. Welche Bedeutung hat die Rundung der Ecke beim De-Stijl-Tisch in diesem Zusammenhang? Die abgerundete Eckverbindung ist ein wiederkehrendes Merkmal der Möbel Grays. Hier wird der abstrakte Vorgang des „Umknickens“ in den Vordergrund gerückt, tatsächlich transparent gemacht, dadurch, daß die Vertikale in einem schmalen Steg verlängert ist. So scheint es, als hätte man eine Fläche eingeschnitten, gleichsam wie ein Stück Pappe, einen kleinen Teil stehengelassen, den anderen Teil in die Horizontale umgeknickt. Der schmale Steg, Relikt des „ursprünglichen Ganzen“, referiert diesen Vorgang. Erst durch ihn wird deutlich, wie die Rundung der Ecke tatsächlich zu verstehen ist: als ein Formungszitat. Das „Einschneiden-Umknicken“ ist dem Material des De-Stijl-Tisches (Eichenholz) nicht immanent. Es handelt sich hier um ein Gestaltungsprinzip. Dieses bildet mit drei weiteren Prinzipien die «quatre possibilités de plastiques architecturales réalisées», welche bei der räumlichen Komposition der Villa E1027 angewandt wurden. In der Winterausgabe der Zeitschrift L’Architecture Vivante von 1929, die der Villa gewidmet war, wurden diese Regeln in vier Zeichnungen vorgestellt. 19 «quatre possibilités de plastiques architecturales réalisées» 20 Bruno Reichlin erklärt, daß sich diese Prinzipien von der contra-construction ableiten lassen, welche van Doesburg 1923 in der Galerie de l’Effort Moderne in Paris vorstellte. Andererseit seien sie auf die composition cubique trés difficile von Le Corbusier zurückzuführen. Reichlin weist jedoch auf einen entscheidenden Unterschied hin: «anstatt die Raumvolumen zu addieren, wird der Raum zerlegt. [...] Ob flach oder räumlich, sind die Figuren nicht juxtaposiert [nebeneinandergestellt], sondern verschachtelt.»10 Auch dies zeigt sich am Beispiel des De-Stijl-Tisches. Seine Elemente greifen ineinander und bauen aufeinander auf. So dient z.B. die Verlängerung der seitlichen Standfläche als Anlage für ein weiteres Element. In ihrer Gesamtheit bilden die Bauteile des Tisches eine Komposition, die Ausgeglichenheit und Stabilität vermittelt. Beim Berlin-Stuhl hingegen sind die Flächen gegeneinandergestellt. Die Verbindungen der Bauteile sind unsichtbar. Auch formal besteht kein Zusammenhalt. Rietvelds Komposition ist weniger ein Stuhl als vielmehr eine Skulptur. In der Auseinandersetzung mit den Gestaltungsprinzipien des Stijl entwickelte Gray ihre eigenen Gesetze. Doch in Erweiterung zum additiven Prinzip führte sie Regeln ein, die jenen gewissermaßen entgegengesetzt sind: das Einschneiden und das Umknicken. Sie schuf eine eigene Formensprache, indem sie Vorgänge des plastischen Formens – des Eingreifens in ein Bestehendes – abstrahierte. 21 «Man kann auf gewisse Regeln nur verzichten, indem man neue erfindet», sagte Gray.11 Der De-Stijl-Tisch ist eine Manifestation dieser Aussage. Ich betrachte ihn nicht als ein Möbel, sondern als ein konkretes Beispiel für Grays Auseinandersetzung mit den Theorien und Prinzipien ihrer Kollegen. 22 2. Der Transat – le fauteuil Transatlantique (1924 – 30) Transat „an Deck” der Villa E 1027 23 Plakatentwurf von Cassandre, um 1930 24 Le fauteuil Transatlantique mit Rahmen aus Bergahorn, 1924 – 30 25 Die ersten Skizzen zum Transat entstanden bereits 1924, obwohl der Entwurf erst 1930 patentiert wurde. Es gab zwölf Ausgaben dieses Sessels, es sind allerdings nur sechs bekannt. Diese wurden in unterschiedlichen Versionen ausgeführt. Das Holzgestell ist entweder aus Bergahorn hergestellt oder schwarz lackiert. Die Materialien der Sitz- und Rückenpolster variieren zwischen schwarzem und braunem Leder, hellgrünem Segeltuch, schwarzem Ponyfell und braunem Leinen. Je nach Verwendung der Materialien wirkt der Transat sportlich bis adelig. Auf jeden Fall ist es unmöglich, ihn nur einer Kategorie von Sitzmöbel zuzuordnen. Der Name Transatlantique bestätigt den ersten Verdacht, daß dieser Sessel mit dem Deckstuhl eines Ozeandampfers verwandt ist. In den 20er Jahren liefen mehrere französische Luxusdampfer vom Stapel, die von den Kritikern als «Museen der Innendekoration» gefeiert wurden.12 Gray selbst unternahm viele Schiffsreisen, u.a. nach Nordamerika und nach Mexico. Bei der Betrachtung des Transat verband sich die Assoziation des Deckstuhls für mich sofort mit der Frage, wie der Klappmechanismus dieses Sessels funktionieren könnte. Dabei stellte ich fest, daß der Transat gar kein Klappstuhl ist! Mit Ausnahme der Rückenstütze ist dieser Sessel unbeweglich. 26 Dennoch vermittelt er Beweglichkeit, vor allem durch die verchromten Metallteile, die um die Verbindungspunkte des Gestells geschlagen sind. Sie erinnern an Möbelscharniere und lassen den Transat in seinen Knotenpunkten gelenkig erscheinen. Im übrigen haben die Metallteile rein dekorativen Charakter. Als Verbindungsteile funktionieren sie nicht, obwohl sie die Holzverbindungen sicherlich verstärken und auf jeden Fall kaschieren. Zur Deckstuhl-Assoziation gehört, daß die Sitzfläche in das Gestell eingehängt ist. Diese Figur der „Dormeuse“, der Schlafenden, wurde zum Kennzeichen des modernen Liegestuhls, der „chaise-longue“. Was für die „chaise-longue“ im allgemeinen gilt, trifft im übrigen auch für den Transat zu: eine einzige Sitz- bzw. Liegeposition ist möglich, Bewegungsfreiraum gibt es kaum. In einem formalen Gegensatz zur fließenden Form der eingehängten Sitzfläche steht die strenge Bauweise des Gestells. Dessen Bauteile sind sehr filigran. Die Maße der Rahmenteile und Streben betragen im Querschnitt 2,5 cm x 3 cm. Wolf Bruns, der deutsche Vertreter der französischen Firma Ecart International, die den Transat seit 1979 produziert, betonte, daß die Herstellung des Gestells nur unter Verwendung von sehr hochwertigem Holz überhaupt möglich sei. 27 Transat mit schwarzem Lackrahmen und hellgrünem Segeltuch 28 In Bezug auf die angestrebte Leichtigkeit dieses Sessels stieß Gray mit dem Material Holz offensichtlich an eine Grenze. In der Folgezeit verwendete sie Stahlrohr, doch im Grunde verlangte schon der Transat nach diesem Material. Mit Hilfe einer komplizierten Konstruktion und mit großem handwerklichen Aufwand wurde hier etwas erreicht, das wenig später unter Verwendung von Stahlrohr mit viel weniger Aufwand bewältigt wurde: die Auflösung des Sessels in filigrane Linien. Ist die Idee der Auflösung einerseits modern, so ist der Transat doch auch in der Vergangenheit verhaftet. Ein Bezug zum Jugendstil zeigt sich u.a. in den abgerundeten Eckverbindungen der seitlichen Rahmenteile. Im Verhältnis zwischen den inneren und äußeren Radien entstehen spannungsvolle Bögen. Diese Ausformungen dienen zur Verstärkung der statisch wichtigen Punkte des Gestells. Gleichzeitig erinnern sie an die stilisierten knochen- oder pflanzenartigen Formen, welche man von Jugendstilmöbeln kennt. Anhand der Originalzeichnung wird deutlich, mit welcher Sorgfalt Gray dieses Detail behandelte: Der hintere Bogen wurde mit Bleistift korrigiert, die Korrektur des vorderen Bogens im Prozeß abgebrochen. Adam schreibt, daß Gray sich noch fünfzig Jahre später mit diesen Radien beschäftigt habe. Als Frank Stella sie fragte, ob er den Transat für seinen Eigenbedarf nachbauen dürfe, schlug sie ihm vor, verschiedene Details zu verändern. 29 Gray empfahl ihm u.a., die Bögen der Rahmenteile etwas mehr abzurunden.13 Ihr fast übertriebener Perfektionismus zeigte sich auch am Gegenstand selbst. Immer wieder wurden die Eckverbindungen der Rahmenteile mittels der Radien anders ausgeformt, so daß die verschiedenen Versionen des Transat sich in diesem Detail unterscheiden. Die hier beschriebene Praxis der Modifizierung ließ immer wieder unterschiedliche Versionen desselben Prototyps entstehen. Generell wurde kein Entwurf in derselben Art und Weise zweimal ausgeführt, immer wieder wurde der Gegenstand abgewandelt, wurden Details verändert oder andere Materialien verwendet. Offenbar betrachtete Gray den einzelnen Entwurf nicht als eine endgültige Lösung, sondern als eine variable. 30 3. Der Bibendum -Sessel (1926 – 29) Bibendum -Sessel in der Villa E1027, 1926 – 29 31 Der Name dieses Sessels verrät seine Verwandtschaft mit dem Michelin-Männchen. Bibendum feierte im letzten Jahr seinen hundertjährigen Geburtstag. Mit dem Slogan «Nunc est bibendum» (Es ist Zeit zu trinken, nach einem Vers von Horace) war er 1898 zum ersten Mal auf einem Plakat abgebildet, in der erhobenen Hand ein Glas, gefüllt mit zerbrochenem Glas und Nägeln. Dieses Bild sollte verdeutlichen, was André Michelin bereits 1893 als Motto formuliert hatte: «Der MichelinReifen trinkt Hindernisse.» Eine Postkarte, die um 1902 von E.L.Cousyn herausgegeben wurde Den Streit um den Autoreifen – Hartgummi oder Pneu – , gewann Michelin allerdings erst in den 20er Jahren. 1924, als in Paris das Rennen um den Grand Prix stattfand, wurde mit einer großen Kampagne dafür geworben, daß endlich auch die Pariser Omnibusse mit Michelin-Reifen ausgestattet werden sollten. 32 Ein Plakat zeigte auf der einen Seite Pariser, die in einen herkömmlichen Bus einsteigen. Auf der anderen Seite Schweine, die sich über eine Rampe in einen LKW mit Pneubereifung bewegen. Dazu der Aufruf an die Pariser, ihr Recht auf gleiche Behandlung zu fordern.14 Bibendum auf dem Grand Palais in Paris Dies ist der Hintergrund, vor dem der Bibendum-Sessel entstand: ein kraftstrotzendes Männchen, das in Anspielung auf den Wohlstand der damals kleinen Gruppe von Autofahrern mit Zigarre auftrat, eine populäre Figur – man sagt, die populärste Figur weltweit –, der Mittelpunkt einer Werbekampagne, die sicherlich viel Gesprächsstoff lieferte. Ob das Michelin-Männchen tatsächlich als Inspiration diente, läßt sich nicht nachweisen. Ich denke, ja. Im Paris der 20er Jahre hätte jedes Kind gewußt, wer Bibendum war und wie seine Botschaft lautete. 33 Neuproduktion des Bibendum-Sessels in den Farben schwarz und weiß 34 Wäre der Bibendum-Sessel aus Plastik und mit Luft gefüllt – der erste Gedanke, wenn man ihn heute sieht –, dann könnte er sich ohne weiteres zu den Pneu-Möbeln der 60er Jahre gesellen. Stattdessen ist er gepolstert und mit weißem Leder bezogen. Als voluminöser Polstersessel folgt er der Tradition des englischen Clubsessels, eines ausgesprochen „männlichen“ Möbels. Wenn man bedenkt, was mit dem Michelin-Männchen in Verbindung steht – das Auto, der Grand Prix, die Zigarre –, dann erkennt man hier einen Zusammenhang. Andererseits ist das Michelin-Männchen, ich habe es bereits angedeutet, eine humoristische Figur: Bibendum verkörpert Kraft und Kampfgeist, gleichzeitig ist er weich, dick und rund. Das macht ihn so sympathisch. Man bewundert seinen Optimismus und man kann über ihn lachen – nicht ohne dabei auch über sich selbst zu lachen. Wenn Gray aus dieser Figur den Bibendum-Sessel entwickelte, so bestand ihre Leistung nicht nur darin, ein Phänomen ihrer Zeit zu reflektieren. Sie selbst schuf eine humoristische Figur, und zwar im Hinblick auf den traditionellen Polstersessel. Sie entführte ihn aus seinem Zimmer, dem Herrenzimmer, zog ihm den Boden unter den Füßen weg und setzte ihn auf ein Stahlrohrgestell, fütterte ihn, damit er noch fetter werden würde, bis er fast platzte, nahm ihm alles, was ihm Respekt verschaffte. Schwer und plump saß er nun selbst auf seinem zarten Gestell, und, indem er dies tat, offenbarte 35 er sein eigentliches Wesen, seine Bequemlichkeit. Er stand nicht mehr mächtig im Raum und repräsentierte Stärke und Beständigkeit, im Gegenteil: er beanspruchte für sich gar keinen festen Platz mehr und wirkte fast ein bißchen wacklig auf den Beinen. Diese Instabilität erzeugt einen Widerspruch, der ähnlich wie das Michelin-Männchen humoristisch empfunden werden kann. P.S.: Gray war eine begeisterte Autofahrerin. 36 36 Gray verkaufte zwei Bibendum-Sessel an Madame MathieuLévy, die wohlhabende Besitzerin des Modegeschäfts, das unter dem Namen Suzanne Talbot bekannt war, und für die Gray in der Zeit von 1919 bis 1923 das Apartment in der Rue de Lota komplett eingerichtet und diverse Lackmöbel angefertigt hatte. Anfang der 30er Jahre hatte Madame dieselbe Wohnung von Paul Ruaud umgestalten lassen. In dem Ambiente, das er kreiert hatte, traf Grays Bibendum-Sessel mit Entwürfen aus ihrer „mondänen Phase“ wieder zusammen und stand dort u.a. neben ihrem Schlangensessel (1919 – 23). Zu sehen ist hier im übrigen auch Grays Lota-Sofa von 1930. Diese Fotografie wurde 1933 in der Zeitschrift L’Illustration veröffentlicht. Es ist für die Art der Behandlung, die Grays Arbeit erfuhr, leider bezeichnend, daß ihr Beitrag zur Gestaltung dieses Apartments mit keinem Wort erwähnt wurde.15 37 Beistelltisch E 1027 (1926 – 29) 38 4 . Der Beistelltisch E 1027 (1926 – 29) Dieser Tisch entstand, wie sein Name schon sagt, im Zusammenhang mit der Villa E1027, also in der Zeit von 1926 bis 1929. Er wurde in sechs Exemplaren ausgeführt. Sein Gestell wurde jeweils aus verchromten Stahlrohr hergetellt. Für die eingesetzte Tischplatte verwendete Gray entweder Glas oder schwarz emailiertes Metall. Das besondere Kennzeichen des Beistelltisches E1027 ist seine Höhenverstellbarkeit. Zwei Teleskoprohre erlauben es, die kreisrunde Tischplatte vertikal zu bewegen, aus ihrer niedrigsten Position von 53 cm auf eine Höhe von 96 cm. Ein Metallstift, der mittels einer Kette am Tisch befestigt ist, damit er nicht verloren geht, dient der Arretierung. Grundlage dieser einfachen Idee ist die Erkenntnis, daß man zwei unterschiedlich dicke Stahlrohre ineinander stecken kann. Diese Möglichkeit fand außer beim Beistelltisch E1027 bei keinem anderen Stahlrohrmöbel seiner Zeit Verwendung. Interessant ist auch der Gebrauch dieses Tisches. Er ist leicht, man kann ihn greifen und mit sich nehmen, z.B. zum Bett. Er läßt sich direkt an die Bettkante schieben, ohne daß zu viele Beine stören würden. Hier erweist es sich als Vorteil, daß man die Höhe der Tischplatte verstellen kann. Der Tisch paßt sich seinem Benutzer an. Die Bezeichnung E1027 ist eine Verschlüsselung. E steht für Eileen, 10 für Jean (Das J ist der zehnte Buchstabe im Alphabet.), 2 für Badovici und 7 für Gray. Jean Badovicis Initialien sind eingeklammert. Darin drückt sich sein Beitrag zum Entwurf der Villa E1027 aus. 39 Beistelltisch E 1027 im Gästezimmer der Villa E 1027 40 Er war der Initiator dieses Projekts und betreute den Entwurfsprozeß. Im wesentlichen fungierte Badovici als Grays Berater bei technischen Fragen. Gray sagte: «Er hatte gute Ideen für das Dach.»16 Der Name des Beistelltisches wurde von der Villa übernommen. Er geht nicht auf Badovicis Beteiligung an diesem Entwurf zurück. Vielmehr drückt sich im Namen dieses Tisches eine konzeptuelle Verwandtschaft mit der Villa aus. Gray nannte die Villa E1027 ein «Maison Mininimum» – «Minimum an Raum, Maximum an Komfort».17 Diese Bezeichnung impliziert eine Frage, die bereits damals kontrovers diskutiert wurde. Auf der einen Seite stand das soziale Bewußtsein, das Bemühen, mit einer Standardisierung im Design und in der Architektur auf die sozialen und ökonomischen Verhältnisse zu reagieren. Auf der anderen Seite wurde aus einer eher defensiven Haltung heraus die Auffassung vertreten, daß nur die individuellen Werke der Künstler dem menschlichen Bedürfnis nach Vielfalt, Eleganz und Bequemlichkeit gerecht würden. Wenn Gray das Thema des minimalen Raums mit dem Wunsch nach maximalem Komfort verband, so verdeutlicht dies die Sonderposition, die sie zwischen den Fronten einnahm. Die Möbel, die sie für ihre Häuser entwarf, verstand sie als Prototypen für die industrielle Produktion. Sie verwendete industriell vorgefertigte Teile sowohl beim Bau ihrer Häuser als auch bei deren Einrichtung. 41 Andererseits besaß Gray einen besonderen Sinn für Komfort, der sich nicht zuletzt von ihrer aristokratischen Herkunft ableitete. Von diesem Standpunkt aus entwickelte sie eine Entwurfshaltung, die sich zwar am Gebrauchswert orientierte, für diesen jedoch eigene Maßstäbe setzte. Entgegen der Gewohnheit ihrer männlichen Kollegen, die eigene Position als Heilslehre zu propagieren, äußerte sich Gray nur selten in schriftlicher Form. Die Hauptpunkte ihrer Überzeugung finden sich in einem Text, der 1929 zusammen mit Plänen und Abbildungen der Villa E1027 in der Winterausgabe der Zeitschrift L’Architecture Vivante veröffentlicht wurde. Dieser Text ist im Dialog mit Badovici verfaßt. Der Titel lautet «De L’Eclectisme au Doute» – vom Eklektizismus zum Zweifel. Darin beklagte sich Gray, daß die Technik zur Hauptbeschäftigung geworden sei, und sagte: «Indem man an die Mittel denkt, vergißt man das Ziel.» Es gelte, das menschliche Wesen in seiner plastischen Form, den menschlichen Willen hinter der materiellen Front und das Pathos des modernen Lebens wiederzuentdecken. Sie plädierte für eine Rückkehr zum Gefühl, «zu einer vom Wissen geläuterten und von der Vorstellung bereicherten Emotion», und das schließe gewiß nicht Kenntnis und Verstehen wissenschaftlicher Errungenschaften aus. Die Inspiration sei das Leben. «Formeln taugen nichts, das Leben ist alles. Und das Leben wird zu gleichen Teilen von Geist und Herz bestimmt.» 42 Badovici entgegnete: «Kurzum, Sie möchten modischen Formeln entgegenwirken, indem sie auf die Vergangenheit zurückkommen.» Gray: «Nein, im Gegenteil. Ich möchte diese Formeln weiterentwickeln und sie bis an den Punkt treiben, an dem sie den Kontakt zum Leben wieder aufnehmen, sie bereichern, ihre Abstraktion mit Realität durchdringen. Kunst ist nicht Ausdruck abstrakter Elemente; sie muß auch den Ausdruck konkreterer Elemente und privatester Bedürfnisse des Individuums umfassen.»18 Stellte Gray den Mensch als Individuum in den Mittelpunkt ihres Entwurfs, so war dieser Mensch letztendlich sie selbst. Sie war Auftraggeber und Gestalter in einer Person. Also entwarf sie ihre Häuser und deren Einrichtungen gemäß ihres eigenen Bedarfs. Es stellt sich die Frage, ob es möglich ist, von dieser Egozentrik auf einen allgemein gültigen Gestaltungsansatz zu schließen. Von welcher Realität ist die Abstraktion durchdrungen? Gray stammte aus Verhältnissen, in denen die Zwänge des Lebens, die für den kleinen Mann bestanden, keine Bedeutung hatten, vielmehr überlagert wurden von dem Problem der Unfreiheit – von dem Gefühl, in den Konventionen der Gesellschaft gefangen zu sein. Nicht zufällig lautete der Titel des Textes, aus dem ich Gray oben zitiert habe, «Vom Eklektizismus zum Zweifel». 43 Gray selbst hatte den epochalen Aufbruch ihrer Zeit persönlich erlebt, als sie aus ihrem herrschaftlichen Elternhaus ausbrach und sich auf die Suche nach einer neuen „Lebensform“ begab. Das Bedürfnis, das Gray kannte und von dem sie ausging, als sie ihre Häuser und deren Einrichtungen gestaltete, war das Bedürfnis, sich aus den Zwängen des bürgerlichen Lebens zu befreien. Das neue Interieur sollte dem Lebensstil des „modernen Menschen“ entsprechen, eines Menschen, der sich seinen eigenen Interessen widmete, ein Single-Dasein führte, ein Individualist war wie sie selbst. 44 Mehr als jeder andere ihrer Entwürfe wird der Beistelltisch E1027 diesen Ansprüchen gerecht. Er ist ein kleiner Kompagnon, der stets zur Stelle steht, der sich seinem Benutzer anpaßt und ihm Hilfeleistung gibt. Dabei bezieht sich seine „Funktion“ primär auf eine Einzelperson. Hätte man diesen freundlichen Tisch nicht gerne im Haus? – Ich denke an die Momente, da die Abstellfläche fast, aber doch nicht ganz in Reichweite war und man sich fragte, wozu Vaters Couch-Tisch eigentlich gut sei. Ganz zu schweigen von dem schwierigen, doch immer wieder gewagten Unternehmen, im Bett zu frühstücken. Oder einer Tasse Tee zum Einschlafen. Die abstrakt-geometrische Gestalt dieses Tisches ist tatsächlich mit einer Realität durchdrungen, verstanden als das Gegenteil einer Idealität. Der Beistelltisch E1027 räumt seinem Benutzer eine Schwäche ein. Er gesteht ihm zu, „es sich bequem zu machen“ und assistiert ihm dabei. Hanna Gagel schreibt: «Ein anderes Akzeptieren der Widersprüche der Realität, ein anderes sich darauf Einlassen zeigt sich in den Werken vieler Künstlerinnen. Die männliche Tendenz, sich die Wirklichkeit vom Halse zu halten – sei es durch Negierung, Transzendierung, Typisierung oder Formalisierung – ist bei ihnen weniger feststellbar.» Den Arbeiten vieler Künstlerinnen sei die Intention abzulesen, «in ihrer Kunst das Leben zu intensivieren, nicht nur zu transzendieren.»19 45 Gagel unterscheidet hier nicht grundsätzlich zwischen Mann und Frau, sondern vielmehr zwischen Künstlern, die an platonischen Wertvorstellungen orientiert sind, und Künstlern, die es weniger sind – vornehmlich Frauen, meint Gagel. Ich möchte in Bezug auf Gray nicht grundsätzlich von einer frauenspezifischen Entwurfshaltung sprechen. Trotzdem erkenne ich in Grays Worten und am konkreten Beispiel des Beistelltisches E1027 die Absicht, «das Leben zu intensivieren». Gray orientiert sich nicht an Idealen, die im Bereich der Ideen existieren – einer Vorstellung, von der ein Großteil der Gesellschaft zwischen den Weltkriegen beherrscht war. Sie greift auf subjektive Erfahrungswerte zurück, die einer sinnlich-emotionalen Wirklichkeit entstammen. Diese Werte integriert sie in ihren Entwurf. Nicht, indem sie dem Gegenstand eine „sinnliche“ oder „emotionale“ Form überstülpt. Der Beistelltisch E1027 ist auf seine wesentlichen Elemente reduziert. Das „Gefühl“ offenbart sich duch seinen Gebrauch. 46 5. Der Spiegel Satellite (1926 – 29) Gray entwarf verschiedene Gegenstände, die jeweils für eine bestimmte Handlung vorgesehen waren. Ein solcher ist der Spiegel Satellite, der sich im Gästezimmer der Villa E.1027 befand. Der eigentliche Satellit ist ein Vergrößerungsspiegel, dessen Position sich über zwei Gelenke verstellen und arritieren läßt. Die Leuchte, die in die Spiegelfläche eingesetzt ist (2 x 15 W), erzeugt ein diffuses Licht. Der Zweck dieses Spiegels ist die Nackenrasur, eine Maßnahme der Schönheitspflege, die in den 20er und 30er Jahren, denkt man an die Modefrisuren dieser Zeit, mit Sicherheit üblicher war als heute. Über die Doppelreflexion ist es möglich, die Rasur an sich selbst vorzunehmen. Das Licht, das keine Schatten wirft, erweist sich dabei als zusätzliche Hilfe. Deutlicher als der Beistelltisch E1027 bezieht sich der Spiegel Satellite auf eine Einzelperson. Mit der Möglichkeit, sich selbst den Nacken zu rasieren, gestattet dieser Spiegel seinem Benutzer eine spezielle Form der Unabhängigkeit. Doch die „Funktion“ dieses Spiegels steht für mich nicht im Vordergrund. Mit seinem Zweck, durch ihn hindurch und über ihn hinaus überträgt der Satellite ein wunderliches Bild. 47 Spiegel Satellite im Gästezimmer der Villa E 1027 48 Eine große kreisrunde Spiegelfläche, aus der ein kleiner Kreis „ausgestanzt“ ist, derselbe, denkt man, der nun als Satellit um den großen Kreis zu kreisen scheint. Er hat keinen eigenen Rahmen und wirkt ebenso groß wie das „Stanzloch“. Doch bei näherem Hinsehen sieht man sich selbst – und zwar in Übergröße. Fast erschreckend, plötzlich ein großes Auge zu sehen, zudem sein eigenes. Man dachte, der kleine Spiegel sei nur ein Teil des großen. Nun erweist er sich im Vergleich als ebenso stark, vielleicht noch stärker. Es scheint, als habe er die ganze Kraft des großen Spiegels in sich konzentriert und sei bereit, sich mit diesem zu messen. Es fällt mir nicht schwer, es so zu formulieren, findet doch tatsächlich eine Art Kräfte-messen statt, wenn die Reflexion zwischen den Spiegelflächen hin und her geworfen wird. Über dem Ganzen ein sanftes, geradezu besänftigendes Licht, ausgehend vom eigentlichen Zentrum der Satellitenlaufbahn, einer „Sonne“, die in der Reflexion des Raumes zu schweben scheint. Und obgleich die Elemente kreisrund sind – selbst die Rahmenhalter sind es – gibt es keine Symmetrie. So stehen alle Teile in einem dynamischen Verhältnis zueinander. Wenn ich im Folgenden beschreibe, unter welchen Kriterien der Satellitenspiegel möglicherweise entstand, dann beziehe ich mich auf eine Hypothese, die von Hecker und Müller entwickelt wurde, um den Prozeß zu erläutern, durch den Gray zum Entwurf ihrer Architekturprojekte gelangte.20 49 Gray definiert zunächst das Konzept des Gegenstands, indem sie festlegt, welche Elemente für seinen Gebrauch benötigt werden. In diesem Fall sind es drei: erstens ein Wandspiegel, zweitens ein Vergrößerungsspiegel, der sich in Gegenüberstellung zum ersten Spiegel arritieren läßt, und drittens eine Leuchte. Parallel entwickelt Gray eine Bildvorstellung, in der sich die Bezüge der Elemente zueinander ausdrücken, nämlich das Kreisen eines beweglichen Elements um ein festes Zentrum, einen Fixpunkt. Beide Schemen, die konzeptuelle Gliederung des Gegenstands und der bildhafte Ausdruck seines Zusammenhangs, werden im Entwurf miteinander verbunden. Selbstverständlich handelt es sich hier um eine theoretische Darstellung des Entwurfsprozesses. In der Praxis beeinflussen sich beide Schemen wechselseitig. Dennoch wird anhand dieser Analyse etwas deutlich: Gray schafft den formalen Zusammenhalt der funktionalen Elemente unter Verwendung eines Bildes, das einer eigenen Gesetzmäßigkeit folgt. So wird der Gegenstand nicht nur durch seinen Zweck definiert, sondern auch durch eine formale „Logik“ bestimmt. Die Schemen widersprechen sich nicht, sondern ergänzen sich zu einem Ganzen, das auf doppeltem Wege zugänglich ist. 50 6. Die Röhrenleuchte (um 1935) 51 In der Zeit von 1932 bis 1935 baute Gray ihr zweites Haus in Castellar, rund 50 km nördlich von Roquebrune in den Bergen. Sie nannte es Tempe à Pialla (Erntezeit). Im Zusammenhang mit diesem Projekt entwickelte Gray eine Reihe von Möbeln, die hinsichtlich der verwendeten Materialien und der Herstellungsmethoden, auch in ihrer Gestalt insgesamt viel reduzierter waren als jene, die sie für die Villa E1027 entworfen hatte. In dieser Zeit entstand die berühmte Röhrenleuchte. Als Leuchtmittel diente eine röhrenförmige Glühlampe, die bis dahin hauptsächlich im gewerblichen Bereich eingesetzt worden war. Heute wird Grays Röhrenleuchte mit einer Linestra-Lampe bestückt. Gray hatte röhrenförmige Lampen bereits häufiger verwendet. Ein frühes Beispiel ist die längliche Leuchte, die im Wohnraum der Villa E1027 an der Wand befestigt war. In diesem Fall wurde die Lampe durch einen Metallschirm verdeckt und beleuchtete den Raum nur indirekt. Eine kleinere Röhrenlampe gehörte auch zur Ausstattung des Ruhebetts, das sich in einer Nische desselben Raumes befand. Abgehängt von der Decke hatten röhrenförmige Glühlampen bereits im Bauhaus Verwendung gefunden. Walter Gropius hatte sie in das Beleuchtungssystem seines Direktorenzimmers von 1923 integriert. 52 Ein früheres Beispiel für die Verwendung dieser Lampe ist die Hartog-Leuchte, die Gerrit Rietveld 1922 entwarf. Grays Pionierleistung war es, die Röhrenlampe von der Decke zu holen und in den Wohnbereich zu stellen. Sie verwendete ein Leuchtmittel mit seitlichen Anschlüssen. So wurde die Lampe endgültig freigestellt. Sie gleicht einer Linie aus Licht, die sich durch die Reflexion des verchromten Metallfußes in den Boden verlängert. Für mich markiert die Röhrenleuchte den Endpunkt einer Entwicklung. Sie ist auf das Wesentliche reduziert, im Grunde nur noch Licht. Indem sie jegliche Verkleidung abgelegt hat, ist die Lampe selbst zur Leuchte geworden. Ich zähle die Röhrenleuchte zu den letzten bedeutenden Möbelentwürfen Grays. In der Zeit nach 1935 widmete sich Gray zunehmend der Architektur. Obgleich sie weiterhin mit verschiedenen Materialien experimentierte und einzelne Objekte herstellte, entstanden ab Mitte der 30er Jahre in erster Linie Architekturentwürfe. Diese blieben ausnahmslos fiktiv. 53 Die Reflexion Die Gegenstände, die ich vorgestellt habe, sind nur Bruchstücke eines Werkes, das durch eine große Vielfalt gekennzeichnet ist. Ein Bekannter fragte mich, nachdem er ein Buch mit Abbildungen von Grays Möbeln durchgeblättert hatte: „Und was ist von Eileen Gray?“ Grays Arbeiten entstanden in der Auseinandersetzung mit Erscheinungen und Ereignissen ihrer Zeit. Beim Zugriff auf Vorhandenes entwickelte Gray jedoch etwas Eigenes. Ich bezeichne den Prozeß, in dem dies geschah, als eine besondere Art der Reflexion. Reflektieren bedeutet 1. spiegeln, zurückwerfen und 2. überlegen, nachdenken. Spricht man von einem Menschen, der reflektiert, so meint man, daß er beides tut. Im Prozeß der Überlegung selbst findet eine Art der Spiegelung statt, wenn sich ein Gedanke zwischen verschiedenen Gesichtspunkten hin und her bewegt. Doch nicht nur im Kopf, auch im Bezug zur Umwelt wird reflektiert. Grundsätzlich verstehe ich die Reflexion als das „Auffangen“ und „Zurückwerfen“ einer Sache. Ich meine, daß Gray Phänomene „auffängt“ und in ihren Entwürfen „zurückwirft“. Dazwischen, sozusagen im Moment der Spiegelung, vollzieht sich ein Wandel. Das „Aufgefangene“ wird zerlegt. Seine Teile werden voneinander getrennt oder neu kombiniert und wieder zusammengesetzt. 54 Diese Verwandlung nenne ich, um im Bild des Spiegels zu sprechen, eine „Verzerrung“. Die Leistung, die an ihr vollbracht wird, bezeichne ich als die Reflexionsarbeit. Ich habe bereits am Beispiel des De-Stijl-Tisches erläutert, in welcher Weise Gray die Gestaltungsprinzipien des Stijl reflektierte. Sie griff das Verdikt der Formel auf. Dieses wurde im Reflexionsprozeß mit Vorgängen der plastischen Verformung kombiniert. Daraus gingen neue Regeln für die Gestaltung hervor. Doch wie erklärt sich das Wesen der Reflexionsarbeit an anderen Beispielen? Ich beziehe mich zunächst auf den Transat. Ist dieser Sessel das „Zurückgeworfene“, so muß es im Sinne meines Erklärungsmodells etwas geben, das zuerst „aufgefangen“ wurde. An diese Stelle setze ich den Deckstuhl. Ich habe bereits erläutert, daß der Transat beweglich zu sein scheint. Der Deckstuhl hingegen ist es tatsächlich. Er läßt sich zusammenklappen, wobei sich die eingehängte Sitzfläche zusammenfaltet. So ist der Deckstuhl leicht zu transportieren und platzsparend zu lagern. Dies muß er sein. Schließlich ist er nur phasenweise in Gebrauch und im übrigen eher ein Hindernis. Im Prozeß der Reflexion wird der Deckstuhl seiner Pflicht als Klappmöbel entledigt. So treten seine Merkmale deutlich hervor: die fließende Form der eingehängten Sitzfläche als Zeichen der Entspannung und der Ruhe, dagegen die 55 filigrane und bewegliche Bauweise seines Gestells, mit der eine gewisse Ruhelosigkeit stets präsent ist. Damit ist in der Gestalt des Deckstuhls ein Gegensatz angelegt. Dieser wird verarbeitet und in der Gestalt des Transat „zurückgeworfen“. In diesem Möbel ist der Deckstuhl nur noch zeichenhaft enthalten. Seine Merkmale sind aus ihrem funktionalen Zusammenhang herausgerissen: die Sitzfläche muß sich nicht mehr zusammenfalten, die Beweglichkeit des Gestells ist nur noch Schein, keine Wirklichkeit. Der Deckstuhl wurde „verzerrt“. In einem Artikel, der im September 1988 in der Zeitschrift Domus erschien, schrieb Marco Romanelli über den Transat: «Anhand der entfernten, doch offensichtlichen Verbindung zum Deckstuhl kann man erkennen, daß Eileen es für eine Notwendigkeit hielt, die Anonymität der Standard-Typen von Le Corbusier sozusagen zu humanisieren.»22 Weiter ausgeführt wurde dieser Gedanke nicht. Betrachtet man den Deckstuhl als einen «Standard-Typ» – als die optimierte Gestalt eines Gegenstandes im Sinne seiner Funktionen –, so wird das, was ich „Verzerrung“ nenne, von Romanelli als eine Art der „Vermenschlichung“ interpretiert. Die Motivation zu dieser Verwandlung deutet er als reaktiv. Ich finde es problematisch, Grays Entwürfe ausschließlich in der Reaktion zu den Theorien ihrer Kollegen zu verstehen. 56 Die „Anonymität“ der Standard-Typen von Le Corbusier „vermenschlichen“ zu wollen, scheint mir in diesem Fall nicht das eigentliche Motiv zu sein. Ferner ist kritisch zu bewerten, daß Romanelli scheinbar objektive Begriffe verwendet, deren Bedeutung er nicht erläutert. Was heißt Humanisierung der Anonymität? Durch den Verlust seiner funktionalen Bedingtheit wird der Deckstuhl für mich vor allem eines: zum Sinnbild der Entspannung auf der Reise in ferne Länder. Als Deckstuhl-Differenz ist der Transat seine formale und zeichenhafte Essenz. Gray sagte: «Jedes Kunstwerk ist symbolisch. Es vermittelt, es deutet das Wesentliche eher an, als es darzustellen.» Badovici fragte: «Wie aber verleiht man einer Zeit Ausdruck und besonders einer Zeit wie der unseren, so voller Widersprüche, in der die Vergangenheit auf so vielfältige Weise weiterlebt und in der man andererseits derart extreme Ansichten findet?» Gray: «In der Vielzahl dieser widersprüchlichen Elemente ist es an den Künstlern, diejenigen zu finden, die den intellektuellen und emotionalen Rahmen für den Menschen als Einzelwesen und als Teil der Gesellschaft bilden.»21 Ausdruck der Widersprüchlichkeit seiner Zeit ist der Bibendum-Sessel in mehrfacher Hinsicht. Zwei Phänomene wurden in den Prozeß der Reflexion aufgenommen und miteinander verbunden: der traditionelle Polstersessel und der Pneu. 57 Doch ein drittes und eigentliches Zeitphänomen wurde gleichsam reflektiert: die Emanzipation der Frau. Die „moderne Frau“ der 20er Jahre rauchte Zigaretten, besuchte Frauen-Clubs und lenkte ihren eigenen Wagen. Ich denke an Natalie Barneys Freitag-Salon und den Sonnabend-Club von Gertrude Stein. Und ich sehe Tamara de Lempickas Selbstbildnis im Auto – Tamara im grünen Bugatti – von 1925. Hanna Gagel schreibt über dieses Bild: «Als mondän geschminkte Dame übernimmt [Lempicka] die traditionelle männliche Rolle, die des Verführers und Wagenlenkers, mit sichtlichem Genuß. [...] Lempicka vermischt mit Eleganz und Können weibliche und männliche Rollenmuster, statt aus den Rollen auszusteigen.»23 Ich habe den formalen Widerspruch, der im BibendumSessel seinen Ausdruck findet, als humoristisch empfunden. Unter Einbezug der Frauenbewegung in den 20er Jahren verstärkt sich meine Empfindung. Wie Lempicka hat auch Gray die «Rollenmuster» nicht verlassen. Ich habe bereits beschrieben, auf welche Weise sie dem traditionellen Polstersessel seine repräsentative Prägung nahm: Gray überhöhte ihn und verunsicherte ihn zugleich. 58 Der Bibendum-Sessel spiegelt die Doppelrolle, die von der Frau im eleganten Hosenanzug mit Vergnügen gespielt wurde. Er ist eine ebenso lustvolle Parodie auf ein traditionelles Leitbild. Während es möglich ist, den Bibendum-Sessel auf konkrete Gegenbeispiele zu beziehen, scheint der Beistelltisch E1027 eher vorbildlos zu sein. Was wird in diesem Fall reflektiert? Zum einen besteht für Gray der Anlaß, körperliche und emotionale Empfindungen in ihren Entwurf zu integrieren und durch diesen erfahrbar zu machen. Andererseits greift sie dabei auf das Formenrepertoir der klassischen Moderne zurück. Auch der Forderung nach „Funktionalität“ wird Gray mit ihrem Entwurf gerecht. Im Sinne seines Gebrauchs ist der Beistelltisch E1027 absolut „funktional“ – kein Merkmal, das seiner „Funktion“ nicht folgen würde: die Asymmetrie des Tisches, die Aussparung seines Bodenrings und selbst die Kette, die dafür Sorge trägt, daß man den Metallstift nicht verliert. Formal abstrakt und auf das Wesentliche reduziert ist der Beistelltisch E1027 ein harter Typ mit weichem Kern. 59 Schlußwort Ausgehend von meiner Wahrnehmung der Gegenstände und unter Einbezug des Umfelds, in dem sie entstanden, habe ich versucht, dem Ursprung ihrer Entstehung näher zu kommen. Ich stellte fest, daß Gray verschiedene Phänomene ihrer Zeit in ihre Arbeiten integrierte. Für die Weise, in der sie dies tat, entwickelte ich das Modell der „verzerrenden Reflexion“. Es handelt sich dabei nicht um eine Regel, vielmehr um eine besondere Art der Wahrnehmung und Verarbeitung von Erscheinungen und Ereignissen. Eine kritische Distanz und eine ausgeprägte Sensibilität für Widersprüchlichkeiten sind für Grays Herangehensweise charakteristisch. Habe ich den intellektuellen Aspekt ihres Werks in den Hintergrund treten lassen, so mit der Absicht, einen anderen Aspekt weiter in den Vordergrund zu rücken: Gray vermittelt durch ihre Arbeiten eine eigene „Sicht“ auf die Dinge, die nicht nur vom „Geist“, sondern auch vom „Herz“ bestimmt ist. Sie räumt ihren Empfindungen einen wesentlichen Stellenwert in ihrer Wahrnehmung ein und läßt sie in ihre Arbeiten einfließen. Darin besteht für mich die besondere Qualität des Werks von Eileen Gray – eine seltene „Beherztheit“, mit der sich ihre Arbeiten über Traditionen, Theorien und Prinzipien hinwegsetzen. Obgleich es mir schwer gefallen ist, dies anhand von konkreten Beispielen darzustellen, da es sich meiner Analyse immer wieder entzog, so war und ist es doch eben diese Kühnheit, die ich an Eileen Gray bewundere. 60 Anmerkungen 1 Peter Adam, Eileen Gray, Schaffhausen 1989, S. 21 2 Sonja Günther, «Leitbilder International», Frauen im Design, Ausstellungskatalog Teil 1, Design Center, Stuttgart 1989, S. 23 3 Peter Adam, ibid., S. 50, zit. nach: Andrée Dorac-Gerbaud, L’Art du Lacque, Paris 1973 4 Peter Adam, ibid., S. 54 5 Peter Adam, ibid., S. 50 6 Alastair Duncan, Art Déco: Die Möbelkunst der französischen Designer, Stuttgart 1986, S. 12 7 Peter Adam, ibid., S. 135 8 Peter Adam, ibid., S. 165, zit. nach: Jean Badovici, «L’Art d’Eileen Gray», Wendingen (Amsterdam), Serie 6, Nr. 6, 1924 9 Peter Vöge, The Complete Rietveld Furniture, Rotterdam 1993, S. 60 10 Bruno Reichlin, «Das Faß des Diogenes wird wohnlich», Archithese (Heiden, Schweiz), Nr. 4, 1991, S. 73 –74 11 Peter Adam, ibid., S. 367 12 Klaus-Jürgen Sembach, Gabriele Leuthäuser, Peter Gössel, Möbeldesign des 20. Jahrhunderts, Köln 1993, S. 133 13 Peter Adam, ibid., S. 375 14 http:// www. michelin.com 15 Adam, ibid., S. 102 16 Adam, ibid., S. 191 62 17 Caroline Constant, «Architektur und Freizeitpolitik», Eine Architektur für alle Sinne: Die Arbeiten von Eileen Gray, Ausstellungskatalog, Frankfurt / Main 1996, S. 155, zit. nach: Eileen Gray und Jean Badovici, «La Maison Minimum», L’Architecture d’Aujourd’hui, Serie 1, Nr. 1, 1930, S. 64 18 Eileen Gray und Jean Badovici, «Vom Ekelektizismus zum Zweifel», Eine Architektur für alle Sinne: Die Arbeiten von Eileen Gray, ibid.,S. 68 –71, zit. nach: «De l’Eclectisme au Doute», L’Architecture Vivante (Paris), Winter 1929, S. 17 – 21 19 Hanna Gagel, Den eigenen Augen trauen, Gießen 1995, S. 29 20 Stefan Hecker und Christian F. Müller, «Eileen Gray oder ein unbekümmerter Umgang mit der Moderne», Archithese (Heiden, Schweiz), Nr. 4, 1991, S. 26 21 Eileen Gray und Jean Badovici, «Vom Ekelektizismus zum Zweifel», Eine Architektur für alle Sinne: Die Arbeiten von Eileen Gray, ibid.,S. 68 22 Marco Romanelli, «Eileen Gray», Domus (Mailand), Nr. 697, September 1988, S. 85 23 Hanna Gagel, ibid., S. 74 63 Literaturnachweis Peter Adam, Eileen Gray, Schaffhausen 1989 François Baudot, Eileen Gray, London 1998 Alastair Duncan, Art Déco: Die Möbelkunst der französischen Designer, Stuttgart 1986 Eine Architektur für alle Sinne: Die Arbeiten von Eileen Gray, Ausstellungskatalog, Frankfurt/Main 1996 Hanna Gagel, Den eigenen Augen trauen, Gießen 1995 Philippe Garner, Eileen Gray, Designer and Architect, Köln 1993 Sonja Günther, «Leitbilder International», Frauen im Design, Ausstellungskatalog I, Design Center, Stuttgart 1989 Stefan Hecker und Christian F. Müller, «Eileen Gray oder ein unbekümmerter Umgang mit der Moderne», Archithese (Heiden, Schweiz), Nr. 4, 1991 H. L. C. Jaffé, «De Stijl», De Stijl, Ausstellungskatalog, Museum am Ostwall, Dortmund 1964 J. Stewart Johnson, Eileen Gray, Designer, Ausstellungskatalog, MOMA, New York 1979 Kunstforum Bd. 120 und 121, Kunst und Humor, I und II 64 Brigitte Loye, Eileen Gray, Vignier 1984 Paul Maenz, Art Deco 1920 –1940, Köln 1974 Luigi Pirandello, Der Humor, aus d. Ital. von Johannes Thomas, Mindelheim 1986 Bruno Reichlin, «Das Faß des Diogenes wird wohnlich», Archithese (Heiden, Schweiz), Nr. 4, 1991 Marco Romanelli, «Eileen Gray», Domus (Mailand), Nr. 697, September 1988 Joseph Rykwert, «Un Omaggio a Eileen Gray, Pioniera del Design», Domus (Mailand), Nr. 469, 12 /1968, S. 23 – 34 Klaus-Jürgen Sembach, Gabriele Leuthäuser, Peter Gössel, Möbeldesign des 20. Jahrhunderts, Köln 1993 Dennis Sharp, Architektur im 20. Jahrhundert, München 1973 Paul Valéry, Eupalinos oder Der Architekt, übertragen von Rainer Maria Rilke, Suhrkamp Verlag, Bd. 370, 1973 Peter Vöge, The Complete Rietveld Furniture, Rotterdam 1993 65