Eileen Gray - Leslie Strohmeyer

Transcrição

Eileen Gray - Leslie Strohmeyer
EILEEN GRAY
Theoretische Diplomarbeit
im Studiengang Industrie-Design
an der HfbK Hamburg
Leslie Strohmeyer
Prüfer:
Prof. C. Friemert
Prof. L. Rosenbusch
September 1999
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1
Einleitung
3
Die Kunst des Lackierens
7
Die Wende
13
1. Der De-Stijl-Tisch
17
2. Der Transat
23
3. Der Bibendum-Sessel
31
4. Der Beistelltisch E 1027
39
5. Der Spiegel Satellite
47
6. Die Röhrenleuchte
51
Die Reflexion
54
Schlußwort
60
Anmerkungen
62
Literaturnachweis
64
Vorwort
So einfach es ist, sich von Grays Arbeiten verzaubern zu
lassen, so schwierig ist es, diesen Zauber zu ergründen.
Dabei spreche ich nicht nur für mich selbst. Diverse
Autoren, die sich mit Grays Werk beschäftigt haben, schreiben von einem Geist, einem Esprit, vom Charme, vom Witz,
von einer Poesie, d.h. sie benutzen diese Begriffe, doch
dabei bleibt es.
Der Frage nach dem Ursprung der Empfindungen, die
durch Grays Arbeiten hervorgerufen werden, geht man aus
dem Weg. – Wieso?
In der Tat weiß man nur sehr wenig über die Motive, die
Gray zu ihren Entwürfen bewogen haben. Bevor sie starb,
verbrannte sie einen Großteil ihrer Unterlagen, die vielleicht einige Hinweise auf den Entstehungsprozeß ihrer
Arbeiten enthalten hätten.
Eine kleine Hilfestellung hat Gray ihrer Nachwelt allerdings gegeben: viele ihrer Arbeiten tragen einen Namen.
Dieser war für mich in mehreren Fällen ein wichtiger
Schlüssel zum Verständnis des Gegenstands.
Viele Entwürfe Grays offenbarten sich mir jedoch erst
unter Einbezug ihres Umfelds und der Zeit, in der sie entstanden. Meine Beschäftigung mit Grays persönlicher
Geschichte bildete eine weitere Voraussetzung für die
Interpretation ihrer Arbeiten.
Ich fühle mich über jeden Zweifel erhaben, wenn ich sage,
daß ihre Persönlichkeit und ihre Gedanken in vielen ihrer
Entwürfe zu finden sind.
1
Das Wissen, das ich über diese Frau, ihren Werdegang und
über die Zeit, in der sie lebte, sammeln konnte, bestärkte
meinen ersten Eindruck von ihren Möbeln: einige sind
stumm, doch viele können sprechen.
So möchte ich bei den Dingen bleiben.
Einleitend werde ich erzählen, woher Gray stammte,
wie ihre Laufbahn begann – als Lackkünstlerin –, welche
Arbeitsweise sie entwickelte und fortsetzte. Ich werde
allerdings auf eine eingehende Beschreibung ihrer Lackarbeiten verzichten. Vielmehr wird sich der zweite Teil meiner Arbeit auf eine enge Auswahl von Gegenständen konzentrieren, welche erst nach Abschluß der ersten Phase,
also in der Zeit nach 1923 entstanden, da Gray sich vom
Kunsthandwerk abgewendet hatte und in den Kontext der
sogenannten klassischen Moderne getreten war.
2
Einleitung
Eileen Gray (S 1878 – = 1976) entstammte einer Adelsfamilie. Die Herkunft ihrer Mutter, Eveleen Gray, läßt sich
bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen, als der erste Lord
Gray der Haushaltsverwalter von König James II war.
Ihr Vater entstammte der oberen Mittelklasse. Er hieß
James Maclaren Smith und war Landschaftsmaler.
Eileen Gray wurde als das jüngste von fünf Kindern am
9. August 1878 in Brownswood, dem Haus der Familie bei
Enniscorthy in Irland geboren.
Im Alter von 23 Jahren ging sie von zuhause fort.
Zunächst studierte sie an der Slade School of Fine Arts
in London, hauptsächlich Malen und Zeichnen.
Sie war nicht, wie gerne behauptet wird, eine der ersten
Frauen an diesem Institut. Zu ihrer Zeit studierten dort 168
Frauen und 60 Männer.1
Diese Zahlen mögen vielleicht den Anschein von Fortschrittlichkeit erwecken. Man hielt es jedoch damals in
höheren Kreisen für sinnvoll, die Tochter für einige Zeit auf
eine Kunstschule zu schicken, bevor man sie in den Bund
der Ehe entließ.2
Entsprechend unambitioniert wird sich die Lehre an der
Slade School allgemein gestaltet haben. Dies war vielleicht
ein Grund für Gray, 1902 nach Paris zu gehen und dort ihr
Studium fortzusetzen.
Anders als zuvor in London war es ihr als alleinstehender
Frau in Paris zu dieser Zeit bereits möglich, sich sehr viel
freier zu bewegen.
3
Daß Gray in dieser Stadt, fern von ihrer Heimat, eine
neue Identität entwickeln konnte, bedarf eigentlich keiner
Erklärung. Der Wandel ihres Äußeren – ihrer Kleidung,
ihrer Frisur –, geht aus einer Reihe von Fotografien hervor
und belegt ihre Entwicklung. Bis Mitte der 20er Jahre hatte
sich das viktorianische Mädchen von einst in die Frau verwandelt, deren Bild man heute kennt.
4
Eileen Gray, fotografiert von Berenice Abbott, 1926
5
«Le Magicien de la Nuit», Lackpaneel, 1912
6
Die Kunst des Lackierens
Es wird oft behauptet, Gray hätte das Handwerk des Lackierens bereits während ihrer Studienzeit in London erlernt.
Laut der Biografie von Peter Adam studierte Gray bereits
seit drei Jahren in Paris, als sie 1905 in London das kleine
Lackreperaturgeschäft von Mr. D. Charles entdeckte.
Dort absolvierte sie ein Praktikum. In der Folgezeit
wandte Gray sich immer wieder an Mr. D. Charles, wenn
sie Materialproben oder seinen Rat benötigte. Über Charles
kam auch der Kontakt zu dem Japaner Sugawara zustande,
der in den kommenden Jahren Grays Lehrmeister sein
würde.
Sugawara stammte aus Jahoji, einem kleinen japanischen
Dorf, das für seine Lackkunst bekannt war. Er war nach
Paris gekommen, um die japanischen Exponate für die
Weltausstellung im Jahr 1900 zu restaurieren. Danach war
er in Paris geblieben.
Obwohl das französische Möbeldesign seinem Können
viel zu verdanken hat, trat Sugawara selbst nie mit eigenen
Arbeiten hervor.3
Die Kunst des Lackierens ist bekanntlich ein äußerst
anspruchsvolles Handwerk. Neben großer Kunstfertigkeit
erfordert es viel Geduld, wenn nicht sogar Starrsinn.
Mindestens 22 und bis zu 40 Arbeitsschritte sind nötig,
um eine Lackoberfläche herzustellen. Die Aushärtung jeder
einzelnen Schicht nimmt drei Tage Wartezeit in Anspruch.
Der Lack selbst besteht aus Harz, gewonnen aus der Rinde
ostasiatischer Bäume, vermischt mit Öl, Eisensulfaten, Reisessig und anderem mehr.
7
Wird der Lack versehentlich zu dick aufgetragen, löst
sich die untere Schicht, und man darf von vorne beginnen.
Nebenbei verursacht er einen schmerzhaften Hautausschlag an Händen und Unterarmen.
Anfangs arbeitete Gray mit Sugawara in ihrer Wohnung in
der Rue Bonaparte (die sie 1907 bezogen hatte und im
übrigen bis an ihr Lebensende als festen Wohnsitz in Paris
behielt). Später führte sie eigene Ateliers.
Nach dem ersten Weltkrieg, auf dem Höhepunkt ihrer
Lackproduktion, waren neben Sugawara zusätzliche Hilfskräfte bei Gray angestellt. Sie wurden in einem kleinen
Haus an der Seine untergebracht, in welchem sich auch
die Werkstatt befand.
Gray experimentierte mit verschiedenen Rezepturen und
Techniken, um unterschiedliche Farben und Oberflächentexturen zu erreichen. Sie führte ein Buch, in dem sie die
Ergebnisse ihrer Versuche peinlichst genau notierte.
Eine besondere Leistung, die Gray auf dem Gebiet des
Lackierens vollbrachte, war die Entwicklung einer Rezeptur
für die Farbe Blau. Das Problem bei der Herstellung dieser
Farbe ist ihre Tendenz, ins Grüne umzuschlagen.4
Auf dem Gebiet der traditionellen Lackkunst zählt Gray in
der Tat zu den großen Meistern.5
Sie war die erste, die das japanische Handwerk des
Lackierens mit Erfolg in das Möbeldesign des beginnenden
20. Jahrhunderts einführte.6
8
Lotus -Tisch, um 1915
Beistelltisch, um 1920 – 23
9
Grays Arbeitsorganisation beruhte auf der Zusammenarbeit
mit Handwerkern. Einige arbeiteten exklusiv für sie, andere
erhielten einzelne Aufträge.
In dieser Weise verwirklichte Gray auch alle zukünftigen
Projekte. Beim Bau ihres ersten Hauses, der Villa E1027
(1926 – 29) in Roquebrune an der Côte d’Azur, arbeitete sie
Hand in Hand mit einem Maurer und zwei Assistenten.
Eine Art „Learning-by-doing“ war dabei für Grays Arbeitsweise charakteristisch, gleich, ob es sich um die Kunst des
Lackierens, die Umsetzung ihrer Möbelentwürfe oder den
Bau von Häusern handelte. Sie erlernte viele Techniken erst
im Prozeß ihrer Anwendung. Dies war nicht zuletzt eine
Konsequenz ihrer Situation als Frau.
Zu ihrer Zeit hätte eine Tischlerlehre für sie keine Alternative dargestellt. Ebensowenig wäre sie zu einem Architekturstudium zugelassen worden.
So war sie gezwungen, sich ihr Können selbständig zu
erarbeiten. Dies tat sie, indem sie Bücher und Zeitschriften
studierte und, wie beschrieben, für die Umsetzung ihrer
Projekte Handwerker hinzuzog.
Ferner führte Gray nie ein Büro mit Angestellten, wie es
ein Architekt üblicherweise tat. Die Eigenständigkeit, mit
der sie ihre frühen Projekte bewältigt hatte, setzte sich
durchgehend fort.
Ich betrachte die Jahre, in denen Gray sich mit der Lackkunst beschäftigte, im wesentlichen als ihre Lehrjahre, als
eine Zeit des intensiven Studiums von Oberflächen, Farben,
10
Formen und Materialien. Gray entwickelte in dieser Zeit
eine eigenwillige Arbeitsweise, der sie bis zum Ende ihres
Lebens treu bleiben sollte.
Es war mir wichtig, dies herauszustellen.
Ferner wollte ich darstellen, welchen Aufwand das Handwerk des Lackierens tatsächlich bedeutete, mit welcher
Ernsthaftigkeit jedes einzelne Objekt über einen Zeitraum
von Monaten zur Vollendung geführt wurde. Umso befreiter
erscheinen die Gegenstände, die Gray in der zweiten Phase
ihrer Laufbahn entwarf.
11
Schlafzimmer-Boudoir für Monte Carlo, 1923
12
Die Wende
Nachdem Gray mit ihren Lackarbeiten seit etwa 1920 auch
außerhalb von Frankreich bekannt geworden war, hatte
sich ihr Kundenkreis stetig erweitert.
Dieser Kreis entstammte ausnahmslos der obersten
Gesellschaftsschicht, einer Elite, die in den 20er Jahren von
einem übertriebenen Verlangen nach Luxus und Prestige
beherrscht war. Dies drückte sich in einer Vorliebe für alles
„Mondäne“ und „Exotische“ aus.
Einige Lackobjekte Grays wurden dieser Mode durchaus
gerecht, doch mit zunehmender Reduzierung der Formen
und Farben konnten ihre Entwürfe den Ansprüchen ihres
Klientels nicht mehr genügen.
Diese Entwicklung spitzte sich zu, als Gray im Frühling
des Jahres 1923 im XIV. Salon des Artistes Décorateurs ihr
Schlafzimmer-Boudoir für Monte Carlo präsentierte. Es
war ihre erste Einzelausstellung.
Die Einrichtung dieses Raumes zeigte einerseits eine Affinität zum luxuriösen Art Déco, unterschied sich jedoch von
diesem durch eine ungewöhnliche formale Strenge und
durch die sparsame Bestückung mit abstrakten Möbeln.
Dem französischen „Geschmack“ dieser Zeit entsprach der
Monte-Carlo-Raum auf jeden Fall nicht.
Kritiker reagierten mit Entsetzen. Einer bezeichnete
Grays Entwürfe als »völlig übergeschnappt« und nannte sie
»die Tochter von Caligari, in all ihrem Grauen«.7
Positive Reaktionen kamen hingegen von Architekten wie
Pierre Chareau, Francis Jourdain, Robert Mallet-Stevens und
aus Holland von Jan Wils und J. J. P. Oud. Man lobte die
„moderne Ästhetik“ ihrer Möbel, deren Einfachheit und
13
Originalität, die Harmonie der Formen und Farben. In
anbetracht der Schmähungen, die Gray von seiten französischer Kritiker erhalten hatte, mag das Lob der Architekten
sie bestärkt haben, das Metier zu wechseln.
Einen wichtigen Impuls gab Jean Badovici, der auch auf
persönlicher Ebene eine wichtige Rolle in Grays Leben
spielte. Badovici stammte aus Bukarest und war kurz nach
Ende des Ersten Weltkrieges nach Paris gekommen, um
Architektur zu studieren.
Zusammen mit dem Kritiker Christian Zervos brachte
er 1923 die erste Ausgabe der Zeitschrift L’Architecture
Vivante heraus. Diese lief über einen Zeitraum von zehn
Jahren und diente Gray als ein wichtiges Lehrbuch.
Im Jahr 1924 wurde eine Ausgabe der holländischen Zeitschrift Wendingen ausschließlich der Arbeit Grays gewidmet. Darin schrieb Badovici über sie:
»Ihre Schöpfungen bezeugen eine seltene Kühnheit und
zeigen eine einmalige und eingeprägte Einbildungskraft.
Würde sie gründlichere und genauere Kenntnisse in der
Architektur besitzen und sich etwas weniger auf ihren
schöpferischen Instinkt verlassen, so könnte sie sehr gut
die ausdrucksvollste Künstlerin unserer Zeit sein.«8
Dieses Zitat gibt bereits einen Vorgeschmack darauf, wie
Grays Konfrontation mit der klassischen Moderne
verlaufen sollte.
14
Hier beginnt meine eigentliche Geschichte.
Mit geringer Unterstützung durch Badovici und im wesentlichen als Autodidaktin begann Gray im Alter von 45 Jahren
ihr Studium der Architektur. Dies geschah auf dem Höhepunkt ihrer Karriere als Lackkünstlerin.
Ihr Wissen bezog sie hauptsächlich aus Büchern und Zeitschriften. Darin vorgefundene Architekturpläne wurden
von ihr modifiziert. Sie entwarf Phantasie-Häuser und baute
Modelle.
Die Auseinandersetzung mit der Architektur wirkte sich
auch auf die Gestaltung ihrer Möbel aus. Von nun an wurde
der Entwurf im Sinne einer industriellen Produzierbarkeit
verstanden. Damit begann die Suche nach neuen Materialien und Herstellungsmethoden. Das Moment der Konstruktion rückte weiter in den Vordergrund.
Hatte Gray ihren Zugang zum Möbelentwurf ursprünglich
über die Oberfläche gefunden, so veränderte sich jetzt ihre
Sicht auf den Gegenstand: die plastische Form löste sich in
Linien und Flächen auf.
Um 1923, in der Anfangszeit dieser Phase, entstand der
De-Stijl-Tisch. Diesen werde ich an erster Stelle vorstellen.
15
De-Stijl-Tisch, um 1923
Berlin-Stuhl von Rietveld, 1923
16
1. Der De-Stijl-Tisch (um 1923)
Der Titel dieses Entwurfs stammt nicht von Eileen Gray. Er
geht aus der offenbaren Nähe des Tisches zu den Möbelentwürfen Gerrit Rietvelds hervor.
Im Folgenden werde ich den De-Stijl-Tisch mit einem Entwurf von Rietveld vergleichen – mit dem Berlin-Stuhl, der
1923 auf der Juryfreien Kunstschau in Berlin präsentiert
wurde.
Beide Entwürfe können als modellhafte Skizzen der architektonischen Entwurfsregeln ihrer Gestalter angesehen
werden. Die Prinzipien des Berlin-Stuhls treten in Rietvelds
Entwurf für das Schröder-Haus von 1924 wieder auf.9 Die
des Tisches finden Eingang in Grays Entwurf für die Villa
E1027 (1926 – 29). Darauf komme ich später zurück.
Ein augenfälliges Merkmal des De-Stijl-Tisches ist die abgerundete Ecke. Sie verbindet die linke seitliche Standfläche
des Tisches mit der vorderen Tischfläche (siehe Abb.).
Diese Verbindung wird durch einen homogenen weißen
Farbanstrich betont. Es entsteht eine Einheit, die ich im
Folgenden als das „umgeknickte Element“ bezeichne.
Eine derartige Figur findet sich beim Berlin-Stuhl nicht.
Dieser ist ausschließlich additiv zusammengesetzt. Zudem
sind die horizontalen und vertikalen Bauteile des Stuhls
durch unterschiedliche Farbgebung differenziert.
Rietvelds Anspruch war es, daß die Bedingungen der
maschinellen Produktion sich zumindest symbolhaft im
Gegenstand niederschlagen.
17
De-Stijl-Tisch, um 1923
18
Die Addition der horizontalen und vertikalen Flächen sollte
Ausdruck des Technischen sein und korrespondierte mit
den Gestaltungsprinzipien der De-Stijl-Gruppe.
Welche Bedeutung hat die Rundung der Ecke beim
De-Stijl-Tisch in diesem Zusammenhang?
Die abgerundete Eckverbindung ist ein wiederkehrendes
Merkmal der Möbel Grays.
Hier wird der abstrakte Vorgang des „Umknickens“ in
den Vordergrund gerückt, tatsächlich transparent gemacht,
dadurch, daß die Vertikale in einem schmalen Steg verlängert ist. So scheint es, als hätte man eine Fläche eingeschnitten, gleichsam wie ein Stück Pappe, einen kleinen
Teil stehengelassen, den anderen Teil in die Horizontale
umgeknickt.
Der schmale Steg, Relikt des „ursprünglichen Ganzen“,
referiert diesen Vorgang. Erst durch ihn wird deutlich, wie
die Rundung der Ecke tatsächlich zu verstehen ist: als ein
Formungszitat.
Das „Einschneiden-Umknicken“ ist dem Material des
De-Stijl-Tisches (Eichenholz) nicht immanent. Es handelt
sich hier um ein Gestaltungsprinzip.
Dieses bildet mit drei weiteren Prinzipien die «quatre
possibilités de plastiques architecturales réalisées», welche
bei der räumlichen Komposition der Villa E1027 angewandt wurden. In der Winterausgabe der Zeitschrift
L’Architecture Vivante von 1929, die der Villa gewidmet
war, wurden diese Regeln in vier Zeichnungen vorgestellt.
19
«quatre possibilités de plastiques
architecturales réalisées»
20
Bruno Reichlin erklärt, daß sich diese Prinzipien von der
contra-construction ableiten lassen, welche van Doesburg
1923 in der Galerie de l’Effort Moderne in Paris vorstellte.
Andererseit seien sie auf die composition cubique trés
difficile von Le Corbusier zurückzuführen.
Reichlin weist jedoch auf einen entscheidenden Unterschied hin: «anstatt die Raumvolumen zu addieren, wird der
Raum zerlegt. [...] Ob flach oder räumlich, sind die Figuren
nicht juxtaposiert [nebeneinandergestellt], sondern
verschachtelt.»10
Auch dies zeigt sich am Beispiel des De-Stijl-Tisches.
Seine Elemente greifen ineinander und bauen aufeinander
auf. So dient z.B. die Verlängerung der seitlichen Standfläche als Anlage für ein weiteres Element.
In ihrer Gesamtheit bilden die Bauteile des Tisches eine
Komposition, die Ausgeglichenheit und Stabilität vermittelt.
Beim Berlin-Stuhl hingegen sind die Flächen gegeneinandergestellt. Die Verbindungen der Bauteile sind unsichtbar.
Auch formal besteht kein Zusammenhalt.
Rietvelds Komposition ist weniger ein Stuhl als vielmehr
eine Skulptur.
In der Auseinandersetzung mit den Gestaltungsprinzipien
des Stijl entwickelte Gray ihre eigenen Gesetze. Doch in
Erweiterung zum additiven Prinzip führte sie Regeln ein,
die jenen gewissermaßen entgegengesetzt sind: das Einschneiden und das Umknicken. Sie schuf eine eigene
Formensprache, indem sie Vorgänge des plastischen Formens – des Eingreifens in ein Bestehendes – abstrahierte.
21
«Man kann auf gewisse Regeln nur verzichten, indem man
neue erfindet», sagte Gray.11 Der De-Stijl-Tisch ist eine
Manifestation dieser Aussage.
Ich betrachte ihn nicht als ein Möbel, sondern als ein
konkretes Beispiel für Grays Auseinandersetzung mit den
Theorien und Prinzipien ihrer Kollegen.
22
2. Der Transat – le fauteuil Transatlantique (1924 – 30)
Transat „an Deck” der Villa E 1027
23
Plakatentwurf von Cassandre, um 1930
24
Le fauteuil Transatlantique mit Rahmen aus Bergahorn, 1924 – 30
25
Die ersten Skizzen zum Transat entstanden bereits 1924,
obwohl der Entwurf erst 1930 patentiert wurde.
Es gab zwölf Ausgaben dieses Sessels, es sind allerdings
nur sechs bekannt. Diese wurden in unterschiedlichen
Versionen ausgeführt.
Das Holzgestell ist entweder aus Bergahorn hergestellt
oder schwarz lackiert. Die Materialien der Sitz- und Rückenpolster variieren zwischen schwarzem und braunem Leder,
hellgrünem Segeltuch, schwarzem Ponyfell und braunem
Leinen.
Je nach Verwendung der Materialien wirkt der Transat
sportlich bis adelig. Auf jeden Fall ist es unmöglich, ihn nur
einer Kategorie von Sitzmöbel zuzuordnen.
Der Name Transatlantique bestätigt den ersten Verdacht,
daß dieser Sessel mit dem Deckstuhl eines Ozeandampfers
verwandt ist.
In den 20er Jahren liefen mehrere französische Luxusdampfer vom Stapel, die von den Kritikern als «Museen der
Innendekoration» gefeiert wurden.12 Gray selbst unternahm
viele Schiffsreisen, u.a. nach Nordamerika und nach
Mexico.
Bei der Betrachtung des Transat verband sich die Assoziation des Deckstuhls für mich sofort mit der Frage, wie der
Klappmechanismus dieses Sessels funktionieren könnte.
Dabei stellte ich fest, daß der Transat gar kein Klappstuhl
ist! Mit Ausnahme der Rückenstütze ist dieser Sessel
unbeweglich.
26
Dennoch vermittelt er Beweglichkeit, vor allem durch die
verchromten Metallteile, die um die Verbindungspunkte des
Gestells geschlagen sind. Sie erinnern an Möbelscharniere
und lassen den Transat in seinen Knotenpunkten gelenkig
erscheinen.
Im übrigen haben die Metallteile rein dekorativen
Charakter. Als Verbindungsteile funktionieren sie nicht,
obwohl sie die Holzverbindungen sicherlich verstärken
und auf jeden Fall kaschieren.
Zur Deckstuhl-Assoziation gehört, daß die Sitzfläche in das
Gestell eingehängt ist. Diese Figur der „Dormeuse“, der
Schlafenden, wurde zum Kennzeichen des modernen Liegestuhls, der „chaise-longue“.
Was für die „chaise-longue“ im allgemeinen gilt, trifft im
übrigen auch für den Transat zu: eine einzige Sitz- bzw. Liegeposition ist möglich, Bewegungsfreiraum gibt es kaum.
In einem formalen Gegensatz zur fließenden Form der
eingehängten Sitzfläche steht die strenge Bauweise des
Gestells. Dessen Bauteile sind sehr filigran. Die Maße der
Rahmenteile und Streben betragen im Querschnitt
2,5 cm x 3 cm.
Wolf Bruns, der deutsche Vertreter der französischen
Firma Ecart International, die den Transat seit 1979
produziert, betonte, daß die Herstellung des Gestells nur
unter Verwendung von sehr hochwertigem Holz überhaupt
möglich sei.
27
Transat mit schwarzem Lackrahmen und hellgrünem Segeltuch
28
In Bezug auf die angestrebte Leichtigkeit dieses Sessels
stieß Gray mit dem Material Holz offensichtlich an eine
Grenze. In der Folgezeit verwendete sie Stahlrohr, doch im
Grunde verlangte schon der Transat nach diesem Material.
Mit Hilfe einer komplizierten Konstruktion und mit
großem handwerklichen Aufwand wurde hier etwas
erreicht, das wenig später unter Verwendung von Stahlrohr
mit viel weniger Aufwand bewältigt wurde: die Auflösung
des Sessels in filigrane Linien.
Ist die Idee der Auflösung einerseits modern, so ist der
Transat doch auch in der Vergangenheit verhaftet.
Ein Bezug zum Jugendstil zeigt sich u.a. in den abgerundeten Eckverbindungen der seitlichen Rahmenteile.
Im Verhältnis zwischen den inneren und äußeren Radien
entstehen spannungsvolle Bögen. Diese Ausformungen
dienen zur Verstärkung der statisch wichtigen Punkte des
Gestells. Gleichzeitig erinnern sie an die stilisierten knochen- oder pflanzenartigen Formen, welche man von
Jugendstilmöbeln kennt.
Anhand der Originalzeichnung wird deutlich, mit welcher Sorgfalt Gray dieses Detail behandelte: Der hintere
Bogen wurde mit Bleistift korrigiert, die Korrektur des
vorderen Bogens im Prozeß abgebrochen.
Adam schreibt, daß Gray sich noch fünfzig Jahre später
mit diesen Radien beschäftigt habe. Als Frank Stella sie
fragte, ob er den Transat für seinen Eigenbedarf nachbauen dürfe, schlug sie ihm vor, verschiedene Details
zu verändern.
29
Gray empfahl ihm u.a., die Bögen der Rahmenteile etwas
mehr abzurunden.13
Ihr fast übertriebener Perfektionismus zeigte sich auch am
Gegenstand selbst. Immer wieder wurden die Eckverbindungen der Rahmenteile mittels der Radien anders ausgeformt, so daß die verschiedenen Versionen des Transat sich
in diesem Detail unterscheiden.
Die hier beschriebene Praxis der Modifizierung ließ immer
wieder unterschiedliche Versionen desselben Prototyps
entstehen. Generell wurde kein Entwurf in derselben Art
und Weise zweimal ausgeführt, immer wieder wurde der
Gegenstand abgewandelt, wurden Details verändert oder
andere Materialien verwendet.
Offenbar betrachtete Gray den einzelnen Entwurf nicht
als eine endgültige Lösung, sondern als eine variable.
30
3. Der Bibendum -Sessel (1926 – 29)
Bibendum -Sessel in der Villa E1027, 1926 – 29
31
Der Name dieses Sessels verrät seine Verwandtschaft mit
dem Michelin-Männchen. Bibendum feierte im letzten Jahr
seinen hundertjährigen Geburtstag.
Mit dem Slogan «Nunc est bibendum» (Es ist Zeit zu trinken, nach einem Vers von Horace) war er 1898 zum ersten
Mal auf einem Plakat abgebildet, in der erhobenen Hand
ein Glas, gefüllt mit zerbrochenem Glas und Nägeln.
Dieses Bild sollte verdeutlichen, was André Michelin
bereits 1893 als Motto formuliert hatte: «Der MichelinReifen trinkt Hindernisse.»
Eine Postkarte, die um 1902 von E.L.Cousyn herausgegeben wurde
Den Streit um den Autoreifen – Hartgummi oder Pneu – ,
gewann Michelin allerdings erst in den 20er Jahren.
1924, als in Paris das Rennen um den Grand Prix stattfand, wurde mit einer großen Kampagne dafür geworben,
daß endlich auch die Pariser Omnibusse mit Michelin-Reifen ausgestattet werden sollten.
32
Ein Plakat zeigte auf der einen Seite Pariser, die in einen
herkömmlichen Bus einsteigen. Auf der anderen Seite
Schweine, die sich über eine Rampe in einen LKW mit
Pneubereifung bewegen. Dazu der Aufruf an die Pariser, ihr
Recht auf gleiche Behandlung zu fordern.14
Bibendum auf dem Grand Palais in Paris
Dies ist der Hintergrund, vor dem der Bibendum-Sessel
entstand: ein kraftstrotzendes Männchen, das in Anspielung
auf den Wohlstand der damals kleinen Gruppe von Autofahrern mit Zigarre auftrat, eine populäre Figur – man sagt,
die populärste Figur weltweit –, der Mittelpunkt einer Werbekampagne, die sicherlich viel Gesprächsstoff lieferte.
Ob das Michelin-Männchen tatsächlich als Inspiration
diente, läßt sich nicht nachweisen. Ich denke, ja.
Im Paris der 20er Jahre hätte jedes Kind gewußt, wer
Bibendum war und wie seine Botschaft lautete.
33
Neuproduktion des Bibendum-Sessels in den Farben
schwarz und weiß
34
Wäre der Bibendum-Sessel aus Plastik und mit Luft gefüllt
– der erste Gedanke, wenn man ihn heute sieht –, dann
könnte er sich ohne weiteres zu den Pneu-Möbeln der 60er
Jahre gesellen. Stattdessen ist er gepolstert und mit weißem
Leder bezogen.
Als voluminöser Polstersessel folgt er der Tradition des englischen Clubsessels, eines ausgesprochen „männlichen“
Möbels. Wenn man bedenkt, was mit dem Michelin-Männchen in Verbindung steht – das Auto, der Grand Prix, die
Zigarre –, dann erkennt man hier einen Zusammenhang.
Andererseits ist das Michelin-Männchen, ich habe es
bereits angedeutet, eine humoristische Figur: Bibendum
verkörpert Kraft und Kampfgeist, gleichzeitig ist er weich,
dick und rund. Das macht ihn so sympathisch. Man bewundert seinen Optimismus und man kann über ihn lachen –
nicht ohne dabei auch über sich selbst zu lachen.
Wenn Gray aus dieser Figur den Bibendum-Sessel entwickelte, so bestand ihre Leistung nicht nur darin, ein
Phänomen ihrer Zeit zu reflektieren. Sie selbst schuf eine
humoristische Figur, und zwar im Hinblick auf den
traditionellen Polstersessel.
Sie entführte ihn aus seinem Zimmer, dem Herrenzimmer,
zog ihm den Boden unter den Füßen weg und setzte ihn
auf ein Stahlrohrgestell, fütterte ihn, damit er noch fetter
werden würde, bis er fast platzte, nahm ihm alles, was ihm
Respekt verschaffte. Schwer und plump saß er nun selbst
auf seinem zarten Gestell, und, indem er dies tat, offenbarte
35
er sein eigentliches Wesen, seine Bequemlichkeit. Er stand
nicht mehr mächtig im Raum und repräsentierte Stärke und
Beständigkeit, im Gegenteil: er beanspruchte für sich gar
keinen festen Platz mehr und wirkte fast ein bißchen wacklig auf den Beinen.
Diese Instabilität erzeugt einen Widerspruch, der ähnlich
wie das Michelin-Männchen humoristisch empfunden
werden kann.
P.S.: Gray war eine begeisterte Autofahrerin.
36
36
Gray verkaufte zwei Bibendum-Sessel an Madame MathieuLévy, die wohlhabende Besitzerin des Modegeschäfts, das
unter dem Namen Suzanne Talbot bekannt war, und für
die Gray in der Zeit von 1919 bis 1923 das Apartment in
der Rue de Lota komplett eingerichtet und diverse Lackmöbel angefertigt hatte.
Anfang der 30er Jahre hatte Madame dieselbe Wohnung
von Paul Ruaud umgestalten lassen. In dem Ambiente, das
er kreiert hatte, traf Grays Bibendum-Sessel mit Entwürfen
aus ihrer „mondänen Phase“ wieder zusammen und stand
dort u.a. neben ihrem Schlangensessel (1919 – 23). Zu
sehen ist hier im übrigen auch Grays Lota-Sofa von 1930.
Diese Fotografie wurde 1933 in der Zeitschrift
L’Illustration veröffentlicht. Es ist für die Art der Behandlung, die Grays Arbeit erfuhr, leider bezeichnend, daß ihr
Beitrag zur Gestaltung dieses Apartments mit keinem Wort
erwähnt wurde.15
37
Beistelltisch E 1027 (1926 – 29)
38
4 . Der Beistelltisch E 1027 (1926 – 29)
Dieser Tisch entstand, wie sein Name schon sagt, im
Zusammenhang mit der Villa E1027, also in der Zeit von
1926 bis 1929. Er wurde in sechs Exemplaren ausgeführt.
Sein Gestell wurde jeweils aus verchromten Stahlrohr hergetellt. Für die eingesetzte Tischplatte verwendete Gray
entweder Glas oder schwarz emailiertes Metall.
Das besondere Kennzeichen des Beistelltisches E1027 ist
seine Höhenverstellbarkeit. Zwei Teleskoprohre erlauben
es, die kreisrunde Tischplatte vertikal zu bewegen, aus ihrer
niedrigsten Position von 53 cm auf eine Höhe von 96 cm.
Ein Metallstift, der mittels einer Kette am Tisch befestigt ist,
damit er nicht verloren geht, dient der Arretierung.
Grundlage dieser einfachen Idee ist die Erkenntnis, daß
man zwei unterschiedlich dicke Stahlrohre ineinander
stecken kann. Diese Möglichkeit fand außer beim Beistelltisch E1027 bei keinem anderen Stahlrohrmöbel seiner
Zeit Verwendung.
Interessant ist auch der Gebrauch dieses Tisches. Er ist
leicht, man kann ihn greifen und mit sich nehmen, z.B. zum
Bett. Er läßt sich direkt an die Bettkante schieben, ohne
daß zu viele Beine stören würden. Hier erweist es sich als
Vorteil, daß man die Höhe der Tischplatte verstellen kann.
Der Tisch paßt sich seinem Benutzer an.
Die Bezeichnung E1027 ist eine Verschlüsselung. E steht
für Eileen, 10 für Jean (Das J ist der zehnte Buchstabe im
Alphabet.), 2 für Badovici und 7 für Gray.
Jean Badovicis Initialien sind eingeklammert. Darin
drückt sich sein Beitrag zum Entwurf der Villa E1027 aus.
39
Beistelltisch E 1027 im Gästezimmer der Villa E 1027
40
Er war der Initiator dieses Projekts und betreute den Entwurfsprozeß. Im wesentlichen fungierte Badovici als Grays
Berater bei technischen Fragen. Gray sagte: «Er hatte gute
Ideen für das Dach.»16
Der Name des Beistelltisches wurde von der Villa übernommen. Er geht nicht auf Badovicis Beteiligung an diesem
Entwurf zurück. Vielmehr drückt sich im Namen dieses
Tisches eine konzeptuelle Verwandtschaft mit der Villa aus.
Gray nannte die Villa E1027 ein «Maison Mininimum» –
«Minimum an Raum, Maximum an Komfort».17 Diese
Bezeichnung impliziert eine Frage, die bereits damals kontrovers diskutiert wurde.
Auf der einen Seite stand das soziale Bewußtsein, das
Bemühen, mit einer Standardisierung im Design und in der
Architektur auf die sozialen und ökonomischen Verhältnisse zu reagieren. Auf der anderen Seite wurde aus einer
eher defensiven Haltung heraus die Auffassung vertreten,
daß nur die individuellen Werke der Künstler dem menschlichen Bedürfnis nach Vielfalt, Eleganz und Bequemlichkeit
gerecht würden.
Wenn Gray das Thema des minimalen Raums mit dem
Wunsch nach maximalem Komfort verband, so verdeutlicht
dies die Sonderposition, die sie zwischen den Fronten
einnahm. Die Möbel, die sie für ihre Häuser entwarf, verstand sie als Prototypen für die industrielle Produktion. Sie
verwendete industriell vorgefertigte Teile sowohl beim Bau
ihrer Häuser als auch bei deren Einrichtung.
41
Andererseits besaß Gray einen besonderen Sinn für
Komfort, der sich nicht zuletzt von ihrer aristokratischen
Herkunft ableitete.
Von diesem Standpunkt aus entwickelte sie eine Entwurfshaltung, die sich zwar am Gebrauchswert orientierte,
für diesen jedoch eigene Maßstäbe setzte.
Entgegen der Gewohnheit ihrer männlichen Kollegen, die
eigene Position als Heilslehre zu propagieren, äußerte sich
Gray nur selten in schriftlicher Form. Die Hauptpunkte
ihrer Überzeugung finden sich in einem Text, der 1929
zusammen mit Plänen und Abbildungen der Villa E1027 in
der Winterausgabe der Zeitschrift L’Architecture Vivante
veröffentlicht wurde. Dieser Text ist im Dialog mit Badovici
verfaßt. Der Titel lautet «De L’Eclectisme au Doute» – vom
Eklektizismus zum Zweifel.
Darin beklagte sich Gray, daß die Technik zur Hauptbeschäftigung geworden sei, und sagte: «Indem man an die
Mittel denkt, vergißt man das Ziel.» Es gelte, das menschliche Wesen in seiner plastischen Form, den menschlichen
Willen hinter der materiellen Front und das Pathos des
modernen Lebens wiederzuentdecken.
Sie plädierte für eine Rückkehr zum Gefühl, «zu einer
vom Wissen geläuterten und von der Vorstellung bereicherten Emotion», und das schließe gewiß nicht Kenntnis und
Verstehen wissenschaftlicher Errungenschaften aus.
Die Inspiration sei das Leben. «Formeln taugen nichts,
das Leben ist alles. Und das Leben wird zu gleichen Teilen
von Geist und Herz bestimmt.»
42
Badovici entgegnete: «Kurzum, Sie möchten modischen
Formeln entgegenwirken, indem sie auf die Vergangenheit
zurückkommen.»
Gray: «Nein, im Gegenteil. Ich möchte diese Formeln weiterentwickeln und sie bis an den Punkt treiben, an dem sie
den Kontakt zum Leben wieder aufnehmen, sie bereichern,
ihre Abstraktion mit Realität durchdringen.
Kunst ist nicht Ausdruck abstrakter Elemente; sie muß
auch den Ausdruck konkreterer Elemente und privatester
Bedürfnisse des Individuums umfassen.»18
Stellte Gray den Mensch als Individuum in den Mittelpunkt
ihres Entwurfs, so war dieser Mensch letztendlich sie
selbst. Sie war Auftraggeber und Gestalter in einer Person.
Also entwarf sie ihre Häuser und deren Einrichtungen
gemäß ihres eigenen Bedarfs.
Es stellt sich die Frage, ob es möglich ist, von dieser
Egozentrik auf einen allgemein gültigen Gestaltungsansatz
zu schließen.
Von welcher Realität ist die Abstraktion durchdrungen?
Gray stammte aus Verhältnissen, in denen die Zwänge
des Lebens, die für den kleinen Mann bestanden, keine
Bedeutung hatten, vielmehr überlagert wurden von dem
Problem der Unfreiheit – von dem Gefühl, in den Konventionen der Gesellschaft gefangen zu sein.
Nicht zufällig lautete der Titel des Textes, aus dem ich Gray
oben zitiert habe, «Vom Eklektizismus zum Zweifel».
43
Gray selbst hatte den epochalen Aufbruch ihrer Zeit
persönlich erlebt, als sie aus ihrem herrschaftlichen Elternhaus ausbrach und sich auf die Suche nach einer neuen
„Lebensform“ begab. Das Bedürfnis, das Gray kannte und
von dem sie ausging, als sie ihre Häuser und deren Einrichtungen gestaltete, war das Bedürfnis, sich aus den Zwängen
des bürgerlichen Lebens zu befreien.
Das neue Interieur sollte dem Lebensstil des „modernen
Menschen“ entsprechen, eines Menschen, der sich seinen
eigenen Interessen widmete, ein Single-Dasein führte, ein
Individualist war wie sie selbst.
44
Mehr als jeder andere ihrer Entwürfe wird der Beistelltisch
E1027 diesen Ansprüchen gerecht. Er ist ein kleiner
Kompagnon, der stets zur Stelle steht, der sich seinem
Benutzer anpaßt und ihm Hilfeleistung gibt. Dabei bezieht
sich seine „Funktion“ primär auf eine Einzelperson.
Hätte man diesen freundlichen Tisch nicht gerne im Haus?
– Ich denke an die Momente, da die Abstellfläche fast, aber
doch nicht ganz in Reichweite war und man sich fragte,
wozu Vaters Couch-Tisch eigentlich gut sei.
Ganz zu schweigen von dem schwierigen, doch immer
wieder gewagten Unternehmen, im Bett zu frühstücken.
Oder einer Tasse Tee zum Einschlafen.
Die abstrakt-geometrische Gestalt dieses Tisches ist tatsächlich mit einer Realität durchdrungen, verstanden als
das Gegenteil einer Idealität.
Der Beistelltisch E1027 räumt seinem Benutzer eine
Schwäche ein. Er gesteht ihm zu, „es sich bequem zu
machen“ und assistiert ihm dabei.
Hanna Gagel schreibt: «Ein anderes Akzeptieren der
Widersprüche der Realität, ein anderes sich darauf Einlassen zeigt sich in den Werken vieler Künstlerinnen. Die
männliche Tendenz, sich die Wirklichkeit vom Halse zu halten – sei es durch Negierung, Transzendierung, Typisierung
oder Formalisierung – ist bei ihnen weniger feststellbar.»
Den Arbeiten vieler Künstlerinnen sei die Intention
abzulesen, «in ihrer Kunst das Leben zu intensivieren, nicht
nur zu transzendieren.»19
45
Gagel unterscheidet hier nicht grundsätzlich zwischen
Mann und Frau, sondern vielmehr zwischen Künstlern, die
an platonischen Wertvorstellungen orientiert sind, und
Künstlern, die es weniger sind – vornehmlich Frauen,
meint Gagel.
Ich möchte in Bezug auf Gray nicht grundsätzlich von
einer frauenspezifischen Entwurfshaltung sprechen. Trotzdem erkenne ich in Grays Worten und am konkreten
Beispiel des Beistelltisches E1027 die Absicht, «das Leben
zu intensivieren».
Gray orientiert sich nicht an Idealen, die im Bereich der
Ideen existieren – einer Vorstellung, von der ein Großteil
der Gesellschaft zwischen den Weltkriegen beherrscht war.
Sie greift auf subjektive Erfahrungswerte zurück, die einer
sinnlich-emotionalen Wirklichkeit entstammen.
Diese Werte integriert sie in ihren Entwurf. Nicht, indem
sie dem Gegenstand eine „sinnliche“ oder „emotionale“
Form überstülpt. Der Beistelltisch E1027 ist auf seine
wesentlichen Elemente reduziert. Das „Gefühl“ offenbart
sich duch seinen Gebrauch.
46
5. Der Spiegel Satellite (1926 – 29)
Gray entwarf verschiedene Gegenstände, die jeweils für
eine bestimmte Handlung vorgesehen waren. Ein solcher
ist der Spiegel Satellite, der sich im Gästezimmer der Villa
E.1027 befand.
Der eigentliche Satellit ist ein Vergrößerungsspiegel,
dessen Position sich über zwei Gelenke verstellen und arritieren läßt. Die Leuchte, die in die Spiegelfläche eingesetzt
ist (2 x 15 W), erzeugt ein diffuses Licht.
Der Zweck dieses Spiegels ist die Nackenrasur, eine
Maßnahme der Schönheitspflege, die in den 20er und 30er
Jahren, denkt man an die Modefrisuren dieser Zeit, mit
Sicherheit üblicher war als heute.
Über die Doppelreflexion ist es möglich, die Rasur an
sich selbst vorzunehmen. Das Licht, das keine Schatten
wirft, erweist sich dabei als zusätzliche Hilfe.
Deutlicher als der Beistelltisch E1027 bezieht sich der
Spiegel Satellite auf eine Einzelperson. Mit der Möglichkeit,
sich selbst den Nacken zu rasieren, gestattet dieser Spiegel
seinem Benutzer eine spezielle Form der Unabhängigkeit.
Doch die „Funktion“ dieses Spiegels steht für mich nicht
im Vordergrund. Mit seinem Zweck, durch ihn hindurch
und über ihn hinaus überträgt der Satellite ein wunderliches Bild.
47
Spiegel Satellite im Gästezimmer der Villa E 1027
48
Eine große kreisrunde Spiegelfläche, aus der ein kleiner
Kreis „ausgestanzt“ ist, derselbe, denkt man, der nun als
Satellit um den großen Kreis zu kreisen scheint. Er hat
keinen eigenen Rahmen und wirkt ebenso groß wie das
„Stanzloch“. Doch bei näherem Hinsehen sieht man sich
selbst – und zwar in Übergröße. Fast erschreckend, plötzlich ein großes Auge zu sehen, zudem sein eigenes.
Man dachte, der kleine Spiegel sei nur ein Teil des
großen. Nun erweist er sich im Vergleich als ebenso stark,
vielleicht noch stärker. Es scheint, als habe er die ganze
Kraft des großen Spiegels in sich konzentriert und sei
bereit, sich mit diesem zu messen.
Es fällt mir nicht schwer, es so zu formulieren, findet
doch tatsächlich eine Art Kräfte-messen statt, wenn die
Reflexion zwischen den Spiegelflächen hin und her
geworfen wird.
Über dem Ganzen ein sanftes, geradezu besänftigendes
Licht, ausgehend vom eigentlichen Zentrum der Satellitenlaufbahn, einer „Sonne“, die in der Reflexion des Raumes
zu schweben scheint. Und obgleich die Elemente kreisrund
sind – selbst die Rahmenhalter sind es – gibt es keine Symmetrie. So stehen alle Teile in einem dynamischen Verhältnis zueinander.
Wenn ich im Folgenden beschreibe, unter welchen Kriterien der Satellitenspiegel möglicherweise entstand, dann
beziehe ich mich auf eine Hypothese, die von Hecker und
Müller entwickelt wurde, um den Prozeß zu erläutern,
durch den Gray zum Entwurf ihrer Architekturprojekte
gelangte.20
49
Gray definiert zunächst das Konzept des Gegenstands,
indem sie festlegt, welche Elemente für seinen Gebrauch
benötigt werden. In diesem Fall sind es drei: erstens ein
Wandspiegel, zweitens ein Vergrößerungsspiegel, der sich
in Gegenüberstellung zum ersten Spiegel arritieren läßt,
und drittens eine Leuchte.
Parallel entwickelt Gray eine Bildvorstellung, in der sich
die Bezüge der Elemente zueinander ausdrücken, nämlich
das Kreisen eines beweglichen Elements um ein festes
Zentrum, einen Fixpunkt.
Beide Schemen, die konzeptuelle Gliederung des Gegenstands und der bildhafte Ausdruck seines Zusammenhangs,
werden im Entwurf miteinander verbunden.
Selbstverständlich handelt es sich hier um eine theoretische Darstellung des Entwurfsprozesses. In der Praxis
beeinflussen sich beide Schemen wechselseitig. Dennoch
wird anhand dieser Analyse etwas deutlich:
Gray schafft den formalen Zusammenhalt der funktionalen Elemente unter Verwendung eines Bildes, das einer
eigenen Gesetzmäßigkeit folgt. So wird der Gegenstand
nicht nur durch seinen Zweck definiert, sondern auch
durch eine formale „Logik“ bestimmt.
Die Schemen widersprechen sich nicht, sondern
ergänzen sich zu einem Ganzen, das auf doppeltem Wege
zugänglich ist.
50
6. Die Röhrenleuchte (um 1935)
51
In der Zeit von 1932 bis 1935 baute Gray ihr zweites Haus
in Castellar, rund 50 km nördlich von Roquebrune in den
Bergen. Sie nannte es Tempe à Pialla (Erntezeit).
Im Zusammenhang mit diesem Projekt entwickelte Gray
eine Reihe von Möbeln, die hinsichtlich der verwendeten
Materialien und der Herstellungsmethoden, auch in ihrer
Gestalt insgesamt viel reduzierter waren als jene, die sie für
die Villa E1027 entworfen hatte.
In dieser Zeit entstand die berühmte Röhrenleuchte.
Als Leuchtmittel diente eine röhrenförmige Glühlampe,
die bis dahin hauptsächlich im gewerblichen Bereich
eingesetzt worden war. Heute wird Grays Röhrenleuchte
mit einer Linestra-Lampe bestückt.
Gray hatte röhrenförmige Lampen bereits häufiger verwendet. Ein frühes Beispiel ist die längliche Leuchte, die
im Wohnraum der Villa E1027 an der Wand befestigt war.
In diesem Fall wurde die Lampe durch einen Metallschirm
verdeckt und beleuchtete den Raum nur indirekt.
Eine kleinere Röhrenlampe gehörte auch zur Ausstattung
des Ruhebetts, das sich in einer Nische desselben Raumes
befand.
Abgehängt von der Decke hatten röhrenförmige Glühlampen bereits im Bauhaus Verwendung gefunden.
Walter Gropius hatte sie in das Beleuchtungssystem
seines Direktorenzimmers von 1923 integriert.
52
Ein früheres Beispiel für die Verwendung dieser Lampe ist
die Hartog-Leuchte, die Gerrit Rietveld 1922 entwarf.
Grays Pionierleistung war es, die Röhrenlampe von der
Decke zu holen und in den Wohnbereich zu stellen. Sie verwendete ein Leuchtmittel mit seitlichen Anschlüssen. So
wurde die Lampe endgültig freigestellt.
Sie gleicht einer Linie aus Licht, die sich durch die
Reflexion des verchromten Metallfußes in den Boden
verlängert.
Für mich markiert die Röhrenleuchte den Endpunkt einer
Entwicklung. Sie ist auf das Wesentliche reduziert, im
Grunde nur noch Licht. Indem sie jegliche Verkleidung
abgelegt hat, ist die Lampe selbst zur Leuchte geworden.
Ich zähle die Röhrenleuchte zu den letzten bedeutenden
Möbelentwürfen Grays. In der Zeit nach 1935 widmete sich
Gray zunehmend der Architektur. Obgleich sie weiterhin
mit verschiedenen Materialien experimentierte und einzelne Objekte herstellte, entstanden ab Mitte der 30er
Jahre in erster Linie Architekturentwürfe. Diese blieben
ausnahmslos fiktiv.
53
Die Reflexion
Die Gegenstände, die ich vorgestellt habe, sind nur Bruchstücke eines Werkes, das durch eine große Vielfalt gekennzeichnet ist.
Ein Bekannter fragte mich, nachdem er ein Buch mit
Abbildungen von Grays Möbeln durchgeblättert hatte:
„Und was ist von Eileen Gray?“
Grays Arbeiten entstanden in der Auseinandersetzung mit
Erscheinungen und Ereignissen ihrer Zeit. Beim Zugriff auf
Vorhandenes entwickelte Gray jedoch etwas Eigenes.
Ich bezeichne den Prozeß, in dem dies geschah, als eine
besondere Art der Reflexion.
Reflektieren bedeutet 1. spiegeln, zurückwerfen und
2. überlegen, nachdenken. Spricht man von einem Menschen, der reflektiert, so meint man, daß er beides tut.
Im Prozeß der Überlegung selbst findet eine Art der
Spiegelung statt, wenn sich ein Gedanke zwischen verschiedenen Gesichtspunkten hin und her bewegt. Doch
nicht nur im Kopf, auch im Bezug zur Umwelt wird
reflektiert.
Grundsätzlich verstehe ich die Reflexion als das
„Auffangen“ und „Zurückwerfen“ einer Sache. Ich meine,
daß Gray Phänomene „auffängt“ und in ihren Entwürfen
„zurückwirft“. Dazwischen, sozusagen im Moment der
Spiegelung, vollzieht sich ein Wandel.
Das „Aufgefangene“ wird zerlegt. Seine Teile werden
voneinander getrennt oder neu kombiniert und wieder
zusammengesetzt.
54
Diese Verwandlung nenne ich, um im Bild des Spiegels zu
sprechen, eine „Verzerrung“. Die Leistung, die an ihr vollbracht wird, bezeichne ich als die Reflexionsarbeit.
Ich habe bereits am Beispiel des De-Stijl-Tisches erläutert,
in welcher Weise Gray die Gestaltungsprinzipien des Stijl
reflektierte. Sie griff das Verdikt der Formel auf. Dieses
wurde im Reflexionsprozeß mit Vorgängen der plastischen
Verformung kombiniert. Daraus gingen neue Regeln für die
Gestaltung hervor.
Doch wie erklärt sich das Wesen der Reflexionsarbeit an
anderen Beispielen?
Ich beziehe mich zunächst auf den Transat. Ist dieser
Sessel das „Zurückgeworfene“, so muß es im Sinne meines
Erklärungsmodells etwas geben, das zuerst „aufgefangen“
wurde. An diese Stelle setze ich den Deckstuhl.
Ich habe bereits erläutert, daß der Transat beweglich zu
sein scheint. Der Deckstuhl hingegen ist es tatsächlich.
Er läßt sich zusammenklappen, wobei sich die eingehängte
Sitzfläche zusammenfaltet. So ist der Deckstuhl leicht zu
transportieren und platzsparend zu lagern.
Dies muß er sein. Schließlich ist er nur phasenweise in
Gebrauch und im übrigen eher ein Hindernis.
Im Prozeß der Reflexion wird der Deckstuhl seiner Pflicht
als Klappmöbel entledigt. So treten seine Merkmale deutlich hervor: die fließende Form der eingehängten Sitzfläche
als Zeichen der Entspannung und der Ruhe, dagegen die
55
filigrane und bewegliche Bauweise seines Gestells, mit der
eine gewisse Ruhelosigkeit stets präsent ist.
Damit ist in der Gestalt des Deckstuhls ein Gegensatz
angelegt. Dieser wird verarbeitet und in der Gestalt des
Transat „zurückgeworfen“.
In diesem Möbel ist der Deckstuhl nur noch zeichenhaft
enthalten. Seine Merkmale sind aus ihrem funktionalen
Zusammenhang herausgerissen: die Sitzfläche muß sich
nicht mehr zusammenfalten, die Beweglichkeit des Gestells
ist nur noch Schein, keine Wirklichkeit.
Der Deckstuhl wurde „verzerrt“.
In einem Artikel, der im September 1988 in der Zeitschrift
Domus erschien, schrieb Marco Romanelli über den
Transat: «Anhand der entfernten, doch offensichtlichen
Verbindung zum Deckstuhl kann man erkennen, daß Eileen
es für eine Notwendigkeit hielt, die Anonymität der Standard-Typen von Le Corbusier sozusagen zu humanisieren.»22
Weiter ausgeführt wurde dieser Gedanke nicht.
Betrachtet man den Deckstuhl als einen «Standard-Typ»
– als die optimierte Gestalt eines Gegenstandes im Sinne
seiner Funktionen –, so wird das, was ich „Verzerrung“
nenne, von Romanelli als eine Art der „Vermenschlichung“
interpretiert. Die Motivation zu dieser Verwandlung deutet
er als reaktiv.
Ich finde es problematisch, Grays Entwürfe ausschließlich in
der Reaktion zu den Theorien ihrer Kollegen zu verstehen.
56
Die „Anonymität“ der Standard-Typen von Le Corbusier
„vermenschlichen“ zu wollen, scheint mir in diesem Fall
nicht das eigentliche Motiv zu sein.
Ferner ist kritisch zu bewerten, daß Romanelli scheinbar
objektive Begriffe verwendet, deren Bedeutung er nicht
erläutert. Was heißt Humanisierung der Anonymität?
Durch den Verlust seiner funktionalen Bedingtheit wird
der Deckstuhl für mich vor allem eines: zum Sinnbild der
Entspannung auf der Reise in ferne Länder.
Als Deckstuhl-Differenz ist der Transat seine formale und
zeichenhafte Essenz.
Gray sagte: «Jedes Kunstwerk ist symbolisch. Es vermittelt,
es deutet das Wesentliche eher an, als es darzustellen.»
Badovici fragte: «Wie aber verleiht man einer Zeit Ausdruck und besonders einer Zeit wie der unseren, so voller
Widersprüche, in der die Vergangenheit auf so vielfältige
Weise weiterlebt und in der man andererseits derart
extreme Ansichten findet?»
Gray: «In der Vielzahl dieser widersprüchlichen Elemente
ist es an den Künstlern, diejenigen zu finden, die den intellektuellen und emotionalen Rahmen für den Menschen als
Einzelwesen und als Teil der Gesellschaft bilden.»21
Ausdruck der Widersprüchlichkeit seiner Zeit ist der
Bibendum-Sessel in mehrfacher Hinsicht.
Zwei Phänomene wurden in den Prozeß der Reflexion
aufgenommen und miteinander verbunden: der traditionelle Polstersessel und der Pneu.
57
Doch ein drittes und eigentliches Zeitphänomen wurde
gleichsam reflektiert: die Emanzipation der Frau.
Die „moderne Frau“ der 20er Jahre rauchte Zigaretten,
besuchte Frauen-Clubs und lenkte ihren eigenen Wagen.
Ich denke an Natalie Barneys Freitag-Salon und den
Sonnabend-Club von Gertrude Stein. Und ich sehe Tamara
de Lempickas Selbstbildnis im Auto – Tamara im grünen
Bugatti – von 1925. Hanna Gagel schreibt über dieses Bild:
«Als mondän geschminkte Dame
übernimmt [Lempicka] die traditionelle männliche Rolle, die des Verführers und Wagenlenkers, mit
sichtlichem Genuß. [...] Lempicka
vermischt mit Eleganz und Können
weibliche und männliche Rollenmuster, statt aus den Rollen auszusteigen.»23
Ich habe den formalen Widerspruch, der im BibendumSessel seinen Ausdruck findet, als humoristisch empfunden.
Unter Einbezug der Frauenbewegung in den 20er Jahren
verstärkt sich meine Empfindung.
Wie Lempicka hat auch Gray die «Rollenmuster» nicht
verlassen. Ich habe bereits beschrieben, auf welche Weise
sie dem traditionellen Polstersessel seine repräsentative
Prägung nahm: Gray überhöhte ihn und verunsicherte
ihn zugleich.
58
Der Bibendum-Sessel spiegelt die Doppelrolle, die von der
Frau im eleganten Hosenanzug mit Vergnügen gespielt
wurde. Er ist eine ebenso lustvolle Parodie auf ein
traditionelles Leitbild.
Während es möglich ist, den Bibendum-Sessel auf konkrete
Gegenbeispiele zu beziehen, scheint der Beistelltisch
E1027 eher vorbildlos zu sein.
Was wird in diesem Fall reflektiert?
Zum einen besteht für Gray der Anlaß, körperliche und
emotionale Empfindungen in ihren Entwurf zu integrieren
und durch diesen erfahrbar zu machen.
Andererseits greift sie dabei auf das Formenrepertoir der
klassischen Moderne zurück.
Auch der Forderung nach „Funktionalität“ wird Gray mit
ihrem Entwurf gerecht. Im Sinne seines Gebrauchs ist der
Beistelltisch E1027 absolut „funktional“ – kein Merkmal,
das seiner „Funktion“ nicht folgen würde: die Asymmetrie
des Tisches, die Aussparung seines Bodenrings und selbst
die Kette, die dafür Sorge trägt, daß man den Metallstift
nicht verliert.
Formal abstrakt und auf das Wesentliche reduziert ist der
Beistelltisch E1027 ein harter Typ mit weichem Kern.
59
Schlußwort
Ausgehend von meiner Wahrnehmung der Gegenstände
und unter Einbezug des Umfelds, in dem sie entstanden,
habe ich versucht, dem Ursprung ihrer Entstehung näher
zu kommen. Ich stellte fest, daß Gray verschiedene
Phänomene ihrer Zeit in ihre Arbeiten integrierte. Für die
Weise, in der sie dies tat, entwickelte ich das Modell der
„verzerrenden Reflexion“.
Es handelt sich dabei nicht um eine Regel, vielmehr um
eine besondere Art der Wahrnehmung und Verarbeitung
von Erscheinungen und Ereignissen. Eine kritische Distanz
und eine ausgeprägte Sensibilität für Widersprüchlichkeiten
sind für Grays Herangehensweise charakteristisch.
Habe ich den intellektuellen Aspekt ihres Werks in den
Hintergrund treten lassen, so mit der Absicht, einen
anderen Aspekt weiter in den Vordergrund zu rücken:
Gray vermittelt durch ihre Arbeiten eine eigene „Sicht“
auf die Dinge, die nicht nur vom „Geist“, sondern auch vom
„Herz“ bestimmt ist. Sie räumt ihren Empfindungen einen
wesentlichen Stellenwert in ihrer Wahrnehmung ein und
läßt sie in ihre Arbeiten einfließen.
Darin besteht für mich die besondere Qualität des Werks
von Eileen Gray – eine seltene „Beherztheit“, mit der sich
ihre Arbeiten über Traditionen, Theorien und Prinzipien
hinwegsetzen.
Obgleich es mir schwer gefallen ist, dies anhand von
konkreten Beispielen darzustellen, da es sich meiner
Analyse immer wieder entzog, so war und ist es doch
eben diese Kühnheit, die ich an Eileen Gray bewundere.
60
Anmerkungen
1 Peter Adam, Eileen Gray, Schaffhausen 1989, S. 21
2 Sonja Günther, «Leitbilder International»,
Frauen im Design, Ausstellungskatalog Teil 1,
Design Center, Stuttgart 1989, S. 23
3 Peter Adam, ibid., S. 50, zit. nach:
Andrée Dorac-Gerbaud, L’Art du Lacque, Paris 1973
4 Peter Adam, ibid., S. 54
5 Peter Adam, ibid., S. 50
6 Alastair Duncan, Art Déco: Die Möbelkunst der
französischen Designer, Stuttgart 1986, S. 12
7 Peter Adam, ibid., S. 135
8 Peter Adam, ibid., S. 165, zit. nach: Jean Badovici,
«L’Art d’Eileen Gray», Wendingen (Amsterdam),
Serie 6, Nr. 6, 1924
9 Peter Vöge, The Complete Rietveld Furniture,
Rotterdam 1993, S. 60
10 Bruno Reichlin, «Das Faß des Diogenes wird wohnlich»,
Archithese (Heiden, Schweiz), Nr. 4, 1991, S. 73 –74
11 Peter Adam, ibid., S. 367
12 Klaus-Jürgen Sembach, Gabriele Leuthäuser,
Peter Gössel, Möbeldesign des 20. Jahrhunderts,
Köln 1993, S. 133
13 Peter Adam, ibid., S. 375
14 http:// www. michelin.com
15 Adam, ibid., S. 102
16 Adam, ibid., S. 191
62
17 Caroline Constant, «Architektur und Freizeitpolitik»,
Eine Architektur für alle Sinne: Die Arbeiten von
Eileen Gray, Ausstellungskatalog, Frankfurt / Main 1996,
S. 155, zit. nach: Eileen Gray und Jean Badovici,
«La Maison Minimum», L’Architecture d’Aujourd’hui,
Serie 1, Nr. 1, 1930, S. 64
18 Eileen Gray und Jean Badovici, «Vom Ekelektizismus
zum Zweifel», Eine Architektur für alle Sinne: Die
Arbeiten von Eileen Gray, ibid.,S. 68 –71, zit. nach:
«De l’Eclectisme au Doute», L’Architecture Vivante
(Paris), Winter 1929, S. 17 – 21
19 Hanna Gagel, Den eigenen Augen trauen, Gießen
1995, S. 29
20 Stefan Hecker und Christian F. Müller, «Eileen Gray
oder ein unbekümmerter Umgang mit der Moderne»,
Archithese (Heiden, Schweiz), Nr. 4, 1991, S. 26
21 Eileen Gray und Jean Badovici, «Vom Ekelektizismus
zum Zweifel», Eine Architektur für alle Sinne: Die
Arbeiten von Eileen Gray, ibid.,S. 68
22 Marco Romanelli, «Eileen Gray», Domus (Mailand),
Nr. 697, September 1988, S. 85
23 Hanna Gagel, ibid., S. 74
63
Literaturnachweis
Peter Adam, Eileen Gray, Schaffhausen 1989
François Baudot, Eileen Gray, London 1998
Alastair Duncan, Art Déco: Die Möbelkunst der
französischen Designer, Stuttgart 1986
Eine Architektur für alle Sinne: Die Arbeiten von
Eileen Gray, Ausstellungskatalog, Frankfurt/Main 1996
Hanna Gagel, Den eigenen Augen trauen, Gießen 1995
Philippe Garner, Eileen Gray, Designer and Architect,
Köln 1993
Sonja Günther, «Leitbilder International», Frauen im
Design, Ausstellungskatalog I, Design Center, Stuttgart 1989
Stefan Hecker und Christian F. Müller, «Eileen Gray oder
ein unbekümmerter Umgang mit der Moderne», Archithese
(Heiden, Schweiz), Nr. 4, 1991
H. L. C. Jaffé, «De Stijl», De Stijl, Ausstellungskatalog,
Museum am Ostwall, Dortmund 1964
J. Stewart Johnson, Eileen Gray, Designer,
Ausstellungskatalog, MOMA, New York 1979
Kunstforum Bd. 120 und 121, Kunst und Humor, I und II
64
Brigitte Loye, Eileen Gray, Vignier 1984
Paul Maenz, Art Deco 1920 –1940, Köln 1974
Luigi Pirandello, Der Humor, aus d. Ital. von Johannes
Thomas, Mindelheim 1986
Bruno Reichlin, «Das Faß des Diogenes wird wohnlich»,
Archithese (Heiden, Schweiz), Nr. 4, 1991
Marco Romanelli, «Eileen Gray», Domus (Mailand), Nr. 697,
September 1988
Joseph Rykwert, «Un Omaggio a Eileen Gray, Pioniera del
Design», Domus (Mailand), Nr. 469, 12 /1968, S. 23 – 34
Klaus-Jürgen Sembach, Gabriele Leuthäuser, Peter Gössel,
Möbeldesign des 20. Jahrhunderts, Köln 1993
Dennis Sharp, Architektur im 20. Jahrhundert,
München 1973
Paul Valéry, Eupalinos oder Der Architekt, übertragen
von Rainer Maria Rilke, Suhrkamp Verlag, Bd. 370, 1973
Peter Vöge, The Complete Rietveld Furniture,
Rotterdam 1993
65