Ortschronik Lienzingen 2016_Seiten 220-222

Transcrição

Ortschronik Lienzingen 2016_Seiten 220-222
220
766-2016: 1250 Jahre Lienzingen
hatte sich der Ertrag der Gewerbesteuer gegenüber 1937 fast vervierzigfacht und ließ nun
den der Grundsteuer (A und B) sogar leicht hinter sich (37.033 zu 36.755 D-Mark).
Allmählich gelang es Lienzingen sogar, Arbeitskräfte aus der Umgebung anzuziehen. Und die Wachstumsrate konnte sich sehen lassen. In zwanzig Jahren verzehnfachte sich die Zahl der Einpendler nahezu. Allerdings darf man nicht verschweigen, dass
der Ausgangspunkt 1950 schon sehr tief lag, bei gerade einmal fünf Personen. Aber
immerhin: 1970 waren es 48.481
Zu den neuen Gewerbesteuerzahlern zählte unter anderen die Metallgießerei Ewald
Lanzls, die zum Jahresbeginn 1968 von Ötisheim nach Lienzingen in die Brühlstraße
umgezogen war. Nach Jahren des Aufschwungs konnte die auf Aluminium-Sandguss
spezialisierte Firma bis zu 15 Mitarbeiter beschäftigen. In den 1990er Jahren geriet
sie jedoch zunehmend in Probleme, musste Mitarbeiter entlassen und wurde 1995
von Klaus Geppert-Mürle übernommen. Mittlerweile besteht auch seine Firma nicht
mehr.482 Viel besser sieht es dagegen mit einem anderen Betrieb aus.
Familiengeführt in vierter Generation. Die Geissel GmbH
Die Wurzeln von Lienzingens bedeutendstem Arbeitgeber liegen in Mühlacker. 1920 gründete Wilhelm
Friedrich Geissel (1887 – 1969) mit Friedrich Münch
eine erste Firma, die Tabakdosen, Zigarettenetuis und
Ähnliches produzierte. Nach ein paar Jahren gingen
die beiden Partner dann getrennte Wege. In der Uhlandstraße eröffnete Wilhelm Geissel am 1. Oktober
1925 einen eigenen kleinen Betrieb zur Herstellung
von Präzisions-Metallkleinteilen.483 Nun florierte
das Geschäft. Nachdem im ersten vollständigen Geschäftsjahr 1926 nur ein gewerblicher Reinertrag von
1.500 Mark verzeichnet wurde, war es drei Jahre später schon gut das Dreifache, 4.650 Mark.484 1930 erfolgte ein Neubau in der Industriestraße.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren auch dort
alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Wilhelm Geissel
Der Firmengründer Wilhelm Geissel
und seine Söhne Kurt (1913 – 1966) und Richard
1948. (Smlg. Marc Seidel)
(1914 – 1993) entschieden sich daraufhin dafür, in
Lienzingen eine zweite Produktionsstätte aufzubauen. 1960 wurden fast 36 Ar Fläche für 10.700 D-Mark
von der Gemeinde gekauft.485 Die Halle, die darauf errichtet wurde, beinhaltete 700 Quadratmeter Produktionsfläche. An den Maschinen, mit denen zeitweise auch Kleinteile
für Telefunken-Fernseher hergestellt wurden, arbeiteten damals überwiegend Frauen.486
1965, als man groß das 40-jährige Bestehen des Betriebs feierte, wurden insgesamt 200
Mitarbeiter gezählt.487
Familiengeführt in vierter Generation. Die Geissel GmbH
221
Die Luftaufnahme von 2009 lässt die ausgedehnten Produktionshallen für die Präzisionsdrehteile der
Firma Geissel gut erkennen. (Smlg. Firma Geissel)
In den Folgejahren wurde zwar die Zahl der Arbeitskräfte nicht erhöht, durch immer aufwändigere Maschinen wuchs jedoch der Platzbedarf enorm. Deshalb musste
eine grundlegende Neuaufstellung erfolgen. In Lienzingen wurde ein völlig neues Werk
mit 7.700 Quadratmeter Produktionsfläche errichtet. Die daneben regelrecht bescheidene alte Halle wurde umgebaut und nahm Büro, Kantine und Sozialräume auf. 1982
erfolgte der vollständige Umzug von der Industriestraße nach Lienzingen.
Um im immer stärkeren internationalen Wettbewerb auch weiterhin bestehen zu
können, gründete Geissel 1994
ein Werk im indischen Pune.
In Lienzingen blieben die Arbeitsplätze und der Standort erhalten. Im Jahr 2001 arbeiteten
hier 120 Mitarbeiter, in Pune 60.
Langdrehautomaten in der 1960
gebauten Fertigungshalle der
Firma Geissel in der Brühlstraße.
(Smlg. Firma Geissel)
222
766-2016: 1250 Jahre Lienzingen
In Indien wurden (und werden) einfachere Teile, zumeist aus Messing, hergestellt, in
Lienzingen dagegen Komplexeres vor allem aus hochlegierten Edelstählen. Entscheidend
waren aber auch immer neue große Investitionen. 2008 beispielsweise wurde der weltweit erste CNC-9-Spindel-Drehautomat in Lienzingen in Betrieb genommen, ein tonnenschweres Ungetüm für 1,8 Millionen Euro.488 Die Produktpalette im Bereich Präzisionsdrehteile, Kabelverschraubungen und Kunststoffspritzteile wuchs im Laufe der Zeit
derart, dass allein der – selbstverständlich zweisprachige – Katalog im Jahr 2016 über
100 Seiten umfasste.
Noch immer ist die GmbH inhabergeführt – mittlerweile in der vierten Generation,
nachdem 2006 Marc Alexander und 2011 seine Frau Vanessa Seidel in die Geschäftsleitung eingetreten sind. Marcs Eltern Claudia Seidel, geb. Geissel und Peter Seidel hatten
das Werk seit dem überraschenden Tod von Großvater Kurt Geissel 1966 gelenkt.
Die medizinische Versorgung
Johannes Bastian
Auch wenn es bis zum Jahr 1983 gedauert hat, bis sich erstmals ein Allgemeinarzt in
Lienzingen niederließ, war die medizinische Versorgung der Einwohner von Lienzingen
auch in den Jahrzehnten zuvor schon mehr oder weniger gewährleistet.
Im Jahr 1908 stellte der damalige Schultheiß Fallscheer beim Oberamt Maulbronn
den Antrag, für die Gemeinde Lienzingen die Stelle einer Krankenschwester zu bewilligen. Dies wurde mit dem Hinweis, die Tätigkeit könne auch von der Krankenschwester
in Maulbronn mit übernommen werden, abgelehnt. Zudem sei die Einwohnerzahl von
Lienzingen zu gering. Als ausreichend wurde die Anbringung eines „Charlottenpflegekastens“ erachtet, in dem die Pflegeschwester das notwendige Material zur Versorgung
der Kranken vorfinden und dessen Unterhaltung von der durch den Kirchengemeinderat verwalteten Krankenkasse bestritten werden sollte.489 Die „Charlottenspende“ war
1898 unter dem Protektorat der Königin von Württemberg ins Leben gerufen worden,
um die Krankenpflege in ländlichen Gebieten zu verbessern.490
Zu einer Änderung kam es erst nach dem Ersten Weltkrieg. Seit 1922 sandte der
Herrenberger Verband eine Schwester nach Lienzingen. In den 1930er Jahren hatte
ihr die Gemeinde eine Wohnung (einschließlich Heizung und Licht) zur Verfügung zu
stellen sowie dem Verband eine Zahlung von 509 Mark im Jahr zu leisten. 1938 wurde
die Betreuung von der NSV, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, übernommen,
allerdings änderte sich konkret nichts.491 Stationiert war nach wie vor Schwester Marie
Orth, die nun allerdings auch noch Schmie mitversorgen musste. In den 1950er Jahren
betreute Maria Schneider die Kranken.492
Zu deren Unterstützung wurde 1947 der Krankenpflegeverein gegründet. Allerdings
war die Finanzierung nicht ganz einfach. Immer wieder gab es Probleme bei der Kostenverteilung zwischen Lienzingen und Schmie, außerdem zwischen der evangelischen

Documentos relacionados