Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag

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Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
Suthor · Rembrandts Rauheit
Nicola Suthor
Rembrandts Rauheit
Eine phänomenologische Untersuchung
Wilhelm Fink
Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf
Umschlagabbildung:
Rembrandt, Selbstbildnis mit zwei Kreisen, um 1665-1669, Leinwand, 114,3 x 94 cm,
Kenwood House, London, Detail
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© 2014 Wilhelm Fink, Paderborn
Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn
Internet: www.fink.de
Lektorat: Ulla Martinson
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-5739-4
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
DIE INTENTION DES MALERS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
Griffige Rauheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Textur-Lektüre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
„Bildobjekt“: Spielraum der Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Schmiererei: vollendet unvollendet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Intention des Malers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ausdruckssprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
24
29
33
36
40
KLAR-OBSKUR I: SCHATTENSPIELE. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
Geklärte Verhältnisse in Die Kompagnie von Frans Banning Cocq . . . . . . . .
Stumme Stimme: Das posthume Porträt Jan Cornelisz. Sylvius . . . . . . . . . . . .
Handreichung: Das Hundertguldenblatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der Schatten der Macht: Der Triumph des Mardochai . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
52
58
69
VERTIEFTE EINBLICKE: ZUR SICHTBARKEIT DES MALGRUNDES. . . . . . . . . . . .
81
Farbe als „drek“: Gerard de Lairesses stinkende Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
„Als wenn Feuer darin wäre“:
Jeremia trauert über die Zerstörung Jerusalems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
Die Öffnung des Körpers in Die Anatomie des Dr. Deyman . . . . . . . . . . . . . 92
Gespannte Textur: Die Badende im Fluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Exkurs Auf glühenden Kohlen: Caesar van Everdingens Frau Winter . . . . . 107
KLAR-OBSKUR II: LICHT-GESTALT ALS WORT-GEWALT . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Lichtdurchlässigkeit und Lichtreflexe: Moses mit den Gesetzestafeln . . . . . . . 113
Erschütterung in Aristoteles mit der Büste des Homer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Schrift und Stimme in Der Evangelist Matthäus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
6
INHALTSVERZEICHNIS
Der Widerschein des Lichts in Die Opferung Abrahams . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
Paarbildung: Jakob ringt mit dem Engel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
Exkurs Psychologisierung:
Luca Giordanos Jakob ringt mit dem Engel im Vergleich . . . . . . . . . . . . . 140
DIE FARBE ROT – FLÄCHENDECKEND . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Rötungen: Rebekka und Isaak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Erwärmung: Die Rückkehr des verlorenen Sohnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
EPILOG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Sein lassen: Rembrandts Selbstbildnisse und die Vorwegnahme des Endes . . . . . . 173
DANK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
ABBILDUNGSVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
TAFELTEIL. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
EINLEITUNG
Der Legendenbildung der Lebensbeschreibungen zufolge hatte Rembrandt van Rijn
wohl einen ungehobelten und rebellischen Charakter. Der Maler und Kunstschriftsteller Arnold Houbraken, Schüler eines Rembrandt-Schülers, kolportiert in seinem
Groote schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen (1718-19) einen
im wahrsten Sinne unglaublichen Vorfall, der Rembrandts Dickköpfigkeit („koppigheit“) veranschaulichen soll. Während Rembrandt an der Arbeit eines Familienporträts saß, verstarb sein geliebter Affe. Da ihm keine andere Leinwand zur Verfügung
stand, malte er kurzerhand das Tier in das Familienporträt hinein, „wogegen die
Leute viel einzuwenden hatten, denn sie wollten keinen abscheulichen, sterbenden
Affen in ihrem Porträt.“1 Aber anstatt ihn zu übermalen, zog Rembrandt es vor, das
Gemälde unvollendet zu lassen und für sich zu behalten.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass Rembrandt sich derart respektlos gegenüber
sozial höher gestellten Auftraggebern gezeigt haben könnte. Gern und oft wird in
den Einträgen zu Rembrandts Leben in der Kunstliteratur des 17. Jahrhunderts
darauf hingewiesen, dass er wenig Wert auf ihre Gesellschaft legte, da er aus einfachen Verhältnissen kam und es vorzog, mit einfachen Leuten zu verkehren. Auf
seinen mangelnden sozialen Ehrgeiz angesprochen, habe er geantwortet: „Wenn
ich meinem Geist Entspannung geben will, dann suche ich nicht Ehre, sondern
Freiheit.“2
1 „Een staal van zyne koppigheit omtrent diergelyke wyze van behandelingen schiet my te
binnen. ’T gebeurde dat hy een groot poutretstuk onder handen had, waar in Man Vrouw
en Kinderen stonden; dit stuk ten deelen afgemaakt, komt onverwagt een aap dien hy had te
sterven. Hy geen anderen doek gereed aan de hand hebbende, schildert dien dooden aap in
’t gemelde stuk, daar die luiden veel tegen hadden, niet willende dat hunne poutretten by
dat van een afschuwelyken stervenden aap zouden te pronk staan. Maar neen: hy had zoo
veel liefde voor dat model van den dooden aap dat hy liever dat stuk onvoldaan wilde aan zig
houden, dan hun ten gevallen de kwast ’er op zetten, gelyk ook geschiedde; waarom het gemelde stuk ook naderhant, tot een afschutting gedient heest voor zyne leerlingen.“ Arnold
Houbraken, De groote schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen, hrsg. v. P.
T. A. Swillens, Maastricht 1943, 3 Bde., Bd. 1, 204. Das undokumentierte Gemälde soll
den Schülern zur Schulung gedient haben.
2 „En hy gaf ’er deze rede van: ,Als ik myn geest uitspanninge wil geven, dan is het niet eer die
ik zoek, maar vryheid.‘“ Ebd., 214. Vgl. a. Sandrart: „Dann ob er schon kein Verschwender
gewesen/hat er doch seinen Stand gar nicht wißen zu beobachten/und sich jederzeit nur zu
niedrigen Leuten gesellet/dannenhero er auch in seiner Arbeit verhindert gewesen.“ Joachim von Sandrart, Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Malerey-Künste, Nürnberg 16751680, eingel. v. Christian Klemm, Nördlingen 1994, Bd. 1, 2. Teil, 326.
8
EINLEITUNG
Dass Rembrandts Freiheitsbestrebung nicht nur sein Sozialleben, sondern auch
seine Malpraxis bestimmte, legt der Kunsttheoretiker Roger de Piles in seinem
Abregé de la vie des peintres (1699) nahe, wenn er unmittelbar nach dem Zitat von
Rembrandts Äußerung anschließt: „Und als man ihm eines Tages die Einzigartigkeit seines Farbauftrags, welcher die Gemälde holprig (raboteux) macht, vorhielt,
antwortete er, dass er ein Maler sei und kein Anstreicher.“3
Houbrakens Künstlerlegende um den toten Affen im Familienporträt, die kein
weiteres Mal in der Kunstliteratur Erwähnung findet und möglicherweise eine
Fiktion darstellt, denn wir wissen auch nichts von einem Affen in Rembrandts
Haushalt, ist eine anschauliche Illustration seines Freiheitsdrangs. Statt der Vorstellung des Auftraggebers nachzukommen, folgt Rembrandt seinem persönlichen
Bedürfnis und schaff t für sich selbst ein Erinnerungsbild, welches das von ihm
geforderte repräsentative Familienporträt auf zweifacher Ebene durchstreicht: Die
Aufnahme eines toten Tieres kompromittiert den mit dem Porträtauftrag verbundenen Wunsch, als Erinnerungsbild die Dargestellten lebendig zu halten, und
würdigt zugleich als „abscheuliches“ Beiwerk die dargestellten Herrschaften herab. Bedenken wir, dass der Affe als Sinnbild für die sklavische Naturnachahmung
figuriert, dann wird die Provokation deutlich: Die Nachahmung (der tote Affe)
thematisiert sich in dem repräsentativen Bild (die Familie). Das Unlebendige und
Nichtige ihres ,Körpers‘ − der mit De Piles’ Beschreibung „raboteux“ als Reibung
verursachend aufgefasst wird − drängt sich als unheimlicher Aspekt des Kunstwerks auf.
Samuel van Hoogstraten, der Houbrakens Lehrer und Rembrandts Schüler war,
stellt in seinem Lehrbuch Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst (Rotterdam 1678) fest, dass jedes Kunstwerk ein seinen Autor charakterisierendes „Mal
(merk)“ trägt. Und Van Hoogstraten merkt an, dass diese signifikativen Besonderheiten eher als „Missbildungen (afwijkingen)“, denn als „volkomene vasticheden der
konst“ erscheinen. Diese Missbildungen seien jedoch als solche von den Kunstliebhabern geschätzt, da sie durch ihre jeweilige abnorme Besonderheit künstlerische
Vielfalt begründen.4
Es mag sein, dass der äußerst gebildete Van Hoogstraten hier die Betrachtung
des spätantiken Rhetors Quintilian aufgreift, dem zufolge Neuerungen in den
„Ausdrucksfiguren (schemata)“ Abweichungen von den Darstellungskonventionen
mit sich bringen, die „in denselben Formen zur Erscheinung [kommen] wie die
3 „Et comme on luy reprochoit un jour la singularité de sa manière d’employer les Couleurs
qui rendoient ses Tableaux raboteux, il répondit qu’il étoit Peintre, & non pas Teinturier.“
Roger de Piles, Abregé de la vie des peintres (1699), Hildesheim 1969, 45.
4 „Zoo is ’t dan, dat de Konstenaeren elk als tot iets eygens gedreven worden, waer door men,
als door een byzonder merk, haere werken kent, gelijk men de zweemingen en ’t kroost der
ouderen in de kinderen gemeenlijk gewaer wort. En al hoewel deze byzonderheden eer afwijkingen, dan volkomene vasticheden der konst kunnen genoemt worden, zoo zijnze, als een
bloembedde, dat verscheydeverwige tulpen en tijlen draegt, den liefhebbers een bekoolijke
vermaeklijkheyt.“ Samuel van Hoogstraten, Inleyding tot de Hooge Schoole der Schilderkonst,
Rotterdam 1678, 74.
EINLEITUNG
9
Sprachfehler.“5 Aber die Abweichung sei „eine gute Leistung, falls sie etwas Einleuchtendes besitzt, wonach sie sich richtet.“6 Sie muss also durch eine Darstellungsabsicht motiviert sein und nicht aus Unkenntnis entstehen, denn dann wäre
sie bedeutungslos und damit als Fehler überflüssig. Für Quintilian bewahrt sie
„uns vor gewöhnlich-vulgärer Sprachweise.“7 Eben diese Fähigkeit spricht Cornelis de Bie in einem Lobgedicht aus dem Jahre 1661 Rembrandt zu, wenn er lobt,
„dass sein Pinsel vom Gemeinen entfremdet sei.“8
Van Hoogstratens allgemeine Einschätzung, dass „Missbildungen“ als künstlerische Besonderheiten erkannt werden, hat sich insbesondere in der Rezeption der
Kunst Rembrandts über die Jahrhunderte bewahrheitet.9 Eduard Kolloff lobt in
Rembrandt’s Leben und Werke nach neuen Actenstücken und Gesichtspunkten geschildert (1854) die „Keckheit und Rauhheit der Pinselführung und Farbengebung, die
fast an Rohheit und Frechheit zu grenzen scheint, aber von einer Wahrheit und
Energie der Darstellung und Wirkung, die bis zur Zauberei geht.“10 Kolloff hat
einerseits die Vereinfachungen innerhalb der malerischen Mimesis im Blick („Verkürzte Finger sind mit einem Pinselstrich gegeben“), andererseits die „glatte, körnige und facettirte Substanz“11 der Farbmaterie, deren aufgeraute Oberfläche das
einfallende Licht fängt, um Glanzeffekte zu produzieren. Als besonderes Kennzeichen der Kunst Rembrandts bestimmt er den erstaunlichen Kontrast zwischen
Ursache und Wirkung: „Seltsam und für Rembrandt’s Genie charakteristisch, diese Ausführung von unglaublicher Brutalität ist zugleich von äußerster Delicatesse;
es ist eine Zartheit mit Fußtritten und Faustschlägen, aber so, wie sie die allersaubersten Feinmaler nie haben erreichen können [...].“12
Rembrandts rauer Einsatz der künstlerischen Mittel wird oft auf einen Mangel
an Kultur zurückgeführt und als Ausdruck der Unfähigkeit, die akademischen
5 Quintilian, Ausbildung des Redners, 2 Bde., hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn, Darmstadt
1995, Bd. 2, 319 [IX,3].
6 Ebd.
7 Ebd.
8 „Als wel by d’eel Vernuft van Rijnbrant (die/ haer schoonheyt/soo gheestich met Pinceel ons
daeghelijckx ten/thoon leijt/Soo aerdich uytghewerckt, soo suyver, net en rejn/Dat sijn
Pinceel all veer vervrempt is van t’/ghemeyn.“ Cornelis de Bie, Het Gulden Cabinet van de
Edele vry Schilder const, Antwerpen 1661, 290, Rembrandt Documents [1661/17], 495.
9 Für Cornelius Müller Hofstede besteht in dem „scheinbar unentschiedene[n] Stehenlassen
und Abnehmen der Farbe“, dem „eben erst Hingewischten und fast im gleichen Moment
wieder Abgeschabten“, das „Persönliche und Einmalige in Rembrandts Verfahren“. Das Ineinandergreifen von Setzung und Wegnahme stellt also „das eigentümlich Schwebende und
Flimmernde des Kolorits“ her. Cornelius Müller Hofstede, Rembrandts Familienbildnis
und seine Restaurierung, in: Kunsthefte des Herzog-Anton-Ulrichs-Museums 7 (1952), 7.
10 Eduard Kolloff, Rembrandt’s Leben und Werke nach neuen Actenstücken und Gesichtspunkten
geschildert (1854), hrsg. v. Christian Tümpel, Hamburg 1971, 553f.
11 Ebd., 554, 555.
12 Ebd. 555.
10
EINLEITUNG
Kunstregeln anzuwenden, beklagt.13 Rauheit ist jedoch auch positiv konnotiert
und in der Rhetoriklehre mit Wahrhaftigkeit assoziiert. Dem spanischen Psychologen Juan Huarte y Navarro zufolge, dessen Examen de ingenios par las ciencias
(1575) 1662 ins Holländische übertragen und von Van Hoogstraten rezipiert
wurde,14 verbergen sich hinter der rauen Schale des scheinbar Unkultivierten
Kostbarkeiten, die geborgen werden müssen:
Wenn die Athenienser diese Lehre eingesehen hätten, so würden sie sich nicht so
sehr gewundert haben, daß so ein verständiger Mann als Sokrates war, nicht wohl
reden konnte. Diejenigen, die seine Weisheit einsahen, sagten von ihm, seine Worte
und Sprüche wären gleich einem Behältnisse von schlechtem Holze, welches von
aussen weder gehobelt noch angestrichen sey; mache man aber dieses Behältniß auf,
so fände man die schönsten Risse und wunderbarsten Malereyen darinne.15
Den ungeschönten, „rauhen“ Stil erklärt Huartes jedoch ebenfalls mit der Herkunft
aus einfachen Verhältnissen.16 Er ist jedoch nicht nur Ausweis des Niedrigen, sondern auch des Erhabenen. Longinus, den Van Hoogstraten ebenfalls zitiert,17 erklärt
„Missbildungen“ als Kennzeichen von Größe: „Nehmen wir einmal einen wirklich
flecken- und tadellosen Schriftsteller! Muß man nicht gerade hier die Grundsatzfrage
stellen, ob in Poesie und Prosa das Große bei einigen Mängeln nicht besser sei als
13 Vgl. bspw. Sandrart: „CCLIX: Rembrand con Ryn: Ersinnet sich eigene Mahl-Reglen [...]
daß er Italien und andere Oerter/wo die Antichen und der Kunst Theorie zu erlernen nicht
besucht/zumal da er auch nicht als nur schlecht Niderländisch lesen/und also sich durch die
Bücher wenig helfen können: Demnach bliebe er beständig bey seinem angenommenen
Brauch/und scheuete sich nicht/wider unserer Kunst-Reglen/[...] zu streiten/und denenselben zu widersprechen/vorgebend/daß man sich einig und allein auf die Natur und keine
anderen Reglen binden solle [...].“ Sandrart, Teutsche Academie, Bd. 1, Bd. 1, 2. Teil, 326.
Vgl. zur Topik des Anti-Akademismus: Jan Białostocki, Bellori’s ,Caravaggio‘ and Sandrart’s
,Rembrandt‘, in: The Burlington Magazine 99 (1957), 274-275.
14 Vgl. Hoogstraten, Inleyding, 73. Vgl. a. Thijs Weststeijn, The visible World. Samuel van
Hoogstraten’s Art theory and the Legitimation of Painting in the Dutch golden Age, übers. v.
Beverley Jackson u. Lynne Richards, Amsterdam Univ. Press 2008, 232.
15 Juan Huarte, Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften, übers. v. G. E. Lessing, (Zerbst 1752)
München 1968, 159. Huarte untermauert sein Argument, wenn er die anderen beiden großen antiken Philosophen hinzuzieht mit dem Hinweis auf die „Dunkelheit und schlechte
Schreibart des Aristoteles“ und die „harte und kurze Schreibart, die Dunkelheit seiner Gründe, die schlechte Zusammenfügung der Theile der Rede“ Platons.
16 Huartes Unterscheidung der Stile der Schriftpropheten Jessaia und Jeremia, die er wenig
später im Text vornimmt, erinnert an die Gegenüberstellung Rubens-Rembrandt, wie sie
die Kunstgeschichte gern vornimmt: „Man darf nur wissen, daß Jessaias aus einem angesehenen und vornehmen Geschlecht war, daß er in Jerusalem ist auferzogen worden und am
Hofe gelebt hat; daß er also gar leicht die Gabe zierlich und angenehm zu reden hat haben
können. Jeremias hingegen war auf einem Dorfe nicht weit von Jerusalem, Namens Anathot, gebohren; er war in seinem Betragen einfältig und rauh, so wie ein Bauer seyn kann
und also bediente sich auch der Heilige Geist bey den Prophezeyungen die er ihm mitteilte,
eines einfältigen und rauhen Ausdrucks.“ Ebd., 163f.
17 Hoogstraten, Inleyding, 179. Diese Referenz betrifft jedoch nicht die hier zitierte Passage.
EINLEITUNG
11
korrektes Mittelmaß, das freilich vollkommen gesund ist und ohne Fehler?“18 Und
einer dieser Mängel, an denen sich Größe für Longinus abzeichnet, ist Rauheit.19
Rauheit als Indiz für Erhabenheit scheint schließlich zu Rembrandts Zeiten ein Allgemeinplatz zu sein, den Franciscus Junius in seinem De pictura veterum (1637)
einschränken wird.20 Im Feld der Rhetorik zeichnet Rauheit also die wahre, da ungeschönte Rede aus, die das Ringen mit einem eigenen Gedanken, der die gewöhnliche
Sprachweise sprengt, in dessen ungehobelter Formulierung zum Ausdruck bringt.
Im Allgemeinen gilt Rauheit als ungefällig. Sie erzeugt eine unmittelbare physische Reaktion in demjenigen, der mit ihr in Berührung kommt. Der Philosoph
Roland Barthes beschreibt in seinem Essay Le grain de la voix, der von der Stimmqualität zweier Sänger handelt, den Aspekt der Rauheit als das In-ErscheinungTreten der „Materialität des Körpers“21. Er verallgemeinert seine Überlegung:
„Die ,Rauheit‘ ist der Körper in der singenden Stimme, in der schreibenden Hand,
im ausführenden Körperteil.“22
Rembrandt ist kein Interpret, der wie ein Sänger an seinem eigenen Körper
Kunst vorführt. Und doch stimmt die vielfältige Literatur über Rembrandt in der
Annahme überein, dass Rembrandt mit seinem Werk gleichsam identisch ist. Der
Maler und Schriftsteller Eugène Fromentin vergleicht in Les Maîtres d’autrefois
(1876) mit Blick auf Rembrandt die individuelle Beschaffenheit des Körperlichen,
wie beispielsweise die menschliche Größe, mit der Besonderheit der Malweise, um
diese schließlich mit der individuellen Wahrnehmung und Empfindung zu erklären.23 Selbst der gegenüber Rembrandt äußerst kritisch eingestellte Jacob Burckhardt konstatiert mit einer gewissen Anerkennung: „Überhaupt bildet sein Stil ein
18 Longinus, Vom Erhabenen, übers. v. Otto Schönberger, Stuttgart 1988, 81. Wir verfügen
über keine weiteren Informationen über den Autor, der nur über seine Schrift Über das Erhabene bekannt ist.
19 „Demosthenes hingegen ist rauh und kann nicht breit erzählen, hat keinen flüssigen, prunkvollen Stil; [...].“ Ebd., 85.
20 „Auch die ausnehmende Menge der schlechten Richter verleitet zu Irrthümern, weil mittelmäßige Künstler ihnen kräftiger zu mahlen scheinen. Denn Unverständige schreiben dem
größere Gewalt zu, was ohne Kunst ist; so wie sie glauben, aufsprengen verrathe mehr Stärke
als eröfnen; zerreissen mehr als auflösen, und ziehen mehr als leiten. Selbst das Rauhe halten
sie für höher als das Feine [...].“ Franciscus Junius, Von der Malerey der Alten in drey Büchern,
übers. aus dem Lateinischen, Breslau 1770, 302.
21 Roland Barthes, Die Rauheit der Stimme, übers. v. Peter Geble, in: Aisthesis. Wahrnehmung
heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, hrsg. v. Karlheinz Barck, u.a., Leipzig 1990,
299-309, hier: 302.
22 Ebd., 307.
23 „Chaque artiste a donc sa manière de peindre comme il a sa taille et son coup de pouce, et
Rembrandt pas plus qu’un autre n’échappe à cette loi commune. Il exécute à sa manière, il
exécute excessivement bien; on pourrait dire qu’il exécute comme personne, parce qu’il ne
sent, ne voit et ne veut comme aucun autre.“ Eugène Fromentin, Rubens et Rembrandt. Les
Maîtres d’autrefois (1876), Bruxelles 1991, 289f.
12
EINLEITUNG
untrennbares, völlig mit seiner trotzig kräftigen und wunderlichen Persönlichkeit
identisches Ganzes.“24
Doch was ist de facto über Rembrandts Persönlichkeit bekannt? Die Dokumente über sein Leben sind zu spärlich, um ein klares Bild zu geben; die Legenden
aus der Kunstliteratur zu stereotypisch, um glaubwürdig seine Individualität darzustellen. Auch hat Rembrandt nur wenige Briefe hinterlassen, und diese lassen
kaum Rückschlüsse auf seinen Charakter zu. Dass jedoch ein starker Eindruck
von der Individualität Rembrandts in der allgemeinen Vorstellung existiert, erklärt
sich in erster Linie aus dem ,rauen‘ Aspekt seiner Kunst. Rembrandts Individualität drängt sich also in der Anschauung seiner Werke auf. Der Versuch, ihre intime
Wirkung mit der Rückbindung an Rembrandts Lebenswelt über die Identifizierung der Modelle zu erklären, greift jedoch zu weit aus, bleibt notwendig hypothetisch und lässt die Evidenz des visuellen Eindrucks hinter sich zurück.
Eine für die Kunstgeschichte fruchtbare Problematisierung und Definierung
des Individualstils, der ja mit dem Begriff der Rauheit aufgerufen ist, bietet der
Philosoph Georg Simmel:
Das für die Menschheit oder die Kultur Allgemeinste ist für den Schöpfer sein Persönlichstes, gerade dies markiert die Einzigartigkeit dieser Individualität; die unvergleichliche Individualität […] liegt nicht in [d]en ,persönlichen‘ Verhältnissen […];
denn jeder dieser Züge ist nur typisch. Seine Individualität, das Persönlich-Einzige
[…] ist vielmehr […] sein geistiges Sein und Tun, das gerade als um so individueller
hervortritt, je mehr man nicht nur von jenen Spezialbestimmungen seiner Existenz,
sondern auch innerhalb der geistigen Ebene von dem Detail der Leistung absieht.
Gerade deren Einzelheiten und Besonderheiten mögen hier und da an andere Schöpfer erinnern, ihr Allgemeinstes, einheitlich Durchgehendes, ist schlichtweg […] mit
ihm synonym.25
Dass Singularität eine Leitkategorie des Künstlerselbstverständnisses zu Rembrandts Zeit schon war, dokumentiert eine bauliche Maßnahme in dessen Werkstatt: „Damit ein jeder ungestört nach dem Leben malen konnte“, ließ Rembrandt
Sichtschutzwände aus Papier oder Stoff aufstellen.26 Diese unumgängliche Vereinzelung des Künstlers im Verhältnis zu seinem Kollegen thematisiert auch Van
24 Jacob Burckhardt, Rembrandt (6. Nov. 1877), Rembrandt und Van Dyck. Zwei Vorträge,
Bern 1947, 7.
25 Georg Simmel, Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch (1916), eingel. v. Beat Wyss,
München 1985, 64. Simmels Aussage ist nicht auf den Maler bezogen, sondern auf den
Philosophen Arthur Schopenhauer, mit dem Simmel weitaus vertrauter war. Ikonographische Forschungen zu Rembrandt aus den letzten Jahrzehnten bestätigen jedoch Simmels
Grundannahme, dass sich individueller Ausdruck mit Rekurs auf bestehende Formulierungen durchaus herausstellen kann. Denn erstaunlicherweise arbeitete Rembrandt mit beinahe wortwörtlichen Übernahmen bestimmter Bildfiguren, vornehmlich aus der Druckgraphik, denen er jedoch eine neue Wendung gab.
26 „[...] daar zyne Leerlingen elk voor zig een vertrek (of van papier of zeildoek afschoten) om
zonder elkander te storen naar ’t leven te konnen schilderen.“ Houbraken, De groote schouburgh,
1. Bd. 202.
EINLEITUNG
13
Hoogstraten in seinem Gedicht an die Malerjugend: „[E]in Maler ist von dem anderen so weit geschieden wie ein Berg vom nächsten.“27
Die schwer überbrückbare Distanz erklärt sich aus der jeweiligen Besonderheit
der Malweise, die der kunsttheoretischen Forderung der Unnachahmlichkeit des
persönlichen Stils entspricht.28 Houbraken berichtet, dass er und seine Malerkollegen nicht begreifen konnten, wie Rembrandt das sogenannte Hundertguldenblatt
allein „auf einer ersten rauen Skizze“ aufbauend schaffen konnte.29 Das Allgemeinste, welches die künstlerische Individualität Rembrandts ausmacht (im Sinne
Simmels), ist also der sichtbare Umgang mit der Materialität des künstlerischen
Mediums, wobei jedoch der Herstellungsprozess selbst uneinsichtig bleibt und
also unnachahmlich ist.
Benjamin Binstock thematisiert in seinem Aufsatz Rembrandt’s paint den Brennpunkt der kunsthistorischen Debatte um Rembrandts Malpraxis: die dinghafte
Qualität der dick aufgetragenen Farbe, die bereits schon zu Rembrandts Lebzeiten,
wie wir noch sehen werden, Aufsehen erregte.30 Binstock beruft sich auf Svetlana
Alpers als Hauptvertreterin derjenigen Forschungsmeinung, welche der Dicke des
27 „[...] want d’een Schilder is van d’ander/Als door een berg gescheiden van malkander [...].“
Hoogstraten, Inleyding, 23. Vgl. Karel van Mander, Den grondt der edel vry schilder-const
(1694), hrsg. v. Hessel Miedema, Utrecht 1973, 70: „Tussen schilder en schilder ligt een
grote berg.“
28 Vgl. Franciscus Junius: „Ich will nur noch das erinnern, daß das unnachahmlich ist, was
man bey einem Künstler für das größte hält: nemlich das Genie, die Erfindung, die Stärke,
die Leichtigkeit, und alles, wovon die Kunst selbst keine Regeln geben kann.“ Junius, Von
der Malerey der Alten, 52; mit Verweis auf Quintilian, Ausbildung des Redners [X,2]. Und er
schließt die für uns bedenkenswerte Überlegung an: „Und dieses ist für uns die vortheilhafteste Schwierigkeit bey dieser Sache, daß wir die größten Künstler mit mehrer Sorgfalt betrachten; denn wir werden alsdenn ihre Werke nicht mit einer sichern Beobachtung durchgehen, sondern wir werden alles einzeln betrachten, und die genaueste Aufmerksamkeit darauf wenden; und darinnen werden wir alsdenn ihre größte Stärke entdecken, wenn wir sie
unnachahmlich finden.“ Ebd. 52f.; mit Verweis auf Quintilian, Ausbildung des Redners
[X,5].
29 „[...] als inzonderheit aan de zoo genaamde hondert guldens print en andere te zien is, waar
omtrent wy over de wyze van behandelinge moeten verbaast staan; om dat wy niet konnen
begrypen hoe hy het dus heeft weten uit te voeren op een eerst gemaakte ruwe schets, [...]
daar na met een agtergront en eindelyk uitvoerig in print ziet.“ Houbraken, De groote
schouburgh, 204.
30 „Already in his own time, as in ours, commentators tended to reify Rembrandt’s paint as a
thing (res), a tactile material touched or smelled from up close, and to neglect its visual effect
on the viewer from a distance.“ Benjamin Binstock, Rembrandt’s Paint, in: RES 36 (1999),
138-165, hier: 139. Nach einer kurzen, aber quellenreichen Einleitung zur Thematisierung
der Farbmaterialität bei Rembrandt in Kunsttheorie und Kunstgeschichte konzentriert auch
Binstock seine Argumentation auf die für die vorherrschende Rembrandtforschung zentrale
Frage: „Rembrandt/Nicht-Rembrandt?“ bezüglich verschiedener Werke (bspw. Der Mann
mit dem Goldhelm), die er Willem Drost zuschreibt.
14
EINLEITUNG
Farbauftrags eine skulpturale Dimension und damit Körperhaftigkeit zuschreibt.31
Alpers konstatiert prägnant in ihrer viel beachteten und wegweisenden Untersuchung unter dem Titel Rembrandt als Unternehmer: Sein Atelier und der Markt die
Komplizierung des mimetischen Sachverhaltes: „Die sinnfällige Präsenz der Malschicht stört oder ersetzt gar den unmittelbaren Zugang zur Oberflächenerscheinung der Welt.“32 Sie wirft in zwei Fragen die beiden Optionen auf, welche für
Binstock die kunsthistorischen Auslegungen der Bedeutung von Rembrandts
Farbauftrag polarisieren:
Entsprach sein [d.h. Rembrandts; Su.] Festhalten an der Dicke oder Materialität des
Farbauftrags – um diesen typischen, von den Zeitgenossen hervorgehobenen Aspekt
wieder aufzugreifen – einem handwerklichen Kalkül im Hinblick auf die Phantasie
des Betrachters? Oder sollte das Augenmerk eher in einem völlig neuen Sinne, nämlich im Hinblick auf eine stoffliche Präsenz des Gemalten, die als solche von einer
rein suggestiven zu unterscheiden ist, auf das Handwerkliche gelenkt werden?33
Alpers spricht hier zweifellos wohlüberlegt vom Handwerklichen und nicht vom
Künstlerischen, da eine derartige Polarisierung das Künstlerische nicht in den Blick
nimmt. Die Verknüpfung der einen mit der anderen Frage durch das „oder“ scheint
zwei Alternativen zu eröffnen, die sich offensichtlich gegenseitig ausschließen. Zur
Wahl stehen eine rezeptions- und eine produktionsästhetische Perspektive. Auch
wenn Alpers selbst eine methodische Engführung von Ikonographie und Stilkritik
nicht unternimmt, eröffnet sie den Forschungsansatz, der hier im Folgenden entwickelt wird, bereits vorausschauend: „Es ist schon viel gewonnen, wenn wir uns in
Anlehnung an einen berühmten Satz Gombrichs daran erinnern, dass Machen vor
Bedeuten kommt. Zumindest im Fall Rembrandts kann vielleicht das Augenmerk
darauf, wie seine Werke gemacht sind, eine Vorbedingung für das Verständnis ihrer
eigentlichen Bedeutung sein.“34
Wenn die Wirkung der Farbe über die bloße Feststellung der beeindruckenden
Massivität ihres Auftrags hinausgehend Beachtung erfahren hat, dann bisher vornehmlich – im Sinne der Rezeptionsästhetik – unter dem Aspekt ihrer optischen
31 Alpers stützt ihre Anschauung auf zeitgenössische Berichte, die sie zuspitzt: „In frühen Berichten über Rembrandt ist durchweg von der Dicke seines Farbauftrags die Rede: die Pigmente seien oft zolldick; ein Porträt habe man an der Nase des Dargestellten vom Boden
aufheben können; Edelsteine und Perlen seien so pastos gemalt, daß sie wie reliefiert erscheinen. [...] All diese Kommentare beziehen sich auf Rembrandts Farbauftrag und gleichzeitig auf sein Bestreben, Gegenstände gleichsam aus Farbe nachzuschaffen. [...] Er behandelt sein Medium bereits [in seinem Frühwerk; Su.] als etwas, in das er hineingehen muss,
als ob es sich um eine formbare Materie handelte [...]. Das Fehlen der Tiefenillusion erklärt
sich [...] aus dem Umstand, [...] daß er sowohl die Gegenstände auf seinen Gemälden als
auch die Farbe selbst als dicke und feste Substanzen auffaßte.“ Svetlana Alpers, Rembrandt
als Unternehmer, Köln (1989) 2003, 38, 68, 69f.
32 Ebd., 37.
33 Ebd., 65.
34 Alpers, Rembrandt als Unternehmer, 31.
EINLEITUNG
15
Wirkung für die sensuelle Wiedergabe von Wirklichkeit.35 In der Erfassung der
täuschenden Scheinhaftigkeit der Malerei wird die Farbmaterie zwangsläufig
transparent. Sie enthüllt sich damit als Medium, durch das die evozierte Wirklichkeit in den Blick kommt. Das Augenmerk auf die optische Dimension des Farbauftrags allein zu richten, greift jedoch zu kurz, um die Kraft von Rembrandts
Kolorit zu erklären, da es das malerische Medium in der Illusion aufgehen lässt.
Wir werden im Folgenden sehen, dass die „Vorbedingung für das Verständnis
[d]er eigentlichen Bedeutung“ (Alpers) des jeweiligen Werkes die „Störung des
semantischen Gleichgewichts“36 durch die Schwere des Farbauftrags ist. Die Störung, welche die Zeitgenossen Rembrandts laut Alpers monierten, stellt Intransparenz her. Sie verhindert die unmittelbare Durchsicht auf das im Medium der Farbe
Vorgestellte. In dem Moment, in dem die Farbe und ihr Auftrag als relevant erfahren
werden, ist sie als Ausdrucksmedium aufgefasst, das etwas Implizites – im Sinne des
„Eigentlichen“ der Bedeutung – expliziert. Hergestellt ist eine Transparenz zweiter
Ordnung,37 die als Aufgehen einer impliziten Bedeutung prozessual erlebt wird.38
Die sehr erhellenden, die Stilkritik ablösenden maltechnischen Untersuchungen
der letzten Jahre, welche vornehmlich der zentralen Frage „Rembrandt oder NichtRembrandt?“ nachgingen,39 haben, da sie sich auf der Mikroebene des Pinselduk35 Vgl. Ernst van de Wetering: „It should be emphasized in advance, however, that the striving
for changes in the art of painting was dominated up to the early eighteenth century by the
motion of progress, that is, in the achievement of an even more convincing and aesthetically
more satisfying illusion on a flat surface.“ Ders., Towards a reconstruction of Rembrandt’s
art theory, in: A Corpus of Rembrandt Paintings V: The Small-Scale History Paintings, hrsg. v.
Ernst van de Wetering, Dordrecht 2011, 3-140, hier: 10. Vgl. auch: Ders., The Painter at
Work, 161: „[…] the paramount criterion was illusionism.“
36 Ludwig Jäger, Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen, in:
Performativität und Medialität, hrsg. v. Sybille Krämer, München 2004, 35-73, hier: 62.
37 Vgl. Nicola Suthor, Transparenz der Mittel: Zur Sichtbarkeit der Imprimitur in einigen
Werken Rembrandts, in: Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, hrsg. v. Gottfried Boehm u.
Matteo Burioni, München 2012, 223-249.
38 „Expressivität ist insofern die medial-diskursive Markierung, ohne die sich kein mentales Innen als Gehalt möglichen Ausdrucks bilden kann. Während also im Zustand medialer Transparenz Semantik in der Form stillen Wissens prozessiert wird (und insofern die Iterationsbedingungen von Zeichen/Medien unsichtbar bleiben), bedarf es explikativer (transkriptiver)
Handlungen dann, wenn das Implizite in der einen oder anderen Form problematisch bzw.
thematisch wird und damit das Medium als solches (samt seiner Iterabilität) zum Vorschein
kommt: Das Implizite wird durch seine Explikation nicht nur zum Ausdruck gebracht, sondern in einem gewissen Sinn auch konstituiert […].“ Jäger, Störung und Transparenz, 63.
39 Vgl. Ernst van de Wetering, Rembrandt. The Painter at Work, Amsterdam 1997, x: „Is every
,Rembrandt‘ a Rembrandt? That question triggered the founding of the Rembrandt Research Project (RRP) in 1968.“ Vgl. die profunde Kritik von Anna Tummers an den Zuschreibungsmethoden des Rembrandt Research Projects. Tummers hat aufgezeigt, dass das
RRP die zeitgenössische Auffassung von künstlerischer Autorschaft, welche sich in einer
Werkstattpraxis manifestiert, die eine klare Händescheidung problematisch macht, außer
Acht gelassen hat. Anna Tummers, The Eye of the Connoisseur. Authenticating Paintings by
Rembrandt and His Contemporaries, Amsterdam Univ. Press 2011.
16
EINLEITUNG
tus bewegen, selten das Gemälde als komplexes Sinngefüge im Blick. Dies gilt in
noch stärkerem Maße für die um eine historische Kontextualisierung der Werke
bemühte Rembrandtforschung. Ich teile die Meinung des Literaturwissenschaftlers
Karl Heinz Bohrer: „Nun ist gegen eine historisch-soziologische Erörterung von
Literatur und Kunst nichts einzuwenden, solange der historische Blick sich bewußt
bleibt, daß solch eine Historik, das heißt solch eine Suche nach den Wirklichkeitsspuren in der Fiktion irrelevant ist für den Kunstcharakter derselben.“40
Die folgende Thematisierung der sinnbildenden Kraft von Farb- und Formgebung unter der spezifischen Perspektive ihrer Rauheit ist vorbereitet von Michael
Bockemühls kunsttheoretisch motivierter Abhandlung zur „Wirklichkeit des Bildes“, die bereits ansatzweise eine phänomenologisch begründete Bildbetrachtung
vorstellt,41 und Christel Brückners Dissertation zu Rembrandts Braunschweiger
Familienbildnis. Beide setzen sich produktiv mit der alten Rembrandtforschung der
20er Jahre auseinander,42 der auch in den hier folgenden Bildanalysen breit Rechnung getragen wird, denn die Farb- und Formanalysen dieser heute kaum mehr
gelesenen Kunsthistoriker zeichnen sich durch den Versuch der Beschreibung der
Eigenart der künstlerischen Position Rembrandts aus. Bockemühls These, wonach
die „Erscheinungsqualität der Farbe selbst zum Handlungswert wird“,43 soll uns
im Folgenden ebenso leiten, wie Brückners Zielvorgabe „in dem, was zu sehen und
auszusprechen ist, so weit vorzudringen, daß der Begriff von Rembrandts Leistung
sich differenziert und lebendig wird, und zugleich die Grenze zum Geheimnis klarer vor Augen tritt.“44
40 Karl Heinz Bohrer, Die Flucht der Kulturwissenschaft vor der Kunst, in: Ders., Großer Stil.
Form und Formlosigkeit in der Moderne, München 2007, 262-279, hier: 263f.
41 Michael Bockemühl, Die Wirklichkeit des Bildes. Bildrezeption als Bildproduktion. Rothko,
Newman, Rembrandt, Raphael, Stuttgart 1985. Bockemühl bezieht sich in seiner Argumentation in zwei Anmerkungen [274, 284] auf Edmund Husserls Vorstellung des „evidenten
Schauens“, die jener in seinen Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie (1913) dargelegt hat.
42 Christel Brückner setzt sich kritisch mit Carl Neumanns von der Autonomieästhetik geprägten Malereiauffassung auseinander und hält dagegen, dass die Farbe im Braunschweiger
Familienbildnis trotz der Loslösung von der Gegenstandsbezeichnung „thematisch bestimmt bleibt“. Christel Brückner, Rembrandts Braunschweiger „Familienbildnis“. Seine thematische Figuren- und Farbkomposition und die Kunst Italiens, Hildesheim u.a. 1997, 95. Das
Zitat von Neumann, das Brückner verkürzt wiedergibt, lautet: „Die stärksten (und in der
Modellierung nicht eben feinsten) Mittel sind losgelassen, um eine Farbenmagie ohne Gleichen zu ermöglichen. Der Bildausdruck wird allein von der Farbe bestritten.“ Carl Neumann, Rembrandt, München 1922, 610.
43 Michael Bockemühl formuliert diese These in seiner späteren, für das allgemeine Publikum
verfassten Publikation Rembrandt 1606-1668. Das Rätsel der Erscheinung, Köln 1989. In
Die Wirklichkeit der Bilder thematisiert Bockemühl „die starke gefühlshafte Erfülltheit, die
von dem Bild [Rembrandts Die Judenbraut; Su.] ausgeht.“ Diese evoziere nicht die einzelne
„sprechende“ und d.h. lesbare Geste, sondern das unmittelbar auf die Empfindung des Betrachters wirkende „Anschauliche − Farbe und Struktur −“ in seiner Erscheinungskomplexität. Bockemühl, Die Wirklichkeit des Bildes, 101.
44 Brückner, Rembrandts Braunschweiger „Familienbildnis“, 7.
DIE INTENTION DES MALERS
Griffige Rauheit
Die Vorstellung des Tastbaren der Farbmaterie wird in der kunsthistorischen Literatur stets mit folgender Äußerung Arnold Houbrakens belegt: „Man sagt, dass er
[Rembrandt; Su.] einmal ein Porträt gemalt habe, in welchem die Farbe so dick
auflag, dass man das Gemälde bei der Nase vom Boden aufheben konnte.“1 Houbraken spielt hier zweifellos mit der metaphorischen Umschreibung „Nase“ für die
Relief erzeugende Stauung der schweren Farbmasse auf dem Bildträger. Man kann
sich wohl kaum vorstellen, dass Rembrandt oder irgendein anderer Künstler seine
Gemälde auf dem Boden liegend präsentierte oder aufbewahrte. Die Nasenbildung
ist, generell gesprochen, ein ungeplanter Nebeneffekt, der zwangsläufig aus einem
Überfluss an Farbmaterie resultierte. Dass Rembrandt die materielle Rückstände
produzierende Farbmasse jedoch bewusst einsetzte, räumt die unmittelbar anschließende Beobachtung zur Wirkung dieses massiven Farbauftrags ein. Man könne bei
Rembrandt derart pastos gemalte Edelsteine und Perlen, mit denen der Maler Halsketten oder Turbane besetzte, sehen, dass der Eindruck entstehe, sie wären tatsächlich gemeißelt („al even of ze gebootzeerd waren“). Diese spezielle Technik bewirkt
laut Houbraken, dass die Gemälde selbst auf weite Entfernung „mächtig herauskommen (kragtig uitkomen)“2. Die Wirkung des Farbauftrags ist demzufolge auf
Fernsicht hin kalkuliert. Houbraken beschreibt, dass die späten Werke Rembrandts
„von nah besehen aussahen, als wären sie mit einer Mauerkelle hingeschmiert.“3
Diese uneigentliche Rede des „als ob“ zeigt die Polemik der Beurteilung an. Hierauf
folgt die Überlieferung, wonach Rembrandt die Atelierbesucher, die ein Werk aus
der Nähe betrachten wollten, mit den Worten zurückhielt: „[D]er Geruch der Farbe
wird Euch unangenehm sein.“4
Die Anschauung, dass Gemälde mit sichtbarem Pinselstrich nicht aus der Nähe
begutachtet werden sollen, da sie aus der Entfernung erst ihre illusionäre Wirkung
entfalten, war schon zu Rembrandts Zeit geläufig. Sie verband sich mit dem Spät1 „Ook word ’er getuigt dat hy eens een pourtret geschildert heeft daar de verw zoodanig dik
op lag, datmen de schildery by de neus van de grond konde opligten.“ Houbraken, De groote
schouburgh, Bd. 1, 212.
2 Ebd.
3 „[...] inzonderheit in zyn laatsten tyd, toen het’ er, van na by bezien, uitzag of het met een
Metzelaars truffel was aangesmeert.“ Houbraken, Ebd., 211f.
4 „Waarom hy de menschen, als zy op zyn schilderkamer kwamen, en zyn werk van dichteby
wilden bekyken, te rug trok, zeggende: ,de reuk van de verf zou u verveelen.‘“ Ebd., 212.
18
DIE INTENTION DES MALERS
werk des venezianischen Malers Tizian, der in den Kunsttraktaten stets bezüglich
seines Kolorits als nachzuahmendes Vorbild herausgestellt wurde. In seinem viel
gelesenen Lehrgedicht Den grondt der edel vry schilder-const referiert der Schriftsteller und Maler Karel van Mander (1548-1606) die sich in der Folge zum Diktum erhärtende Beobachtung Vasaris5, wonach der späte Tizian mit „Flecken und
groben Strichen“ seine Werke ausführte, welche aus der Entfernung natürlich gut
aussahen, jedoch nicht aus der Nähe angeschaut werden konnten.6 Van Mander
bezeugt eine Zuspitzung dieses Malverfahrens für seine Zeit. So stellt er fest, dass
man die malerischen Oberflächen „heute nahezu blind tasten und das Werk von
allen Seiten befühlen kann. Denn die Farben werden in unserer Zeit so uneben
und grob aufgetragen, dass man meinen möchte, sie seien nahezu halbrund, in
Stein gehauen.“7 Die polemische Äußerung Houbrakens gegenüber Rembrandts
Malweise ist folglich wenig spezifisch, da sie Allgemeinplätze der Kunsttheorie
wiederholt. Der pastose, Relief erzeugende Farbauftrag muss also schon einige
Jahre vor Rembrandt en vogue gewesen sein.
Der Nachsatz in einem Brief Rembrandts an seinen Förderer Constantijn Huygens vom 27. Januar 1639 kann dokumentieren, dass Rembrandt tatsächlich auf
die Fernwirkung seiner Werke bedacht war und die Pastosität des Farbauftrags
entsprechend kalkuliert eingesetzt hat: „Mein Herr, hängen Sie das Bild in ein
starkes Licht und dass man mit Abstand davor stehen kann, so wird es am besten
funkeln.“8 Diese Forderung möglichst optimaler Bedingungen für die Entfaltung
der Wirkung seiner Malerei ist ein sprechendes Zeugnis für Rembrandts Bewusstsein davon, dass das Werk den Licht- und Raumverhältnissen des Ausstellungsortes ausgeliefert ist. Den Effekt des „Funkelns“ begünstigen die dick aufgetragenen
Bleiweißsetzungen, deren Relief, wie schon oft bemerkt, das auf die Maloberfläche
treffende Licht vielfältig streut und zugleich minimale Schatten wirft. Sie sind eingebettet in ein sehr subtiles Lichtschattenspiel. So legte Rembrandt dunkelfarbige
transparente Lasuren auf helle Farbschichten, die das von außen auf die Farbober5 Vgl. die Quelle: „Ma è ben vero che il modo di fare che tenne in queste ultime è assai diferente dal fare suo da giovane: con ciò sia che le prime son condotte con una certa finezza e
diligenza incredibile, e da essere vedute da presso e da lontano, e queste ultime, condotte di
colpi, tirate via di grosso e con macchie, di maniera che da presso non si possono vedere e di
lontano appariscono perfette.“ Giorgio Vasari, Le Vite de’ piu eccellenti pittori scultori e architettori, hrsg. v. Rosanna Bettarini u. Paola Barocchi, Florenz 1966-1987, Bd. 6, 166.
6 „Maar in het eind ging hij zijn werk heel anders uitvoeren, met vlekken en ruwe streken; en
dat zag er natuurlijk en goed uit, als men er een eindje vanaf ging staan, maar het kon niet
van dichtbij worden bekeken.“ Karel van Mander, Den grondt, Bd. 1, 258 [23].
7 „Aan deze dunheid hielden dezen zich allemaal goed. Ze brachten hun verven zuiver, net en
helder aan en belaaden de panelen niet zo [met verf ] als nu, nu men bijna blindelings het
hele werk kan aftasten en bevoelen aan alle kanten; want de verven worden in onze tijd wel
zo oneffen en ruw opgebracht dat men haast zou kunnen denken dat ze in reliëf in steen zijn
gehouwen.“ Mander, Den grondt, Bd. 1, 258 [20].
8 „Mij heer hangt dit stuck op een starck licht en dat men daer wijt ken afstaen soo salt best
voncken.“ Walter L. Strauss u. Marjon van der Meulen, The Rembrandt Documents, New
York 1979, 167 (1639/4).
DIE INTENTION DES MALERS
19
fläche treffende Licht durchlassen. Mehrfach gebrochen erscheint das auf das Bild
treffende Beleuchtungslicht als ein aus der Tiefe kommendes „Farblicht“.9 Inneres
Bildlicht und äußere Beleuchtung des Bildes spielen in der Wirkung auf den
Betrachter zusammen, und eine derartige Verschmelzung der Lichtverhältnisse
nimmt diesen gefangen. Die Durchlässigkeit des Lichts ist also durch die Grobheit
der malerischen Textur bedingt. Die durch Rembrandts Selbstaussage fundierte
These einer bewussten Ausrichtung auf Fernsicht greift jedoch zu kurz, um die
„hingehauenen“10 Passagen in Rembrandts Werk zu erklären. Denn Rembrandt
hat das kleine Format geschätzt, das zweifellos auch aus einer gewissen Ferne die
Aufmerksamkeit des Betrachters fesseln sollte, aber auch aus der Nähe eingehender zu betrachten war.11 In der Realisierung der Illusion in der ihr wesentlich
unähnlichen Farbmaterie wird die Malerei als Medium sinnlich erlebt, wie Heinrich Wölfflin bereits beobachtet hat: „So ist die Materie nie vollkommener dargestellt worden, als wenn der alte Rembrandt einen Greisenbart mit breit hingestrichenen Pigmenten gemalt hat, und doch fehlt jene greifbare Ähnlichkeit der Form
vollständig [...].“12
Die Verdickung der Farbe und die Rissigkeit der malerischen Textur dehnen das
Erkennen des Dargestellten und damit den Augenblick der Betrachtung. Denn das
Haptische des zum künstlerischen Einsatz gebrachten Materials trübt die Durchsicht, wie schon Samuel van Hoogstraten bemerkte. Angesichts einer Skizze (deren
Autor er nicht benennt) stellt er fest, dass das Blau auf dem Blatt niemals die Tiefe
des Blaus des Himmels erzielen kann. Denn die Körnigkeit des Papiers schränkt
diese Wirkung ein, „weil das Papier, wie auch immer es dir erscheint, gewiss eine
wahrnehmbare Körnigkeit (kenbaere rulheyt) hat, in die das Auge starren kann (in
het oog staeren kan), wo auch immer es dir gefällt, während dies bei dem glatten Blau
des Himmels nicht möglich ist.“13 Das Medium, hier das Blatt Papier, funkt quasi
9 Carolin Bohlmann beschreibt diesen Sachverhalt präzise: „Das Leuchten der Farbe liegt darin, dass eine transparente Lasurschicht das Licht durchfallen lässt, welches von der darunter
liegenden Farbschicht reflektiert wird. Dieses mehrfach gebrochene Farblicht verbindet die
Farben im Auge des Betrachters zu einer optischen Mischung, was Tiefe und Funkeln erzeugt. Durch das einfache Zusammenmischen der Farben auf einer Palette lässt sich dieser
Effekt nicht erzeugen.“ Carolin Bohlmann, Zur Materialität des Lichts bei Rembrandt und
Vermeer, in: Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts. Rembrandt und Vermeer – Leibniz und Spinoza,
hrsg. v. Carolin Bohlmann, Thomas Fink, Philipp Weiss, München 2008, 243-255, hier:
251. Vgl. a. Nicola Suthor, Transparenz der Mittel: Zur Sichtbarkeit der Imprimitur in einigen Werken Rembrandts, in: Der Grund. Das Feld des Sichtbaren, hrsg. v. Gottfried Boehm
u. Matteo Burioni, München 2012, 223-249.
10 Vgl. Mander, Den grondt, Bd. 1, 258 [20]. Quellentext siehe Anm. 51.
11 Vgl. Wetering, Towards a reconstruction of Rembrandt’s art theory, 3.
12 Heinrich Wöfflin, Kunsthistorische Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der
neueren Kunst, München 1915, 66.
13 „Noch deeze noch geene verwe zal uw werk doen voorkomen of wechwijken, maer alleen de
kenlijkheyt of onkenlijkheyt der deelen. Wat is’t, als gy op blaeuw papier een blaeuwen Hemel
met drijvende wolken in’t veld na’t leven tekent, dat uw papier zoo na by u schijnt te zijn, en
het Hemelsch lazuur zoo oneindelijk verre? ’t ls om dat uw papier, hoe effen gy’t ook oor-
20
DIE INTENTION DES MALERS
dazwischen und nimmt das Auge gefangen.14 Van Hoogstraten formuliert diese
Beobachtung in einem Kapitel, das „vom Hervorkommen, der Wechselwirkung
und der Verkürzung (Van voorkoming, wechwijking, en verkorting)“ handelt. Die
zentrale These lautet, dass die räumliche Wirkung des Kolorits weniger mit der
Farbwahl als mit dem Farbauftrag zusammenhängt – die visuelle Erfahrung geht
also nicht in dem optischen Eindruck auf. Das Wechselspiel zwischen Nah- und
Fernwirkung des Gemäldes erklärt Van Hoogstraten mit der Unterscheidung zwischen „kenlijkheyt (Kenntlichkeit, Offensichtlichkeit)“ und „onkenlijkheyt (Unkenntlichkeit)“. Van Hoogstraten setzt „onkenlijkheyt“ synonym mit „egaelheyt“. Die Glätte, welche die Nivellierung der Unebenheiten der malerischen Textur bewirkt, lässt
„die Dinge weit weg erscheinen“. Wenn der Maler jedoch die Dinge nach vorn holen
möchte, empfiehlt Van Hoogstraten, sie „wacker und locker (rul) hinzuschmieren“
und sie nicht weiter auszuarbeiten.15
Die Körnigkeit („rulheyt“) der malerischen Oberfläche arbeitet also der illusionären Tiefenerstreckung entgegen, indem sie eine ihr eigene Kenntlichkeit aufweist. Wir sollten nicht übersehen, dass der Begriff „kenlijkheyt“ kein negativer
(wie „on[-]kenlijkheyt“), sondern ein positiver ist, auch wenn mit der kenlijkheyt
des Mediums der Entzug an Wahrnehmbarkeit des Dargestellten, welcher letztlich Unerkennbarkeit produziert, einhergeht. Vasaris für die Kunsttheorie der
Frühen Neuzeit so prägende Sichtweise ist also auf signifikante Weise modifiziert.
Van Hoogstratens Unterscheidung lässt sich mit der Konstatierung einer „doppelten Objektivität“16, wie sie der Philosoph Edmund Husserl in seiner Untersu-
deelt, een zekere kenbaere rulheyt heest, waer in het oog staeren kan, ter plaerfe, daer gy
wilt, ’t welk gy in’t gladde blaeuw des Hemels niet doen en kunt.“ Hoogstraten, Inleyding,
307f. Vgl. zu Hoogstratens Differenzierung zwischen kenlijkheyt und onkenlijkheyt: Marc
Wellmann, Die Entdeckung der Unschärfe in Optik und Malerei: Zum Verhältnis von Kunst
und Wissenschaft zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. u.a. 2005, 159-162.
Zur räumlichen Distanz zwischen Bild und Betrachter als ästhetischer Wirkraum vgl. auch
Martin Warnke, Nah und Fern zum Bilde, hrsg. v. Michael Diers, Köln 1997, insbes. 6-15.
14 Vgl. diesbezüglich die Beobachtung Christopher Whites zu Rembrandts eigenwilliger Bearbeitung der Kupferplatte, um eine körnige Oberfläche herzustellen: „One aspect is, however, unique in this portrait [des Jan Cornelisz. Sylvius; Su.] and a number of other plates,
notably landscapes, which were made between the early 1640s and the early 1650s. A granular tone bitten into the plate produces a charky texture over some parts of the subject, which
creates a subtle play of shifting light and shadow within the setting contained by the oval. In
places it has been burnished away, notably in the face, enhancing the modelling and suggesting the tissues beneath the surface of the skin.“ Christopher White, Rembrandt as an Etcher.
A Study of the Artist at Work, New Haven u. London 1999, 143f.
15 „Ik zeg dan, dat alleen de kenlijkheyt de dingen naby doet schijnen te zijn, en daer en tegen
de egaelheyt de dingen doet wechwijken: daerom wil ik, datmen’t geen voorkomt, rul en
wakker aensmeere, en’t geen weg zal wijken, hoe verder en verder, netter en zuiverder handele.“ Hoogstraten im Kapitel „Van voorkoming, wechwijking, en verkorting“, in: Ders., Inleyding, 307.
16 Edmund Husserl, Phantasie und Bildbewußtsein (1904/5), hrsg. u. eingel. v. Eduard Marbach, Hamburg 2006, 91.
DIE INTENTION DES MALERS
21
chung zu Phantasie und Bildbewußtsein beschreibt, aus phänomenologischer Perspektive stützen. Husserl schreibt: „Die Erscheinung des Bildobjekts [...] trägt in
sich den Charakter der Unwirklichkeit, des Widerstreits mit der aktuellen
Gegenwart.“17 Und im Konflikt zwischen Bild und Illusion (zwischen dem Blau
des Papiers und dem Blau des Himmels, das vermittels des ersten vorgestellt wird)
stellt sich die Fiktion her. Van Hoogstratens Begriff der „onkenlijkheyt“ bezeichnet
im Aspekt der Verneinung eine Negativität, die Husserl als Eigenart der Fiktion
begreift: „Das Fiktum ist ja anders charakterisiert als jede andere Gegenwartserscheinung, es trägt das Brandmal der Nichtigkeit an sich, es ist Vorstellung einer
Gegenständlichkeit, aber der Widerstreit zeichnet sie als nichtgegenwärtige.“18 Die
nichtgegenwärtige Gegenständlichkeit, die das Bild erzeugt, hat ihre spezielle Faszination, die das Auge auf die „Kenntlichkeit“ fi xiert und die Phantasie vermittels
der „Unkenntlichkeit“ auf Trab bringt, wie Husserl ausführt: „Überhaupt mag das
Spiel der Phantasie in Bewegung gesetzt werden, so dass wir uns in die Welt des
Sujets hineinleben [...19]. Aber wie wesentlich am Interesse das Bildobjekt beteiligt
ist, zeigt sich darin, dass die Phantasie nicht diesen neuen Vorstellungen nachgeht,
sondern das Interesse immerfort zum Bildobjekt zurückkehrt und innerlich an ihm
hängt, in der Weise seiner Verbildlichung seinen Genuss findend.“20
Diesen Aspekt des Genusses hat schon Van Hoogstraten begriffen, wenn er der
„wahrnehmbaren Körnigkeit (kenbaere rulheyt)“ die Wirkung zuspricht, das „Starren“, „wo auch immer es dir gefällt“, auszulösen. Die Rauheit der Oberfläche baut
eine sinnliche Nähe zwischen Bild und Betrachter auf, die als haptisch bezeichnet
werden kann, denn sie gibt der Phantasie quasi Anhalt.
Gilles Deleuze, der in seinem Buch über Francis Bacon immer wieder auf Rembrandt zu sprechen kommt, definiert die „haptische Funktion“ als „Vereinigung
zweier Sinne, des Tastsinns und des Gesichtssinns“.21 Deleuzes Begriff des Haptischen formuliert sich als Kritik an Wölfflins kategorialer Unterscheidung zwischen dem Taktilen und dem Optischen, „Tast- und Sehbild“22, welche das Lineare vom Malerischen abhebt und dem ersteren allein die Möglichkeit zuschreibt,
17 Ebd., 49.
18 Ebd., 58.
19 Husserl holt hier erklärend aus: „[...] wie wenn wir uns beim Anblick der Bilder eines Paolo
Veronese versetzt fühlen in das prächtig-üppige Leben und Treiben der vornehmen Venezianer des 16. Jahrhunderts; oder in den gemütsvollen Holzschnitten Dürers die Verklärung
der deutschen Landschaft oder der deutschen Menschheit ihrer Zeit erschauen.“ Ebd., 39.
20 Ebd.
21 Gilles Deleuze, Francis Bacon. Logik der Sensation, übers. v. Joseph Vogl, München 1995, 75.
Deleuze entwickelt den Begriff des Haptischen ausgehend von Überlegungen der formalistischen Kunstgeschichte, insbes. in Rückgriff auf Alois Riegls Die spätrömische Kunstindustrie,
Wien 1901 und Heinrich Wölfflins Kunsthistorische Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1915.
22 Wölfflin, Kunsthistorische Grundbegriffe, 33.
22
DIE INTENTION DES MALERS
Plastizität zu erzeugen.23 Jedoch relativiert Wölfflin diese Polarisierung, wenn er
bezüglich des Malerischen schreibt: „[E]s ist kein Widerspruch, wenn auch hier
noch die optische Empfindung durch das Tastegefühl genährt erscheint, jenes
andere Tastgefühl, das die Art der Oberfläche, die verschiedene Haut der Dinge
kostet.“24 Deleuze wendet gegen die scharfe Differenzierung ein: „Man muß nur
einen Rembrandt verkehrt herum und aus der Nähe betrachten, um die manuelle
Linie als die Kehrseite des optischen Lichts zu entdecken. Man könnte sagen, daß
der optische Raum selbst neue taktile Werte (und ebenso umgekehrt) freigesetzt
hat.“25 Für Deleuze besteht die „Logik der Sensation“ im Wirkungsfeld der Malerei in der sinnlichen wie sinnreichen Verdichtung der Darstellung. Deleuze konstatiert: „Es kommt der Sensation zu, daß sie eine konstitutive Ebenendifferenz,
eine Pluralität von konstituierenden Bereichen umhüllt.“26
Die sinnliche Komplexität des Malerischen hat auch schon Heinrich Wölfflin
als „Klarheit des Unklaren“27 definiert und mit dem späten Rembrandt in Verbindung gebracht:
[W]enn bei Rembrandt ein Akt auf dunklem Grunde steht, so scheint das Helle des
Körpers aus dem Dunkel des Raumes sich gleichsam herauszuentwickeln; es ist, als
ob alles aus einem Stoffe wäre. Die Deutlichkeit des Gegenständlichen braucht
dabei nicht herabgesetzt zu werden. Bei völliger Klarheit der Form kann sich zwischen den modellierenden Lichtern und Schatten jene eigentümliche Verbindung zu
eigenem Leben vollzogen haben, und ohne dass die sachliche Forderung irgendwie
zu kurz gekommen wäre, können Figur und Raum, Dingliches und Nicht-Dingliches, zum Eindruck selbstständiger Tonbewegung zusammenschlagen.28
Ein Blick in das Griechisch-Deutsche Wörterbuch lehrt uns, dass „haphe“ sich mit
dem lateinischen Begriff „tactus“ mit einer Ausnahme alle Bedeutungen teilt, wie
die des Berührens, Ergreifens, des sinnlichen Gefühls. Die Ausnahme bildet ein
23 „Der lineare Stil ist ein Stil der plastisch empfundenen Bestimmtheit. Die gleichmäßig feste
und klare Begrenzung der Körper gibt dem Beschauer eine Sicherheit, als ob er sie mit den
Fingern abtasten könnte, und alle modellierenden Schatten schließen sich der Form so vollständig an, daß der Tastsinn geradezu herausgefordert wird [...]. Die Form bei Frans Hals ist
grundsätzlich der Greifbarkeit entzogen. [...] Nahbild und Fernbild treten auseinander. [...]
Der ganz nahe Anblick ist sinnlos. [...] Die rauen, zerklüfteten Flächen haben alle unmittelbare Vergleichbarkeit mit der Natur abgestreift. Sie wenden sich nur an das Auge und wollen nicht als tastbare Flächen zur Empfindung sprechen. [...] Man sieht dann, daß das, was
Frans Hals gibt, im Grunde auch bei van Dyck und Rembrandt vorhanden ist.“ Ebd., 36,
59f.
24 Ebd., 43.
25 Deleuze, Francis Bacon, 80.
26 Ebd., 28.
27 Wölfflin, Kunsthistorische Grundbegriffe, 230.
28 Ebd., 35. Vgl. hierzu auch Carl Neumann: „Das Unklare ist unter Umständen das viel Klarere, nur eben anderen Organen zugängliche. Die isolierte Sehsinnlichkeit und der Verstand
reichen nicht aus, es zu erschöpfen. Ein kompliziertes Sehen, das die Gemütskräfte heranruft, wird in Anspruch genommen.“ Carl Neumann, Rembrandt, München 1922, 547.