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1. Kapitel Volle Fahrt voraus! „Wo habsch denn nur mein Dampfer-Billett?“ murmelt Ilse Bähnert gedankenverloren vor sich hin. Nervös kramt die alte Dame in ihrer Handtasche. Ein Pulk von wartenden Passagieren drängelt von hinten. „Drücken Se doch nich so, eene alte Frau ist doch keen D-Zug!“, zischt Frau Bähnert verärgert. „Ist ja een Andrang wie kurz vorm Auslaufen dor Arche Noah!“ Das Schieben am Elbkai vergrößert sich noch, als dreimal hintereinander ein mächtiges tiefes Tuten aus der Schiffspfeife das Anlegemanöver des weiß leuchtenden Schaufelraddampfers untermalt. Die meisten der Wartenden haben eine Tagesreise gebucht, stromaufwärts ins Elbsandsteingebirge. Sie sind mit Hüten, Sonnenbrillen und Wanderstöcken ausgerüstet und hoffen auf einen heiteren Ausflug in die Felsenwelt der Sächsischen Schweiz. Frau Bähnert hat ihre Karte noch immer nicht gefunden. „Mein Eierlikör, een Flagong Kölnisch Wasser, Taschenlampe, Nagelfeile, Hühneroochenpflaster, Erfrischungstuch …“, zählt die unternehmungslustige Witwe die Gegenstände in ihrer Tasche auf. „Nur dor Fahrschein fehlt! Habe ich den etwa offem Küchentisch dorheeme liegen lassen? Muss an Halseimer liegen, oder wie heeßt noch mal die Krankheit, wo eener ständig vergisst, warum er was vergisst?“ Um sich besser erinnern zu können, legt Ilse Bähnert den Kopf in den Nacken und blinzelt mit zusammen gekniffenen Augen in die gleißende Sonne. Glatt und blau wie ein Matrosenkragen spannt sich der Himmel über das breite Tal und über den Fluss, der im zarten Morgenlicht wie dahin sickerndes Quecksilber schimmert und glitzert. Zwei Möwen schießen quer über das Elbbett und schnappen schreiend und streitend nach ein paar trockenen Semmelkrumen, die ihnen ein älterer Herr mit kariertem Hütchen zuwirft. Ilse Bähnert fasst sich mit einem Mal ruckartig in die Strickjackentasche. Sie spürt den dicken Papierumschlag. „Verflixt, ich habe den Dampferfahrschein mit meinen Mallorca-Reiseunterlagen verwechselt!“ sagt sie so laut, dass es der Kapitän mit einem halben Ohr hört, der auf der Gangway zum Schiff gerade damit beginnt, die Tickets zu kontrollieren. Sein Steuermann und der Matrose reparieren derweil ein defektes Positionslicht neben der im Wind baumelnden Schiffsglocke. Der Dampfmaschinist raucht genüsslich eine Zigarette. „Werte Dame, darf ich bitte einmal einen Blick auf Ihre Tageskarte werfen“, sagt der stattlich gebaute Käptn, auf dessen Kopf eine schmucke Schirmmütze sitzt. In seiner tadellosen dunkelblauen Uniform mit den goldenen Ärmel-Streifen und dem blütenweißen Hemd beeindruckt er nicht nur Frau Bähnert. „Jawoll, Herr Kapitän! Einmal Rathen und zurück“, tiriliert sie. „Dor Fahrschein liegt allerdings bei mir zu Hause. Aber ich kann Ihnen gern mein Mallorca-Flugticket als een Pfand hinterlassen. Morgen reiche ich die Fahrkarte nach! Ehrenwort!“ Hinter Frau Bähnert beginnen ein paar Leute ungeduldig zu murren, weil sie endlich aufs Schiff und ihre Reise beginnen wollen. Der Kapitän überlegt kurz und fällt dann sein gütiges Urteil. „Normalerweise lasse ich mich auf solche Schiebereien nicht ein“, brummt er. „Aber Sie haben ehrliche Augen!“ Aus lauter Dankbarkeit hätte Frau Bähnert am liebsten den wuscheligen grauweißen Bart des Schiffsführers gestreichelt. „Sie ham een gutes Herz, Herr Schaufelraddampferkapitän! Obwohl Sie wahrscheinlich mit alln Wassern gewaschen sind! Also, hier, meine Mallorca-Unterlagen!“ Sie drückt dem Mann die Schriftstücke aus dem Reisebüro in die Hand. 5