Dai Schulteknüppel Nr. 63 - Teil 3

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Dai Schulteknüppel Nr. 63 - Teil 3
Erinnerungen des Oberkellners des „Hotel Heller“ in Schivelbein
Adel, Land und Leute zu Großvaters Zeiten von 1879 bis 1893
3. Teil
Fragment
Original: Christel Wehlen geb. Engelke, Hamburg
Neufassung: Dietrich Leistikow aus Neu-Schivelbein
Virchow und Valentini
Schivelbein ist die Geburtsstadt des großen Mediziners und Anthropologen Rudolf Virchow, geboren am 13. Oktober
1821. An dem Geburtshaus Virchows, einem Giebelhäuschen in der Marktecke neben der Apotheke und schräg
gegenüber dem Hotel, war eine gußeiserne Tafel mit
entsprechender Inschrift angebracht. Virchow war schon
zu Schulzeiten ein geweckter Knabe, der durch seine
Fragen die Lehrer in Erstaunen und Verlegenheit brachte, so daß dem Zehnjährigen, als er wieder einmal eine
kluge Bemerkung gemacht hatte, ein älterer Lehrer sagte: „Mein Sohn Rudolf, geh nach Hause und sage
Deinem Vater, er solle Dich auf eine Höhere Schule
schicken, ich kann Dir nichts mehr beibringen.“ So kam
der Würfel ins Rollen. Virchow wurde aufs Gymnasium
geschickt und bezog später die Universität. Danach folgte sein glänzender Aufstieg, bis er schließlich eine
bekannte Größe nicht nur in Deutschland, sondern in der
Welt wurde. Er schuf in dem Pathologischen Institut zu
Berlin eine Musteranstalt und einen Mittelpunkt für selbständige Forschungen zahlreicher Gelehrter. Seine
großartigste Leistung war die Begründung der Zellularpathologie. Neben seinen wissenschaftlichen Tätigkeiten entfaltete Virchow eine rege politische Tätigkeit,
ergriff im Parlament und in der Berliner Stadtverordnetenversammlung oft das Wort zu oratorisch nicht glänzenden, aber durch Sachkunde und Schärfe des
Verstandes hervorragenden Reden.
Kurz vor seinem Tode, im Frühjahr 1890, traf er zu
einem kurzen Besuch in seiner Vaterstadt ein und fuhr in
Begleitung des Oberpräsidenten von Pommern, des früheren Kulturministers von Puttkamer, in einem von der
Stadt ausgeborgten, blitzblanken Landauer, bespannt mit zwei Braunen,
die nicht recht zu dem Wagen paßten, vom Bahnhof nach dem
Marktplatz, betrachtete sein Geburtshaus von außen und begab sich
darauf ins Rathaus, wo eine Begrüßung stattfand und ihm das
Ehrenbürgerecht verliehen wurde. Mit einem Frühstück in kleinem
Kreise beim Landrat wurde der Besuch abgeschlossen.
Auch Bruno von Valentini, der Chef des Zivilkabinetts Kaiser Wilhelms
II. und Nachfolger der viel vermögenden Exzellenz von Lucanus, hat
Schivelbeiner Pflaster getreten. Er war 1879/80 als Assessor in
Schivelbein tätig und speiste im Hotel.
Fritz, Franz, Friedrich
St.-Marien-Kirche in Schivelbein
Das Dreigestirn mit dem Esel voran stellte die Seele des inneren
Hotelbetriebes dar, in dem sich die geistigen Fäden des ganzen Kreises
zusammenzogen. Fritz hieß der Pikkolo, wenn einer da war. Franz war
meine Wenigkeit, für zwei Jahre ein anderer, für einen Oberkellner zu
klein von Wuchs und nichtssagend, deshalb im Stillen Wobei genannt,
und der Dritte im Bunde Friedrich.
Fangen wir am hinteren Ende an. Der erste Friedrich aus meiner Zeit
hatte den Hausnamen Räther, genannt Rether. Er war verheiratet und
gründete, nachdem die Trinkgelder reichlich geflossen waren, ein eigenes Fuhrgeschäft, d.h. er stellte ein Lohnfuhrwerk für Reisende mit
Musterkoffern, manchmal wahrhaften Ungetümen und gelegentlich auch
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für Herren, die zu Verwandten und Bekannten aufs Land fuhren und diese mit ihrem Besuch mehr oder weniger freudig zu überraschen hofften.
Der Friedrich Witt und der Friedrich Bi-Ba-Bösel machten es ebenso. Ein vierter Friedrich mit dem noch schöneren
Namen Großklags, aus dem Hotel Müller stammend, hatte eine Kneipe mit Hinterstübchen eröffnet, wo sich auch
ein Unterschlupf für heimlich trinkende Sekundaner und Primaner bot, denen Herr Großklags großmütig Kredit einräumte. Ebenso beliebt wie diese Kneipe war bei den jugendlichen kommersierenden und salamanderreibenden
Kneipanten die Grüne Linde, vier Kilometer von Schivelbein entfernt, an der Chaussee von Simmatzig. Ein weiterer
Friedrich namens Borchert machte ebenfalls eine Gastwirtschaft auf.
Ein Original unter den Friedrichen war jener Friedrich, der in der Regel mit geschultertem Besen über den Hof hoppelte und, wenn nötig, stundenlang am Wagenschlag der vorgefahrenen Gespanne mit oder ohne Reisedecke hielt
und im Hinblick auf das zu erwartende Douceur höflich dienerte und grüßte und am Ende nur den Wagenschlag
schloß. Er brachte es nicht zum Butiker. Albert Spalding vom Vierhoff, auch Vierpott genannt, ein Spaßvogel, der an
Dalles litt, brachte es einmal fertig, dem Friedrich fest ins Auge blickend, plötzlich in die Westentasche zu greifen,
und, als dieser ihm devot die Hand hinstreckte, ihm in besagte Hand zu kitzeln, worauf Friedrich natürlich große
Augen machte und nur einen verworrenen Gruß stammelte. Herr von Tschirschky, der gern tief ins Glas guckte und
nach einer Feier im Hotel übernachtete, wünschte am nächsten Morgen um 7 Uhr geweckt zu werden. Ich hatte deshalb Friedrich mit dem Wecken beauftragt. Dieser entledigte sich pünktlich seiner Aufgabe, hatte wahrscheinlich mit
dem Besen an die Tür gedonnert und fragte dann fünfzehn Minuten später nach dem Begehr des Herrn Barons.
Dieser bestellte sich einen starken Kaffee und eine Buttersemmel. Darauf sprach Friedrich noch von dem
aufgegangenen schönen Frühlingstag und erkundigte sich nach weiteren Wünschen wegen der Abfahrt. Herr von
Tschirschky, schon ungeduldig geworden, erinnerte an sein Frühstück. Darauf Friedrich: „Also eine Buttersemmel
und ein Glas Bier?”
Ich selbst war selbstverständlich bartlos, trug einen tadellosen Frack und Schatelänchen, eine Uhrkette wäre mir zu
bourgeoismäßig erschienen. Meinen Namen hatte ich nicht etwa nach Franz von Assisi, es war vielmehr eine
Merkwürdigkeit, daß die Kellner im protestantischen Pommern durch die Bank Franz hießen. Nach Pfeffer und Salz,
Essig und Öl und Mostrich, Brötchen oder Brot brauchte nie gefragt zu werden. Wer Worcestersoße liebte, kriegte
sie. Die Speisekarten und Menus schrieb ich, von meinem Chef inspiriert, wohl als der einzige Kellner weit und breit
ohne Fehler. Das war ich den Gästen schuldig. Kam ein Gespann durch das alte Steintor auf das Hotel zu, so
erkannte ich schon an den Pferdeköpfen, wer kommen würde, oder ich hörte es an dem Pferdegetrappel, dem
Rollen des Wagens und dem Schlittengeläut.
Zweimal in meinem Leben muß ich die Sache jedoch falsch gemacht haben, das schloß ich aus den Spötteleien,
die nie ganz verstummten. Herr Heller und Herr Rittmeister von Zanthier hatten ihre besondere Auffassung von der
Sache. Waren die Herren angetrunken und sprachen sie einmal von der Kellnerseele - oder dem
Schwalbenschwanz, so war dies in der Regel gut gemeint und konnte mich nicht erzürnen.
Ein Pikkolo ist nur kurz und klein, über ihn, den dritten, ist daher nichts zu sagen. War sein Frack zu lang geraten,
so sah er von hinten aus wie der Vogel Pinguin oder ein kammerherrlicher von Puttkamerscher Gaul. Wir servierten
gemeinsam die bestzubereiteten Speisen. „Schuhsohlen”, „auftransparierter Kalbsbraten” oder „Kalbsbraten à la
Gummi elasticum” wurde den Gästen nicht vorgesetzt.
Wir lasen Carome: „L’art de la cuisine francaise en XIX. siècle”. Unsere Küche war die französische Küche, man
kann sagen polonisiert, unter Verwendung von Naturbutter und, wenn passend, von saurer Sahne und Pilzen, auch
Paprika und anderen Gewürzen. Beefsteak, Rumpsteaks, Filetbeefsteak, Hammelkoteletts wurden je nach Wunsch
deutsch, englisch oder auf dem Rost gebraten. An der ‘table d’ hote aß man Suppe, zwei Gänge nebst Kompott oder
Nachtisch, auch Butter und Käse für anderhalb Mark einschließlich Brötchen. Brot oder Pumpernickel. Hieran wurde
wenig verdient, nur der Wein brachte es. Wer à la carte aß, dem wurde für gewöhnlich im Gastzimmer serviert.
Die größten Delikatessen stammten von Fischen, Delisen sagte Max Mendel. Vermißten die Gourmands im Hotel
unter den heimischen Wasserbewohnern einen Kannenberg-Panfisch. Zander oder Delisen wie Räucherlachs und
Kaviar - für den großen Krebs, den Hummer und für Austern war weniger Interesse vorhanden -, so schrieb die
Hoteldirektion ihre Bestellung an Carl Waldemann, Köslin, und die Feinschmecker erhielten ihren Tribut. Im Wald bei
Dolgenow gab es Morcheln, die Herr Günther wegen seines hohen Piskants Piergünther nannte, heranschaffte. Die
gräfliche Schloßverwaltung in Stargordt versah um die Osterzeit nicht nur die Altreichskanzler mit Kiebitzeiern, sondern lieferte ins Hotel außer dieser Modesache noch Weintrauben und die zu jener Zeit raren Pfirsiche und Ananas
für Bowlen. Gartenerdbeeren wurden roh gegessen, höchstens mit Zucker oder Schlagsahne, auch für Mürbeteig
und Torte verwendet, für die Bowle hatte man Walderdbeeren. Maronen, Tomaten und Artischocken kannte man
kaum. Zu der pommerschen Gans und dero Leber gehörten Bratäpfel.
Nun zu den Getränken. Es wurden neben allen bekannteren Weinsorten, Bowlen, Schnäpsen und Likören,
Schwedenpunsch, Glühwein und Grog getrunken, an Bier bei Hellers Patzenhofer Dunkel, Porter, Ale in der
Bockbierzeit Pfungstädter Bockele, zeitweise Kulmbacher, nach dem Umbau und Vorhandensein eines größeren
Saales für allerlei Veranstaltungen auch helles Bier aus der Brauerei Achilles, später Buchterkirch & Müller, bei
Collatz einheimisches Hell von Buchterkirch & Müller, später Müller, der sein Hotel schon 1892 an lben verkauft
hatte, dazu ein sogenanntes echtes Dunkles.
Den Bierausschank hatte ich in Pacht. Beliebt war die Bonifaziusbohne oder Kullarchen, dann auch Sekt mit
Rotwein, unter der Bezeichnung Ostpreußischer Landstand geläufiger als Türkenblut, notfalls wurde eine
Feuerzangen-, Selleriebowle oder Kalte Ente gebraut.
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Geraucht wurden vornehmlich Zigarren, gute bis zur Brazil, Mexiko, Virginia und Havanna, Xie Upman, Henry Clay
und Back. Zigaretten weniger. Abgerechnet wurde ein- oder zweimal in der Woche. Zur Aufnahme und Abrechnung
des Geldes dienten ein Notizblock und eine Tausender-Zigarrenkiste. Ein Gent rauchte diese nur bis zur Hälfte. Ein
Gentleman unserer Zeit bat eine Dame auch niemals um Verzeihung, er ließ es eben nicht so weit kommen.
Hotel- und Reiseverkehr, Landball und Patti
Das Hotel war nicht nur der Sammelpunkt für die Großgrundbesitzer ringsum, es fanden dort auch allgemeine
Festlichkeiten und Privathochzeiten, vereinzelt Künstlerkonzerte statt, insbesondere nachdem der neue Saal entstanden war. Die Honorationen des Städtchens verkehrten zum Teil dort regelmäßig, nicht allzu häufig, zum Teil in
dem anderen Hotel und in der Trinkstube von Collatz, später Bienengräber. Im Sommer auch im Schützenhause.
Die schwarze Stunde für eine akademische Runde gab es nicht. Die Akademischen hatten noch nicht das Bedürfnis,
sich abzusondern. Gekegelt wurde von 1890 ab am Donnerstag im Gasthaus Sietke, sprich Süflke. In den ersten
Jahren waren die besten Kegler Herr Heller und Herr Oberlehrer Busch. Saalfestlichkeiten fanden 1888 auch vor
den Toren der Stadt bei Flackert statt. Mancher Städter hielt sich ganz zu Haus, mancher kam nur zum
Kaisergeburtstagsessen, zum Konzert oder Theater einer Wandertruppe.
Wer mit der Bahn kommend geschäftlich in der Stadt zu tun hatte, für das eigene Geschält oder als
Provisionsreisender, begab sich
ins Hotel, wo er wohnte und speiste. Es wurde allgemein stark
getrunken und gut gegessen.
Alkoholgegner und Vegetarier
wurden verächtlich behandelt.
Der Reisende hatte oft große
Musterkoffer bei sich, die auf den
Omnibus geladen wurden, der zu
jedem Zuge an der Bahn war.
Erforderlichenfalls wurden die
Ungetüme später mit dem
Kofferwagen von dem Hausdiener oder einem Lohndiener in die
Geschäfte gefahren, wo der
Gasthof „Zur Linde“ in Schivelbein
Reisende zu tun hatte. In den
zwanzig Jahren meiner Tätigkeit in Schivelbein konnte man deutlich beobachten, wie die mit eigenem Klepper fahrenden Reisenden langsam ausstarben. Sie hatten eine sehr stabil gebaute Chaise, oft nur zweirädrige Karren mit
Verdeck, damit ihnen und den Koffern der Regen nichts anhaben konnte und das Möbel lange vorhielt. Manche hatten zeitweise einen Zweispänner, womöglich ausgeborgte Pferde, wie Jan Jus’, Johannes Guse, ein alter
Lebemann, der aus Rarfin, Kreis Belgard, stammte, früher ein Gut besessen hatte, daher in ländlichen Kreisen
bekannt und gern gesehen war; er fuhr mit Wasch- und Wringmaschinen. Andere machten in Papier, andere wieder
in Posamenten, Zigarren, Bonbons, die meisten hatten in den jüdischen Manufakturgeschäften zu tun, Damen- und
Herrenkonfektion. In Wein reiste der gut gekleidete Herr von Jaminet mit de Plattfüß, der einzige, der schon zu jener
Zeit immer das Wort „gnädige Frau” auf den Lippen hatte. Viele bereisten auch die Güter. Eine besondere Stellung
nahmen der kleine Eisenheimer und Aschhaus Oberingelheim ein, dazu Ullmann aus Berlin, ein tadelloser aber teurer Herrenschneider. Obertas, Taschalem, Linidre und etliche Bravourstücke. Der Eisenheimer fidelte gut, hatte auf
all seinen Reisen die Geige als treue Begleiterin mit und fuhr auch mit ihr auf die Güter, um Weinofferte zu machen.
Asch setzte neben anderen Weinen seine eigene Kreszenz Oberingelheimer auf Bestellung in Fäßchen an. Der
dicke Böckel, ein lustiger Herr von einigen vierzig Jahren, wog über drei Zentner, besuchte Kolonialwarengeschäfte
und hatte für die Kinder immer Bonbons zur Hand, er mußte hemdsärmelig für sich essen; zuzeiten nahm man ihn
aber auch an der table d’ hote auf.
Mit dem Spargelessen und dem Anfassen dressierter Forellen haperte es wohl manchmal, Herr von SchmidtBerkenow aß wiederum nur die Spargelköpfe. Eisbeine und Kalbshaxen standen auf keiner Speisekarte des Hotels.
Das Leben in dem Hotel wurde auch durch die Reisenden belebt, die von Stadt zu Stadt reisten, mit Land und Leuten
bekannt waren und Neuigkeiten auspackten. Mancher verkrachte Offizier oder Gutsbesitzer sowie gescheiterte
Existenz oder verbummeltes Genie mit guten Allüren war unter ihnen. Die Mode kam durch sie zu Ehren, angefangen bei den spitzen Schuhen, den Entenfuß, bis zu dem Panama, den man zusammengefaltet in die Tasche stekken konnte, und dem Florentiner mit Straußenfedern oder lebenden Colibris, dem Entoutcas und der Wollregime von
Professor Dr. Jaeger,
Wer einfachere Umgebung suchte, ging ins Hotel Müller-Iben. Ein älterer Commis und ein Predigtamtskandidat
kamen auf leisen Sohlen von hinten ins Hotel und gingen ebenso hinaus, nachdem sie erst ein schärferes Getränk
zu sich genommen hatten.
Nach dem Umbau des Hotels und der Eröffnung des großen Saales, der mit dem kleinen Saal durch eine Schiebetür
verbunden war, sollte den Kreisinsassen etwas Besonderes geboten werden. Das Tschammer-Kränzchen der
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Schivelbeiner Hautevolle hatte sich nach und nach aufgelöst.
So gab Herr Heller die Anregung zu einem Landball. Ein geeigneter Veranstalter fand sich im Kreise nicht. Man verfiel daher auf Herrn Rittmeister von Gaudecker - Kerstin, Kreis Kolberg - Körlin, der sich der Aufgabe im Verein mit
Herrn Hauptmann Thiede - Groß-Rambin, Kreis Belgard, bereitwilligst unterzog. Es wurden sämtliche Großgrundbesitzer aus Kreis Schivelbein und Umgebung mit Frau und tanzfähigen Familienangehörigen eingeladen, dazu der
Landrat und Freiherr von Tschammer, Offiziere von den Pasewalker Kürassieren sowie etliche Ulanen,
Vierundfünfziger und ein krummer Neuner aus Stargard fänden sich dazu. Ein großes Fest kam zustande. Es
begann mit einer Teestunde im kleinen Saal, die Herren nahmen den Tee meist stehend ein. Dann folgte unter den
Klängen des durch den Filius Arthur erneuerten Zummach’ schen Streichorchesters der Ball im großen Saal, die
Damen in schönstem Staat und Schmuck, mit Fächer, die Jüngeren durchweg in Weiß und lichtem Grün, Blau und
Rot, die verheirateten Damen, zumal die älteren mit Spitzenhäubchen, die Tornüre war abgeschafft, das Cut kam
stellenweise noch zu Ehren; die Herren waren, soweit nicht Militär, in Frack, mit Claque und weiß behandschuht. Am
Anfang eine Polonäse. Unter den Herren waren vorzügliche Tänzer. Nach angemessener Zeit nahm man das
Abendessen ein, bei dem überall die Sektpfropfen knallten. Danach wurde weiter getanzt und gespielt und angeregte Unterhaltung gepflogen. An einem Contre, einer Quadrille und einem Kotillon mehr zu Ende des Festes mußte
alles, was Beine hatte, teilnehmen.
In der Folgezeit konnte manche Verlobung bekanntgegeben werden. Eine amüsante Begebenheit trug sich bei der
Vorstellung auf diesem Balle zu: Ein derbspaßiger Alter, Herr Rittergutsbesitzer Brasch-Muhlendorf, Kreis
Regenwalde, stellte sich Herrn Oberstleutnant von Tschammer mit überlauter Stimme vor: „Brasch-Muhlendorf`.
Herr von Tschammer äußerte: „Ah, Graf von Schulenburg?”. Darauf Brasch: „Nee, Brasch von Muhlendorf!”. Herr
von Tschammer, dem das immer noch nicht in den Kopf wollte, erkundigte sich später bei Herrn Heller, was für eine
Bewandnis es mit dem Grafen Schulenburg hätte, der wohl ein großer Witzbold sei.
Bald darauf sollte Adelina Patti in Schivelbein singen. Herr Heller rechnete mit einem vollen Hause, hatte sich darin
aber verrechnet. Die Patti ließ sich auf der Rückreise von einem Petersburger Gastspiel telegraphisch das Ergebnis
des Vorverkaufs nach Danzig berichten und telegraphierte ab. Die Schivelbeiner vermochten nicht dem idealen
Schwung meines Chefs zu folgen, die Beteiligung war zu gering, die Eintrittsgelder wurden zurückgegeben.
Als Ersatz dafür wurde ein Wohltätigkeitskonzert veranstaltet, bei dem unter Leitung Wagenknechts ein kleiner
gemischter Chor, ein Gesangsduett von Frau Lübke und Frau Scheunemann, Gräfin Schliefen mit schwedischen
Liedern und Karl Waldow als Flötist, begleitet von Wagenknecht, mitwirkten.
Alter Feudalismus
Der König von Hinterpommern war Herr von der Osten - Schloß Plathe. Er hatte den größten Grundbesitz und
damals noch das meiste Geld, das er auch sehr zusammenhielt. Mit Stolz zeigte er seinen Landarbeitern den weit
geöffneten Geldschrank, in dem sich viele Rollen Gold und Silber befanden, und sagte: „ Nun seht mal, Kinderchen,
das viele Geld, wie reich euer Herr durch Sparsamkeit geworden ist!”. Seine einzige Tochter war verheiratet mit
Herrn von Knebel-Döberitz in Gersdorf, Kreis Dramburg, dem Ersten unter den Knebels, die ihm benachbart auf
Rosenhöh, Klebow und Dieterhof saßen. Da Pferde, Wagen und Dienerschaft reichlich vorhanden waren und der
Alte von der Osten das Geld für die etwas umständliche Bahnfahrt sparen wollte, fuhr er alle Jahre einmal querfeldein von Plathe über Schivelbein, wo er Relais schaffte, nach Gersdorf, im ganzen sieben Meilen Wagenfahrt.
Während die Pferde in Schivelbein gewechselt wurden, setzte sich Herr von der Osten in das Festzimmer des
Hotels, wo er vom Fenster aus das spärliche Leben und Treiben auf dem Marktplatz beobachtete, immerhin war
Schivelbein fast dreimal so groß wie Plathe. Dann holte er sein einfaches Butterbrot hervor und verzehrte es, bestellte für seinen Kutscher eine Schnitt Bier, bezahlte fünfzehn Pfennig dafür und fuhr nach einer halben Stunde weiter.
Drei Tage später, auf der Rückreise, spielte sich der Pferdewechsel in der gleichen Weise ab.
Ebenso fuhr sein Schwiegersohn von Gersdorf nach Plathe mit Relais und Rast in Schivelbein. Er fuhr mit Frau und
Kindern, Koffern, zwei Kutschern, einem Diener und einer Kinderfrau in zwei oder drei Wagen und verweilte in
Schivelbein zwei oder drei Stunden. Im Hotel wurden ein wie allemal Kartoffelpuffer gegessen und Kaffee dazu
getrunken, Herr von Knebel war groß und schlank, trug Einglas - als der einzige im Umkreis außer Herrn von
Oppenfeld - und am Ringfinger drei Trauringe, die seiner ersten Ehe mit. Im Sitzen schlug er ein Bein übers andere, das übergeschlagene Bein aristokratisch anziehend. Entweder sah er in die Zeitung oder unterhielt sich mit Herrn
Heller. Die Unterhaltung zog sich manchmal allein zwei Stunden hin. Gesprochen wurde regelmäßig von der alten
Knebel-Gersdorf, dem alten Kreistierarzt Heller-Dramburg, der die Merino-Herde des staatlichen landwirtschaftlichen Instituts Möglin betreut hatte und oft nach Gersdorf gekommen war, von neuen landwirtschaftlichen Maschinen,
der Torffabrikation und Moorkulturen, da auch Gersdorf viel Moorland hatte.
Fuhr Herr Heller zu seinem Schwager Siegert nach Winkel, dann berührte er Gersdorf und mußte für ein Stündchen
bei Herrn von Knebel einkehren, da es nach Winkel auch immerhin viereinhalb Meilen waren. Schließlich wurden
noch die landwirtschaftlichen Besonderheiten im Kreis Schivelbein und Dramburg berührt.
Dann bestiegen Herr und Frau von Knebel mit den jüngsten Kindern den ersten Wagen auf Gummi und fuhren,
nachdem die Dienerschaft der Gnädigen die Hand geküßt hatte, davon, die anderen Wagen folgten. Die Fahrten
spielten sich mit einer Regelmäßigkeit ohne gleichen ab. Zu jener Zeit lebte noch der alte Herr von Borcke55
Kankelfitz, der mit seinen achtzig Jahren es nie versäumte,
den am Tage vorüberfahrenden Personenzügen zwischen
Labes und Ruhnow am Fenster stehend mit dem Taschentuch
zuzuwinken, was viele Reisende, die davon wußten, ob Jude
oder Christ, sich beizeiten bereithaltend, in gleicher Weise
erwiderten.
„As dat is, so möt dat bliewen” war der Wappenspruch des
alten pommerschen Geschlechtes der Massow. Unter den
Angetrauten der Feudalherren waren einzelne Damen, die das
Geld nur mit Handschuhen anfaßten, wie zum Beispiel Frau
von Meding - Klemzow (ab 1914 von Borcke); Frau Cleve Leckow (ab 1914 Witwe Cleve), von adligen Geblüts, nahm an
dem Sterbebette ihren Söhnen das Versprechen ab, nur adlige
Frauen zu heiraten, was die Söhne auch getreulich erfüllten.
Anton, der Leckower, heiratete die Tochter des Regierungspräsidenten von Sommerfeld in Stettin und Wilhelm, der Major,
nahm eine Manteuffel aus Redel.
Der Landrat Graf Baudissin wohnte am Ende der Stadt und
gelangte von dort unmittelbar auf die Promenade und zu den
Anlagen, wohin er jeden Tag seinen Spaziergang machte. Zum
Bahnhof fuhr er selbstverständlich durch das Scheunenviertel
um die Stadt herum. Hier nahm er auch seinen Weg nach der
Landwirtschaftsschule, die allweihnachtlich ein Wohltätigkeitskonzert mit folgendem Einakter gab, und wiederum, wenn in
der Aula der Schule ein Basar des Vaterländischen FrauenBismarckturm in Schivelbein
vereins abgehalten wurde oder die Kaisergeburtstagsfeier
stattfand. Er ging auch in die Kirche. Außerdem wurde das Hotel Heller hier und da mit seinem Besuche beehrt. In
den Kreis fuhr er mit seinem Dienstzweispänner. Verkehr hatte er in sehr beschränktem Maße, nur mit Graf
Schlieffen, Cleve, Major von Borcke, dessen Frau leidend war.
Die Gräfin sah man durchschnittlich einmal im Monat in Begleitung der Lehrerin ihrer Tochter, später mit der
Komtesse in ein oder zwei Geschäfte gehen, außerdem in den zwanzig Jahren ungefähr fünfmal bei Veranstaltungen des Vaterländischen Frauenvereins für den Kreis Schivelbein, dessen Vorsitzende sie war und einmal auf dem
oben beschriebenen Landball. Und sie war eine schöne Frau, einfach und doch sehr gut gekleidet, mittelgroß, mit
hellblondem Haar wie alle Ostens, von königlicher Haltung, gewinnender Art und sehr freundlich zu den wenigen,
mit denen sie in Berührung kam.
Der frühere Landrat des Kreises Schivelbein, Landesdirektor von der Goltz-Kreitzig, ein Witwer, kam als
Vorsitzender des Kreistages nur zweimal im Jahr zu den Sitzungen dieses Gremiums und hielt sich darauf noch eine
Stunde im Hotel auf. Er wußte immer, wo es mangelte, hat auch für Hilfe gesorgt, dabei stets den Daumen auf den
Geldsack drückend. Recht und Sauberkeit galten ihm als oberstes Gebot. Sonst widmete er sich ganz seinem
umfangreichen Besitz.
Der Pommer vom alten Schlage war königstreu, hilfsbereit, herzensgut und charakterfest. Bei den besten steigerte
sich die Charakterfestigkeit bis zur Dickköpfigkeit. Ein Schwager meines Chefs äußerte einmal: „Ich möchte unsern
Kaiser (Wilhelm II.) auf Händen tragen”. Einem anderen Schwager ging es schlecht auf seiner Klitsche, mein Chef
sagte immer: „Er sinkt wie `ne bleierne Ent“`. Um wieder auf die Beine zu kommen, lieh der Schwager von seinen
Verwandten fünftausend Mark und stellte darüber einen Schuldschein aus. Der Geldgeber starb nach einigen
Jahren. Als sein Sohn in dem Nachlaß den Schuldschein vorfand, legte er ihn gelegentlich seinem Onkel vor. Dieser
bedauerte, das Geld noch nicht zurückzahlen zu können, worauf der Neffe ohne weiteres den Schein zerriß, in den
Papierkorb warf und damit die Sache als beigelegt betrachtete. Er legte in seinem späteren Leben noch manche
Probe seiner Hochherzigkeit ab.
Ein früherer Gutsbesitzer, Herr Märker, hatte versehentlich oder absichtlich seinen Spazierstock im Hotel stehen lassen. Nach einigen Jahren benutzte ihn mein Chef, mancher bewunderte die schön gewachsenen leichte Olive und
fragte nach dem Preise. Ihm wurde geantwortet: „Dreihundert Mark”. Diese Summe nämlich hatte mein Chef Herrn
Märker auf Nimmerwiedersehen geliehen. Erinnert wurde grundsätzlich nicht. „Wer nicht Miene macht, eine geliehene Summe zurückzuzahlen, kann oder will es nicht”.
Herrn Ungenannt wurde von Itzig plötzlich eine Hypothek gekündigt. Ungenannt bat sich von seiner
Schwiegermutter den Rest der Mitgift seiner Frau, funftausend Taler, aus, um die Hypothek tilgen zu können. Der
älteste Sohn der Schwiegermutter ließ anspannen und diese fuhr eiligst im Vierspänner nach Schivelbein, um ihrem
Schwiegersohn vorläufig fünftausend Mark in Preußischen Konsols auszuhändigen. Das übrige Geld hatte der Älteste geschluckt, es war daher nicht flüssig. Ungenannt sagte nun zu seiner Schwiegermutter: „Ich danke dafür und
ein für alle mal”. Wie es weiter ging, schlecht ging es weiter. Auch eine Folge davon war ein Zerwürfnis zwischen
den Schwägern. Einmalige Andeutungen im Gespräch mit Herrn Gadebusch brachten mir nach Jahren Klarheit hierüber.
Die Familientage einzelner Adliger und bürgerlicher Patriziergeschlechter wurden in Berlin und Stettin, seltener auf
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den Stammgütern abgehalten.
Ein Absinken des alten
Feudalismus war schon
zu beobachten. Die Hauptlinie
der Gadebusch und der
Zanthier starb aus. Die Kinder
des Grafen Baudissin Evan und
Wolf schriftstellerten. Einige
Damen im Kreise hantierten mit
der Palette, eine davon brachte
es zu beachtlichen Leistungen.
Der Brügersche Mostrich nahm
seinen Lauf durch die Welt.
Schivelbeiner Originale
Schivelbein hatte seine Originale wie jede andere Stadt. Zu
ihnen gehörte Herr Hartenstein,
früher Besitzer in Wopersnow,
Klanzigsee, Westseite, Fischergehöft
der mit seiner zwei Zentner
schweren Frau ganz für sich lebte, aber tagtäglich seinen Spaziergang nach den Anlagen machte. Er mochte siebzig Jahre alt sein, war schmächtig, leicht vornübergeneigt, bartlos, steckte immer in einem zugeknöpften, schwarzen Gehrock und trug steifen Hut. Die Hände hielt er gefaltet, sofern sie nicht durch einen Regen- oder
Sonnenschirm beschwert waren. Da sich seine Frau sehr langsam fortbewegte, ging er im Zickzack bis 10 Meter
vor ihr her, um dann schnellen, trippelnden Schrittes sich wieder ihr zuzuwenden, ihr einige Worte zuwerfend, die
sie brummend erwiderte. Dann wurde der Spaziergang in der beschriebenen Weise fortgesetzt. Es kam hinzu, daß
Herr Hartenstein schwer hörte. War er von seiner Frau weit genug entfernt, so ereignete es sich wohl, daß ein ungezogener Junge, wie Ahi Mendel, an ihn herantrat, anscheinend höflich die Mütze zog und sagte: „Guten Tag, Herr
Hartenstein, haben Dreck am Bein”. Die Worte hörend, aber den Gruß würdigend, griff Herr Hartenstein dann in die
Tasche, um dem Jungen ein Geldstück zu schenken. Manchmal kam es so weit, manchmal auch nicht. Wenn nämlich die Frau alles verstanden hatte und noch rechtzeitig dazwischentreten konnte.
Auch Vater Stein, der Besitzer des Stadtgütchens Botenhagen mit schönem Wohnhaus und großem Garten, ein
jovialer Herr, hörte schwer und sprach darum umso lauter. Ging man an seinem Gehöft vorüber, dann konnte man
ihn taub mit sich reden oder sonstwie wettern hören, begleitet von einem sich oft wiederholenden „peu”, wobei er
ausspuckte. Auf der Jagd verscheuchte er die Hasen durch sein lautes Wesen. Wer sein Haus im Sommer betrat,
mußte erst an seinen Schwestern, zwei weißhaarigen und wohlbeleibten Jungfern vorbei, die in einem kleinen
Glaskasten vor dem Eingang nebeneinander auf einer Polsterbank saßen, fortwährend ebenso laut krähten wie ihr
Bruder und neugierig nach dem Grunde des Kommens fragten. Ganz das Gegenteil war Frau Stein, freundlich, still
und fleißig.
Adolf Wilsdorf war der einzige Sohn seines Vaters und Gesundheitswiederherstellungsmittelbeimischungsverhältniskundiger, Besitzer der königlich privilegierten Löwenapotheke in Schivelbein, trug Schlafrock und Filzpariser und
hielt sich zwei Hausmädchen, die ein freies Leben führten, einen Provisor und das Faktotum Ziemer, einen
Einspänner, Vogelfliegaus hieß der langbeinige Rappe im Hotel, er wurde abgelöst durch zwei russische Ponys,
Falben mit einem dunklen Strich über Widerrist und Rücken. Bei der Arbeit in der Apotheke redete Wilsdorf immer
vor sich hin oder pfiff leise. „Adolf, mir graut vor Dir” waren die Worte, die ihm regelmäßig entgegenhallten, wenn er
einmal ins Hotel kam und Herr Heller zugegen war. Manchmal hieß es auch: „Wenn ick Dir seh’, denn muß ick
lachen”. Herr Heller hatte längst erkannt, wie es bei ihm zu Hause aussah. Also Adolf mir graut vor Dir konnte wohl
bärbeißig dreinblicken, für gewöhnlich hatte er ein Lächeln auf dem Gesicht und war für jeden Spaß zu haben.
Andere Interessen hatte seine Frau Therese. Die beiden paßten zusammen wie die Sule und die Feldmaus. Die Ehe
wurde geschieden. Die Apotheke ging über auf Eltz und Ruhland. Adolf Wilsdorfs einziger Sohn Buti (Bruno) kannte keine elterliche Strenge, war falsch erzogen, verwöhnt und schließlich frühzeitig übersättigt. Nachdem er das
Einjährige geschmiedet hatte, war er Landwirtschaftseleve, darauf Fahnenjunker bei den mecklenburgischen
Dragonern. Das Wilsdorfsche Vermögen schmolz immer mehr dahin, und der Sohn erschoß sich noch zu Lebzeiten
des Vaters.
Den Rentmeister Bartholomäus sah man Sommer und Winter mit Brille, Halstuch und Mantel bekleidet, seine Frau
und Schwester trugen auch auf der Straße zum Kapotthut so lange Schleppen, daß sie damit die Straße reinfegen
konnten; die Schwester drehte dabei heftig ihr Hinterteil, das war zu jener Zeit fein. Der Sohn Adschen war
Theologe, blond, schmächtig, stets mit Überzieher angetan, sich kerzengerade haltend, und besonders originell,
wenn er im Gespräch auf der Straße stehen blieb, mit den Händen den Rücken stützte und auf den Fußspitzen wippte. Ihre Tornüre und Ods trugen die Damen noch, als die längst aus der Mode waren und traten damit in Wettbewerb
mit der edlen Formgebung Dr. Hahns, eines kleinen, wie aus dem Ei gepellten Junggesellen mit Cut, der nur einige
Jahre in Schivelbein praktizierte, - der Hahn, der Hahn und nicht die Henne.
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Der Sechserrentier Waldemar Köpke,
noch mit fünfzig Jahren ein Muttersöhnchen, dabei Vollmond, eingebildet, eitel
und beschränkt, ein Egoist in allen
Lebenslagen - „Waldire lernt nie aus” -,
ging nur in die zwei Hotels, trank einen
Schnitt, höchstens zwei und aß manchmal, nachdem er sich die Groschen
dafür abgezählt hatte, ein halbes
Lachsbrötchen, aber ohne Kapern und
sonstige Garnitur, dafür gut belegt“.
Spaßige Gestalten, hinter denen die
Schuljugend herzog, waren: der
Angelvater, ein Barbiergehilfe Durschnabel, der selbst auf seinen Dienstgängen angelte, und Eduard oder Eduard
Knobländer, Raschs Tischlergeselle, der
leicht federnden Paradeschritt machte,
dazu die gespreizten Hände heftig nach
vorn und hinten pendelte, sowie die feurige Aurora Sadragewicz und Steffens
Berta, die Stadtschönen. Eine andere,
schon ältere Frau aus dieser Ecke
ertränkte sich an hohen Feiertagen in Schnaps und blieb auf der Straße liegen, so daß sie der Stadtpolizist Bulgrin
in einem Wägelchen ins Loch am Rathhaus fahren mußte, wo sie ihren Festrausch ausschlafen konnte. Dann sind
noch zu nennen der Dorfbarbier und Schweinehirt zu Berkenow und Fritz Lucht. Meseritz, der einen Helm auf dem
Kopfe, den Stecken schulternd, im Paradeschritt stramm salutierte.
Ein alter Seemann, wie man sie in der Nachbarstadt Kolberg antraf, wird uns in „Lefilers Flucht in die Verdammnis”
treffend geschildert:
Der Staatsanwalt Dr. Peter Arnim schlenderte gemächlich die lange Strandpromenade des Seebades herunter und
steuerte auf die kleine Mole zu. Er suchte Ruhe und den alten Seemann mit dem silbernen Ohrring im knorpeligen,
braunen Ohrläppchen, der ihm, während er im Wasser ist, Anzug, Wäsche und Schuhe aufzubewahren pflegte und
sich wütend gewehrt hatte, etwas für diese Gefälligkeit anzunehmen.
Vor zwei Tagen hatte er ihn an diesem friedlichen Platz entdeckt. Der Alte saß mit herabbaumelnden Beinen auf dem
äußersten Ende der Mole und angelte. Sein stillvergnügtes Gesicht über dem eine abgetragene Schirmmütze in vielerlei Farbschattierungen, die das ursprüngliche Blau nur mehr ahnen ließen, prangte, gefiel ihm auf den ersten
Blick. Es paßte zu der anspruchslosen Umgebung. Der Staatsanwalt erinnerte sich dunkel, daß man Angler leise
ansprechen muß, da sie sonst behaupten, man verjage ihnen die Fische. Deshalb trat er behutsam neben den alten
Fischer und fragte mit halber Stimme: „Na, beißen sie?”. Ein braunrotes, verwittertes Gesicht mit lustigen hellblauen Augen, das durch eine stark angeschwollene Wangen hinter der Staatsanwalt Arnim mitleidsvoll ein böses
Zahngeschwür vermutete, etwas entstellt war, wandte sich ihm zu. „Watt soll hier bieten?” Die knarrige Stimme klang
freundlich. Das Zahngeschwür wanderte mit jähem Ruck zur anderen Wange hinüber und wies sich durch diese
Bewegung sowie durch
einen dem Iächelnden Mund
entsandten braunen Strahl,
der haargenau über den
Rand der Mole hinweg ins
Meer spritzte, als Kautabak
aus. „Fische”, meinte Peter
Arnim verdutzt, „die fangen
wir anders”, lachte der
Fischer gemütlich, dem
Fremden mit seinem langsamen Hochdeutsch entgegenkommend. „Da haben wir
ja unsere Netze zu. Nöö, ick
sitt hier man bloß, weil de
Doktor mi dat Angeln tau
Beruhigung und Konzentratschon verordnet hett.”
Blick auf Schivelbein
58
Hochzeit von Else geb. Hintze und Franz Wolff
am 26.Sept.1932 in Podewils, Krs. Belgard
1.Reihe von links nach rechts:
1.Grete Prochnow stehend, knieende/sitzende Kinder: 2.?, 3.Fritz Wolff (Sohn v. Anna u. Paul Wolff), 4.Heinz
Wolff (Sohn v. Martha Wolff), 5.u.6. ?, 7.u.8.Meta und Christa Müller (Töchter v. Bauer Müller), 9.Dietrich
Münchow (Sohn v. Lehrer), 10. ?
2.Reihe:
1.u.2.Ehepaar Lehrer Münchow , 3.Frau ?, 4.Bertha Wolff mit Kind, 5.Martha Wolff (4.u.5. Schwestern v.
Bräutigam), 6.u.7. Brautpaar Else und Franz Wolff, 8. Brautmutter Marie Hintze mit Enkel Friedhelm Hintze,
9.u.10.Ehepaar ?, 11.Käthe Hintze (Schwägerin der Braut) mit Tochter Helga, 12.Dora Prochnow
3.Reihe:
1.Frau ?, 2.u.3.Ehepaar Anna u. Paul Wolff (Bruder v. Bräutigam), 4.Tante Emma (Schwester der Brautmutter),
5.u.6.Ehepaar Lehrer Behling, 7.Marie Hintze (Schwester der Braut), 8.Mann ?, 9.u.10.Ehepaar Bauer Müller,
11.Ella Busch, 12.Paul Klug, 13.Alwine Scheel(li.u.re. zwei verdeckte Männer?), 14.Helmut Hintze (Bruder der
Braut), 15. Mann ?
4.Reihe:
1.Gerda Scheel, 2.u.3.Geschwister Zimdahl, 4.Hugo Busch, 5.Ilse Münchow (Tochter v.Lehrer), 6.Mann ?,
7.Hertha Treichel, 8.Herbert Busch, 9., 10.u.11. ?, 12.Oma Benz, 13.Gerhard Ollermann, 14. Herr Prochnow,
links davor Frau Prochnow
Podewils im Kreis Belgard
Podewils liegt vierzehn Kilometer südwestlich von der Kreisstadt Belgard entfernt an der Straße Belgard –
Schivelbein und auch an der Kleinbahnstrecke Belgard – Rarfin. Zu seinem Gemeindegebiet gehören die Ortsteile
Groß Reichow, Neuhof und Krampe, vor etwa zweihundert Jahren auch noch das Vorwerk Soorenkrug (später
Friedrichsthal genannt), außerdem der halbe Anteil der Zietlower Wassermühle. Der Ausbau Busch liegt an der
Straße nach Stolzenberg. Podewils ist ein Haufendorf; es hatte 1939 607 Einwohner und eine Fläche von 2714,6
Hektar.
Seine großen Waldflächen wären aus heutiger Sicht ein Landschaftsschutzgebiet. Neben Kiefern und Fichten (im
Volksmund: Tannen) bildeten Eichen, Buchen und Birken den Bestand. Hier waren nahezu alle Wildarten mit Rot-,
Dam-, Schwarz- und Rehwild, aber auch Nieder- und Wasserwild vertreten. Die alljährliche Hochwildjagd Anfang
November war für jung und alt immer ein besonderes Erlebnis, die ihren Abschluß mit dem Legen der Strecke vor
dem Schloß fand. Die Feldmark hat einen unebenen Boden von mittelmäßiger Güte, aus dem sich Zwillingshügel,
nämlich der Jatsimer Berg und der Hedtberg mit 72 bzw. 75 Meter über Normal-Null, hervorheben. Das große
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Waldgebiet südlich von Podewils kann bereits als bergig bezeichnet werden, seine
höchste Erhebung ist der Giefkenberg (115 Meter). Erwähnenswert für die
Nachkommen scheinen folgende uralte Flurnamen zu sein: am Hedtberg, am
Jatsimer Berg, am Hexenberg, am Bultesoll, am Sager Weg, am Galgenberg, hinter den Buchen, Ochsenhals, Steinkiel und viele andere.
Seit Generationen war die Bevölkerung überwiegend in der Landwirtschaft tätig.
Die Podewilser Bauernhöfe wurden zuletzt von Max Dallmann, Herbert Busch,
Franz Lehnhardt, Paul Lehnhardt, Fritz Molzahn, Franz Müller, Gerhard Otterman,
Elisabeth Staek und Herbert Thurow bewirtschaftet. Das Gut in Podewils bearbeitete den überwiegenden Teil der Ländereien und den Forst, während die neun
Bauernhöfe in einer mittleren Größe von 20 bis 42 Hektar geringere Böden und
Forsten besaßen. Die Wiesen sind zweischurig. Erwähnenswert sind die Kieselwiesen in Friedrichsthal (zwei Kilometer südlich von Podewils), in sonniger Lage,
umgeben von leichten Anhöhen. Weil sie zur Zeit Friedrichs des Großen dräniert
und kultiviert wurden, tragen sie seinen Namen.
Der Ortsteil Groß Reichow – ein Reihendorf, einen Kilometer östlich von Podewils
gelegen – war ein reines Gutsdorf. Die Gemarkung besteht aus schwerem Boden,
und man erzielte ausgezeichnete Erträge bei bedeutender Milchwirtschaft. Letzter
Paul Dallmann (2003)
Besitzer war Vollrath von Braunschweig. – Neuhof (drei Kilometer südwestlich von
Podewils) war ein kleinerer Gutsbetrieb mit einigen Häusern für die Gutsarbeiter. Es
hatte leichtere Böden und war zum Teil nur über Feldwege zu erreichen, dennoch war es ebenso wie Krampe ein
wahres »Eldorado«, ein paradiesisches Stückchen Erde. In Neuhof wechselten die Besitzer mehrmals, der letzte
hieß von Brockhausen. Ein Prachtbaum war die Linde, die schon vor 600 Jahren als »Gerichtsbaum« gedient haben
soll. – Krampe (vier Kilometer südöstlich am Landweg Podewils – Glötzin) war von Wald, Wiesen und Teichen umgeben. Der Ort bestand aus einer größeren Hoflage mit Forst- bzw. Verwalterhaus und einigen Werkswohnungen.
Hervorzuheben ist die Wassermühle, die von den angrenzenden Teichen angetrieben wurde. Als Vorwerk des
Hauptgutes betrieb man in Krampe überwiegend Weidewirtschaft mit Jungviehaufzucht, verbunden mit der
Holzwirtschaft im angrenzenden Waldgebiet.
In den Feldmarkungen der bezeichneten Orte wurde überwiegend Roggen, Gerste und Hafer, auf den schweren
Böden auch Weizen, Klee und Luzerne angebaut. Einen besonderen Rang nahm natürlich der Anbau der Kartoffel
– auch als Ausgangsstoff für die Brennerei in Podewils – sowie der Anbau von »Wruken« (Kohlrüben) und
Futterrüben ein. Ins Auge fielen die Milchviehhaltung, Schweinemast, Jungviehaufzucht, Pferdehaltung, dazu noch
drei größere Schafherden. Fischerei wurde im kleineren Umfang in den Teichen und im Flußlauf der Ponik betrieben. In einigen Feuchtgebieten konnte Torf zum Eigenbedarf zum Heizen und Kochen abgebaut werden.
An Produktionsstätten waren nur die Gutsbrennerei und die Schmiede mit Wagenbau von Walter Thom vorhanden.
Die Bevölkerung versorgte sich in den Lebensmittelgeschäften von Richard Naß und Marie Hintze und in der
Bäckerei von Paul Lehnhardt mit allem, was der eigene Hof nicht erzeugen konnte. Podewils als Gemeinde wurde
in unserem Jahrhundert von den Bürgermeistern Theodor Müller, Hermann Thurow, Franz Müller, Vollrath von
Braunschweig, Walter Naß und bis zum Kriegsende von Max Dallmann verwaltet, der Heiligabend 1945 in polnischer Haft in Belgard verstarb. Der Landwirt Fritz Molzahn wurde im Dritten Reich Ortsbauernführer. Die
Polizeistation wurde längere Zeit von Karl Bark verwaltet, während die übrigen Ämter auswärts waren: Standesamt
und Amtsbezirk in Rarfin, Pfarrmuttergemeinde ebenfalls in Rarfin. Um die Jahrhundertwende amtierte Pastor
Plensdorf, von 1920 bis 1928 Pastor Rohde; nach einer längeren Vakanzzeit wurde Pastor Günter Henning berufen, der bis Kriegsende im Amt blieb. Während der Vakanz übernahmen Pastor Harter und Pastor von Baußnern
aus Stolzenberg die Vertretung. (Näheres hierzu im Kapitel über die Kirchengemeinden). Zunächst war Lehrer
Behling Schulleiter, dann über Jahrzehnte bis zum Kriegsende Wilhelm Münchow. Als zweite Lehrkräfte sind noch
bekannt die Herren Rost, Fritz Steingräber, Willi Lietz, Schröder und Pongs.
Für den sozialen Bereich des Dorfes trugen eine Hebamme und eine Krankenschwester (Minna Boldt und Margarete
Wittman) die Verantwortung, während die ärztliche Versorgung von Belgard und Stolzenberg aus erfolgte. – Der
Gasthof von Richard Naß – bis 1919 mit Saal – war die Begegnungsstätte für die Bevölkerung, gelegentlich auch
für Veranstaltungen mit Tanz. Doch die Sommerveranstaltungen des Kyffhäuser-Vereins und des Sportvereins fanden auf dem Schützen-, bzw. Sportplatz am nahen Walde statt, wobei man in geeigneten Räumen des Gutes tanzte. Die Fußballspiele mit anschließendem Spaziergang in den Wäldern waren am Sonntag eine erholsame
Abwechslung für die Bevölkerung.
Jüngste Vergangenheit: Während des Zweiten Weltkrieges ersetzten französische Kriegsgefangene die eingezogenen deutschen Männer. Sie brauchten kaum bewacht zu werden. Bis auf ein paar Brandbomben, die drei
Wirtschaftsgebäude von Franz Lehnhardt und Gerhard Ottermann zerstörten, blieb das Dorf von Bombenangriffen
und Brandschatzungen weitgehend verschont. Am 3. März 1945 besetzte die Rote Armee die Gemeinde. Was sich
an Terror, Gewalt, Vergewaltigung und Mißhandlungen abspielte, wird an anderer Stelle exemplarisch dargestellt.
Von den siebzehn Männern, die aus Podewils verschleppt wurden, überlebte nur einer. Der Ort Podewils zählt noch
weitere 22 Todesopfer von 1939 bis 1945. In den Ortsteilen Groß Reichow, Neuhof und Krampe war die Zahl der
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Todesopfer anteilmäßig ähnlich hoch. Die Vertreibung begann im Herbst 1945 und dauerte zum Teil bis 1947.
Heute wirkt Podewils trotz einiger abgerissener Gebäude immer noch als einigermaßen geschlossene Ortschaft.
Einmalig für Pommern ist, daß das Schloß kürzlich an einen Privatmann verkauft wurde, der auch den herrlichen
Park pachtete. Die Ländereien werden vom Staatsgut (PGR) in Groß Reichow bewirtschaftet. Krampe wurde von
den Russen eingeäschert und Neuhof wurde so zerstört, daß es nicht mehr zu erkennen ist. Am westlichen
Ortseingang wurde eine Mittelpunktschule und in der Gutsgärtnerei eine ärztliche Versorgungsstation eingerichtet.
Mündlich überliefert von Paul Dallmann.
Chronik von Podewils, Kreis Belgard in Pommern
Der Verfasser, Herr Wilhelm Münchow (geb.20.11.1886), ist in Podewils bis 1945 Lehrer gewesen. Nach seiner
Pensionierung am 01.April 1952 hat er diese Zeilen verfasst. Er starb am 07.April 1961 in Laasphe/ Westf. Hier seine
Ausführungen:
Ich bin gebeten worden, eine Chronik der Gemeinde Podewils aufzustellen und will diesen Wunsch so gut es geht
erfüllen. Da durch den Zusammenbruch nach dem 2. Weltkrieg alle Unterlagen verloren und vernichtet sind, bin ich
nur auf mein Gedächtnis und die mündlichen Überlieferungen angewiesen. Ich selbst kenne Podewils seit 1900 bis
zum Zusammenbruch und war dort als Lehrer und Organist tätig. Mein Großvater, Onkel und Vater waren dort längere Zeit Förster. Dadurch habe ich vieles über die früheren Zustände erfahren.
Kapitel I
Podewils war ein Allodial-Gut und gehörte dem Geschlecht von Podewils. Als junger Lehrer bekam ich im Jahre
1910 ein altes Register des Amtsgerichts Tempelburg in Pommern aus dem 17.Jahrhundert in die Hände, in dem
die Besitzverhältnisse des Regierungsbezirks Köslin angegeben waren. Daraus war ersichtlich, dass dem
Geschlecht von Podewils sämtliche Güter von Podewils bis Groß Rambin gehörten und dort seit dem
12.Jahrhundert ansässig war. Podewils war der Stammsitz derer von Podewils und hat auch seinen Namen nach
diesem Besitzer erhalten. Der Name Podewils soll bedeuten „Unter Wölfen“. Bei dem großen Waldreichtum dieses
Gebietes war wohl mit Bestimmtheit anzunehmen, dass es früher dort viele Wölfe gab. Wurde doch der letzte Wolf
in Pommern im Jahre 1835 in Gollenberg bei Köslin geschossen, wie auf einer dort aufgestellten Tafel ersichtlich
war. Im Laufe der Jahrhunderte wechselten mehrere Güter dieses Geschlechts durch Verkauf ihre Besitzer. Das
Stammgut Podewils blieb noch bis zum Jahre 1895 in dem Besitz dieser Familie. Der letzte Besitzer von Podewils,
namens Arthur von Podewils, verkaufte dieses Gut im Jahre 1895 und lebte seitdem in Eberswalde. Er war dazu
gezwungen, weil sein Schwager, ein Rittmeister von Buch, große Spielschulden hatte. Da diese Schuld für einen
Offizier eine Ehrenschuld war und er nicht imstande war, sie zu decken, verkaufte Arthur von Podewils im Jahre 1895
sein Gut, um seinem Schwager zu helfen. Ich habe diesen letzten Spross des Adelsgeschlechts auch noch gekannt,
weil er meinen Vater noch manchmal besuchte. Er war ein passionierter Jäger und Weidmann und erinnerte meinen Vater oft noch an die gemeinsamen Pirschgänge, die sie im Podewilser Jagdrevier gemacht hatten. Als er 1913
starb, wurde er auf seinen Wunsch hin auf dem Erbbegräbnisplatz neben der Kirche in Podewils beigesetzt. Es
befanden sich dort noch mehrere Gräber dieses Geschlechts, die noch gut erhalten und gepflegt waren. Was nach
dem Zusammenbruch und der Austreibung aus diesen Gräbern geworden ist, ist mir nicht bekannt. Bei der Invasion
benutzten die Russen diesen Platz, um die Kühe zusammenzutreiben.
Kapitel II
Wie vorstehend schon erwähnt, verkaufte Arthur von Podewils das Gut im Jahre 1895 an den Freiherrn Max von
Hewald, der über größere Geldmittel verfügte. Bei einem Manöver war er als Leutnant bei dem Herrn von Podewils
einquartiert und bei dieser Gelegenheit wurde der Kauf von ihm beschlossen. Baron von Hewald stammte von
Schöneberg bei Berlin, wo sein Vater als Großbauer größere Besitzungen hatte. Als nach dem Kriege 1870 die
Baukonjunktur stark einsetzte, war die Nachfrage nach Bauland sehr rege und die Preise dafür erreichten eine phantastische Höhe. Diese Konjunktur nützte der Vater und erwarb dadurch ein Vermögen von mehreren Millionen, die
dem Baron von Hewald und seinem Bruder je zur Hälfte zufielen. Mit diesem Geld war es ihm auch möglich, das
Bild des Dorfes Podewils durch Neubauten und Verbesserungen vorteilhaft zu verändern. Als erste Aufgabe ließ er
das alte Gutshaus seines Vorgängers abreißen und ein schlossartiges Gebäude mit einer pompösen
Inneneinrichtung ausführen. Dieses Schloss, wie es allgemein genannt wurde, machte einen sehr guten äußeren
Eindruck und war auch geschmack- und kunstvoll eingerichtet. Der alte Gutspark wurde erweitert und in einen
gepflegten Zustand versetzt. An weiteren Bauten wurde 1901 das Rentamt, ein Verwaltungsgebäude für den
Gutsbetrieb mit Wohnung des Administrators und eine Brennerei zur besseren Verwertung der Kartoffeln erbaut. Im
Jahre1900 ließ er auf seine Kosten ein neues und größeres Schulgebäude mit zwei Klassenzimmern und
Lehrerwohnung für 2000 M errichten und schenkte es der Gemeinde, da die alte Schule (von 1824) zu klein war.
Das alte Schulgebäude übernahm Baron von Hewald als einziges Entgelt dafür und richtete es als
Landarbeiterwohnung ein. So konnte auch im Jahre 1902 eine zweite Lehrerstelle eingerichtet werden, weil die
Kinderzahl über 100 betrug. Außer den Schulkindern von Podewils wurden auch die Schulkinder der Gutsbezirke
Groß Reichow und Neuhof hier eingeschult. Durch dieses großzügige Geschenk hatte Freiherr von Hewald sich
Sympathie und Wertschätzung der Gemeinde erworben. In großzügiger Weise beschenkte er auch jährlich zu
Weihnachten die Schulkinder mit praktischen Geschenken. Die Weihnachtsfeier der Schule fand im Rittersaal des
Schlosses statt. Auch sei-ne Beamten wurden zu Weihnachten reichlich be-schenkt.
61
Eine bedeutende Vergrößerung des Besitzes entstand unter ihm durch
Ankauf. Im Jahre 1902
kaufte er von dem Rittergut Klötzin die sogenannten Klötziner Berge, die
an den Podewilser Wald
grenzten. Es war ein
Heidegebiet, bestanden
mit Heidekraut, Wacholder, Ginster, sperrigen
Kiefern und sostigem Gesträuch. Diese Berge ließ
der Baron von Hewald
unter großen Kosten mit
Kiefern aufforsten und in
einigen Jahren bildeten
die Berge ein schönes
Waldgebiet. Zugekauft
wurden von ihm ferner
das Gut Krampe, ca. 100
Morgen groß, bisher dem
Rittergutsbesitzer Stark
Schloß Podewils (2005)
gehörig und die angrenzenden Rittergüter Groß
Reichow und Sager. Sie gehörten dem Rittergutsbesitzer von Gaudecker, der in Konkurs geraten war. Als Liebhaber
hielt von Hewald auch Rennpferde mit Stallmeister und Jockeys. Oft wurden diese Pferde zu den Pferderennen in
Hoppegarten bei Berlin geschickt; aber einen namhaften Gewinn haben sie meines Wissens nicht gebracht. Viel
Freude und Vergnügen hatte von Hewald am Reisen und war darum auch viel unterwegs. Leider starb er schon im
Alter von 42 Jahren und hatte sich nicht lange seines schönen Besitzes erfreuen können. Seine Leiche wurde auf
seinen Wunsch eingeäschert und seine Asche über Schöneberg durch ein Flugzeug ausgestreut, über dem Ort, wo
er geboren war.
Den Freiherrn- und Adelstitel hatte sich Max von Hewald von dem
Großherzog von Sachsen-Coburg-Gotha erworben, weil er den
Großherzog bei Bauvorhaben mit größeren Geldmitteln unterstützt
hatte. Die preußischen Behörden titulierten ihn auf amtlichen
Schreiben immer nur mit dem Coburg-Gothaischen Freiherrn Max
von Hewald. Von Hewald besaß Wildparks und ein norwegisches
Jagdhaus in den Klötziner Bergen. Bei Hochwildjagden wurde dort
das Frühstück eingenommen. Im Walde hatte er mehrere Wildgatter
einrichten lassen, und zwar ein Gatter mit Rotwild am Giefkenberg,
ein Saugatter mit Schwarzwild und anschließend daran ein Gatter mit
Damwild. Die Wildgatter im Walde hatte der spätere Besitzer Herr
von Holtzendorff eingehen lassen, da reichlich Wild aller Arten vorhanden war. Es war keine Seltenheit, Rot-, Dam- und Schwarzwild
zu sehen.
Kapitel III
Nach dem Tode des Baron von Hewald kaufte im Jahre 1908 der
damalige Hauptmann im 3.Garde-Regiment Gustav von Holtzendorff
das Gut Podewils mit den angekauften Gütern für zwei Millionen M.
Er setzte den Aufbau und die Verbesserungen der Güter weiter fort.
Sein erstes Werk war der Neubau der alten baufälligen Kirche im
Jahre 1911 auf eigene Kosten. Nur der alte Kirchturm blieb erhalten
und erinnert noch an die alte Kirche. Das Innere machte einen hellen
und freundlichen Eindruck. Der Anstrich war in den Pommernfarben
blau-weiß gehalten, und zwar das Gestühl und die Kanzel weiß und
Schloßeingang (2005)
die Wände blau. Zur Erwärmung der Kirche wurde eine Dampfheizung angelegt, die von der Brennerei gespeist wurde. Im Winter war
das Gotteshaus daher auch angenehm erwärmt, und das wurde von den Besuchern sehr geschätzt. Der Kirchenbesuch war allgemein als gut zu bezeichnen. Herr von Holtzendorff besuchte als Patron der Kirche mit seiner Familie
62
fast sonntäglich den Gottesdienst. Um das Nutzholz für die Güter zu verarbeiten, ließ er ein
Sägewerk errichten. Der
Jugend stellte er an der
kleinen Forst einen Sportplatz von 4 Morgen für
sportliche Wettkämpfe zur
Verfügung. Auch für den
Bau der Kleinbahn RarfinBelgard, die 1911 erbaut
wurde, hatte er sich mit
allem Nachdruck eingesetzt. Für die Bewohner
und die Güter war dies ein
großer Fortschritt. Der
Transport der Naturalien,
des Viehes, der Milch, der
Kohlen und des Kunstdüngers usw. konnte jetzt
Rentamt (2005)
mit der Kleinbahn schneller erfolgen als bisher mit dem Gespann. In praktischer Weise hatte er von dem Bahnhof ein Anschlussgleis bis auf
den Gutshof legen lassen, wo die Waggons be- und entladen wurden. Den 1. Weltkrieg machte er als Offizier mit
und wurde zum Major befördert. Leider wurde er nach kurzer Krankheit im Alter von 53 Jahren am 31.12.1922 durch
den Tod aus seiner Wirksamkeit gerissen. Die weitere Bewirtschaftung übernahm nun seine Frau mit Hilfe eines
Administrators. Die angekauften Güter Groß Reichow und Sager waren inzwischen an die Schwiegersöhne verpachtet. Auch Frau von Holtzendorff hat Verbesserungen vornehmen lassen. Unter anderem wurden zwei neue
Mehrfamilienhäuser erbaut mit besseren und ausreichenden Wohnverhältnissen. Auf dem Friedhof wurde auf ihre
Initiative eine Leichenhalle errichtet. Es war eine Einrichtung, die von der Bevölkerung dankbar empfunden wurde,
da die Aufbahrung der Leichen in den Wohnungen sehr schwierig und hygienisch nicht einwandfrei war. Bis zum
Zusammenbruch im Jahre 1945 hat sie so die Bewirtschaftung des Gutes Podewils selbst geleitet. Nach der
Invasion durch die Russen hat sie im Jahre 1946 Podewils verlassen müssen und lebte dann bei ihrer Tochter und
ihrem Schwiegersohn Dr.Fromme in Halberstadt. Dort starb sie bereits am 02.01.1947 im Alter von 70 Jahren.
Kapitel IV Von den Bewohnern des Dorfes Podewils
Die Gesamtgröße des Gutes Podewils betrug ca. 6000 Morgen. Davon umfasste der Waldbesitz ca. 4000 Morgen
und die landwirtschaftliche Nutzfläche ca. 2000 Morgen. Der Wald bestand meistens aus Kiefern. Nur ein kleiner
Teil des Reviers, wiesen Laubholzbestände auf, so die Kunaben, Teile des Rauhen Berges. Da das Gut hauptsächlich ein landwirtschaftlicher Betrieb
war, bestand die Bevölkerung hauptsächlich aus Landarbeitern, die auf
dem Gut beschäftigt waren und die
Landarbeiten verrichteten. Der Ackerboden war als leicht bis mittel bonitiert. Angebaut wurden vorwiegend
Roggen, Hafer, Gerste, teilweise etwas Weizen und Kartoffeln. Da Podewils ein Überschussgebiet war, wurden ausgeführt: Kartoffeln, Vieh,
Milch, Getreide usw. die der Volksernährung dienten. Neben diesen landwirtschaftlichen Arbeiten wurden von
den Landarbeitern auch die anfallenden Waldarbeiten, wie Aufforsten und
Einschlag des Brennholzes usw. ausgeführt. Neben den Landarbeitern gab
es 9 Bauern, und zwar 7 größere mit
Brennerei
einer Flurgröße bis zu 160 Morgen
und 2 Halbbauern mit ca. 40 Morgen. Daneben waren 3 Eigentümer mit einer Kuhhaltung in Podewils ansässig, die
Männer betrieben zusätzlich ein Handwerk. Nach der Befreiung der Bauern von der Erbuntertänigkeit im Jahre 1810
durch den Freiherrn von und zum Stein wurden auch die Podewilser Bauern frei und selbständig. Die Separation
erfolgte in Podewils, wie aus dem vorhandenen Rezess ersichtlich war, aber erst nach 1820. Dabei wurde den bäuerlichen Besitzern der weniger fruchtbare Boden hinter dem Park rechts des Klötziner Weges zum Speckbruch
63
angewiesen. Durch intensive Wirtschaft und unermüdlichen Fleiß der Bauern erzielten sie aber auch gute Erträge,
so dass sie in zufriedenen Verhältnissen lebten. Zum Teil waren ihre Wirtschaften schon durch Generationen vererbt. Der frühere Jeske’sche Bauernhof war von dem Gut angekauft, da der Besitzer aus Podewils fortzog. Das
Wohnhaus wurde von 2 Landarbeiterfamilien des Gutes bezogen. Im Dorfe wohnten ferner 2 Lehrer, 1 Briefträger,
1 Landjäger, 2 Chausseewärter und die Gutsbeamten. Weiter waren vorhanden: 1 Gastwirtschaft, 1
Kolonialwarengeschäft, 1 Bäckerei, 1 Schmiede und 1 Postagentur. Die Seelenzahl des Dorfes Podewils betrug ca.
400.
Kapitel V Die Kirche in Podewils
Die alte Kirche, welche 1910 wegen Baufälligkeit abgerissen wurde, wurde kurz nach dem 30-jährigen Krieg erbaut.
Als Zeugen für diese Annahme kann man wohl bis in die jüngste Zeit erhaltene Erinnerungsstücke aus der Bauzeit
anführen, die in die neu erbaute Kirche übernommen wurden. Es waren eine Glocke, die Taufschale, eine
Gedenktafel für Gefallene aus
dem 7-jährigen Krieg, eine
Gedenktafel
aus
dem
Freiheitskrieg
und
eine
Gedenktafel für den Fähnrich
Max von Podewils, der 1870
gefallen war. Ursprünglich hatte
die Kirche 2 Glocken, die 2.
musste im 1. Weltkrieg für
Kriegszwecke abgeliefert werden. Die uns verbliebene Glocke
diente als einzige bis zum
Zusammenbruch 1945 gottesdienstlichen Zwecken. Sie trug
auf dem Mantel an der äußeren
Seite eine Inschrift, die mir entfallen ist. Sie begann “Zur Ehre
Gottes usw....anno domini
1658“. Die Taufschale war ein
größerer gehämmerter Messingteller. Er stellte auf der
Tellerfläche die Taufe Jesu im
(Neue) Kirche in Podewils (um 1930)
Jordan dar. Der Tellerrand trug
die Inschrift: „Gewidmet von Kasten Claren und seinen Frauen von wegen seines verstorbenen Sohnes Jochen
Claren anno 1656“. Danach dürfte die alte Kirche in dieser Zeit erbaut sein. Wer der Herr Claren war, konnte ich
nicht feststellen. Ich nehme an, dass er ein Besitzer des 1100 Morgen großen Rittergutes Neuhof war, das an die
Feldmark Podewils grenzte und dessen Besitzer viel im Laufe der Jahre wechselten. Neuhof war kirchlich in
Podewils eingepfarrt. Seit 1900 bis zum Zusammenbruch waren folgende Besitzer in Neuhof: Jastrow, Busch,
Schneider, Büchter, Cornehls und von Brockhausen. Die seelsorgerische Betreuung in der Kirche zu Podewils fand
durch den Pfarrer in Rarfin, dem Nachbardorf statt. Rarfin war die Mutterkirche, und Podewils galt als Tochterkirche.
Der Pfarrer in Rarfin hatte sonntäglich in beiden Kirchen Gottesdienste zu halten, und zwar abwechselnd Frühgottesdienst um 8:30 Uhr und Spätgottesdienst um 10:30 Uhr. Durch mehrere Generationen amtierte das Pfarrergeschlecht Plänsdorf in Rarfin. Als der letzte Pfarrer dieses Namens 1920 in den Ruhestand trat, wurde die Rarfiner
Pfarrstelle dem Pfarrer Rhode übertragen, der sie bis zum Jahre 1930 innehatte. Nach dem Fortzug war die
Pfarrstelle vakant und wurde von den Nachbarpfarrern betreut. Im Jahre 1936 wurde sie Pfarrer Henning übertragen, der sie bis zum Zusammenbruch verwaltete.
Am 04.März 1945 zogen die ersten russischen Panzer durch die Straßen von Podewils und beschossen die Häuser
mit Maschinengewehren.
Bemerkungen zur „Chronik von Podewils“,
geschrieben von Lehrer Wilhelm Münchow im Jahre 1952 aus dem Gedächtnis heraus
(von Bernhard Lindenbein, Berlin 2011)
Die „Chronik von Podewils“ wurde mir von Wilhelm Münchows Sohn Dieter im August 1991 zugesandt, da er
annahm, dass mich als einem der Enkel von Marie von Holtzendorff, der noch dazu auf dem Nachbargut Sager aufgewachsen war (seit 1931), ein solcher Erinnerungstext interessieren würde. Das hat er natürlich auch, mehr war
aber damals nicht geplant.
Die ersten 40 Jahre nach seiner Entstehung hat dieser Text also in etwas tieferen Schichten der Akten von Dieter
Münchow geschlummert, die nächsten 20 Jahre bei mir. Erst nun, durch unsere Bemühungen einen
„Einwohnerspiegel“ von Podewils zu erstellen, ehe auch die letzten Zeitgenossen nicht mehr befragt werden kön64
nen, kam auch diese Chronik wieder zum Vorschein. In Herrn Plegers verdienstvoller Halbjahresschrift
„Schulteknüppel“ wird er also nun taufrisch seine Auferstehung feiern und hoffentlich manch einen interessierten
Leser finden. Dieter Münchow allerdings kann ihn dort nicht mehr lesen, er ist im September 2001 verstorben, 40
Jahre nach seinem Vater Wilhelm. Da der Enkel Thomas Münchow die handschriftliche Urschrift vor Jahren in die
Maschine tippte, haben also 3 Generationen Münchow daran gewerkelt, was lange gewährt hat, wird hoffentlich gut!
Inzwischen haben sich die nachbarschaftlichen Verhältnisse zu Polen ja erfreulich entwickelt, auch ich bin ab 1991
wiederholt im Kreis Belgard gewesen, meist als Teilnehmer an einer der Dallmann-Exkursionen, der mit derbem Witz
und großer Heimatliebe diesen Fahrten seinen Stempel aufdrückte. So kann ich also über Podewils auch aus neueren Einsichten heraus sprechen. Ich will daher nun einige Bemerkungen oder auch ein paar Korrekturen anbringen,
der Text von Wilhelm Münchow ist unverändert.
Kapitel I
Ein Allodial-Gut ist ein lehensfreier Grundbesitz, ein Familien-Erbgut. Diese Begriffe gehen zurück auf die Zeit vor
1807 (Stein’sche Reform, Aufhebung der bäuerlichen Erbuntertänigkeit)
Der Verkauf von Podewils muß um 1890 erfolgt sein. Die Jahreszahl 1895 ist noch heute in der Wetterfahne des
Herrenhauses zu lesen, sie bezieht sich aber auf die Fertigstellung des Neubaus. Tochter Editha v. Podewils wurde
am 08.09.1892 in Bad Polzin geboren und nicht in Podewils. Da war es schon verkauft. Aber auch Arthurs Hochzeit
mit Anna Luise Deskau am 28.10.1891 fand nicht in Podewils statt, sondern in Tilsit, wo die Braut herstammte. Das
wäre vorher undenkbar gewesen, alles fand in Podewils oder in der Rarfiner Kirche statt, so auch die Hochzeit von
Arthurs Schwester Elisabeth mit Rittmeister v. Buch am 01.07.1873 in der Kirche von Rarfin.
Es ist interessant und nur durch diese Aufzeichnungen überliefert, dass Arthur v. Podewils als passionierter Jäger
„noch manchmal“ den Vater von Wilhelm Münchow, der dort Förster war, besuchte und in Erinnerungen schwelgte.
Fanden diese Besuche in der Zeit von 1890-1905 statt, so war es in der „Hewald-Zeit“, ab 01.11.1908 hat Gustav v
.Holtzendorff und seine Familie dort gelebt und gewirtschaftet.
Kapitel II
Interessant ist auch die Mitteilung, dass Max Hewald, der Bauernsohn aus Schöneberg bei Berlin, bei einem
Manöver als Leutnant in Podewils einquartiert war, was für seinen späteren Entschluß, dieses Gut zu kaufen, sicher
bedeutsam gewesen ist. Das muss Anfang der 1880er Jahre gewesen sein, denn Hewald war etwa Jahrgang 1863.
Das Hewald’sche Vermögen entstammte dem überaus günstigen Verkauf des Ackers von Vater Hewald in den
Gründerjahren nach 1871 als Bauland. Im Baedecker von 1912 ist nachzulesen, dass Schöneberg 1898 zur Stadt
erhoben wurde mit 173 000 Einwohnern, gegen 4555 im Jahre 1871! Diese Zahlen illustrieren das geradezu explosionsartige Wachstum dieses Ortes dicht südlich von Berlin in der sog. „Gründerzeit“. Im Jahre 1920 wurde dann
Großberlin aus der Taufe gehoben, und alle diese Randorte wie auch Charlottenburg, Spandau, Köpenick und Tegel
fanden sich nun als Stadtteile von Berlin wieder.
Die „Nobilitierung“, also die Verleihung des Adelstitels an Max Hewald erfolgte erst später, als er in Leipzig ein
Waisenhaus gestiftet hatte. Genaueres darüber ist wohl nicht überliefert.
Kapitel III
Gustav v. Holtzendorff hatte die folgenden Lebensdaten: geb. 30.12.1869 in Berlin, Hochzeit am 04.01.1908 mit
Marie v.Holtzendorf, geb. Friese (diese war in 1.Ehe mit Hptm. Albrecht v. Holtzendorff verheiratet, Vetter von
Gustav, Vater der 3 Töchter, Berufsoffizier in Halberstadt, im Juli 1906 beim Manöver vom Blitz getötet). Nach den
Kriegsjahren im Felde (1914-1918) sollte nun die langfristige Bewirtschaftung der Güter durch Gustav v.
Holtzendorff erfolgen. Er wurde aber am 31.12.1922 ein Opfer der damals grassierenden Grippe-Epidemie, mit 53
Jahren und einem Tag.
Kapitel IV
Die Angaben Wilhelm Münchows zu Gut und Dorf Podewils können nur mit Interesse zur Kenntnis genommen, aber
nicht ergänzt oder gar verbessert werden. Als bekannt wird vorausgesetzt, dass 4 Morgen einem Hektar entsprechen (= 10 000qm), 6000 Morgen waren somit 15 Quadratkilometer. Man kann sich aber Zahlenangaben zu den einzelnen Besitztümern verschaffen durch Einsichtnahme in die sog. “Landwirtschaftlichen Güteradressbücher“, die,
nach Provinzen unterteilt, in gewissen Abständen erschienen sind (z.B. Bd.VII, Prov.Brandenburg, 4.Aufl., Leipzig
1929).
Kapitel V
Der Fähnrich Max v.Podewils war ein jüngerer Bruder von Arthur, geb.1850, gefallen am 30.09.1870 im Krieg gegen
Frankreich. Damit war Arthur nun der einzige männliche Podewils auf Gut Podewils, und er blieb ledig, solange er
dort Gutsherr war (Hochzeit, siehe Kap.I).
Ein in unserer Zeit öfter zu hörender Ausspruch, man habe bei Fahrten in das ehemalige Hinterpommern „im
Schloss Podewils“ übernachtet, sei hier auch einmal erwähnt, da es sich um eine irreführende Formulierung handelt. Übernachtet wird im Schloss Krangen (poln. Krag), das liegt ca.15 km südlich von Schlawe, an der Chaussee
nach Neustettin. Es ist ein stattliches Gebäude, schön an Wald und See gelegen. Zeitweilig hat es in früheren Zeiten
zum Besitz der Familie v. Podewils gehört. Als eines der wenigen Schlösser Pommerns hatte es den 30-jähr. Krieg
unbeschadet überdauert, auch den 2. Weltkrieg. Ab 1986 wurde es restauriert (siehe Joh. Hinz: Pommern,
Augsburg 1996). – Im ebenfalls schlossartigen ehem. Gutshaus von Podewils, ca. 14 km südwestlich von Belgard
gelegen, von dem in diesen Zeilen die Rede ist, kann niemand übernachten. Es befindet sich leider in einem überaus beklagenswerten, maroden Zustand.
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Schule und Lehrer in Woldisch Tychow
Dr. Sieghard Rost aus Woldisch-Tychow, heute Heidecker Straße 10a, 90451 Nürnberg
Vierter Teil
Auszug aus dem Buch von Herrn Dr. Rost „Meine Heimat Pommern“, Verlag Langen Müller, München und Berlin
1994, hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Anfangs betreute Mutter selbst das Vieh. Als dann Bruder Dankwart 1926 geboren wurde und die Arbeit zunahm,
wurde eine junge Hilfskraft namens Minna eingestellt. Sie war unsere treue, zuverlässige Perle, die mit meiner
Mutter auch nach ihrer Eheschließung mit dem Landmann Thurow in Briefkontakt blieb – lange Jahre über den
Zusammenbruch von 1945 hinaus. Da unser Grundbesitz auch Sandböden enthielt, probierte Vater den
Spargelanbau aus — mit Erfolg. Ich erinnere mich, daß wir in den Monaten Mai und Juni viel Spargel mit zerlassener Butter und Schweineschinken als Köstlichkeiten auf der sonst kargen Speisekarte hatten. Viele Lehrer in der
Nachbarschaft hielten auch Bienen, aber Vater nicht. Die Imkerei machte ihm wohl keinen Spaß. Mutter jedoch hatte
sich etwas Besonderes ausgedacht:
Sie begann eine Zucht mit großen
schwarzen Wyandotten und errang
mit dieser Hühnerrasse sogar
Zuchtpreise. Die Wyandotten hatten
aber auch eine prächtige Unterkunft
erhalten. Als mein Großvater Rost
von dem Vorhaben meiner Mutter
erfuhr, erklärte er spontan: „Da
baue ich euch einen MusterHühnerstall!“ So kam er von Belgard zu uns herüber und errichtete dank meiner Handlangerdienste eine holzgezimmerte Bleibe mit großem eingezäuntem Auslauf für die
Hühner. Ein altes Foto bei der
Dorfstraße von Woldisch Tychow (1992)
Entstehung des Hüh-nerstalles
zeigt Großvater sowie mich als etwa Vierjährigen. Die Hühner mochte ich übrigens lieber als die Gänse, weil der
Ganter mir öfter fauchend nachlief und ich für die jungen Güssel im Frühjahr frische Brennesseln holen mußte. Und
diese Futtersuche ging nie ohne Hautverbrennungen ab. Unangenehme Erinnerungen habe ich an die Tage, an
denen ein Schwein geschlachtet wurde. Hierzu wurde extra ein Fleischer geholt. Zwei Tage lang ging es dann hektisch auf unserem Hof und in der Küche zu, bis das Tier zu Fleisch und Wurst verarbeitet worden war. Dann wurde
die hauseigene Räucherkammer im Dachboden in Betrieb genommen, und ein neues Ferkel kam in den Stall.
Feste feiern die Pommern weniger nach dem Kalenderzwang, vielmehr nach den sich bietenden Gelegenheiten.
Solche Gelegenheit war das Schlachtfest. Dieses war für mich als Kind zwar kein Fest; aber den Erwachsenen
schien es mächtig Spaß gemacht zu haben, was aus einer Eintragung meines Patenonkels Ernst Rost im Gästebuch
meiner Eltern hervorgeht:
So von einem Schlachtenfeste
ist der Preßkopf doch das Beste!
Aber tue auch bedenken,
daß der Magen kann verrenken,
wenn man hat zu viel genossen
und es nicht mit Rum begossen.
Darum, Kinder, laßt Euch sagen:
Gießt erst einen hintern Kragen!
So werdet Ihr Euch leicht bewahren
vor revolutionistischen Gefahren.
Schule
Woldisch Tychow
(2008)
Das Schulgebäude steht noch in Woldisch Tychow; aber Unterricht wird seit der Vertreibung der Deutschen nicht
mehr angeboten. Auch die Kirche steht noch; aber die Pfarrei ist Halbwaise geworden, seit der Geistliche nicht mehr
im Ort, sondern in Boissin/Byszyno wohnt. Mit der Schließung von Schule und Kirche, der beiden Kulturträger deutscher Vergangenheit, fehlt dem Dorf die geistige Mitte, die Seele. Die Steine von Schule und Kirche in meinem
Kindheitsparadies sprechen noch Deutsch; aber im Dorf fehlen die Menschen, die diese Sprache verstehen und
weitergeben. Aus meinem an Klängen und Farben so reichen Paradies ist für mich heute eine kulturelle Öde geworden. Das Paradies ist nicht mehr sichtbar; aber es lebt in meinem Herzen weiter.
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Unter Paradies stellt man sich im allgemeinen einen Zustand vor, in dem nicht die Herrschaft des Bösen zu Hause
ist, sondern die Regentschaft des Guten in Verbindung mit Harmonie und Frieden. Im Rückblick auf das erste
Jahrzehnt meines Lebens (1921–1931) erscheint mir meine Kindheit in Hinterpommern paradiesisch, obwohl die
Unterschiede im Alltagsleben zwischen heute und damals unvorstellbar groß sind.
Das heutige Alltagsleben findet seinen Ausdruck im zivilisatorischen Wohlstand mit den Merkmalen
Wohnungsqualität, Nahrungsvielfalt, Verkehrsmobilität und Freizeitüppigkeit. Von alldem war in meiner Kindheit
nichts zu spüren.
Klagen über zu hohen Energieverbrauch an Strom, Kohle oder Heizöl konnten in Woldisch Tychow nicht auftauchen,
weil man derartige Energiequellen gar nicht kannte. Erst 1932 erhielt mein Heimatdorf elektrischen Anschluß. Bis
dahin wurden Holz und Torf zum Beheizen von Herd und Öfen verwendet und Petroleum für die Beleuchtung. Daß
eine Dorfstraße im Dunkeln liegt, kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Wer damals in der Dunkelheit zur
Arbeit auf das Gut gehen mußte oder von dort nach Hause wollte, behalf sich mit einer Stallaterne, die den Weg
spärlich erleuchtete. Sonst aber schaute man, daß man rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause war.
Auch Wohnen und Essen waren von Einfachheit geprägt. Viele Häuser hatten keinen Keller. Ausgebaut war meist
nur das Parterre, während der erste Stock bereits unter der Dachschräge litt. Holzfußböden hatten nur das Schloß
sowie das Lehrer- und das Pastorenhaus. In den Tagelöhnerhäusern dominierten die roten Ziegel als Steinboden.
Bei jahrelangem Begehen nutzte dieser bald ab und wurde uneben. Gegen zu raschen Abrieb streuten die
Bewohner auf den Fußboden feinen Sand, der nach einigen Tagen ausgekehrt und erneuert wurde. Wer also barfuß ins Bett ging, nahm eine Ladung Sand mit.
Natürlich fehlten damals auch die Bäder. Tägliches Duschen wie heute war unmöglich, denn es gab ja kein fließendes Wasser, sondern nur das eigens herangeschleppte Pumpenwasser. Doch im Lehrerhaus gehörte es zum guten
bürgerlichen Ton, daß das Elternschlafzimmer über eine Waschkommode verfügte, auf der eine große
Wasserkaraffe für die beiden Waschschüsseln bereitgehalten wurde. Für die große Körperwäsche der Kinder
benutzte man eine leichte Zinkbadewanne — etwa 40 Zentimeter hoch. Sie wurde mit Wasser gefüllt, das zuvor auf
dem Küchenherd in einem großen Kochtopf erwärmt worden war.
In den Essensgewohnheiten gab es kaum Unterschiede bei den Dorfbewohnern. Als Hauptgericht dominierte der
Eintopf. Vor allem Wruken (Rübenart) oder Bohnen mit Kartoffeln und Hammelfleisch, weil es diese Produkte reichlich und billig gab. Auch Suppen wurden gerne gereicht, mittags und abends. Die Kliebensuppe (Milch mit
Mehlklößchen) gehörte zu meinen Lieblingsspeisen am Abend, wozu man allenfalls noch ein Stück trockenen Brotes
aß.
Der Kenner weiß, daß Pommern als das Herings- und Kartoffelland galt. Beides — Heringe wie Kartoffeln — bildeten die Hauptnahrungsmittel und durften nie im Hause ausgehen. Die Ostsee spendete damals so dichte
Heringsschwärme, daß man den Fisch praktisch mit der Hand fangen konnte. In großen Heringstonnen wurden die
Heringe ins Landesinnere und nach Berlin transportiert.
Die Kartoffeln gehörten zu Pommern wie der Sand zum Ostseestrand. Sie wurden überall in Mengen als Eß- oder
Saatkartoffeln angebaut – auf den Gutsäckern wie in den Privatgärten. Waren sie mittags einmal nicht gereicht worden, holte man das Versäumnis abends nach mit Pell- und Bratkartoffeln oder mit einfachen Stampfkartoffeln in
Buttermilch. Kein Mensch wußte zwar, daß Kartoffeln schon vor 6000 Jahren im südamerikanischen Andengebiet
angebaut worden waren und daß das Wort Kartoffel vom italienischen »tartufoli« abgeleitet wird, weil die Tartuffeln
eine Ähnlichkeit mit den Trüffeln, den unterirdisch wachsenden Pilzen, hatten. Aber jeder Pommer wußte, daß man
dieses Volksnahrungsmittel dem Preußenkönig Friedrich verdankte. Er hatte, nachdem die Spanier die Kartoffeln im
17. Jahrhundert in Europa bekanntgemacht hatten, die widerstrebenden Pommern mit Gratissendungen gezwungen, die neue Frucht anzupflanzen. Reserviert, wie der Pommer nun einmal gegenüber jeder Neuerung ist, hatte er
die unbekannte Feldfrucht als Teufelszeug abgelehnt. Doch als er deren volkswirtschaftliche Bedeutung als Abhilfe
für die stets wiederkehrenden Hungersnöte erkannt hatte, machte er die Provinz zum deutschen Hauptanbaugebiet
für Kartoffeln und nannte den königlichen Wohltäter fortan Friedrich »den Großen«.
Unter den Getreidearten dominierte der Roggen. Für Weizen war der heimatliche Boden zu leicht. Also verwendete die Bevölkerung Roggenmehl zum Brotbacken. Als Brotaufstrich wurde Kreude (schwarzer Rübensirup) bevorzugt, die es für ein paar Pfennige im Kramladen gab – ohne Butterunterlage, versteht sich. Das Brotbacken gehörte übrigens zu den wöchentlichen Riten im Dorf. An jedem Sonnabend wurde der gutseigene Backofen von einem
Bediensteten mit Holz geheizt. Jeder Dorfbewohner durfte dann am Nachmittag seine Brotteige zum Backen bringen. Damit die fertigen Brote nicht verwechselt wurden, hatten die Familien ihre eigenen Kennzeichen in den Teig
geknetet: ein oder mehrere Kreuze, Sternchen oder Buchstaben. Wenn die Brote gebacken waren, konnte man
noch Hefekuchen in den Backofen nachschieben. Der war immer noch heiß genug für Hefeteigwaren. Am liebsten
aß ich den Hefe-Streuselkuchen, den Mutter stets auf großen Blechen für uns Nascher nach dem Motto »Wenig
Mehl, aber viel Streusel« bereithalten mußte. Denn mein Vater wie auch ich – aus der Bäckerfamilie Rost stammend
– waren auf Kuchenprodukte ganz versessen.
Auch bei den Getränken hielten wir uns an das, was die Heimat zu bieten hatte oder was billig war. Gerste beispielsweise wurde neben Roggen und Hafer vielfach angebaut. Daher wurde gebrannte Gerste zu Malzkaffee gemahlen.
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Bohnenkaffee war viel zu teuer und wurde allenfalls an Festtagen getrunken. Wir Kinder hielten uns an Milch und
selbsthergestellte Säfte von Gartenfrüchten. Das abendliche Hauptgetränk war bei meinen Eltern Tee aus allen
möglichen heimischen Blättern, aber kein Bier. Das wurde im Dorfkrug in Flaschen verkauft; man trank abwechselnd
ein Glas Bier, ein Glas Korn. Daß die Leber dabei Schaden nehmen könnte, blieb den Pommern unbekannt.
Eine spezielle Köstlichkeit Hinterpommerns fehlte wohl in keinem Haus: die Spickbrust. Das fettschwartige
Bruststück von der Gans oder der Ente wurde in der Räucherkammer langsam und nicht zu stark geräuchert, so
daß es die Delikatesse Spickbrust ergab. In
dünne Scheiben geschnitten, bildete sie einen
äußerst schmackhaften, natürlich auch fettreichen Brotbelag für besondere Feiertage.
Als Tischgetränk zur außergewöhnlichen Spickbrust brauchte man gleichfalls etwas Außergewöhnliches. Weinanbau ist bekanntlich nördlich
der deutschen Mittelgebirge nicht mehr möglich. Die Sonnenkraft reicht nicht mehr für die
monatelange Rebenreife. Da die Pommern auf
Wein einerseits nicht verzichten wollten und er
ihnen andererseits zu teuer war, sannen sie auf
eine Weinalternative, so auch Vater. Er hatte
auf dem Dachboden seine Destilliereinrichtung,
bestehend aus Glasballons, Früchten und
Hefen. Aus Schlehen, aber vor allem aus unsePommersche Gänse auf einem Stoppelfeld
ren Johannisbeeren verstand er einen „Wein“
zu produzieren, den allerdings nur Pommern trinken konnten, die hart im Nehmen sind und sich nicht vor einem
Brummschädel fürchten!
Schlimm sah es mit den Verkehrsverbindungen aus. In meiner Kindheit herrschte praktisch noch das gemütliche
Postkutschentempo. Woldisch Tychow lag ja auch an einer ehemaligen Postkutschenroute. Sie bestand jahrhundertelang nur aus sandigen Feldwegen, die für die Hufe der Pferde zwar von Vorteil, aber für die Qualität und
Schnelligkeit des Reisens von Nachteil waren. So ging man in der Mitte des 19. Jahrhunderts daran, Kunststraßen
zu bauen. Zwischen Belgard und Bad Polzin wurde sie 1847/48 angelegt. Das Kennzeichen dieser Kunststraßen in
Pommern war, daß neben der Schotterstraße ein sogenannter Sommerweg verlief, der nicht gepflastert war und den
Pferdewagen vorbehalten blieb.
Die Kunststraße durch mein Heimatdorf war in meiner Kinderzeit noch eine Domäne für Postomnibusse und Lkw.
Pkw und Motorräder waren auch nach dem Ersten Weltkrieg zunächst seltene Straßenbenutzer.
Das Reisen war also damals noch recht beschwerlich und zeitraubend. Wer sich beispielsweise in die 15 Kilometer
entfernte Kreisstadt Belgard begeben wollte, mußte für dieses Vorhaben einen ganzen Tag vorsehen. Wenn man
den Postbus am Morgen benutzte, konnte man erst abends wieder zurückfahren. Ansonsten mußte man das
Fahrrad oder einen Pferdewagen besteigen, um schneller als ein Fußgänger voranzukommen. Eine Bahnverbindung durch den Kreis existierte zwar auch, seitdem im Jahre 1859 die Fernverbindung Berlin – Stettin – Stargard –
Belgard bis Köslin eröffnet worden war. Aber der nächstgelegene Bahnhof in Groß Rambin lag sieben Kilometer von
Woldisch Tychow entfernt und war natürlich keine D-Zug-Station. Wer nach Stettin oder Berlin reisen wollte, mußte
zunächst nach Belgard fahren. Von dort aus verkehrten 1929 insgesamt acht D-Züge nach Stettin (und in die andere Richtung nach Danzig) sowie 40 Personenzüge in alle Richtungen. Für die 286 Kilometer lange Bahnstrecke von
Belgard nach Berlin benötigte man rund viereinhalb Stunden (heutzutage mit einem ICE für die gleiche Entfernung
drei Stunden).
Einer der ersten Mitbewohner im Ort, der sich Mitte der zwanziger Jahre ein Motorfahrzeug zulegte, war ein Sohn
des Schmiedes Dumke. Voller Respekt sprachen die Dorfbewohner von seinen schnellen Fahrkünsten auf der
Schotterstraße: »Der geht sogar mit 60 Sachen in die Kurven!« Was wir kleinen Knirpse als Höchstgeschwindigkeit
verstanden, bedeutet heute Schneckentempo.
Bei der geringen Fahr- und Reisemöglichkeit funktionierte die schriftliche Kommunikation um so besser. Meine
Mutter war bekannt als vielseitige Briefeschreiberin. Sie überwand die fehlende persönliche Begegnung mit
Verwandten und Freunden in der Ferne durch die schriftlichen Kontakte. Während heutzutage von der Post als
Slogan ausgegeben wird: »Ruf doch mal an!«, galt damals die Aufforderung: »Schreib mal wieder!« Leider hat
bereits eine ganze Generation das Briefeschreiben verlernt.
Wie sich meine Enkelkinder heutzutage mit vier, fünf Jahren am Telefon unterhalten, das konnte ich als Kind nicht.
Mit der Telefontechnik wurde ich zum erstenmal mit rund sechs Jahren in Woldisch Tychow konfrontiert. Frau
Hofmann, die Leiterin der Poststelle, hielt mir eines Tages den Hörer von der Wand ans Ohr und rief einen
Telefonpartner an. Als tatsächlich aus dem Hörer eine Stimme zu vernehmen war, blieb ich vor lauter Staunen
stumm.
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Für meine Mutter war diese Technik freilich nichts Neues. Sie hatte etwa zwei Jahre lang im Krieg als Fräulein vom
Amt gewirkt und die Fernsprechverbindungen im Klappenschrank von Hand gestöpselt. In der Stadt war man natürlich schon weiter. So wurde in Pommerns Hauptstadt Stettin im Jahre 1927 mit dem Selbstwählverkehr im
Ortsbereich begonnen, in Teilbereichen Berlins bereits ein Jahr früher (Lichterfelde und Wannsee). Überhaupt waren
wir Pommern stolz auf die Fortschritte der Telefontechnik und die Post im allgemeinen. Denn die Entwicklung der
Post und speziell im Telefonbereich war von dem aus Stolp stammenden Generalpostmeister Heinrich Stephan frühzeitig gefördert worden. Der Begriff Fernsprecher wurde um 1880 von ihm eingeführt. Für seine Verdienste um die
Entwicklung der deutschen Post und des Weltpostvereins wurde Stephan sogar vom Kaiser geadelt. Mit dieser
Auszeichnung für den Stolper Abkömmling fühlten sich alle Hinterpommern geehrt.
Der heute gängige Begriff Freizeit war nach dem Ersten Weltkrieg sowohl dem Inhalt nach wie als Wort unbekannt.
Ein Recht auf Urlaub hatte der hinterpommersche Tagelöhner damals nur in den Bereichen Lauenburg und Köslin
(drei bzw. vier Tage Urlaub im Jahr). Es hing ganz vom Wohlwollen seines Gutsherrn ab, wenn er einmal einen freien Tag aus besonderem Anlaß erhielt
Infolgedessen erstreckten sich freizeitliche Vorhaben auf die kurze arbeitsfreie Zeit an den Abenden und Sonntagen.
Auch die entsprechenden Freizeitangebote waren dürftig. Einmal im Jahr wurde Kirmes an der Persantebrücke
gefeiert, wo die Polen inzwischen einen schönen Parkplatz eingerichtet haben. Und gelegentlich schlug ein Zirkus
seine Zelte in Belgard auf. Der Stummfilm weckte höchstens bei den Stadtbewohnern Interesse, bei den Dörflern
kaum. Erst als 1929 die deutsche Tonfilmära begann, zog das Leinwandgeschehen auch die Dorfbewohner in die
städtischen Kinos. Über besonders attraktive Filme, wie »Der Blaue Engel« (1930) mit dem späteren Hollywoodstar
Marlene Dietrich und Emil Jannings oder »Der Kongreß tanzt« (1931), waren selbst wir Steppkes vom Land durch
die Erzählungen und Schwärmereien der Älteren informiert.
Ich habe damals zwar keinen Film gesehen, aber die Filmgrößen kannte ich allesamt. Denn für deren
Bekanntheitsgrad sorgte die Reklame. Zigarettenfirmen, Schuhcreme- und Margarinehersteller (z. B. Erdal und
Sanella) fügten ihren Produkten kleine Bilder mit Größen aus Film, Geschichte und Politik bei. Sie gaben sogar
Alben heraus, in die man die Bilder einkleben konnte. So handelten und tauschten wir Marlene Dietrich gegen
Brigitte Horney oder Hans Albers gegen Heinrich George, der als gebürtiger Pommer natürlich bei uns hoch im Kurs
stand.
Da einige von den Ortsansässigen, wie ein Dumke-Sohn, inzwischen in der Stadt Arbeit gefunden hatten, waren sie
über das Geschehen in Deutschland und der Welt besser informiert als die Dorfbewohner, die ohne Radio und
Zeitung lebten. Wenn die Stadtbeschäftigten am Wochenende nach Hause kamen, brachten sie die wichtigen
Nachrichten aus der Stadt mit. So erfuhren wir, was es Neues in Politik und Gesellschaft gab. Daß 1926 Deutschland in den Völkerbund aufgenommen wurde und nicht mehr geächtet war oder daß der Charleston zum beherrschenden Modetanz gekürt worden war, gehörte zu diesen Neuigkeiten, die wir bestaunten. Kurze Zeit später wandte sich das Interesse einem anderen neuen Tanz zu: dem Tango. Der 1930 konzipierte Tanz „O! Donna Clara, ich
hab dich tanzen gesehn, und du warst wunderschön ...“ ist bis heute einer der beliebtesten Tangoschlager geblieben. Doch wenn im Herbst am Erntedankfest auf einem Scheunenboden des Gutes zum Tanz aufgespielt wurde,
bestimmte Walzer- und Schiebermusik den Abend. Ebenso erging es uns Zuhörern, wenn an den langen
Sommerabenden ein Nachbar mit seinem Schifferklavier auf der Dorfstraße Platz nahm. Dann hatten die alten
Volkslieder oder moderne Filmweisen (Armer Gigolo) Vorrang, weil sie zum Mitsingen anregten. So saß das ganze
Dorf um den Ziehharmonikaspieler und ließ sich durch die Melodien Schwingen anlegen.
Ein besonderes Thema beschäftigte uns über Jahre, nämlich die Vorgänge um die deutschen Luftschiffe des Grafen
Zeppelin. Er hatte seine ersten fliegenden Zigarren, wie die Luftschiffe humorvoll bezeichnet wurden, schon vor dem
Ersten Weltkrieg gebaut und für den Flugverkehr eingesetzt. Sie waren auch während des Krieges eingesetzt worden und hatten London bombardiert. Nach dem Krieg erregte Kapitän Hugo Eckner Aufsehen, als er im Oktober
1924 erstmals mit einem Luftschiff von Friedrichshafen/Bodensee aus den Atlantik überquerte. Zu einer richtigen
Volksbegeisterung für diese Flugobjekte kam es 1928, als die Ära der Luftschiffahrt mit der Aufnahme von regelmäßigen Flügen von Berlin nach New York einsetzte. Einer dieser Luftschiffriesen, die »Hindenburg«, hatte zwar nur
eine Reisegeschwindigkeit von 110 Stundenkilometer, aber eine Reichweite von 14 000 Kilometern zu bieten. Auch
uns Hinterpommern erfaßte ein nationaler Technikenthusiasmus, obwohl wir weit weg waren von den Erfolgstaten
der Luftschiffe. Aber die technische Faszination dieser Ungetüme der Luft beschäftigte uns ständig in unseren Gesprächen. »Graf Zeppelin«, ein weiterer »Ozeandampfer der Lüfte«, landete auch in Pommern: 1928 in Stolp und
1931 in Stettin. Voller Begeisterung jubelte die Kösliner Zeitung über die »wundervolle Harmonie« des Luftschiffes
und kommentierte: »Das macht uns keiner nach. Das bekommt kein anderes Volk fertig!« (4.5.1931). Als wir hörten,
daß »Graf Zeppelin« auf seiner ersten Reise um die Welt 1929 auch Ostdeutschland überqueren würde, standen
wir Stunden auf einer Anhöhe bei Woldisch Tychow in der Hoffnung, den Zeppelin zu sehen. Auch wenn wir ihn nicht
zu Gesicht bekamen, empfanden wir doch so etwas wie Nationalstolz auf »unseren Zeppelin«. Um so erschütterter
waren wir, als die Ära der Luftschiffriesen am 6.5.1937 mit der Explosion der 247 Meter langen „Hindenburg“ im
amerikanischen Lakehurst zu Ende ging.
(Bis 124)
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Bauersleute Georg und Erna Klix in Gauerkow bei Bad Polzin
Eigentümer: Georg Klix, geboren am 19. Oktober 1905 in Wojenthin, verstorben am 1. September 1961, und
Erna Klix geb. Radtke, geboren am 8. März 1912 in Bad Polzin, verstorben am 29. Mai 2005;
Georg Klix (05 -
Erna Klix geb. Radtke
Bauernhaus der Eheleute Georg und Erna Klix (vor 1945)
Der Hof Klix war 77,85 ha
groß; 60 ha Acker, 12,5
ha Wiesen und Weide,
1,5 ha Wald, Garten 1 ha,
Hof und Wege 0,85 ha,
fischreicher See 2 ha.
Berta Klix
geb. Klemz
Ewald Klix
(1875 - 1937) Altbauersleute (* 1883)
Die verfallenden Stallungen des Hofs (1993)
Maschinen zur
Bewirtschaftung unserer
Höfe brauchte man nach
1945 nicht mehr! Was ist
nur aus Pommern geworden? (1993)
Ausschnitt aus einem
Bericht über eine Reise
nach Hinterpommern
Lieselotte Ahlert geb. Klix
2. Tag unserer Reise, Dienstag, 22. Mai 1993
Heute ist der wichtigste Tag, wir fahren nach
Gauerkow. Der Bus bringt uns nach Tempelburg.
Wir besteigen die nagelneuen Fahrräder. Proviant,
Regenjacken und Medikamente sind in den
Fahrradtaschen und Körben verstaut. Wir fahren
durch die landschaftlich schönste Gegend von
Hinterpommern, bergauf, bergab, meist auf asphal2. von links Lieselotte Ahlert geb. Klix,
tierte Straßen mit geringem Autoverkehr. Wir komMitte (mit erhobener Hand) Helga Kost geb. Klix
men an einladenden Seen vorbei, herrlich ist die
Gegend um den „Fünf-See“. Wälder rechts und links, und immer wieder Wald, und dann sehen wir auf der Höhe
links unsere alte Dorfschule Gauerkow. In dem bescheidenen Gebäude ist jetzt ein Miniladen untergebracht, und
dort tätigen wir unsere ersten Einkäufe, vor allem das Polziner Fuhrmann-Bier, das schmackhafteste in der ganzen
Umgebung. Wir fahren weiter, wir kennen uns auf einmal gut aus und finden ohne Schwierigkeiten auf matschigem
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Wege, vorbei an dem uns vertrauten See, unseren Hof.
Nun- man hält inne, wird nachdenklich, sieht eine ganze Welt auferstehen. Uns erfaßt Entsetzen über den äußeren Anblick unseres
Hofs. Verfall! Überall Verfall. Hohes Gras auf dem Hof. Hier tut
sich nichts mehr. Das - was einst der Stolz unserer Eltern war, ist
bedeutungslos geworden.
Ich denke an 1945, die ersten Russen! Ich habe nicht viele
Erinnerungen, wohl aber bleibende, die sich tief in mir eingegraben haben. Wie sie hausten, immer mit der Kalaschnikow drohend. Mutter mußte ihnen was zu essen machen, verwechselte in
ihrer Aufregung Salz mit Zucker und wurde barsch angegangen.
Oder daran: Die russ. Soldaten holten die Männer ab. Vater ging
ihnen entgegen, begrüßte sie; Schwester Helga machte einen
Einstige Schule Gauerkow (1993)
Knix. Das bewog die Russen dazu, Vater zu Hause zu belassen.
Wieder einmal suchten Russen uns heim. Sie sahen unser Klavier
und wünschten, daß unser Vater darauf spielte. Er tats, er spielte
das Wolgalied, die Russen hörten andächtig zu und blieben friedlich.
Am 23. November 1945 wurde unser Vater abgeholt und in Bad
Polzin eingesperrt. Einen Tag darauf holte man uns ab und brachte uns in dasselbe Haus, in dem sich auch unser Vater befand.
Gemeinsam wurden wir den Tag darauf zum Bahnhof gebracht
und abtransportiert. Man filzte uns, man nahm sich, was gefiel. Es
herrschte große Kälte. Damit man uns nicht unsere Kleidung auf
dem Leibe nahm, hatte Mutter sie angerissen. Der Zug brachte
uns nicht bis Stettin. Vielmehr schlossen sich an die Abreise mehrere Stationen zu Fuß an: Unterwegs, untergebracht in Scheunen,
Von links: Helga, Jürgen, Lieselotte Klix (1944) Ställen, hungerten und froren wir. Nach 18 Tagen erreichten wir
unser Ziel, und zwar unsere Verwandten in Kamen. Vater pachtete einen 80 Morgen großen Hof für die Dauer von 11 Jahren und
sicherte so unsere Lebensgrundlage.
Gedankensplitter - die das ganze Elend, das unsere Eltern über
sich ergehen lassen mußten, vergegenwärtigen.
Aber zurück auf unseren Hof in Gauerkow: Wir dürfen unser Haus
betreten, darüber freuen wir uns. Wir sind erstaunt, was wir noch
von unseren Gegenständen im Haus sehen. Ein kleines Geweih
und zwei geschliffene Gläser für unsere Mutter bekommen wir als
Geschenk mit. Die Gläser stammen von unserer Großmutter. Es
geht weiter nach Bad Polzin, die Chaussee entlang mit schönen
alten blühenden Linden rechts und links der Straße und erreichen
nach insgesamt 35 km Fahrt den Marktplatz von Bad Polzin. Auch
hier ist von dem ehemaligen Glanz des internationalen Moor- und
Erna Klix geb. Radtke mit ihren Kindern
Mineralbads
nicht viel übrig geblieben, es sieht traurig aus bis auf
(von links) sitzend Jürgen, Dieter,
den
Kurpark.
stehend Helga, Lieselotte (1950)
7. Tag unserer Reise, Sonntag, 27. Mai 1993
Wir fahren noch einmal nach Bad Polzin und
kehren nach einem Besuch zurück nach
Gauerkow, trinken in der Schule nochmals ein
Fuhrmann-Bier. Vom höher gelegenen Weg
fotografieren wir und nehmen wehen Herzens
Abschied von unserer Heimat Gauerkow.
Bild links
Lieselotte Ahlert geb. Klix mit ihren 6
Enkelkindern. Von links unten: Alexander,
Lennart, Jakob; die Mädchen von links:
Katharina, Patrizia, Franziska (2007)
Bild rechts
Staatlich geprüfter Landwirt Georg Klix auf
dem Pachthof in Kamen (1950)
Auf dem Wagen ein ldw. Lehrling
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Frau Annegrete Maluè, heute Kohlgarten 69, 04315 Leipzig,
nennt die folgenden Daten ihrer Familie Maluè, Gutsherren in Quisbernow,
Retzin und Groß Poplow:
Urgroßvater: Hermann Friedrich Lebrecht Maluè
Großeltern: Vater Hugo Maluè, geboren am 8. 4.1853, verstorben 1933,
Mutter Helene geb. Hell, geboren am 2.11.1854
Kinder:
Erna verh. Wöller, Groß Poplow
Erich, Gutsherr von Retzin, gestoren am 1. 3.1945
Günther, Gutsherr von Quisbernow
Werner, bewirtschaftete vorübergehend das Gut Lasbeck, ging später nach
Österreich
Hans, zeitweise Gutsherr von Hohenfelde (Rambow); er wurde im März 1945
soll auf dem Rücktransport aus der UdSSR verstorben sein.
Familie Maluè, aufgenommen in
Quisbernow
Von links, vorne: Werner
2. Reihe:, Erna, Erich
3. Reihe: Eltern Helene geb. Hell
und Hugo, Hans (Günther fehlt.)
von den Russen verschleppt und
,
Hugo Maluè,
Großvater
Günther Malue,
Quisbernow
Hans Maluè
Herrenhaus Maluè in Retzin
Links: Erich Maluè, Gutsherr in Retzin
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Herrenhaus Hohenfelde
Herrenhaus des Gutes (Vorwerk) Birkhof,
Gemeinde Quisbernow
Das Bild wurde aufgenommen, als ein Hermann Golitz
des Gut bewirtschaftete. Die Familie Golitz konnte das
Gut (im Ersten Weltkrieg) nicht halten, so fiel es an die
Familie Maluè, der es vorher gehört hatte, zurück.
Günther Maluè richtete das Herrenhaus für seine verheiratete Tochter Ingeborg Hartstock geb. Maluè während des Zweiten Weltkriegs her. Frau Hartstock sollte
das Haus nach Kriegsende mit ihrem Mann beziehen.
Dazu ist es dann nicht mehr gekommen. Heute, so
schreibt Frau Anngret Maluè, wachsen auf der Stelle,
auf der einst das Herrenhaus Birkhof stand, Birken; so
hat sich die Natur auch dieses Stückchen Land geholt.
Ich finde, es strahlt Friede aus."
Eigentümer des Gutes in Retzin war Erich Maluè
Schule Naffin
Die einklassige Volksschule war in einem 1914
erbauten Schulhaus mit geräumiger
Lehrerdienstwohnung untergebracht. Die Schule
besuchten 21 Kinder aus Naffin; außerdem einige Kinder aus Fuchskaten (Denzin-Abbau) und
von Roggow-Abbau an der Muglitz. Bis 1934
lehrte August Nitz in Naffin. Ihm folgte Lehrer
Hermann Carl.
Die Gemeinde Schinz mit Klein Reichow
besaß bereits 1867 eine eigene Schule. Letzter
Lehrer war Richard Röhl. Dessen Ehefrau
Elsbeth Röhl, Tochter des Schulleiters Albert
Kiekow in Roggow, war an der Schule Schinz
als Handarbeitslehrerin tätig.
Jahre 1928 wurde der Gutsbezirk Schinz mit
dem naheliegenden Bauerndorf Klein Reichow
zur Landgemeinde Schinz zusammengelegt.
Bedauerlich, daß die Schüler auf den beiden
Bildern nicht genannt sind; ein Bild hat so nur
sehr begrenzten historischen Wert. Wer kann
sich zu den Bildern äußern?
Beim Einmarsch der Russen am 4. März 1945
brachen sie den Spirituskeller der Brennerei
auf. Der Gutseigentümer Walter Weske fand
dabei den gewaltsamen Tod, auch die Frauen
hatten furchtbar zu leiden.
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Familie Benno Müller und Hedwig geb. Bahr in Drenow, Kreis Belgard
Wolfgang Müller
Im Laufe des letzten Jahres begann ich (Jahrgang 1962) mich wieder mit der Familiengeschichte meines Vaters
Hermann Müller (1926 – 1962) näher zu beschäftigen. Auslöser war eine
Fahrt mit meiner Familie in die Kreise Belgard und Köslin im August 2010,
um zum ersten Male die Heimat meiner Vorfahren zu besuchen. Da die letzten direkten Verwandten schon vor fast 20 Jahren verstorben sind, bildete
ein in Sütterlinschrift (für einen Leser meiner Generation eine
Herausforderung) verfasster Bericht meines Großvaters Benno Müller (1892
– 1977) über die Jahre 1945/46 die Grundlage für die meisten Informationen
über diesen Teil meiner Familie. Die Wurzeln der Familie liegen in
Dörsenthin bei Köslin, wo die Familie bis zum Jahre 1937 einen kleinen
Bauernhof bewirtschaftete. Im Zuge der Erweiterung eines Truppenübungsplatzes bzw. Reichswehrgeländes mussten meine Großeltern Benno Müller
Bauersleute Benno Müller
und Hedwig Müller, geb. Bahr (1904 – 1993) Teile ihres Landbesitzes abtreund Hedwig geb. Bahr
ten. Als Ersatz erhielten sie über die Reichsumsiedlungsgesellschaft in Drenow bei Groß-Tychow die
Siedlerstelle Nr. 2 in Drenow-Siedlung, von DrenowDorf in Richtung Bahnhof Villnow gelegen. Insgesamt
bestand Drenow-Siedlung aus 6 Höfen, u.a. auch dem
der Familie Willi Ruck, die ebenfalls aus Dörsenthin
übersiedelte. Für die nächsten Jahre wurde dieser Hof
die Heimat meiner Großeltern, meines Vaters und meiner Tante Gertrud Müller (1927 – 1989). Am 19.4.1946,
ein Karfreitag, folgte dann der bittere Schlusspunkt für
meine Großeltern und meine Tante – mein Vater war
inzwischen bei der Wehrmacht. Es kam die Vertreibung
Drenow: Hof von Benno Müller
aus der Heimat, die die Familie letztendlich in das
und Hedwig geb. Bahr im Zustand des Jahres 2010
Vertriebenenlager Gammellund in Schleswig-Holstein
führte. Erst Mitte der fünfziger Jahre gelang es ihnen in Münster/Westfalen eine Wohnung und meiner Tante eine
Arbeitsstelle zu erhalten. Bis zu ihrem Tode wurde somit Münster ihre neue Bleibe. Mein Vater Hermann war bis zu
seinem frühen Tode im Jahre 1962 Zöllner in Emmerich am Niederrhein,
wo ich im gleichen Jahr geboren wurde.
Benno Müller mit Enkel Wolfgang
Hermann und Gertrud Müller,
Schule Drenow 1938
Urgroßeltern Hermann Müller und Berta geb. Tech mit Enkel
Hermann Müller auf dem Arm, Hermann Müller, Großeltern
Hedwig und Benno Müller (Dörsenthin, Kreis Köslin, 1926)
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Schulklasse Redel 1924
Von vorne, links: 1. Reihe (sitzend)
unbekannt, Elbefelder Mädchen
2. Reihe: 1. Hildegard Voelzke,
2. Berta Baumann, 5. Olga Wenserit,
6. Frieda Zielke
3. Reihe: 1. Erika Maske aus Groß
Werdin, 2. Irmgard Prey, 3. Klara
Kühn, 5. Lehrer Fritz Hundt,
7. Elsbeth Weidt, 8. Minna Heßler
4. Reihe: Siegfried Kleinschmidt,
2. Irmgard Prey, 3. Paul Beilfuß, 4.
Walter Barz, 5. Paul Laude,
6. Kurt Gomoll
Bahnhof Redel
Schule Redel
Bild links: Herrengruppe aus Redel
Von links: M. Damerow,
Mitte Richard Funk, 5. Hermann Müller
(vor 1900)
Musikergruppe in Brutzen (1930)
Von vorne, links: Bruno Ost, Name
unbekannt, Neffe von Ost, Willi Rode
Hinten: Walter Gehrke, Otto Juske,
Erich Rotzolk, Herbert Weiland,
Rudolf Kopp, Oskar Witt, geb. 1908,
Onkel der Einsenderin Hannelore
Schlawin geb. Schmeling, WilhelmLeuschner-Straße 5, 28329 Bremen
Noch in den 1920er Jahren hatten wir auf allen Dörfern Dorfkapellen.
Mit dem aufkommenden Rundfunk verebbte die Dorfmusik, und damit ging ein Stück ländlicher Kultur verloren.
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