Klänge aus dem Osten. Wer komponierte die Musik - DEFA

Transcrição

Klänge aus dem Osten. Wer komponierte die Musik - DEFA
Klänge aus dem Osten. Wer komponierte die Musik der DEFA-Filme?
Wolfgang Thiel (film-dienst 17,19/1996)
Teil I
I. UMBRUCH UND KONTINUITÄT (1946-1949)
Das Ende des Zweiten Weltkriegs setzte unter die Filmmusik des Dritten Reiches keinen
dissonanten Schlußakkord, sondern lediglich eine Generalpause. Nach dieser unfreiwilligen
Zäsur im grotesken Reigen vieler betont lustiger Musiken eines Leux, Bochmann oder Profes,
die noch in der ersten Jahreshälfte 1945 zu teilweise unvollendet geblichenen Filmen
geschrieben und aufgenommen worden waren, ging es schon bald verblüffend pragmatisch
und nahezu unverändert weiter. Alle nach 1945 einsetzenden politischen und
gesellschaftlichen, aber auch kulturellen, selbst filmischen Veränderungen blieben im Bereich
der Filmmusik-Produktion noch für Jahre folgenlos. Es wäre Augenwischerei, wollte man die
DEFA-Musik, die vor der Gründung der DDR und (teilweise auch) in den 50er Jahren
geschrieben worden ist, gegenüber den voraufgegangenen zwölf Jahren deutscher Filmmusik
unter dem Hakenkreuz als gänzlich oder zumindest wesentlich anders bezeichnen. Die Fäden,
die Stil und Dramaturgie der frühen DEFA-Musik mit der UFA-Filmmusik der 30er und 40er
Jahre verband, wurden keineswegs wie ein gordischer Knoten zerhauen, sondern zerrissen erst
allmählich im Verlauf der 50er Jahre. Worin lagen die Ursachen für jene fatale Kontinuität?
Normal betrachtet begann zwar mit der Gründung der Deutschen Film-Aktien-Gesellschaft
(DEFA) auch ein neues Kapitel in der Geschichte der bis 1949 durchaus gesamtdeutschen,
danach aber bis 1990 ostdeutschen Filmmusik. Dieses neue Kapitel nahm seinen Anfang nicht
nur in notdürftig hergerichteten Ateliers mit unzulänglicher technischer Ausrüstung, sondern
es begann - und dies war gewiß am schwersten - mit Menschen, die größtenteils ohne innere
Überzeugung nur um des Überlebens, des Geldes oder um einer Karriere willen mitmachten.
Da waren die Ufa-Filmkomponisten, die nach zwei, drei Jahren erzwungener Schaffenspause
in ihren unversehrt gebliebenen Villen rund um den Wannsee wieder zur Feder greifen
konnten. Als talentierte Musiker kannten sie natürlich die "Lust am Machen", die Freude über
wohlgesetzte Notenköpfe, und so erwachte auch ihr Handwerkerehrgeiz, wie "in (für sie
durchaus) guten alten Zeiten" solide ausgeführte Partituren in bewährter Manier anzufertigen.
Den Anfang machte Ernst Roters (1992-1961) - Kapellmeister und Komponist,
Opernregisseur und Musikkritiker -, der im September 1946 im erhalten gebliebenen
Johannisthaler Synchronatelier der Tobis in Berlin den Taktstock zur Aufnahme seiner "FilmMusik Nr. 12 Op. 99" "Die Mörder sind unter uns" hob. Es war eine handwerklich gut
gearbeitete Orchesterpartitur, die im Vorspiel, in der anschließenden Zugsequenz oder in der
gläsern-kalten Wintermusik Momente beeindruckender musikalischer Expressivität enthält.
Obgleich Roters von 1940-44 Dozent an der Deutschen Filmakademie in Babelsberg war und
auch vor 1945 etliche Kultur- und Spielfilme vertonte, gehörte er wie der Dresdner Herbert
Trantow (1903 -1993) zu den politisch unbelasteten Komponisten. Aus der Feder des
Letztgenannten stammen einige bemerkenswerte Partituren dieser Jahre. So konnte man
anläßlich der Premiere der Wozzeck-Verfilmung in der "Berliner Zeitung" vom 19.12.1947
lesen: "Eine besondere Hervorhebung verdient die Musik Herbert Trantows:... (eine) der
dichtesten, angeschmiegtesten und zugleich durchaus originellsten Leistungen dieses Genres,
das von soviel Unberufenen beackert wird." Erwähnenswert ist auch seine vor allem in den
Waldszenen klanglich aparte Märchenfilmpartitur "Das kalte Herz"(1950), die aber im
Zeichen der damaligen stalinistischen Formalismus-Diskussionen wegen ihrer vor allem in
harmonischer Hinsicht frei gestalteten Volkstänze gerügt wurde.
Aber auch kleinere Talente und Routiniers wie Hans-Otto Borgmann, Wolfgang Zeller,
Michael Jary oder Theo Mackeben kamen schnell ins neue DEFA-Geschäft, zumal viele
alteingesessene Regisseure mit oder ohne "entnazifizierendem Persilschein" wieder drehen
durften. So kannten sie sich (fast) alle und stellten untereinander keine Fragen bezüglich der
jüngsten Vergangenheit. Ein Regiedebütant wie Kurt Maetzig erfuhr erst Jahre später, daß der
Komponist seines antifaschistischen Films "Ehe im Schatten" (1947) wenige Jahre zuvor die
Musik zu Veit Harlans antisemitischem Film "Jud Süß" (1940) geschrieben hatte. So wollte
auch der Komponist Henning Schröder (1996 - 1997), der während der NS-Zeit als
Komponist Berufsverbot hatte und 1946 bis 1961 im DEFA-Sinfonieorchester als Bratscher
tätig gewesen war, in einem 1994 geführten Gespräch nicht recht glauben, daß der
"bescheidene, hilfsbereite und sympathische" Wolfgang Zeller (1993 - 1967) die Musik zu
diesem berüchtigten Film geschrieben habe. Aber Zeller war leider keine Ausnahme unter den
frühen DEFA-Komponisten. So vertonte Hans-Otto Borgmann (1901 - 1977) 1933 für den
Film "Hitlerjunge Quex" das wohl bekannteste Lied der HJ "Unsre Fahne flattert uns voran".
Daß gerade dieser Musiker von der DEFA den Auftrag erhielt, die Musik zu einem Film
"Eins-Zwei-Drei-Corona" (1949) zu schreiben, der Probleme der Nachkriegsjugend und
Fragen eines neuen Erziehungsmodells behandelte, ist aus heutiger Sicht schwer verständlich.
Auch der weniger bekannte Franz R. Friedl (1992-1977) hatte ein unrühmliches
filmmusikalisches Opus zu verbergen. 1940 schrieb er die Musik zu Hipplers "Der ewige
Jude", dem wohl übelsten antisemitischen Hetzfilm, und 1949 für die DEFA die Partitur zu
einer Heimkehrertragikomödie "Quartett zu fünft". Noch 1954 betrat mit Herbert Windt
(1994-1965) ein einstmals von der Nazipresse gefeierter "Komponist der heroischen und
nationalpolitschen Filme" wie "Triumph des Willens", "Unternehmen Michael" oder
"Kadetten" als Mitarbeiter Wolfgang Staudtes (!) das Musikatelier der DEFA, um seine
Musik zu "Leuchtfeuer" aufzunehmen. Wahrscheinlich war es nicht allein die prekäre
personelle Situation, die dazu zwang, mit belasteten Komponisten der NS-Zeit
zusammenzuarbeiten, sondern vielfach waren deren Aktivitäten zwischen 1933 und 1945 nur
in ungenügendem Maße bekannt. Erst 1963 mit Joseph Wulfs Dokumentation "Musik im
Dritten Reich" lag die erste einschlägige Publikation zu diesem Thema vor; und erst zwei
Jahrzehnte später erschien mit Fred K. Priebergs Buch "Musik im NS-Staat" eine
systematisch aufgearbeitete Musikgeschichte dieser Zeit.
Die im Nachhinein verlockende gedankliche Utopie eines radikalen Neubeginns wäre
(zumindest in diesen Anfangsjahren) an den objektiven Gegebenheiten gescheitert. Von den
aus politischen oder rassistischen Gründen emigrierten Komponisten, die vor 1933 die
deutsche Filmmusik geprägt hatten, war 1946/47 noch keiner nach Deutschland
zurückgekehrt. Der kompositorische Nachwuchs befand sich in Gefangenschaft oder war im
Krieg gefallen. Aus KZ und Zuchthaus befreite Musiker wurden in der SBZ (sowjetisch
besetzten Zone) mit dringenden kulturpolitischen Aufgaben betraut. Sie waren zudem den
Filmregisseuren völlig unbekannt und besaßen auch keinerlei Metiererfahrung.
II. NEUBABELSBERGER FILMSYMPHONIK DER 50ER JAHRE
Rückschauend waren diese Jahre die Blütezeit des DEFA-Sinfonieorchesters. Es gab kaum
einen "seriösen" Film, der nicht die Dienste dieses fest bestallten Klangkörpers voll
beanspruchte. Was die Herren Roters, Zeller, Sieber oder Strasser an Partituren im
orchestralen "DEFA-Sound" produzierten, war allerdings pure Kapellmeistermusik, nämlich
eine Abart der damals international verbreitetsten, in Hollywood wie Moskau gleichermaßen
üblichen "Filmsymphonik", die in ihren stilistischen Mitteln bis zu jenem Punkt in der
Entwicklung der europäischen Kunstmusik ging, der die Bruchstelle der nach 199 zunehmend
gestörten Kommunikation zwischen Komponist und Publikum markiert. Ausgehend von der
Kompositionstechnik und dem Ausdrucksvokabular des späten 19. Jahrhunderts
vereinnahmten die Filmsymphoniker (als zumeist historisch verspätete Wagner-Epigonen) in
ihrem Mixtum-compositum-Stil ebenso die tonmalerischen und koloristischen Effekte eines
Richard Strauss wie die pathetischen Gesten eines Tschaikowskij oder den Klangzauber der
Impressionisten. Alles was danach kam - Schönberg und Strawinsky, Hindemith und Bartók -,
war bestenfalls in der Übernahme einzelner Stilelemente aus dramaturgischen Gründen
gestattet. Dennoch gab es auch zu dieser Zeit hörbare qualitative Unterschiede in puncto
Handwerk und persönlichem Naturell.
Auf der untersten Ebene befand sich die "offizielle" bemüht-pathetische Staats- und
Heldensymphonik, wie sie beispielsweise ein Wilhelm Neef (1916-1990) in den "Ernst Thälmann-Filmen" von 1954/55 praktizierte. Die Gestaltung eines solchen
"heroischrevolutionären und sozialistisch-realistischen Pathos" war auch das Anliegen von
Ernst Hermann Meyer (1905-1999), eines mit Staats- und Parteiorden hochdekorierten
Komponisten, Musikologen, Universitätsprofessors und Kulturfunktionärs. Seine Partituren
zu Filmen wie "Wo du hingehst" (1957) oder "Solange leben in mir ist" (1965) sind jedoch
handwerklich gediegener als vergleichbare von Neef oder Eberhard Schmidt.
Zu den fruchtbarsten Filmkomponisten der 50er Jahre gehörte Joachim Werzlau (geb. 1913),
der als erster Nachwuchsautor der DEFA über Hörspielmusiken zum Film kam. Werzlau sah
sein großes Vorbild in der sowjetischen Kinomusik; speziell in der Filmsymphonik
Prokofjews und vor allem Schostakowitschs sowie dramaturgisch im Einsatz eines (Massen)Liedes als "treuem Kampfgefährten der Partei bei der Erziehung der sowjetischen Menschen"
und als "Quintessenz der ideellen Aussage des Film-Autors" (Isaak Dunajewski). Beispiele
dieser Bestrebungen sind seine Partituren zu "Das geheimnisvolle Wrack" (1954), "Der
Teufel vom Mühlberg" (1955) sowie der nahezu durchkomponierte Soundtrack für Konrad
Wolfs Film "Genesung" (1956). In späteren Jahren - genannt seien Filme wie "Lissy" (1957),
"Fünf Patronenhülsen" (1960), "Karbid und Sauerampfer" (1963) und "Jakob, der Lügner"
(1974) - wird Werzlaus Musik in Ausdruck und formaler Gestaltung thematisch verbindlicher,
differenzierter, konziser. In Frank Beyers Spanien-Film "Fünf Patronenhülsen" nahm er
Abschied vom standardisierten Studio-Orchester und benutzte ein sujetgebundenes
Auswahlinstrumentarium. Mit der Komposition für eine Solo-Violine beendete er in "Jakob,
der Lügner" seine Karriere als Filmmusiker.
Die Kärrnerarbeit in diesem Metier, nämlich für Genres an der Peripherie des
Lichtspielbetriebs bis hinunter zu den ephemerischen Industrie- und Werbefilmen, lag indes
in anderen Händen. Als routinierter Vielschreiber par excellence empfahl sich Hans-Hendrik
Wehding ("Corinna Schmidt", 1951; "Kein Hüsung", 1954), der 1942 mit dem Intermezzo aus
der Ballettpantomime "Der goldene Pavillon" ein Zugstück für internationale RadioWunschkonzerte geschrieben hatte. Mit schier unglaublicher Leichtigkeit komponierte er
Opern, Operetten, Schlager und nahezu 500 (meist orchestrale) Filmmusiken aller Art. Seine
Filmsymphonik tendierte stets zu einer farbig instrumentierten gehobenen
Unterhaltungsmusik.
Teil II
III. VOM SINFONIEORCHESTER ZUM KNEIPENKLAVIER - ALTERNATIVE
SOUNDS IN DEN 50ERN
Wer in den Jahrgängen der seit 1951 vom Verband der Komponisten und
Musikwissenschaftler der DDR herausgegebenen Zeitschrift "Musik und Gesellschaft" nach
Beiträgen über Filmmusik suchte, fände in den Anfangsjahren lediglich vereinzelte Lobreden
auf die Musik in sowjetischen Filmen sowie einige kritische Äußerungen von DEFAKomponisten wie Neef und Werzlau über unbefriedigende Arbeitsbedingungen. Erst in den
70er Jahren wurde das große, auch international vorhandene Informationsdefizit in Sachen
Film- und Fernsehmusik durch einschlägige Bücher, vermehrte Zeitschriftenartikel,
Rundfunksendungen, Dissertationen und Symposien (z.B. 1978 und 1986 in Ost-Berlin)
verringert. In der DDR erschienen 1975 Vera Grützners Doktorarbeit über Traditionen,
Stationen und Tendenzen der Musikdramaturgie in DEFA-Spielfilmen und 1981 Wolfgang
Thiels Buch "Filmmusik in Geschichte und Gegenwart". Neben der bereits genannten
Musikzeitschrift öffneten auch das Verbandsperiodikum "Film und Fernsehen" sowie der
populäre "Filmspiegel" ihre Spalten filmmusikalischen Themen. Jubiläen wie beispielsweise
der 80. Geburtstag von Hanns Eisler 1978 waren willkommene Anlässe, um Probleme der
Film-, Fernseh-, Hörspiel- und Theatermusik ins Blickfeld der Musikologen und Redakteure
zu rücken. "Denn wie wollte man die historische Leistung dieses (1962 verstorbenen)
Komponisten würdigen, ohne zugleich auf das von ihm theoretisch entworfene und praktisch
erprobte Konzept der angewandten Musik einzugehen?" (M. Dasche) Allerdings wurde in der
Diskussion über den ästhetischen Standort und Stellenwert der DEFA-Film- und (seit den
60er Jahren) Adlershofer Fernsehmusik auch die Frage nach den Eislerschen Meriten seit
seiner Rückkehr aus dem US-amerikanischen Exil gestellt. Zwar hatte Eisler 1949 im Berliner
Henschel-Verlag das gemeinsam mit Theodor W. Adorno verfaßte Büchlein "Komposition
für den Film" in Absprache mit dem Co-Autor unter seinem Namen und in veränderter
Fassung herausgebracht. Aber diese Schrift mit ihrer rhetorisch glänzenden Kritik an der
Hollywooder Filmmusikmanufaktur und ihren Forderungen nach einer sachlich geplanten und
intelligenten Lichtspielmusik wurde unter den Babelsberger Filmmusikern kaum diskutiert.
Zwar gehören seine beiden Orchesterpartituren zu "Unser täglich Brot" (1949) und vor allem
zum Kurt-Maetzig-Film "Der Rat der Götter" (1950), in dem er zur Charakterisierung von
gesellschaftlich bedingter Unmenschlichkeit die kalten Klänge des Mixtur-Trautoniums
nutzte, zu den wenigen herausragenden originellen DEFA-Filmkompositionen dieser Jahre.
Aber gemessen an Eislers experimentellen Vorkriegsarbeiten zeigen sie eine weitaus
verbindlichere Tonsprache, die sowohl mit seinen Hollywood-Erfahrungen als auch mit der
damaligen kulturpolitischen Situation im Zusammenhang steht.
Der ebenfalls aus dem USA-Exil nach Deutschland zurückgekehrte Paul Dessau (1894-1979)
schrieb für die dokumentarischpropagandistischen Epen des Ehepaars Thorndike ("Du und
mancher Kamerad", 1956; "Unternehmen Teutonenschwert", 1958; "Das russische Wunder",
1962) bemerkenswerte Partituren, die sich in Stil und handwerklichem Niveau von der
seinerzeit im Dokumentarfilm üblichen Routine und Epigonalität abhoben. Stets ein
Suchender war der von Dessau geförderte Reiner Bredemeyer (1929 - 1995), dessen
Medienkompositionen ihre besondere Qualität aus der Unbedingtheit gewannen, mit der sie
sich den dramaturgischen Anforderungen des vorgegebenen Sujets stellten. Egal, ob es sich
um eine neoklassizistisch verfremdete Trivialmusik wie im frühen Fernsehfilm "Die Dame
und der Blinde" (1959) oder um a-thematische Klangstrukturen für die politische
Fernsehpublizistik des Studios Heynowski & Scheumann handelte.
In den 70er und 80er Jahren bot auch Wolfgang Schoor (geb. 1926), der wie Bredemeyer aus
der BR Deutschland in die DDR übergesiedelt war, in mehr als 200 Dokumentarfilmmusiken
(u. a. für viele Arbeiten von Karl Gass) interessante Bild-Ton-Montagen - oft unter
konzeptioneller Einbeziehung der Geräusche - an.
Im Spielfilm wurde erst um 1958 personell und stilistisch eine musikalische Verjüngung
spürbar. Die Impulse gingen hauptsächlich von Meisterschülern Hanns Eislers, von Vertretern
der Brechtschen Theaterästhetik sowie von innovativen Regisseuren aus, die wie Gerhard
Klein vom italienischen Neorealismus beeinflußt waren. Setzte Joachim Werzlau in Konrad
Wolfs Film "Lissy" (1957) an Stelle opulenter kinosymphonischer Klänge modernere und
pointiertere musikalische Mittel ein, und machte Gerhard Klein im selben Jahr von Günter
Klücks gefälliger Unterhaltungsmusik in "Berlin Ecke Schönhauser" nur äußerst sparsam
Gebrauch, so begann der Eisler-Schüler Andre Asriel (geb. 1922) die Reihe seiner klug
disponierten Filmkompositonen 1958 mit einem verstimmten Kneipenklavier in
"Lotterieschweden". Seine Vorliebe für charakterisierende Soloinstrumente und
kontrapunktische Strenge zeigen auch die Orgel- und Akkordeonmusik in "Der verlorene
Engel" (1966) sowie die Zwölftonfuge in "Netzwerk" (1970); eine Affinität zu musikalischer
Ironie und zum traditionellen Jazz hingegen die Manfred-Krug-Filme "Auf der Sonnenseite"
(1961) und "Mir nach, Canaillen!" (1964). Insgesamt gesehen wird bei Asriel das Bestreben
erkennbar, mit einem Minimum an äußerem Aurwand größtmögliche dramaturgische
Wirkungen zu erzielen.
In eine ähnliche Richtung gingen auch Kurt Schwaen (geb. 1909) und Hans-Dieter Hosalla
(1919-1995), die als Autoren von Bühnenmusiken für Brecht-Stücke einige Filmmusiken
schrieben, die weder illustrieren noch melodramatisieren, sondern die Bildaussage "gestisch"
kommentieren. Genannt seien von Schwaen "Sie nannten ihn Amigo" (1959) und "Der Fall
Gleiwitz" (1961) sowie von Hosalla "Professor Mamlock" (1961) und "Der geteilte Himmel"
(1964).
IV. NEUE NAMEN - NEUE KONZEPTE?
Durch den Bau der Berliner Mauer 1961 wurde nicht nur das Sinfonieorchester der DEFA
von West-Berliner Musikern (wie es im Jargon der SED hieß) "100%ig störfrei gemacht",
sondern auch ein Komponist wie Klück erhielt als "Bürger der besonderen politischen Einheit
West-Berlin" keine Aufträge mehr.
Neue Namen, die in den 60er Jahren anfänglich frische Akzente setzten, waren die EislerSchüler Günter Hauk (1932-1979) mit seiner jazzigen Musik zu "For Eyes Only" (1961) und
Wolfgang Hohensee (geb. 1927) mit einer effektvollen Partitur zum Fernsehmehrteiler "Das
grüne Ungeheuer" (1962) sowie der vielschreibende Autodidakt und Theatermusiker
Wolfgang Pietsch (1929 -1974). Die Richtung der heiteren Filmmusik vertraten der
Operetten- und Schlagerkomponist Gerd Natschinski (mit über 60 Filmpartituren) sowie
Wolfram Heicking und Conny Odd (Pseudonym für Carlernst Ortwein), der jedoch wie Addy
Kurth, Guido Masanetz und Hans-Friedrich Ihme vornehmlich für das Dresdener
Trickfilmstudio arbeitete.
Die damals vorhandene Offenheit junger Musiker vom "klassischen Fach", sich auf das
Abenteuer Film einzulassen, bedurfte als notwendiger Ergänzung die Bereitschaft von
Regisseuren, angehenden metierunerfahrenen Komponisten "ernster Musik" die Chance des
Debüts zu geben. Dieser Konnex war in den 60er und teilweise noch in den 70er Jahren
vorhanden. Und so suchte eine nach 1960 in der DDR aufgewachsene und gleichermaßen an
Marx und Brecht, Eisler, Schönberg und Strawinski geschulte Komponistengeneration auch in
der Film- und Fernsehmusik den Anschluß an die westeuropäische Moderne. Denn noch
immer war jener musikerzieherische Gedanke lebendig, daß mit Hilfe gut komponierter
Filmmusik die allmähliche Heranführung eines Millionenpublikums an die zeitgenössische
Kunstmusik möglich sei. Und so schrieben (wie zuvor Eisler und Dessau) auch Reiner
Bredemeyer, Günter Kochan und Gerhard Wohlgemuth ("Die Abenteuer des Werner Holt",
1965) und in den 70er Jahren Friedrich Goldmann ("Till Eulenspiegel", 1975), Georg Katzer,
Tilo Nedek, Siegfried Matthus ("Die Leiden des jungen Werthers", 1976), Gerhard Rosenfeld
("Leben mit Uwe", 1973) und Hans Jürgen Wenzel - allesamt gestandene und anerkannte
Autoren von Opern-, Orchester- und Kammermusik - kontinuierlich oder gelegentlich
Kompositionen für Film, Funk und Fernsehen.
Gegen diese progressiven stilistischen Bestrebungen richtete sich eine teils auf ideologische
Indoktrination, teils auf bloßes Massenamüsement setzende Kulturpolitik. Die Folge war, daß
beispielsweise Gegenwartsthemen zunehmend mit modischer Schlagermusik untermalt und
Tanzmusiker sowie Rockgruppen (oftmals nur für je einen Film) engagiert wurden.
Allerdings erwies sich auch hier, daß nicht die Stilmittel an sich, sondern die Art ihres
Einsatzes für die Beurteilung einer Filmmusik ausschlaggebend sind. So errang Peter
Gotthardt (geb. 1941) 1973 in Zusammenarbeit mit den "Pudhys" einen Publikumserfolg mit
seiner nicht nur eingängigen, sondern auch dramaturgisch wirksamen Musik zu "Legende von
Paul und Paula". Gleiches gilt für die Kongruenz des typischen Günter-Fischer-Sounds mit
Stil und Aussage des "Kultfilms" "Solo Sunny" (1979). Schon zuvor hatte Fischer (geb. 1944)
in "Tecumseh" (1972) die mittlerweile etwas verstaubten Klangkonzepte im DEFAspezifischen Indianerfilm live-elektronisch aufgefrischt. Bernd Wefelmeyer (geb. 1940),
Komponist und Tonmeister in Personalunion, bevorzugte sowohl in Fernsehfilmen für den
Tagesbedarf als auch in anspruchsvolleren Literaturverfilmungen ("Die Zeit der Einsamkeit",
1983) einen "vermischten Stil", eine Musik des Brückenschlags, deren apart instrumentierte
und elektroakustisch aufbereitete Klangbilder den kompositorischen Balanceakt einer je nach
Sujet und Machart unterschiedlichen Verknüpfung von zeitgenössischer Orchester- und
Kammermusik mit Elementen des Jazz und Pop aufweisen. Seit den 60er Jahren gehörte auch
der vormalige Dirigent des DEFA-Sinfonieorchesters Karl-Ernst Sasse (geb. 1923) neben
Gotthardt und Fischer zu den fleißigsten Film- und Fernsehkomponisten. Fast 400 Arbeiten
umfaßt sein facettenreiches filmmusikalisches Oeuvre, das nahezu alle filmischen Genres
umfaßt. Hervorzuheben sind stimmungsvolle Partituren für Kinderfilme ("Gevatter Tod",
1980), versiert historisierende für Produktionen wie "Sachsens Glanz und Preußens Gloria"
(1985) sowie sinfonisch ambitionierte bei der Vertonung klassischer deutscher Stummfilme.
Sozusagen kurz vor und nach der Wende traten zwei jüngere, bezüglich ihrer ästhetischen
Herkunft und Position sehr unterschiedliche Musiker auf den Plan. Ralf Hoyer (geb. 1950)
arbeitet vornehmlich auf den Gebieten der Schauspiel-, szenischer Kammer- und
elektronischen Musik. Jürgen Brauer verpflichtete ihn für seine Filme "Das Herz des Piraten"
(1988), "Sehnsucht" (1989) und "Tanz auf der Müllkippe" (1991). Rainer Oleak (geb. 1953),
in früheren Jahren als Keyboarder Mitglied diverser Rockbands, schrieb zwar bereits seit
1980 einige Filmmusiken. Aufhorchen ließ sein atmosphärisch dichter, partiell minimalistisch
konzipierter Soundtrack für Bodo Fürneisens Fernsehfilm "Scheusal" (1990).
V. NACHKLANG
Von den etwa 40 Komponisten, die in den 80er Jahren für die DEFA-Studios in PotsdamBabelsberg und Dresden, für das Fernsehen und die in der Kooperationsgemeinschaft Film
der DDR zusammengeschlossenen Studios des Industrie-, Lehr- und Werbefilms jährlich viele
Notenblätter beschrieben haben, sind nur noch sehr wenige im Filmgeschäft. Dies befördert
zwangsläufig bei denen, die mit mehr oder weniger Glück nach neuen Arbeitsmöglichkeiten
Ausschau halten mußten, (n)ostalgische Gedanken über jene fernen Zeiten, da selbst für
kleine populärwissenschaftliche Filme ein sinfonisch besetztes Orchester zur Verfügung stand
und der gut honorierte Komponist lediglich "seine Arbeit in einer für den Film
verwendungsfähigen Partitur abzuliefern" hatte. Zwar wurde das Ideal einer von
ökonomischen Zwängen und sonstigen Fremdbestimmungen befreiten Filmmusik nicht
erreicht, aber als ein in Latenz befindliches Leitbild auch nicht in Frage gestellt. Da aber die
Filmemacher der DDR unter dem Damoklesschwert fachlich inkompetenter, jedoch
entscheidungsmächtiger Abnahmekommissionen arbeiten mußten, blieb auch die angewandte
Musik weit unterhalb denkbarer Entfaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten.