PDF zum - moers festival 2010

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PDF zum - moers festival 2010
moers festival Magazin
Arto Lindsay
Arto Lindsay weiß, dass das Eine nicht ohne das Andere möglich ist: Tag und
Nacht, Sonne und Schatten, Realität und Romantik, Lärm und Stille,
Wohlklang und Dissonanz, Schönheit und Hässlichkeit. Deshalb schätzt er
beides und belässt es keineswegs beim Theoretisieren. Die mittlerweile 57jährige Kultfigur an der Gitarre lebt solche Gegensätze mit jeder Faser des
Körpers. Wobei es freilich der individuellen Perspektive überlassen bleibt, auf
welche Seite man nun New York stellen mag und auf welche Rio, die Orte, an
denen der in Brasilien aufgewachsene Sohn US-amerikanischer Missionare im
steten Wechsel residiert. Das Gleiche gilt für Lindsays diametrale Affinität zu
Samba und Jazz. Die sonnendurchfluteten Rhythmen der Copacabana, die
experimentierfreudige Tropicália-Bewegung mit Caetano Veloso, Gal Costa,
Carlinhos Brown, Marisa Monte, Os Mutantes und Gilberto Gil stehen in seiner
Vita völlig gleichberechtigt neben der kantigen Downtown-Punk-Avantgarde,
den Bands DNA und den Ambitious Lovers oder der Arbeit mit John Lurie, Bill
Frisell, Fred Frith, John Zorn, Bill Laswell, Laurie Anderson und David Byrne.
Ist Arto Lindsay also eine gespaltene Persönlichkeit? Womöglich gar ein
musizierender Dr. Jekyll, der sich zu bestimmten Zeiten immer wieder in Mr.
Hyde verwandelt? Viel zu kurz gedacht! Hinter dem doppelten Gesicht steckt
weit mehr, als nur die Lust am Ausreizen extremer Pole.
Zeit seines Lebens überquerte Lindsay nahezu jede Grenze – nicht nur in
geografischer, sondern vor allem in musikalischer Hinsicht. Von seinen
aggressiven No-Wave-Aufnahmen aus den späten 1970er-Jahren bis zu einer
hoch gelobten Serie von Solo-Alben ab den späten 1990ern verband er
Melodien verschiedener Kulturen und Genres auf höchst intelligente Weise.
Überall, wo sein Name auftaucht, empfängt den Hörer eine trügerische
Mischung aus Verführung und Provokation. Des Weltenwanderers
unnachahmliche Klanglandschaften reichen von fragilem Popvergnügen bis
hin zur wüsten Attacke. Ob Popmusiker, Audio-Provokateur oder heiß
begehrter Produzent: Arto Lindsay stellt sein Schaffen stets in den Dienst
einer alles umgreifenden Kunst. Mit unverwechselbar sanfter Stimme und dem
typischen körperlich-direkten, mitunter lärmenden Gitarrenspiel, das Kritiker
als „ausgefeilt naiv, wie vom unehelichen Sohn Derek Baileys“ beschrieben,
reifen seine brasilianisch angehauchten Songs zu knallbunten Glückspillen.
Seit einem Vierteljahrhundert war er nicht mehr in Moers, nicht zuletzt ein
Resultat seiner immensen Rastlosigkeit. Nun kehrt Lindsay endlich wieder
zurück: mit vielen Gästen und unbändiger Lust auf barrierefreie Musik. Ein
Konzert, das ein siedend heißes, lyrisches Dampfbad, ein knisterndes,
erotisches Klangabenteuer zu werden verspricht.
Text: Reinhard Köchl