Präsentation - Friedrich-Ebert

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Präsentation - Friedrich-Ebert
Prof. Dr. Heiko Steffens
Aufgaben und Ziele verbraucherpolitischer
Interessenvertretung in der Sozialen Marktwirtschaft
Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin am 17. April 2013
1. Workshop
„Zur Lage der Verbrauchervertretung in DeutschlandBestandsaufnahme und Reformperspektiven
1. Rückblick
Vor über einem halben Jahr hat das BMELV das PROGNOS Gutachten zur Lage der
Verbraucher in Deutschland vorgelegt (BMELV, 2012).
Mein Thema ist zwar nicht die Gegenwart, sondern die Vergangenheit aber ich
benutze diesen Hinweis als Sprungbrett zur Zeitreise in die Mitte der 1950er Jahre.
Damals gründete Gerhard Weisser, übrigens Ehrenpräsident der FES, zusammen
mit Otto Blume das „Institut für Selbsthilfe“, das die Keimzelle für die Gründung der
Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände AgV durch sozialpolitisch orientierte
Verbände wurde (AgV, 1978, S. 8). In Weissers Denken spielte das Konzept der
Lebenslagen eine zentrale Rolle, indessen ging es ihm nicht primär um die
Lebenslagen von Einzelpersonen, sondern um die kollektiven Lebenslagen sozial
schwacher oder gefährdeter Gruppen (Universität Köln, 1998, S. 15). Ihre
zivilgesellschaftliche Arbeit verstand sich als Hilfe zur Selbsthilfe. Praktisch.
Pragmatisch. Über die Lebenswelt hinausweisende Paradigmen von Marktwirtschaft,
Konsumentensouveränität oder Gegenmacht waren für Beratung und Information viel
zu abstrakt.
Bei der Gründung der AgV musste die äußerst folgenschwere Wahl einer
Organisationsform entschieden werden, mit der man als Gegengewicht zu den
zahlreichen Industrie- und Handelsverbänden so schlagkräftig wie nur möglich
agieren könnte? Kernpunkt der Diskussion war: Sollte Massenmitgliedschaft
angestrebt werden oder sollten sich sozial- und verbraucherorientierte Verbände in
einer Organisation zusammenfinden? Die Entscheidung für einen Verband von
Verbänden wurde durch das Argument beeinflusst: Im Bereich der
Einkommenserzielung ist das Interesse von selbstständig und abhängig Arbeitenden
hinreichend ausgeprägt ist, um auf der Basis der Einzelmitgliedschaft mitwirken zu
können. Bei der Einkommensverwendung ist das hingegen nicht der Fall (AgV, 1978,
S. 8). Eine folgenschwere Entscheidung, durch welche Schwächen der Legitimation
und Schwächen der Selbstfinanzierung verursacht wurden.
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1.1 Das Markt-Paradigma aus der Sicht der Wirtschaftspolitik.
Ludwig Erhard:
Er feierte 1957 die „Inthronisierung des Kunden“ und schrieb
„Der Druck sinkender Preise ließ ein Phänomen entstehen, das die deutschen
Verbraucher nur noch aus ferner Erinnerung kannten. Der Kunde wurde wieder
König; es prägte sich ein Käufermarkt aus.“ (L. Erhard, 1990, S.39),
Karl Schiller
„Wir alle wissen, dass die Freiheit der Konsumwahl, die Freiheit des Verbrauchers,
zu den Grundsätzen unserer freiheitlichen Ordnung gehört. Wir wissen auch, dass
diese Freiheit täglich gefährdet ist…
„…In vielen Fällen muss der Staat oder der Wirtschaftsminister der Offizialverteidiger
der Verbraucher sein. Und dieser Offizialverteidiger muss vor allen Dingen Bescheid
wissen über seinen Mandanten. Wenn meine Mandanten die Produzenten sind, dann
werde ich sehr gut orientiert …Aber vom Verbraucher kommt eigentlich die geringste
Information. Ich bitte nun Sie, die AgV, uns zu informieren, genau so wie die
Wirtschaft, die Produzenten und die Händler uns informieren. Das ist Ihr legitimes
Recht und Ihre Pflicht, damit der Offizialverteidiger, der Staat, aktiv wird“
(Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände, 1967, S.22).
Meines Wissens das erste Plädoyer eines Wirtschaftsministers für evidenzbasierte
Verbraucherpolitik.
Die der verbraucherpolitischen Ziele im „Bericht der Bundesregierung zur
Verbraucherpolitik“ von 1971 sind überraschend modern:
▬ Stärkung der Stellung des Verbrauchers am Markt durch Erhaltung und Förderung
eines wirksamen Wettbewerbs in allen Wirtschaftsbereichen.
▬ Sicherung der Kaufkraft und Erhöhung der Realeinkommen aller Verbraucher.
▬ Umfassender Schutz des Verbrauchers gegen gesundheitliche Gefährdungen.
▬ Durchsetzung des Prinzips der Umweltfreundlichkeit für Produktion
(Prozessqualität – H.St.) und Produkte (Produktqualität – H.St.).
▬ Bestmögliche Versorgung der Verbraucher mit öffentlichen Gütern und
Dienstleistungen.
▬ Sicherung des Angebots an wirtschaftlichen Wohnungen unter optimalen
städtebaulichen Bedingungen.
▬ Wahrung der Verbraucherinteressen bei der Gütekennzeichnung und Normung.
▬ Schutz des Verbrauchers vor Irreführung, unlauteren Verkaufspraktiken und
den Verbraucher unbillig benachteiligenden Vertragsbedingungen.
▬ Unterrichtung des Verbrauchers über grundlegende wirtschaftliche
Zusammenhänge.
▬ Information und Beratung des Verbrauchers über aktuelles Marktgeschehen,
über die Eigenschaften der Waren, über richtiges Marktverhalten und über
rationelle Haushaltsführung.
▬ Stärkung und Straffung der verbraucherpolitischen
Interessenvertretungen“ (Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen, 1971,
S.9/10).
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Aus heutiger Sicht fehlen ganz wichtige Themen, beispielsweise
Finanzdienstleistungen, Datenschutz, Energie, Ernährung, Telekommunikation,
elektronischer Handel usw. Der Vergleich von damals und heute macht indessen
deutlich, dass sich der verbraucherpolitische Aufgabenkatalog und damit die
Anforderungen an die Verbraucherorganisationen in exponentieller Progression
erweitert haben.
Die Zeit der sozial-liberalen Koalition Ende der 60er bis weit in die 70er gilt als
Hochkonjunktur der Verbraucherpolitik im 20. Jahrhundert. So weitblickend, offen
und forschungsintensiv war keine andere Zeit. Auf diesen Boom folgte eine längere
Phase der „Veralltäglichung“ (Max Weber), die aber weit über die Begrenztheiten
bloßer Alltagsroutine hinausreichte. Stichworte: Ab Anfang der 1990er Jahre Auf- und
Ausbau von Verbraucherorganisationen nach der deutschen Wiedervereinigung in
den neuen Bundesländern. Auf europäischer Ebene seit Anfang der 1990er Jahre
maßgebliche Beteiligung am Aufbau von Verbraucherorganisationen in den Mittelund Osteuropäischen EU Beitrittsländern, Informationskampagnen im Zuge der EU
Währungsintegration… (vgl. AgV, Jahresberichte, 1995 – 2001)
2. Impulse durch die Wissenschaft
2.1 Der ‚homo oeconomicus“ als Leitbild
Persönlich bin ich dem „homo oeconomicus“ zum ersten Mal in Münster begegnet.
In einem Hörsaal. Angekündigt durch den Dozenten für mathematische
Wirtschaftstheorie erschien er in Begleitung von mindestens einem halben Dutzend
Prämissen und vollführte eine atemberaubende und kurvenreiche Formelakrobatik an
der Wandtafel. Aus dem Auditorium wäre übrigens keiner auf die Idee gekommen,
diese Kunstfigur des Modellplatonismus für das Abbild eines realexistierenden
Verbrauchers zu halten (vgl. Homann, K., Suchanek, A., 2000, s. 463).
Umso mehr verwunderte es mich später, ihm in verbraucherpolitischen Papieren
wiederzubegegnen. Wer ihn dahin gebracht hat, weiß ich nicht. Vielleicht eine petitio
principii, vulgo Steilvorlage für die Behavioral Economics, die dann mit großem
Aufwand beweisen konnte, dass es diese Kopfgeburt in der Realität tatsächlich
überhaupt nicht gibt.
Dagegen galt das Leitbild der Konsumentensouveränität lange als
paradigmatische Stütze des Leitbilddiskurses in der Verbraucherpolitik. Der Begriff
selbst, 1920 vom englischen Ökonomen William Hutt geprägt, verbindet die
selbstbestimmte Wahl- und Handlungsfreiheit der Verbraucher im Marktgeschehen
mit dem Souveränitätspostulat der Demokratie (Kroeber-Riel, W. u.a., 2009, S. 683).
Der von Scherhorn favorisierte „mündige Verbraucher“, ein normatives, kein
deskriptives Leitbild (Scherhorn, G., 1973, S. 7), ist der informierte, aufgeklärte und
verantwortungsbewusste Bürger als bewegliche Zielfigur der Zukunft. Im
Verbraucherpolitischen Bericht der Bundesregierung von 2008 wird er noch an
prominenter Stelle (BMELV, 2008, S. 4) erwähnt. Vier Jahre später hat er offenbar
seinen Geist aufgegeben, im Bericht 2012 sucht man ihn vergebens.
Brauchen wir ein neues Leitbild zur ideellen Überwölbung des Pragmatismus?
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2.2 Programmatische Verbraucherpolitik (vgl. Mitropoulos,S.,1997, S. 29)
Scherhorn betont die wirtschaftlich unterlegene Stellung der Verbraucher als
Großgruppe gegenüber den Anbietern. Dieses Machtungleichgewicht führt – in
Anlehnung an J.K. Galbraith Idee der ‚countervailing power’ – zur Forderung nach
Machtausgleich. Der Staat müsse dem Konsumenten als schwächerem
Marktteilnehmer bei der Gegenmachtbildung (Scherhorn, 1975, 129) Hilfestellung
leisten.
Die Möglichkeit einer wirksamen Selbsthilfe der Konsumenten wird aufgrund ihrer
schwachen Position und ihrer geringen Organisationsfähigkeit bezweifelt.“
Hinzukommt noch – wie Anke Martiny (Martiny, A., 1977, S. 160 ff.) hervorhob – die
unzureichende Konfliktfähigkeit von Verbraucherorganisationen der Marktgegenseite
mit Sanktionen zu drohen. Eine mobilisierungsfähige Mitgliederbasis und eine
finanzielle Unabhängigkeit vom Staat wären Voraussetzungen für diese
Konfliktfähigkeit.
Der Staat wird also allenthalben zum wichtigsten Akteur der Verbraucherpolitik
ernannt. Seine Aufgaben sind: Stärkere Kontrolle des Anbieterverhaltens durch
Verbraucherschutzbehörden; Einrichtung von staatlichen Verbraucherinstituten,
finanzielle Unterstützung von Verbänden.
[Unter der sozial-liberalen Bundesregierung von 1969-1982 (Karl Schiller) findet die
Forderung nach Gegenmachtbildung und Verbraucherorganisation tatsächlich
Eingang in die meisten programmatischen Stellungnahmen öffentlicher Stellen,
Verbände und politischer Parteien.]
3.3 Partizipatorische Verbraucherpolitik (vgl. Mitropoulos, 1997, S.52)
Etwa zeitgleich zu Scherhorn entstand in den 70er Jahren eine Konzeption, die
wegen ihrer zentralen Forderung nach Mitwirkung der Verbraucher bei den
Investitions- und Produktionsentscheidungen der Unternehmen als ex-ante
Verbraucherpolitik bezeichnet wurde. Kopf dieser Richtung war Prof. Biervert
(Biervert,B. u.a., 1997). Die Vertreter dieser Schule sahen ihre Aufgabe weniger
darin, ein fertiges verbraucherpolitisches Zielsystem aufzustellen. Ihr besonderes
Interesse galt vielmehr der Frage der Zielfindung und ihrer Legitimierung. Einen
elitären Charakter erhält die Verbraucherpolitik nach dieser Auffassung dadurch,
dass Ziele und Maßnahmen ohne direkte Mitwirkung der betroffenen Verbraucher
bestimmt werden. Ein Zeitschriftenartikel von damals titelte „Schattenboxen der
Funktionäre“. Dem abzuhelfen versprach die partizipatorische Verbraucherpolitik.
3.4 Qualitativer Konsum
Mitte der 1980er Jahre, also 12 Jahre vor dem Erdgipfel in Rio 1992 haben die
Verbraucherorganisationen mit dem Konzept des „Qualitativen Konsums“ (in
Anlehnung an das qualitative Wachstum) einen Wechsel verbraucherpolitischer
Paradigmen vollzogen (AgV, 1983). Es wurde dabei zwischen „umweltbewusstem
Konsumverhalten“ und dem Aufgabenfeld „sozialökologische Folgen des Konsums“
unterschieden. Auf der internen Umsetzungsebene hieß das: Allokation der
Energieberatung bei den Verbraucherorganisationen; Allokation der
Umweltverträglichkeitsprüfung bei der Stiftung Warentest, Allokation der
Umweltberatung bei der AgV und den VZ, Integration ökologischer Themen in die
Aufgaben der Stiftung Verbraucherinstitut. Diese Entwicklung wurde die Basis für
Projekte im Kontext der Nachhaltigkeit und Überlegungen zu einem neuen
Wohlstandsmodell.
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Das Motto des 40jährigen Bestehens der AgV 1993 hieß „Besser leben der Zukunft
wegen“. Wie das Motto des 60jährigen Geburtstags 2013 heißen wird? Ich weiß es
nicht.
4. Evidenzbasierte Verbraucherpolitik.
Vor etwa 10 Jahren wurde in der EU Verbraucherpolitik der Begriff „evidenzbasierte
Verbraucherpolitik“ benutzt, um deutlich zu machen, dass man den Konsumenten mit
beschränkter Rationalität und emotionalen Verhaltensweisen zu verstehen suchen
sollte. Zum Zielbereich II des Verbraucherprogramms 2014-2020 gehört wie auch
schon vorher die Schaffung einer Daten- und Informationsgrundlage für die
Politikgestaltung in Bereichen, die Verbraucher betreffen (EU-KOM, 2011, S. 26), um
Evidenz zu erzeugen. Stichworte: Monitoring, Verbraucherbarometer. Auch wenn der
Begriff „Evidenzbasierte Verbraucherpolitik“ eher neu ist, die Aufgabe dem
Verbraucherverhalten empirisch auf die Schliche zu kommen, gehört von Beginn an
zu den Kernaufgaben einer pragmatischen Verbraucherarbeit.
[ Ludwig Erhard, in dessen Amtszeit die Gründung der Stiftung Warentest fiel, war
vor seiner politischen Nachkriegskarriere erster Geschäftsführer der von Wilhelm
Vershofen gegründeten Gesellschaft für Konsumforschung in Nürnberg]
1965 gründet die AgV das Institut für angewandte Verbraucherforschung, das mit
der Durchführung von Untersuchungen, mit der Initiierung von Forschungsvorhaben,
mit der Erarbeitung von Grundlagenmaterial für die verbraucherpolitische Diskussion
beauftragt wird. Später werden Preisvergleiche erstellt und ein Informationssystems
für die Verbraucherberatung u.a.m.
[ Evidenz ist Evidenz, aber auch sie kann zu Fehlschlüssen führen. Dem Erfolg des
Buches „Shopping for a better World“ in den USA auf den Spuren führte das Institut
für Markt Umwelt Gesellschaft imug eine repräsentative Verbraucherbefragung
durch, deren Ergebnisse belegten, dass Konsumenten tatsächliche und differenzierte
Informationsinteressen gegenüber solchen Bereichen der Unternehmenspolitik
hätten wie Schaffung von Arbeitsplätzen, Schutz von Verbraucherrechten, sparsamer
Umgang mit Energie und Rohstoffen usw. Die mit hohem Rechercheaufwand
publizierten „Ratgeber für den verantwortlichen Einkauf“, 1995 Die
Lebensmittelbranche, 1997 Kosmetik, Körperpflege und Waschmittel und als Rowohlt
Taschenbuch lieferten zwar die verlangten Informationen, scheiterten aber an
geringen Verkaufszahlen.]
Wahrscheinlich wurde der Siegeszug der evidenzbasierten Verbraucherpolitik auch
durch einige Voraburteile des EuGH angestoßen. Er verlangte bei Streitigkeiten über
die Verkehrsauffassung (zum Beispiel über die Verkehrsauffassung von „6-Korn-Ei“
und „Lifting Creme“) entweder eine Verbraucherbefragung oder ein
Sachverständigen-Gutachten zum Nachweis der Evidenz. Ohne diese gehe der
EuGH davon aus, wie ein durchschnittlich informierter, aufmerksamer und
verständiger Durchschnittsverbraucher diese Angaben verstehen würde. Das war
wohl eher als salvatorische Klausel denn als Verkündung eines neuen Leitbildes
gedacht.
Auf jeden Fall ist eine weltanschaulich neutrale Evidenz zweifelsohne der
Kernbegriff einer pragmatischen Verbraucherpolitik.
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5. Reform 2000
Im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums legte das ifo Institut in München 1996
ein Gutachten unter dem Titel „Finanzierung der Verbraucherorganisationen …“ (ifo,
1996) vor.
Ungünstige Ausgangslage für Selbstfinanzierung:
„
-
Das Fehlen einer größeren Mitgliederorganisation, die
verschiedene verbraucherpolitische Aufgaben in sich vereinen
könnte und damit die Voraussetzungen für eine längerfristige
Mitgliederbindung aufweist.
-
Die institutionelle Trennung zwischen einzelwirtschaftlich
vergleichsweise lukrativen Aufgaben, wie der Verbraucherinformation
(Stiftung Warentest), und vergleichsweise nicht lukrativen Aufgaben, wie der
verbraucherpolitischen Interessenvertretung (AgV), dem rechtlichen
Verbraucherschutz (VSV) und der Verbraucherbildung (Stiftung
Verbraucherinstitut).
-
Die unter föderalen Gesichtspunkten getroffene Unterscheidung zwischen
Organisationen auf Bundes- und Landesebene, wobei die
Verbraucherzentralen alle der oben genannten Teilfunktionen auf
Länderebene übernehmen.
-
Das wegen der Autonomie der Verbraucherzentralen Nichtvorhandensein
eines ‚echten’ Dachverbandes mit zentralen Steuerungsfunktionen und
Koordinierungskompetenzen.
-
Die sich aus der hohen Abhängigkeit von öffentlichen Zuwendungen
ergebende enge Bindung an das öffentliche Haushaltsrecht, die im
Hinblick auf die Erschließung alternativer Einnahmeinstrumente als
kontraproduktiv bewertet wird.“ (ifo, 1996, S.252)
Am Ende benennt das ifo Gutachten als Lösungsweg:,
„ Gesamtreform des Systems von Verbraucherorganisationen und seiner
Rahmenbedingungen unter dem Gesichtspunkt der Eigenfinanzierung inklusive einer
Neubestimmung der Organisation und Arbeitsteilung privater
Verbraucherorganisationen und einer veränderten Arbeitsteilung zwischen
staatlichen und privaten Verbraucherorganisationen“ (ibid. 260).
Auf der Basis dieses Gutachten wurde in den Folgejahren die größte Strukturreform
in der Geschichte der Verbraucherorganisationen auf den Weg und mit der
Gründung des vzbv und der Verschmelzung von AgV, VSV und VI im Herbst 2000
und Frühjahr 2001 zum guten Ende gebracht.
Dass aus dem Spardiktat eine Sternstunde der deutschen Verbraucherpolitik
hervorging, resultierte weder nur aus klugen Abwehrkämpfen der AgV noch aus dem
staatsmännischen Weitblick des Ministeriums. Es resultierte aber auch nicht aus
neuen Erkenntnissen der Wissenschaft oder neuen Einsichten in die Lebenslagen
der Verbraucher. Nichts von dem! Was die Revolution in Gang brachte war die
Entdeckung des ersten BSE Rindes auf deutschem Boden Mitte November 2000.
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Innerhalb von nicht mal zwei Monaten traten zwei Minister zurück. Im Januar 2001
wurde Frau Künast Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft.
Die AgV – noch war sie die verbraucherpolitische Speerspitze – mit Edda Müller als
Geschäftsführerin, stellte bei unserer Pressekonferenz bei der Grünen Woche
Forderungen auf, die uns auf Augenhöhe mit der Bundespolitik katapultierten. Dazu
gehörte
► Einsetzung eines Bundestagsausschusses für Verbraucherfragen…
► Aufnahme eines suspensiven Vetorechts des
‚Verbraucherschutzministeriums’ im Kabinett in die Geschäftsordnung
der Bundesregierung…sowie ein Inititiativrecht bei Angelegenheiten
anderer Ressorts…
► Regelmäßige Konferenzen der Verbraucherschutzminister der Länder
► Deutliche Erhöhung der Zuwendungen
► Schaffung eines Verbraucherfonds in Höhe von 1% der Ausgaben
der deutschen Wirtschaft für Werbung“ (AgV, 2001, S.7)
Thesen
1. Immer neue Unübersichtlichkeit (Habermas) und Undurchschaubarkeit
Die fortschreitende Produktvielfalt, das Wachsen des Dienstleistungssektors, die
komplexen Ansprüche der kombinierten Produkt- und Prozessqualitäten im globalen
Kontext, die in immer kürzen Abständen auftretenden Skandale im Lebensmittel- und
Finanzdienstleistungsbereich (um nur zwei Beispiele zu erwähnen) brechen in die
Lebenswelt der Verbraucher ein. Oft sind die Risiken nur aus der Systemperspektive
greifbar, lassen aber bei den Verbraucherbürgern das Gefühl der Überforderung und
der Ohnmacht entstehen, weil sie sich unmittelbar davon betroffen fühlen.
Die den Verbrauchern zugemutete Komplexität und Verunsicherung müssen durch
die Verbraucherorganisationen auf nachvollziehbare und handlungsrelevante
Alltagsinformationen kleingearbeitet werden. Um diese Aufgabe zu bewältigen,
müssen die Verbraucherorganisationen auf Bundes- und Länderebene mit
zusätzlichen Finanzmitteln ausgestattet werden.
2. Durch die Strukturrefom 2000 sind die Rationalisierungsreserven der
Organisationsreformen ausgeschöpft.
Mit der Verschmelzung der alten Verbraucherorganisationen mit dem neu
gegründeten vzbv sind auf der Makro-Ebene wesentliche Forderungen nach
Professionalisierung, Realisierung von Synergieeffekten, höhere Produktivität,
effiziente Führungsstruktur, flachere Hierarchien und Schaffung interner
Funktionsbedingungen für eine schlagkräftige moderne Verbraucherorganisation
erfüllt worden. Heute und morgen notwendige Reformen in den
Verbraucherzentralen sollten daher im Sinne der vereinsrechtlichen Autonomie
primär von der Führungsebene eingeleitet und nicht von außen oktroyiert werden.
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3. Ausbau der Partizipationsmöglichkeiten der Verbraucher
Mit dem Internet Portal Lebensmittelklarheit.de haben BMELV und vzbv einen Weg
beschritten, der neue Transparenz-, Interaktions- und Partizipationsmöglichkeiten für
die Verbraucher draußen im Markt oder zu Hause eröffnet. Den
Verbraucherorganisationen könnten sich durch Beobachtung und Beteiligung an den
Foren der sogenannten „Liquiden, netzbasierten Demokratie“ neue Formen der
Mitwirkung und Mobilisierung von Verbrauchern auf der nächsten Evolutionsstufe der
Netzaktivisten erschließen.
4. Kein Finanzierungsmix mit Unternehmensgeld
Keine Gefährdung der Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit der
Verbraucherorganisationen durch Direktzahlungen von privaten und öffentlichen
Unternehmen.
Quellen:
Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände, 0.J. (1967), Woche des
Verbrauchers und der Hausfrau – Ein zusammenfassender Bericht, 1967, Bonn
AgV, o.J. (1978), 25 Jahre Arbeitsgemeinschaft der Verbraucher, Bonn
AgV (Hrsg.), 1983, Qualitatives Wachstum, qualitativer Konsum und die Perspektiven
der Verbraucherpolitik (Kuby, E.), in: Schriftenreihe der Verbraucherverbände H. 16,
Bonn
AgV, 1994 – 2001, Jahresberichte
AgV, 2001, Verbraucherpolitische Korrespondenz Nr.2,
Biervert, B., Winkelmann, W.F., Rock, R., 1977, Grundlagen der Verbraucherpolitik,
Reinbek bei Hamburg
BMELV, 2012, prognos „Gutachten zur Lage der Verbraucherinnen und
Verbraucher in Deutschland“, Berlin
Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen, 1971, Bericht der Bundesregierung
zur Verbraucherpolitik, Bonn
Erhard, L., 1990 (Urfassung 1957), Wohlstand für Alle, Düsseldorf
EU-Kommission, 2011, Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments
und des Rates über ein Verbraucherprogramm 2014-2020, Brüssel
Homann,K., Suchanek, A., 2000, Ökonomik – Eine Einführung, Tübingen
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Ifo Institut für Wirtschaftsforschung, 1996, Finanzierung der
Verbraucherorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland – Gibt es Alternativen
zum bestehenden System? (im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft),
München
Kroeber-Riel, W., Weinberg, P.; Gröppel-Klein, A., 2009, Konsumentenverhalten,
München, 9. Aufl.
Mitropoulos, S., 1997, Verbraucherpolitik in der Marktwirtschaft, Berlin
Scherhorn, G., 1973, Gesucht: der mündige Verbraucher, Düsseldorf
Scherhorn, G., 1975, Verbraucherinteresse und Verbraucherpolitik, Göttingen
Universität Köln, 1998, Akademische Gedenkfeier zum 100. Geburtstag von
Professor Dr. Dr.h.c. Gerhard Weisser, S.15 (Rede Prof. Dr. W. Engelhardt)

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