Grüner Fluß ohne Wiederkehr - Klinik Buchinger am Bodensee
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Grüner Fluß ohne Wiederkehr - Klinik Buchinger am Bodensee
30 FEUILLETON FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 18. DEZEMBER 2005, NR. 50 BLÜHENDE LANDSCHAFTEN Misfitness VO N P E T E R R I C H T E R W In den sechziger Jahren düste der Künstler Uriburu durch Venedig und färbte das Wasser grün. 2000 tat Olafur Eliasson in Stockholm Ähnliches. Darf er das? Und: Gibt es ein Copyright auf Ideen in der Kunst? Fotos Archiv/Neugerriemschneider Grüner Fluß ohne Wiederkehr Kollegen werfen dem Künstler Olafur Eliasson Ideenklau vor: Aber was ist Plagiat, was produktive Wiederholung? Im Sommer 2000 kam es im Zentrum von Stockholm zu tumultartigen Szenen: Autos und Busse hielten auf Brücken an, die Leute starrten ungläubig ins Wasser, das nicht wie an allen anderen Tagen blau oder grau schimmerte, sondern sich giftgrün gefärbt hatte. Der Spuk dauerte eine halbe Stunde, in der die gesamte Stadt anders aussah, grün unterleuchtet, von einer fließenden Wiese umrahmt. Dann war alles verschwunden, als wäre es eine Sinnestäuschung gewesen. Es habe sich bei der Verfärbung des Wassers nur um einen „Routinevorgang“ gehandelt, erklärte eine bemerkenswert wenig beunruhigte Stockholmer Polizei den besorgten Bürgern. Daß es sich dabei um ein Kunstwerk handelte, erfuhren die Stockholmer nicht, und auch der Name des Künstlers Olafur Eliasson wurde nicht erwähnt – dabei war er es, der das Wasser im Zentrum Stockholms mit ökologisch gesehen harmlosem „Uranin“ – einem Stoff, den Meeresbiologen verwenden, um Strömungen zu erforschen – in ein riesiges monochromes Gemälde verwandelt hatte. Der „Green River“ war eines von Olafur Eliassons spektakulärsten Projekten. Mittlerweile gilt der 1967 in Kopenhagen geborene Däne als einer der wichtigsten Gegenwartskünstler, dessen Arbeiten in den weltweit angesehensten Institutionen zu sehen sind. Seine Ausstellung „The Weather Project“ in der Londoner Tate Modern zog zwei Millionen Besucher an und brach damit alle bisherigen Rekorde für Ausstellungen eines Gegenwartskünstlers. Doch seit einiger Zeit muß sich Olafur Eliasson unter anderem mit dem Vorwurf auseinandersetzen, Ideen gestohlen zu haben. Der 1937 geborene argentinische Künstler Nicolás García Uriburu zum Beispiel bombardiert Institutionen und Redaktionen mit Briefen, in denen er daran erinnert, daß er be- isch als Tümpel-Pollock seinen malerischen Gestus in Szene setzte, mit grünem Wasser um sich schleuderte und Flaschen mit gefärbtem Wasser als Souvenir abfüllte. Eliasson ging es um etwas ganz anderes: In Stockholm stand weder der Künstler noch die grüne Farbe im Vordergrund; Eliasson blieb als Künstler völlig unsichtbar, es ging allein um die Veränderung der Wahrnehmung des städtischen Raumes – entsprechend wäre die Reak- ANZEIGE Abb. ohne ACOUSTIMASS®-Bassmodul enn jetzt nichts Entscheidendes mehr passiert, dann möchte ich mich hiermit festlegen. Wir haben Mitte Dezember hinter uns, und da ist man ohnehin schon verdammt spät dran mit Jahresrückblicken. Es ist ja jetzt schon praktisch kaum noch etwas übrig von diesem Jahr, so gut wie alle wichtigen Dinge sind bereits wegerinnert, fortmemoriert, zerjaucht und kleingekernert. Aber an eines der tragischsten und traurigsten, zugleich aber auch anrührendsten und hoffnungsvollsten Ereignisse des Jahres 2005 wird dabei viel zuwenig gedacht. Ja, es hatte mit Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll zu tun. Und: Nein, es war nicht Kate Moss mit ihrem Babystrampler. Es war: George O’Dowd, der Sänger, der sich als Boy und/oder Girl George durch die erste Hälfte der achtziger Jahre gegurrt hatte, dann in einer Entzugsklinik verschwand, lange nicht gesehen ward und jetzt, Anfang Oktober, überraschend wieder auftauchte, wobei er keinerlei Zweifel mehr ließ, auf welches Klo er gehört. Georgie Boy sah aus wie ein englischer Hooligan, als sie ihn abführten, also wie eine Qualle. Der Grund sowohl für Fettleibigkeit als auch Festnahme: Kokain. Und zwar soviel Kokain, daß er im Rausch selber die Polizei angerufen hatte. Bei ihm sei eingebrochen worden, ob sie mal bitte kommen könnten. Sie kamen, und sie fanden. Und morgen früh muß Boy George deshalb nun vor Gericht, wofür man ihm nur alles Gute wünschen kann. Noch viel bemerkenswerter war aber das, was er bei der Gelegenheit auf seinem nun eher aufgedunsenen als androgynen Leib trug. Nämlich ein T-Shirt von den „Misfits“. Nicht, daß diese Shirts etwas Außergewöhnliches wären. Metallica hat etliche große Konzerte mit dem Misfits-Logo auf der Brust absolviert. Oliver Korittke trägt eins in „Bang Boom Bang“. Und Bela B. von den Ärzten hat sich den Misfits-Totenkopf auf seine Baßtrommel geklebt. Aber Boy George? Als der mit „Baby, do you really want to hurt me?“ berühmt wurde, ging es bei den Misfits schon um kaum noch etwas anderes als eben das: verletzen, zerschlitzen, foltern, lebendig aufessen. Es gibt eigentlich kaum einen Horrorfilm, den die Misfits nicht vertont hätten. Und daß umgedreht heute ein Heavy-Metal-Monster wie Rob Zombie mit „Haus der 1000 Leichen“ erst den wichtigsten Film des Jahres 2003 und jetzt mit „The Devil’s Rejects“ das Kinoereignis dieses Advents vorlegt – das und vieles andere auch wäre ohne die Misfits sicher kaum denkbar. Aber Boy George? Diejenigen, die den damals gut fanden, und diejenigen mit den Misfits-T-Shirts: Das ging lange nicht so gut. Da floß am Ende meistens Blut durch die Schminke. Und was ist heute geworden aus dem großen heiligen Krieg zwischen Pop und Rock? Das Lieblingswort der Popper ist „Rocken“, die Lieblingsbeschäftigung der Rocker „Poppen“, und ich stehe verblüfft bei einem Konzert, wo Kim Nekroman von den Nekromantix, der Jimi Hendrix des aufrecht und zügig gezupften Kontrabasses, der bei ihm übrigens die Form eines Sarges hat, überraschend die Gitarre spielt, und am Baß steht seine attraktiv tätowierte Freundin und singt, als sei sie Siouxie ohne die Banshees, und alles zusammen klingt wie B52’s, Meteors, Boy George und Misfits zusammen, und dazu winken und brüllen zwei sehr, sehr gutaussehende Cheerleader die Buchstaben H-O-R-R-O-R-P-O-P. Und das ist erstens auch schon fast der vollständige Name der Band, zweitens wahr, drittens viel besser als all der Pophorror, den man sonst so hören muß – und wenn, viertens, ständig vom Ende der Konsensgesellschaft die Rede ist: Hier jedenfalls nicht. TAUSCHZEIT Von Stereo zu Surround. 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Doch Uriburu ist nicht der einzige, der Eliasson mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert: In einem Gespräch zwischen dem 1938 geborenen Konzeptkünstler Daniel Buren und Olafur Eliasson in der Fachzeitschrift „Artforum“ erwähnt der französische Künstler Uriburus grünes Wasser und sagt über Eliassons MoMA-Werk „Seeing Yourself Sensing“ (2001): „Ich muß es leider sagen, ich habe genau diese Arbeit 1971 gemacht – Spiegelstreifen an ein Fenster geklebt.“ Und auch Dan Graham, Jahrgang 1942, wirft nicht nur Eliasson, sondern allen und jedem vor, alles sei nur noch Kopie. Der Groll der Alten ist nur vordergründig verständlich – denn es war die Generation von Buren und Uriburu, die mit ihrer Kunst gegen den Mythos des Künstlers, der Neues aus dem Nichts schafft, antraten. Ausgerechnet Buren, der fünf exakt gleiche Ausstellungen in einer Antwerpener Galerie machte und der mit eigenen Worten „sein Denken auf der Grundlage sieht, daß wir eigentlich nichts Neues erfinden“, reklamiert Urheberrechte – als habe es Poststrukturalismus und „Appropriation Art“, das strategische „Zitieren“ von Arbeiten früherer Künstler, nie gegeben. Die Plagiatsvorwürfe der Älteren reißen ein elementares Thema in der zeitgenössischen Kunst an: das Motiv der Wiederholung. In den letzten Jahrzehnten haben wir eine regelrechte Orgie von Aneignungen und Wiederbelebungen erlebt, wobei der Rhythmus des Kreislaufs immer schneller wird. Zur gleichen Zeit hat sich die Geographie der Kunstwelt schnell erweitert. Können die heutigen Samplings und Repetitionen, die oft genug auch auf geographischen und kulturellen Verlagerungen beruhen, als kritische Hinterfragung früherer ästhetischer Modelle gesehen werden – oder ist die zeitgenössische Kunst jetzt doch der unerbittlichen Kunstproduktionsmaschinerie erlegen, die das Recyceln von Moden und Stilen antreibt? Man sollte nicht vergessen, daß es Burens und Grahams Generation war, die dafür kritisiert wurde, daß sie die Strategien und Erfindungen der „ersten“ Avantgarde wiederholten. Es war diese Generation, die heute Urheberrechte gegen Eliasson geltend macht, die damals „Ready-mades“, Fotomontagen und monochrome Malerei wieder aufgriff. Der Wunsch der ursprünglichen Avantgarde, die Schranke zwischen Kunst und Leben zu beseitigen, wurde nie richtig erfüllt, und manche behaupten, daß die zweite Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg nur als Farce angesehen werden kann, als ein Haufen ideenloser Imitatoren. Gegen solch eine negative Interpretation der Neo-Avantgarde der 1960er und 1970er Jahre hat eine Generation von Kunsthistorikern wie Rosalind Krauss, Benjamin Buchloh und Hal Foster die schärfsten theoretischen Waffen eingesetzt. Warum ist Wiederholung vonnöten? Weil, so argumentiert etwa Foster, die Avantgarde einen traumatischen Bruch mit der Vergangenheit begründete, der als solcher nur durch Wiederholung und Verzögerung erfaßt werden kann. Freud beschreibt dieses Phänomen als Nachträglichkeit. Das traumatische Ereignis wird nie als „präsent“ empfunden, etwas, was jetzt in diesem Moment geschieht, sondern manifestiert sich immer erst danach. Wenn dies auch für die Kunst gelten sollte, müssen dann die Kategorien von „Ursache und Wirkung, Ursprung und Wiederholung“ nicht überdacht werden? Selbst wer Fosters Idee eines traumatisierten kollektiven Subjekts ablehnt, muß zugeben, daß die Temporalität von Kunst nicht geradlinig verläuft. Sie ist immer gekennzeichnet durch Wiederholungen und Synkopierungen, Umwege und Verzögerungen. Ohne Warhol wäre Duchamp ein anderer Künstler, ohne Picasso wäre Cezanne nicht das, was wir heute in ihm sehen. Auch Eliassons Kunst wirft retroaktives Licht auf die Kunst der sechziger Jahre; so wird die Kunstgeschichte kontinuierlich neu geschrieben. Daß die Angriffe auf Eliasson unbeantwortet bleiben, liegt vielleicht auch daran, daß Burens Künstlergeneration ein starkes theoretisches Umfeld hatte. Wer entwickelt die theoretischen Werkzeuge für die Rede über heutige Kunst? Wer hilft uns, bedeutsame Wiederkehr von den dümmlichen Rückgriffen etwa der Leipziger Malerschule auf Vorhandenes zu unterscheiden? Ein Turnschuh, der einem anderen gleicht, ist vielleicht eine Kopie; ein Kunstwerk, das so ähnlich aussieht wie ein anderes, ist aber noch lange kein Plagiat, sondern ein Versuch, mit alten Schlüsseln neue Türen zu öffnen – durch die dann vielleicht auch neues Licht auf die alten Schuhe fällt. DANIEL BIRNBAUM Der Autor ist Philosoph, Kunstkritiker und Rektor der Städelschule in Frankfurt/Main. Fortsetzung von Seite 25: Christian Krachts Protokoll vom Heilfasten am Bodensee Tagebuch der Entsagungen Herr Direktor Wilhelmi hingegen ist ein ausgemacht sympathischer Mann, er trägt einen roten Schal, und wir laufen zusammen zur Polenlinde, die auch in dem Roman „Faserland“ eine Rolle spielt. Er raucht Zigarre, schiebt die Rauchwolken vor sich her, erklärt dies und jenes, gestikuliert dabei, als sei er Hofrat Behrens. Brigitte Laaf sucht das Gespräch, die Ex-Frau von Gunter Sachs, durch Zufall auch bekannt mit Barbara Constantinescu (Nepal), und neulich habe sie auch Dr. Nickel und seine Freundin Susan Snyder in Paris kennengelernt, auf „den Schauen“, wie sie versichert. Sie habe Rückenweh und starke Schmerzen. Abendbrühe mit Marwan, heute Brokkoli. Wir beschließen, gemeinsam mit Lydia (aus dem Irak), Laura (aus Syrien) und Michael (aus Belfast) hinab ins Dorf zu spazieren, nach Überlingen, um dort in einer Pizzeria Früchtetee und Mineralwasser zu trinken. Marwan berichtet von seiner bevorstehenden, nun fast beendeten Doktorarbeit: „Turbulent Muses. Prinzhorn, Morgenthaler, Adolf Wölfli: Art in Psychosis“. Zigarettenverzicht nur abends schwer, aber zu schaffen. Im Traum alles recht diffus, ein nackter Rücken, man sieht die Wirbelsäule durch die Haut. Mük- kennetze, Südfrankreich, David Hamilton. Eine Melodie im Traum verfolgt: She wore a raspberry beret / the kind that you find in a second hand store / she wore a raspberry beret / and when it was hot she wouldn’t wear much more. Brief. Dr. Scheidemandel meinte neulich Ähnliches. Er, der seit zwei Jahren hier oben sei, bekomme gar keine Post mehr, Anrufe auch nicht, und Besuch habe er seit über einem Jahr nicht mehr erhalten. Dienstag, den 29. November Blutdruck: 125/70. Gewicht 65,3 Kilogramm. Neuerlichen Einlauf doch akzeptiert. Mittwoch, den 30. November Montag, den 28. November Blutdruck: 130/80, Gewicht: 66,0 Kilogramm. Jeden Tag fast ein Pfund leichter. Das sind vier Quarterpounder/Cheese am Tag weniger. Sonderbare, aber nicht unansprechende neue Körpergefühle: Der Gang federt nicht nur elastischer, sondern wirkt auch aufrechter, selbstsicherer. Die Augen sind weißer geworden, die Farbe der Iris dafür intensiver, ein ansprechendes Grün-Grau. Die Hüftknochen stechen nun hervor. Interessant, daß niemand mehr anruft. Auch seit Tagen keine Post mehr, weder als E-Mail noch als Blutdruck: 120/70. Gewicht 64,5 Kilogramm. Wieder fast ein Kilogramm verloren. Sehr schwach. Den ganzen Vormittag das monoton-faschistische CNN geschaut. Leberwickel erhalten. Morgen ist das Fasten vorbei. Nachmittags nach Überlingen gelaufen, um endlich das NachherFoto machen zu lassen. Frau Michaela Schlecht von Foto-Hahn gelingt es leider nicht, trotz recht teuer wirkender Kamera-Ausrüstung, langjähriger Erfahrung in der „erotischen Hochzeitsfotografie mit Pfiff“ und eigenem Studio im ersten Stock der Fotohandlung die Lichtverhältnisse auch nur annähernd so zu gestalten wie beim Vorher-Foto. Sinn des Ganzen sei doch gewesen, das Fasten im Fotoportrait zu dokumentieren, den Lesern der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung durch ein an- schauliches, leicht verständliches Beispiel am eigenen Gesicht zu zeigen, was fünf Kilo in einer Woche abnehmen physiognomisch bewirke. Es funktioniert nicht. Macht nichts, FRAU SCHLECHT. Das Fasten bewirkt nicht zuletzt auch fast pathologische Milde. Lächelnd dreißig Euro bezahlt, die Fotohandlung mit leeren Händen wieder verlassen. Abends Tee bei Professor Bernhard Huber, meinem alten Kunstlehrer. Er bewohnt ein elegantes kleines Haus in der Ortschaft Goldbach am Bodensee, viel Grün an den Wänden, Kassettendecken – seine eigenen Gemälde, die, ohne epigonal zu sein, im besten Sinne an Giuseppe Arcimboldo, Peter Paul Rubens und Fernando Botero erinnern, hängen ansprechend gerahmt umher. Gemeinsam viel gelacht. Erfreuliche Erkenntnis des Alterns: Tat Twam Asi. Donnerstag, den 1. Dezember Heute Fastenende. Das Experiment, wenn es denn eines war, ist vorbei. Seltsame Leere. Es ist kalt. Der Winter hat nun ernsthaft begonnen. Ein Apfelkompott wird aufs Zimmer gebracht, obenauf steckt eine einzige Haselnuß. Not with a bang, not with a whimper, but with a hazelnut. Wer Wurst, Brot und Schinken hat, der wird noch alle Tage satt. Fotos C. Kracht