Das Jahrhundert der Bilder - 1949 bis heute
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Das Jahrhundert der Bilder - 1949 bis heute
001_Titelei 3 08-08-08 13:33:29 -Administrator- Das Jahrhundert der Bilder 1949 bis heute Herausgegeben von Gerhard Paul Vandenhoeck & Ruprecht 002_Inhalt 4 08-08-08 13:43:33 -Administrator- Inhalt Umschlagabbildungen Vorderseite: Brandenburger Tor – Photonet.de, I.N.C./Lehnartz; Marilyn Monroe – AP Photo/Matty Zimmermann; World Trade Center 9/11 – picture-alliance/dpa; Finale der Fußballweltmeisterschaft 1954 – ullstein/ullstein bild; Mao Zedong – Swim Ink/Corbis. Buckrücken und Rückseite: Lara Croft – © Eidos; Hanns Martin Schleyer – Keystone Pressedienst; Mondlandung – Corbis. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.d-nb.de > abrufbar. ISBN 978-3-525-30012-1 © 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Redaktion: Verena Artz, Bonn Gestaltung: Ulrike Bade, Vandenhoeck & Ruprecht und Frank Köster, Dörlemann Satz Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: Offizin Andersen Nexö Leipzig Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. 4 002_Inhalt 5 08-08-08 13:43:33 -Administrator- Inhalt 5 Inhalt Der Bildatlas – ein Streifzug durch unser kulturelles Gedächtnis Gerhard Paul Das Jahrhundert der Bilder Die visuelle Geschichte und der Bildkanon des kulturellen Gedächtnisses Gerhard Paul 9 14 1949 – 1959 «Abschied vom Pathos» – Beginn eines «Mythos» Die visuelle Gründungskonstruktion der Bundesrepublik Michael Ruck EuroVisionen Die Bildsprache des sich einigenden Europa Daniela Kneißl «Führer der Arbeiterklasse» Der visuelle Kult um die «Liebe» der Genossen Rainer Eckert Bild-Zeitung Die Bilderwelt einer umstrittenen Boulevardzeitung Jürgen Wilke 40 48 56 64 Doppelhelix Die Karriere eines Wissenschaftsbildes Martina Heßler 72 Der Aufstand Die In-Szene-Setzung eines Volksaufstands Christoph Hamann 80 «Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau» Schlagbilder antikommunistischer Bildrhetorik Gerhard Paul «Das Wunder von Bern» Die Bundesdeutschen als virtuelle Gemeinschaft Stefanie Schüler-Springorum Der Playboy der DDR Die heile Bilderwelt der Diktatur im Magazin Rainer Eckert 88 98 106 Marilyn Diva und Sexikone der 50er Jahre Elisabeth Bronfen 114 Der «Käfer» Die Ikone des Wirtschaftswunders Erhard Schütz 122 Geheimnisse eines Kinoerfolgs Die Verfilmung von Des Teufels General 1955 Ulrike Weckel 130 Das Bild vom demokratischen Soldaten Die Werbung der Bundeswehr um ihren Nachwuchs Thorsten Loch 138 Starschnitt Die Bildersprache der Bravo Detlef Siegfried 146 Die Halbstarken Bilder einer neuen Jugend Kaspar Maase 154 Coca-Cola Globale Werbeikone und Symbol der Amerikanisierung von Rainer Gries Die Bilder der Tagesschau Die Mutter der bundesdeutschen Nachrichtensendungen Knut Hickethier Arkadien, Dolce Vita und Teutonengrill Tourismuswerbung und das Italienbild der Deutschen Cord Pagenstecher 162 170 178 Soraya Die «geliehene Kaiserin» der Deutschen Simone Derix 186 «Keine Experimente» Adenauer als alternder Staatsmann Frank Bösch 194 Laika Das Bild, das dem «Sputnik-Schock» ein Gesicht gab Robert Kluge Das Atomium Das Symbol des Atomzeitalters Jochen Hennig 202 210 002_Inhalt 6 08-08-08 13:43:33 -Administrator- Inhalt Das HB-Männchen Die Werbefigur der Wirtschaftswundergesellschaft Gerhard Paul Mit kühnem Blick in die Zukunft … Unser Sandmännchen erobert die Kinderzimmer Volker Petzold 6 218 226 1960 – 1969 Che Eine globale Protestikone des 20. Jahrhunderts Stephan Lahrem Der Degendieb von Léopoldville Robert Lebecks Schlüsselbild der Dekolonisation Afrikas Jörn Glasenapp Hand-Zeichen im Kalten Krieg Propaganda auf ost- und westdeutschen Plakaten Silke Betscher und Inge Marßolek «Was ich von der Mauer wissen muss» Zur Kunst- und Kulturgeschichte eines politischen Bauwerks Michael Diers Mao Das Porträt als Reliquie und Pop-Ikone Gerhard Paul 322 Sgt. Pepper & Co. Plattencover als Ikonen der Popkultur Detlef Siegfried 330 Der Tod des Benno Ohnesorg Ein Foto als Initialzündung einer politischen Bewegung Marion G. Müller 234 Kollektiver Rückenakt Symbolbild der sexuellen Revolution Gerhard Paul 242 Der Schuss von Saigon Gefangenentötung für die Kamera Stephan Schwingeler und Dorothée Weber 250 Studentenrevolte Mediale Protestbilder der Studentenbewegung Kathrin Fahlenbrach My Lai Die neuen Opferbilder des Krieges Lars Klein 258 Fluchtbilder Schlüsselbilder einer mörderischen Grenze Christoph Hamann 266 «Die Macht der Ohnmächtigen» im Bild Die Ikone des Prager Frühlings aus Bratislava Elena Demke Die Kuba-Krise Luftbilder am Rande eines Weltkrieges Manuel Köppen 274 Jimi Hendrix Ikone der psychodelischen Popkultur Gisela Theising Der Jahrhundertmord Attentat vor laufender Kamera Sibylle Machat 282 Das Schweigen Ein Film schockiert die Deutschen Werner Faulstich 290 Der deutsche Michel Das Autostereotyp der Deutschen Tomasz Szarota 298 Der «Vorzeigegastarbeiter» Die Begrüßung des millionsten Gastarbeiters als Medienereignis Veit Didczuneit Versandhauskataloge Die neue, bunte Welt des Konsums Michael Wildt 306 314 «Der Mond ist ein Ami» Bilder der Mondlandung und die Inszenierung der Wissenschaft Martina Heßler 338 346 354 362 370 378 386 394 1970 – 1979 «Anarchistische Gewalttäter» Zur Mediengeschichte der RAF-Plakate Susanne Regener 402 Der Kniefall von Warschau Spontane Geste – bewusste Inszenierung? Christoph Schneider 410 «Vorsicht Kunst» Die Fotomontagen des Klaus Staeck Gerd Blum 418 002_Inhalt 7 08-08-08 13:43:33 -Administrator- Inhalt 7 Das Mädchen Kim Phúc Eine Ikone des Vietnamkriegs Gerhard Paul 426 Das Blutbad von München Terrorismus im Fernseh-Zeitalter Klaus Forster und Thomas Knieper 434 Willy Brandt Vom Reformer zum Denkmal Daniela Münkel 442 Tod eines Kameramannes Fotografen und Kameraleute zwischen den Fronten Andreas Elter «Sie kommen» Selbst- und Fremdbilder der Neuen Frauenbewegung Silke Eilers 450 Scharfe Konturen für das Ozonloch Zur Öko-Ikonografie der Spiegel-Titel Joachim Radkau In der Badewanne Die fotografische Ikone einer Politik- und Medienaffäre Gerhard Paul Das Geiseldrama von Gladbeck Mediale Komplizenschaft als Echtzeitkrimi Steffen Burkhardt Unschärfe Unscharfe Bilder in Geschichte und Erinnerung Bernd Hüppauf Die Entführung Die RAF als Bildermaschine Rolf Sachsse 466 Der Tank Man Wie die Niederlage der chinesischen Protestbewegung von 1989 visuell in einen Sieg umgedeutet wurde Benjamin Drechsel Die Grünen Neue Farbenlehre der Politik Kathrin Fahlenbrach 474 Der Fall der Mauer Bilder von Freiheit und /oder Einheit Godehard Janzing 458 532 542 550 558 566 574 1990 – 1999 1980 – 1989 Blockade Friedensbewegung zwischen Melancholie und Ironie Fabio Crivellari Im Sucher der Staatssicherheit Das heimliche Auge der Macht Karin Hartewig Der Händedruck von Verdun Pathosformel der deutsch-französischen Versöhnung Ulrich Pfeil Turnschuh-Minister Die Physiognomie der Macht Eva-Maria Lessinger und Christina Holtz-Bacha Die Birne Helmut Kohl in der Satire Anja Besand Tschernobyl Die Unsichtbarkeit der atomaren Katastrophe Gerhard Paul 482 490 498 506 516 524 Die nackte Republik Aktfotografie von Amateuren in der DDR Klaus Honnef Madonna Die Konstruktion einer Popikone im Musikvideo Jan-Oliver Decker Das neue Gesicht des Krieges Cockpit- und Raketenbilder im Zweiten Persischen Golfkrieg Markus Lohoff «Das Boot ist voll» Schreckensvision des vereinten Deutschland Cord Pagenstecher Gestürzt Zur Ikonografie des Denkmalsturzes in Osteuropa Eva Binder Videoüberwachung Das Interesse am Ungewöhnlichen im gewöhnlichen Alltag Jan Wehrheim 582 590 598 606 614 622 002_Inhalt 8 08-08-08 13:43:33 -Administrator- Inhalt Die blutige Uniform Oliviero Toscani und die «Benetton-Plakate» Jürgen Döring Bildbruch Die visuelle Provokation der ersten Wehrmachtsausstellung Hannes Heer Lara Croft Die virtuelle Ikone der Mediengesellschaft Astrid Deuber-Mankowsky Der Medienkanzler Die mediale Inszenierung des Gerhard Schröder Andreas Dörner und Ludgera Vogt Johannes Paul II. Der Schmerzensmann Petra Dorsch-Jungsberger Die Reichstagskuppel Symbol der Demokratie wider Willen Horst Bredekamp 8 630 638 646 654 662 670 Aufmerksamkeitsterror 2001 9/11 und seine Inszenierung als Medienereignis Stephan A. Weichert The Falling Man Bilder der Opfer des 11. September 2001 Godehard Janzing Der «Kapuzenmann» Eine globale Ikone des beginnenden 21. Jahrhunderts Gerhard Paul Die neue Transparenz Reisen und Flanieren auf der virtuellen Erde mit Google Earth und Virtual Earth Florian Rötzer Holocaust-Denkmal Stolpersteine im Regierungsviertel Claus Leggewie Die authentische Katastrophe Handy-Fotos aus London und ihre Bedeutung für den Bildjournalismus Kay Dohnke 710 718 726 734 Die Kanzlerin Die vielen Gesichter der Angela Merkel Gerhard Paul 742 Das Bild des Propheten Der Streit um die Mohammed-Karikaturen Sabine Schiffer und Xenia Gleißner 750 Second Life Virtuelle Bilderwelt und der Traum vom Metaversum Karin Wehn 2000 – heute Mohammed Al Durah Die Ikone der zweiten Intifada Esther Schapira Tsunami Bilder einer Katastrophe Martin Hellmold 760 678 686 694 Danksagung 769 Ausgewählte Literatur 771 Die Autorinnen und Autoren 775 Bildnachweis 779 Geografisches Register 781 Personenregister 785 Inhalt Band 1 795 702 063_1977_Sachsse 466 08-08-11 07:45:48 -Administrator- 1977 Die Entführung Die RAF als Bildermaschine von Rolf Sachsse Zum «Metaphernnebel» (Wolfgang Kraushaar) des sogenannten Deutschen Herbstes 1977 gehört ein prägnantes Bild: Hanns Martin Schleyer, damaliger Präsident von BDI und BDA, sitzt kurz nach seiner Entführung unter dem Signet der Roten Armee Fraktion und hält ein Schild mit Datum und dem Text «Gefangener der RAF» hoch. Kein anderes Bild sammelt so in einer einzigen Ansicht die komplexen Ereignisse des Jahres 1977: die Gefährdung der Bundesrepublik Deutschland durch linken Terrorismus wie durch die Aushöhlung des Rechtsstaats durch staatliche Ausnahmeregelungen. Allein die Ansammlung von Schlagworten zur Kennzeichnung des Geschehens aus der historischen Distanz von drei Jahrzehnten führt vor, dass die sprachliche Annäherung wesentlich schwieriger ist als die symbolhafte Bündelung durch ein Bild, das – so war es von den Akteuren durchaus gewollt – zur Ikone wurde. Ikone auch deshalb, weil das Bild als Ganzes wirkt. Kein Detail des Bildes spricht allein aus sich heraus, weder das Gesicht des Opfers noch seine Hände, die Körperhaltung oder der Raum; kein Detail des Bildes lässt sich extrahieren. Warum ist das so und was bedeutet das für die Wirkung dieses Bildes über die letzten drei Jahrzehnte? Nur selten reproduzierte Polaroid-Aufnahme der RAF von Hanns Martin Schleyer vom 6. 9. 1977; hier reproduziert nach dem Abdruck innerhalb des Artikels «Der Bilderkrieg» von Martin Walser in Der Spiegel, Nr. 21, 2004, S. 190, der aber keinen Herkunftsnachweis enthält. Von Bildagenturen wie etwa Keystone wird vom 6. 9. 1977 ein hochformatiges Schwarzweißfoto der RAF angeboten, das Schleyer in fast identischer Haltung, aber in anderem Schnitt zeigt. Die RAF fotografierte Schleyer demzufolge mit zwei verschiedenen Apparaten. 063_1977_Sachsse 467 08-08-11 07:45:48 -Administrator- 063_1977_Sachsse 468 08-08-11 07:45:48 -Administrator- 1977 Rolf Sachsse 468 y Die Bilder Das Bild sind eigentlich mindestens vier: Als Fotografien gezeigt und unendlich reproduziert werden drei Ansichten von Hanns Martin Schleyer hinter einem Pappschild mit Text und vor dem RAF-Stern sowie einmal mit einer weiteren Tafel zum «Kommando Siegfried Hausner». Benannt ist dieses Kommando nach einem Terroristen, der im Frühjahr 1975 bei einer Bombenexplosion in Schweden schwer verletzt wurde und im Gefängnis Stuttgart-Stammheim starb. Das chronologisch erste dieser Bilder ist wohl das am weitesten verbreitete: Eine nahezu quadratische Aufnahme (78 × 79 mm) aus einer Polaroid-Kamera der Serie SX 70 zeigt Hanns Martin Schleyer in einer weinroten Sportjacke mit schwarzen Bündchen, darunter ein dunkles Unterhemd; in beiden Händen hält er eine Papptafel mit dem Text «6. 9. 1977 GEFANGENER DER R.A.F.»; augenscheinlich sitzt er auf einem Hocker vor einer weißen Wand, an die ein größeres Plakat mit dem gedruckten Logo der RAF geklebt ist. Wenn es das Original dieser Fotografie noch gibt, so dürfte es in den Farben einigermaßen verwaschen sein; die Dicke seiner Farbschichten hat vom ersten Tag an dafür gesorgt, dass es nicht sehr scharf reproduziert werden konnte. Ob das Bild seinerzeit direkt farbig reproduziert und in dieser Form den Nachrichtenagenturen übergeben wurde oder ob die späteren farbigen Reproduktionen des Bildes am Computer generiert wurden, ist mit den mir vorliegenden Mitteln nicht zu entscheiden. Eine von der Fläche her vollständige Reproduktion des ganzen Bildes ist mir ebenfalls nicht bekannt. Die drei anderen Bilder dieser Geiselnahme sind Varianten desselben Typs, immer ist dasselbe Plakat mit dem RAF-Logo zu sehen; Größenunterschiede ergeben sich allein aus der unterschiedlichen Distanz zwischen Wand und Kamera. Die zweite Aufnahme zeigt Schleyer seitlich vor dem RAF-Logo sitzend; das Schild mit dem Text «SEIT 20 TAGEN GEFANGENER DER R.A.F.» ist sorgfältig geschrieben und wurde dem Hanns Martin Schleyer geb. 1915 in Offenburg; Dr. jur.; ab 1937 als NSDAP-Funktionär Leiter des Studentenwerks; 1943–45 im Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren; 1949–51 Referent der Industrie- und Handelskammer Baden-Baden, ab 1951 bei der Daimler-Benz AG in Stuttgart; 1962–68 Vorsitzender des Verbands der Metallindustrie Baden-Württemberg; 1974 erschien ein umfassender Bericht über Schleyers NS-Vergangenheit im Stern, auf den sich die Terroristen später beriefen, um die Auswahl ihres Opfers zu legitimieren; 1973 Präsident der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) in Köln, 1977 zudem Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Aufnahme der RAF von Hanns Martin Schleyer vom 25. 9. 1977, das an die Pariser Zeitung Liberation geschickt wurde. ullstein bild Titelseite Liberation vom 28. 9. 1977 unter Verwendung der RAF-Aufnahme vom 25. 9. 1977. ullstein bild BDA-Präsidenten umgehängt. Die dritte Aufnahme stammt vom 6. 10. 1977, ähnelt im Arrangement bis in Details der zweiten, auch die Aufschrift «SEIT 31 TAGEN GEFANGENER» entspricht weitgehend dem Vorbild vom 25. September. Möglicherweise wurden beide Bilder in derselben Wohnung angefertigt. Die letzte Aufnahme stammt vom 13. 10. 1977, zeigt nur eine kleine Tafel mit dem Datum und an der Wand neben dem Logo der RAF noch ein weiteres Schild mit 063_1977_Sachsse 469 08-08-11 07:45:48 -Administrator- Die Entführung 469 1977 Menschen mit der Medienerfahrung der bundesdeutschen 1950er Jahre handelte, vor allem mit einer starken Affinität zur Popkultur der 1960er Jahre, ist diese Bildinszenierung von einer – heute als postmodern beschriebenen – Mehrfachcodierung geprägt. y Die Vorbilder Aufnahme der RAF von Hanns Martin Schleyer vom 13. 10. 1977. ullstein bild dem Text «Commando Siegfried Hausner Commando Martyr Halimeh»; hier ist das Opfer bereits sichtlich von den Strapazen seiner Gefangenschaft gezeichnet. Von allen drei Aufnahmen sind mir nur schwarzweiße Reproduktionen bekannt. Zu diesen insgesamt vier Bildern gibt es noch eine kleine Anzahl von Ausschnitten und Standbild-Clips aus mindestens zwei Videoaufzeichnungen, die die Entführer der Presse und den Verfolgungsbehörden zugespielt hatten. Dass diese Bilder in der Rezeption zu einem einzigen verschmolzen sind, liegt an der Ähnlichkeit ihrer Inszenierung. Jedes Bild enthält drei Ebenen, die von unten nach oben oder von vorn nach hinten gelesen werden können: das Schild, den Mann, das Logo. Dabei ist die Reihenfolge wichtig: Erst die propagandistische Information, dann das Bild des Opfers als Beleg, darüber oder dahinter der teleologische Bezug zur Macht, das Logo als Signet. Diese Doppelung der Bezugsebenen hat sich in Täterbildern des Terrors bis heute erhalten, da sie gleichermaßen auf zwei kulturelle Grundmuster rekurriert: auf die Illustration persischer Firdausi-Epen aus dem 15. Jahrhundert mit ihrer strikten Anordnung von unten nach oben wie auf die europäische Malerei mit ihrer räumlichen (Zentral-)Perspektive von vorn nach hinten. Die räumliche Enge des Ganzen signalisiert Ausweglosigkeit oder – aus der Tätersicht – Entschlossenheit. Beides, Bildaufbau wie Raumdarstellung sind Muster einer Gedächtnis-Topologie, die die gesamte Bildgeschichte der Menschheit durchzieht und einige Kulminationen in der christlichen Ikonografie gefunden hat. Da es sich bei den Tätern der RAF durchweg um Dass Menschen gedemütigt werden, indem man sie öffentlich zur Schau stellt und dabei eine beschriftete Tafel vor sie hält, ist in allen Kulturkreisen so lange bekannt, wie es schriftliche Überlieferungen gibt. Ein prägnantes Beispiel findet sich in der Legende des Bischofs Pothin, dessen frühchristliche Gemeinde in Lyon im Jahr 177 von den Truppen des römischen Kaisers Marc Aurel ausgehoben und in einem mehrtägigen Spektakel öffentlich gefoltert und ermordet wurde; dabei wurde ein Mann namens Attalus mit einem Schild durch die Straßen getrieben, auf dem stand: «Dieser ist ein Christ». Ähnliche Inszenierungen sind als Strafen im arabisch-asiatischen Raum wie im europäischen Mittelalter bekannt; umgekehrt setzt ein Maler wie Lukas Cranach der Ältere 1533 zwei Porträts sächsischer Fürsten hinter Bekenntnistexte, die auf den hölzernen Bildträger geklebt wurden. Die erkennungsdienstliche Behandlung von Tatverdächtigen, wie sie Alphonse Bertillon am Ende des 19. Jahrhunderts in die Polizeiarbeit eingeführt hat (y I: Verbrechergesichter), kennt ebenfalls die Einfügung eines Namens- oder Nummernschildes vor das Porträt en face, gelegentlich vor dem Hintergrund einer Größenskala oder eines anderen Informationsträgers. Die Entführung Am 5. 9. 1977 gegen 9 Uhr wird der Dienstwagen Schleyers in Köln gestoppt; die Täter eröffnen das Feuer und töten drei Sicherheitsbeamte und den Fahrer. Schleyer wird nach Erftstadt-Liblar gebracht, wo er in den ersten Tagen in einer Wohnung in einer Hochhaussiedlung gefangen gehalten wurde. Am 6. 9. 1977 stellen die Täter ein erstes Ultimatum und fordern die Freilassung von elf RAF-Gefangenen; dem Brief wird das erste Polaroidfoto beigelegt. Die Bundesregierung weigert sich, dem Druck der Entführer nachzugeben; eine Klage des Sohnes vor dem Bundesverfassungsgericht auf Erfüllung der Forderungen wird am 15. 10. niedergeschlagen. Schleyer wird in die Niederlande, später nach Brüssel verbracht. Am 25. 9. und am 8. 10. 1977 entstehen weitere Fotografien, die jeweils einem Brief mit neuen Forderungen beigelegt werden. Am 13. 10. 1977 entführt ein palästinensisches Kommando das Flugzeug «Landshut» der Lufthansa; am 18. 10. gelingt die Befreiung der Maschine in Mogadischu/Somalia, nachdem die Entführer am Tag zuvor den Piloten erschossen haben. Am selben Abend wird Schleyer von seinen Entführern erschossen. 063_1977_Sachsse 470 08-08-11 07:45:48 -Administrator- 1977 Rolf Sachsse Möglicherweise kannten die RAF-Täter solche erkennungsdienstlichen Bilder der Gestapo von Widerstandskämpfern gegen die NS-Herrschaft. Ein anderes Arrangement war zuvor von nationalsozialistischen SA-Horden ab 1933 mehrfach aufgenommen worden: die Positionierung eines jüdischen Mitbürgers mit einer Frau hinter einem Spottschild und vor einer Phalanx von SA-Männern oder Polizisten. Diese Aufnahmen waren für einige Jahre nicht publizierbar; erst die Vorbereitung systematischer Pogrome in den Jahren 1937 und 1938 ließ eine derartige Bildpolemik in antisemitischen Kampfblättern zu. Und als 1945 faschistische Würdenträger in Italien hingerichtet wurden, trugen sie auf dem Weg zum Henker ebenso Schrifttafeln um den Hals. Die Ambivalenz solcher Inszenierungen vor den Augen der Öffentlichkeit und der Kamera ist bis heute erhalten geblieben. Zwar schaffen die Texttafeln eine eindeutige Beschreibung des Bildgeschehens, sie konnotieren die Symbolik jedoch im Gebrauch jeweils neu und anders für den gerade notwendigen Zweck einer Publikation. Die theologische Wirkung des Bildes beruht selbstverständlich auf einem weiteren Detail: Das Logo der RAF prangt auf jedem Bild hinter bzw. über dem Kopf des Opfers und symbolisiert wie in Christentum und Islam gleichermaßen das Auge Gottes, das sieht und straft. Die Verdichtung des Pentagramms – als esoterisches Zeichen steht es für absolute Vollkommenheit (die vier Elemente plus der menschliche Geist) und ist damit Ausweis höchster Elite – durch die Maschinenpistole – für deutsche Terroristen selbstverständlich ein deutsches Fabrikat – mit dem Schriftzug RAF in der Compacta Outline kann ohne Weiteres als Auge gelesen werden, aber auch als heraldisches Signum des Herrschaftsanspruchs auf ein Territorium oder Staatsgebilde. Die Differenzen der räumlichen Beziehungen zwischen dem Kopf des Opfers und dem Logo sind eher wenig bedeutend; sicher aber ist die Tatsache, Rote Armee Fraktion (RAF) Anfang 1970 tun sich durch Vermittlung des Anwalts Horst Mahler das Paar Andreas Baader und Gudrun Ensslin und die ehemalige Journalistin Ulrike Meinhof zusammen. Sehr bald stoßen weitere Männer und Frauen hinzu. Sie werden von der Presse, vor allem den Blättern des Springer-Konzerns, als «Baader-Meinhof-Bande» oder «Baader-Meinhof-Gruppe» gebrandmarkt. Nachdem die ganze Gruppe im Frühsommer 1970 eine Nahkampfausbildung in Jordanien absolviert hat, nennt sie sich im August 1970 «Rote Armee Fraktion», um sich als Vorhut einer künftigen, großen Bewegung darzustellen. Als Signet wählt sich die RAF einen fünfzackigen Stern, der von einer Maschinenpistole des Typs MP5 von Heckler & Koch überschnitten wird, davor prangt das Kürzel RAF in den Lettern einer Durchreibeschrift. 470 dass Hanns Martin Schleyer auf dem letzten Bild der Serie, kurz vor seinem Tod, deutlich unterhalb des Plakats mit dem Logo sitzt, ein intendierter Hinweis auf eine baldige, endgültige Lösung der inzwischen jenseits aller Politik und Herrschaftsansprüche angelangten Aktion. Ein sonderbares Detail des Bildes, das sich in allen Varianten wiederfindet, bildet die Schreibweise der Selbstbezeichnung RAF, hier immer mit einem Punkt hinter jedem Buchstaben. Es ist in erster Linie als Verweis auf die Rezeptionsgeschichte der Gruppenbezeichnung zu lesen, die je nach Sichtweise der Autoren von Baader-Meinhof-Bande bis zur Roten Armee Fraktion – als die sie 1970 gegründet worden war – reichte. Offensichtlich soll zum einen ein Unterschied zum Kürzel der britischen Royal Air Force gemacht werden, zum anderen aber soll durch die Abkürzung eine Aufwertung signalisiert werden, ganz im Sinn allegorischer Verfahren des 16. und 17. Jahrhunderts als politischer Rhetorik. Eigenartigerweise hat kurz nach diesem «Deutschen Herbst» eine liberale Partei der Bundesrepublik zum gleichen Verfahren gegriffen, um ihr politisches Profil zu verstärken. Den Terroristen ging es in diesem Akt wahrscheinlich noch um eine zweite Aufwertung: Mit der gesamten Aktion der Schleyer-Entführung, die angeblich über 20 Monate lang vorbereitet worden war, wollte die zweite Generation der RAF den inhaftierten Gründern und Gründerinnen die eigene Stärke demonstrieren. In zahlreichen Texten zu diesem Bild ist auf diverse Vorbilder aus anderen Entführungsfällen hingewiesen worden, speziell auch im Hinblick auf die politischtheologische «Selbstermächtigung» der Täter (Terhoeven 2007). Die Vorbildfunktion der italienischen Brigate Rosse und der uruguayischen Tupamaros ist in diesen Fällen sicher zu konzedieren, doch gibt es ein – meines Wissens unpubliziertes – Vorbild aus den eigenen Reihen: Im März 1972 war eine sogenannte Sympathisantin, nach ihrer Aussage bei der Polizei, geteert und mit einem Schild, das sie als Verräterin deklariert, fotografiert worden. Auch bei früheren Entführungen der RAF war diese Bildform erprobt worden, wenn auch weniger präzise und symbolhaft als bei Hanns Martin Schleyer. Ganz vermessen wäre es, hier eine Komplizenschaft zwischen Täter und Opfer zu konstruieren, doch sicher hatte Schleyer die Bilder des wenige Monate zuvor entführten CDU-Politikers Peter Lorenz im Kopf, sobald er der Aufnahmeprozedur zugeführt wurde. Vielleicht kannte er auch andere Beispiele solcher Bilder aus der Geschichte und hat versucht, der demütigenden Inszenierung durch eine eigene Haltung entgegenzuwirken – was ihm im Lauf des Geschehens auch zunehmend besser gelang. Insofern ist auch die unendliche Reproduktion des ersten Bildes der vier 063_1977_Sachsse 471 08-08-11 07:45:49 -Administrator- Die Entführung 471 Varianten eine öffentliche Verlängerung der Demütigung des Opfers durch die Medien. y Die Bildermacher Das Bundeskriminalamt zählte für den Herbst 1977 genau 20 Mitglieder der terroristischen Vereinigung RAF, von denen fünf zu den Haupttätern der Entführung gehörten und dafür auch verurteilt wurden: Peter-Jürgen Boock, Brigitte Mohnhaupt, Adelheid Schulz, Christian Klar und Stefan Wisniewski. Ihre Sozialisation ist ebenso hinreichend untersucht wie jeder einzelne ihrer Wege in den Terrorismus, das Schlagwort vom «Terror im Schlaraffenland» (Backes 1994) hat sich über die Jahre eingebürgert und auch für einige Rezeptionsveränderungen der RAF in den 1990er Jahren gesorgt, bevor die Ereignisse des Herbstes 2001 den Begriff des Terrors neu zu definieren begannen. Die fünf Haupttäter kommen gleichermaßen als Urheber des Bildes vom entführten Hanns Martin Schleyer wie der dabei benutzten Texttafeln in Betracht. Die notwendige Ausrüstung – eine Polaroidkamera vom Typ SX 70 und eine leichte Videokamera – gehörten zu dieser Zeit bereits weitgehend zum gehobenen bürgerlichen Standard des visuellen Dokumentierens der eigenen Familie. Die Polaroidkamera hatte zudem den Vorteil, dass man kein Fotolabor zur Ausarbeitung der Bilder benötigte, was der Kamera einen eher zweifelhaften Ruhm bescherte: Ein Großteil des weltweiten Umsatzes ging in die private Pornoproduktion, sodass der Hersteller gerade in den späten 1970er Jahren mit einem umfangreichen Kunstprogramm den eigenen Ruf zu verbessern suchte. Für die Rezeption des Schleyer-Bildes hat die technische Genese keine Bedeutung gehabt. Die Nutzung dieser Technik wie der damals noch nicht so ganz einfach zu bedienenden Videokamera stellte für die Täter kein Problem dar; sie waren zwar keine Medienprofis wie die erste Generation der RAF – Baader als Fotomodell, Meinhof als Journalistin, Meins als Kameraassistent –, doch als um 1950 Geborene aus gutbürgerlichem Haus waren sie durchweg mit hoher technischer und designerischer Kompetenz ausgestattet. Mit derselben Leichtigkeit, mit der die Popkultur der 1960er und 1970er Jahre das gesamte Repertoire von Kunst- und Musikgeschichte auf eingängige Motive und Logos verkürzte (Weibel 2004), konnten sich die Täter sowohl die Bildformen der christlichen Ikonografie wie der – auch auf dieser beruhenden – Befreiungsbewegungen in aller Welt aneignen. Den metaphorischen und allegorischen Aufwand, den die erste Generation mit der Namensgebung und dem Logo der RAF betrieben hatte, brauchte die zweite Generation nicht mehr; sie konnte sich auf einfache Übernahmen von Bildformen und Arrangements beschränken, deren Wirkung sich ohnehin, unabhängig von ihrem Tun, einstellen würde. Vielleicht mag auch ein spätes Erstaunen über diese Wirkmächtigkeit dazu beigetragen haben, dass viele Täter und Täterinnen dieser Gruppe ihre Sozialisation während und nach der Haft in Medienberufen gesucht haben. Die eher nachlässige Inszenierung des Bildes und seiner Varianten während der Entführung, die weder besonders ruppig – wie Bilder von Tupamarooder Brigate-Rosse-Entführungen – noch besonders sorgfältig erscheint, lässt vom späteren Medienprofessionalismus der Interviewpartner, Talkshowteilnehmer und Bildredakteure aus dieser RAF-Generation noch wenig erahnen. y Die Nachbilder Das Bild von Schleyers Entführung ist unendlich reproduziert und in vielerlei Hinsicht neu kontextualisiert worden, vom Magazintitel über literarische Essays (Walser 2004) bis zum Doku-Fiction-Spielfilm im Jahr 1997. Gleich wie das Bild dabei beschnitten wurde, blieben doch die drei konstituierenden Elemente erhalten: Schild, Opfer, Logo. Seltene Ausnah- Titelblatt Der Spiegel, Nr. 38, 12. 9. 1977, unter Verwendung einer RAF-Aufnahme vom 6. 9. 1977. Der Spiegel, Hamburg 1977 063_1977_Sachsse 472 08-08-11 07:45:49 -Administrator- 1977 Rolf Sachsse men von dieser Regel waren der erste Spiegel-Titel vom 12. 9. 1977, noch während der Entführung, als die Schrifttafel nicht gezeigt wurde, und die Clips aus den Videoaufnahmen der Täter, ebenfalls ohne Schrifttafeln. Sobald jedoch Hanns Martin Schleyer von seinen Entführern ermordet worden war, erhielt die Schrifttafel jene Bedeutung, die ihr von den Tätern zugedacht worden war: die archaische Bestrafung durch Demütigung. Die Medien verhielten sich dabei genau so, wie es die Terroristen vorhergesehen und intendiert hatten – der Hinweis auf die RAF-Gefangenschaft war demütigender als der Verweis auf die Verstrickungen in die NS-Zeit, die ebenfalls auf der Tafel hätte stehen können oder sollen. Hanns Martin Schleyer wurde damit jeder Bezug auf Individualität genommen, er wurde zu einem mehr oder minder zufällig ins Visier der Täter geratenen Opfer (Wisniewski 1997). Schleyers Haltung als Opfer hat der europäischen Öffentlichkeit eindeutig imponiert und dafür gesorgt, dass spätere Opfer, insbesondere der italienische Politiker Aldo Moro bei seiner Entführung und Ermordung im Mai 1978, auf ähnlich arrangierten Bildern mit großer Gelassenheit agierten. Der Bildtypus selbst war für mehr als ein Jahrzehnt tabu; es gab keine Inszenierungen als Zitat. Selbst als am Ende der 1980er Jahre eine Reihe von Künstlerinnen und Künstlern sich mit der RAF und ihrem Terrorismus zu beschäftigen begannen, wurden zahlreiche Bildtypen – von den Fahndungsfotografien bis zu Aufnahmen und Arrangements aus dem Gefängnis Stuttgart-Stammheim – wieder aufgegriffen und künstlerisch bearbeitet, dieser jedoch nicht. Auch die durchaus umstrittene Gedächtnisausstellung zur RAF in Berlin im Jahr 2005 hat dieses Bild nicht benutzt. Dass die verklärende Selbstdarstellung der RAF auf der Basis Grimm’scher Märchen, wie sie Astrid Proll 1996 mit ihrem Buch Hans und Grete vornahm, wohlweislich auf dieses Bild verzichtet, scheint selbstverständlich. Dem Logo der RAF war eine andere Geschichte beschieden: 1999 stellten eine Ausstellung in London und eine Modekollektion in Hamburg den damals angesagten radical chic nahezu gleichzeitig unter das Label «Prada Meinhof», eine phonetische Verballhornung des offiziellen Namens der Terrorgruppe. Bis in den Sommer 2001 hinein finden sich eine ganze Reihe von Übernahmen des RAF-Logos in diverse modische Formen der Pop- und Punkkultur. Das alles ist schlagartig mit dem September 2001 vorbei; erst nach der vieldiskutierten RAF-Ausstellung 2005 in Berlin und nach den Entlassungen (und Nicht-Entlassungen) mehrerer Täter der Schleyer-Entführung im Frühjahr 2007 greifen Kabarettisten und Karikaturisten das Thema neu auf – und übernehmen auch das Bild des entführten Hanns Martin Schleyer. Ob sie Gerichtsverfahren wegen des möglichen Tat- 472 bestands der Verhöhnung der RAF-Opfer nach sich ziehen oder nicht: Diese Bildübernahmen bestehen immer aus den exakt gleichen Elementen, die zur Ikonenbildung des ersten Bildes geführt haben. Die dargestellte Person sitzt hinter einem Schild, dessen Text das Wort «Gefangener» sowie eine Zeitangabe enthält, und unter einem fünfzackigen Stern mit einem eingeschriebenen Logo. Es ist anzunehmen, dass sich auf diesem Weg die Inszenierung und Visualisierung der Schleyer-Entführung als weitere Leerform in das kollektive Gedächtnis der Deutschen einschreibt und damit endgültig von den vergangenen Konnotationen des politischen Widerstands wie des Terror-Opfers löst. y Die Bildermaschine Das Bild des entführten Hanns Martin Schleyer ist unzweifelhaft ein Teil der umfangreichen RAF-Bildermaschine geworden, vielleicht sogar der schmerzhafteste. Es ist das Wesen einer jeden Maschine, ihre Produktion unabhängig vom Verursacher weiterzuführen, solange Rohstoffe und Energie zugeführt werden; dies gilt auch für mediale Prozesse und deren Tendenz zur Verselbstständigung von Informationen. Die Mitglieder der RAF waren sehr darauf bedacht, ihr Bild in der Standbild aus dem ARD-Fernsehspiel «Todesspiel» von Heinrich Breloer aus dem Jahr 1977 mit Hans Brenner in der Rolle des Hanns Martin Schleyer. 063_1977_Sachsse 473 08-08-11 07:45:49 -Administrator- 473 Öffentlichkeit durch einprägsame Visualisierungen zu fixieren: Von Anleihen bei Filmen wie Bonny & Clyde über diverse Inszenierungen in der Tradition früherer Widerstandsbewegungen bis zur Übernahme von Signets der Befreiungsarmeen aus Südamerika erarbeitete sich die erste Generation ein mediales Profil, das ganz im gewünschten Sinn funktionierte. Einerseits konnten sich die Täter als filmisch-theaterhafte Desperados im Stil Robin Hoods präsentieren, gerade auch durch die Macho-Allüren der beteiligten Männer; andererseits implizierten diese Inszenierungen auch eine Sensibilisierung jenes Umfeldes der Nach1968er-Studentenbewegung, aus dem man Sympathisanten und eine zweite Generation von Tätern zu rekrutieren suchte. Diese wiederum sahen sich verpflichtet, gerade auch in der Entführung von Hanns Martin Schleyer, die früheren Taten symbolisch zu übertreffen. So scheint es nachgerade konsequent, dass genau das Bild der Entführung mit dem ersten Text aus Bekennerschreiben und Forderungen am Tag der Aufnahme einem evangelischen Geistlichen in Wiesbaden zugespielt wurde. Offensichtlich wollten die Täter sicherstellen, dass der legendäre Ursprung ihrer Bildinszenierung von Anfang an richtig verstanden wurde. Nicht bedacht haben sie, dass sich diese richtige Annahme sehr bald gegen sie selbst kehren würde: Erst dieses Bild hat Die Entführung sie zu den bösartigen Kriminellen gestempelt, als die sie in die Geschichte eingegangen sind. Die Beziehungen zwischen Terror und Design sind eng, da beide als Oberflächenphänomene begriffen werden können, Ersterer als solches der Politik, Letzteres als solches der Ästhetik. In dieser Oberflächlichkeit synthetisieren sie alltägliche und sinnliche Erfahrungen, um sie zu außergewöhnlichen Ereignissen werden zu lassen. Die RAF ist – gerade auch durch die Auswahl ihrer Symbole und Inszenierungen – zum Synonym einer ins Kriminelle abgerutschten Elite der 1968er Studentenbewegung geworden; als Bildermaschine produziert diese RAF ununterbrochen Erinnerungen und Gedächtnispartikel weiter, die umso leichter konsumiert werden können, je älter sie werden und je weiter sie sich vom Erfahrungskontext ihrer Zeitgenossen entfernen. Das Bild des entführten Hanns Martin Schleyer kommt als Gegenthese aus derselben Bildermaschine und führt – wie alle Legenden – die Hinfälligkeit körperlicher Existenz im Vergleich mit der Macht historischer Beschreibungen vor: Dieses Bild prägt das hohe Ansehen des Mannes stärker als alle Funktionen, die er zu Lebzeiten innehatte. Nach Hanns Martin Schleyer sind heute Sporthallen, Straßen und Plätze benannt – damit ist er als Person der politischen Geschichte kein Opfer mehr. Auch das ist eine Wirkung dieses Bildes. y Literatur Uwe Backes, Terror im Schlaraffenland. Die biographische Perspektive, in: Konrad Löw (Hrsg.), Terror und Extremismus in Deutschland. Ursachen, Erscheinungsformen, Wege zur Überwindung, Berlin 1994; Klaus Biesenbach (Hrsg.), Zur Vorstellung des Terrors. Die RAF, 2 Bde., Göttingen 2005; Regina Griebel/Marlies Coburger/Heinrich Scheel, Erfasst? Das Gestapo-Album zur Roten Kapelle, Eine FotoDokumentation, hrsg. in Verbindung mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Halle/Saale 1992; Wolfgang Kraushaar, Der nicht erklärte Ausnahmezustand. Staatliches Handeln während des sogenannten Deutschen Herbstes, in: Ders. (Hrsg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, Hamburg 2006; Astrid Proll (Hrsg.), Hans und Grete, Bilder der RAF 1967–1977, Göttingen 1998; Petra Terhoeven, Opferbilder – Täterbilder. Die Fotografie als Medium linksterroristischer Selbstermächtigung in Deutschland und Italien während der 70er Jahre, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58 (2007) 7/8; Georg Christoph Tholen, Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt/M. 2002; Peter Weibel, Im Bauch des Biestes: Logokultur. Vom Symbol zum Logo: Zeichen des Realen, in: Ders., Gamma und Amplitude, hrsg. und kommentiert von Rolf Sachsse, Berlin 2004; Stefan Wisniewski, Wir waren so unheimlich konsequent … Ein Gespräch zur Geschichte der RAF, Berlin 1997. 1977