Das Jahrhundert der Bilder - 1949 bis heute

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Das Jahrhundert der Bilder - 1949 bis heute
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Das Jahrhundert
der Bilder
1949 bis heute
Herausgegeben von Gerhard Paul
Vandenhoeck & Ruprecht
002_Inhalt
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Inhalt
Umschlagabbildungen
Vorderseite: Brandenburger Tor – Photonet.de, I.N.C./Lehnartz;
Marilyn Monroe – AP Photo/Matty Zimmermann;
World Trade Center 9/11 – picture-alliance/dpa;
Finale der Fußballweltmeisterschaft 1954 – ullstein/ullstein bild;
Mao Zedong – Swim Ink/Corbis.
Buckrücken und Rückseite: Lara Croft – © Eidos;
Hanns Martin Schleyer – Keystone Pressedienst;
Mondlandung – Corbis.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über < http://dnb.d-nb.de > abrufbar.
ISBN 978-3-525-30012-1
© 2008 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
Internet: www.v-r.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der
vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG:
Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung
des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer
entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke.
Printed in Germany.
Redaktion: Verena Artz, Bonn
Gestaltung: Ulrike Bade, Vandenhoeck & Ruprecht und Frank Köster, Dörlemann Satz
Satz: Dörlemann Satz, Lemförde
Druck und Bindung: Offizin Andersen Nexö Leipzig
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
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Inhalt
Der Bildatlas – ein Streifzug durch unser
kulturelles Gedächtnis
Gerhard Paul
Das Jahrhundert der Bilder
Die visuelle Geschichte und der Bildkanon
des kulturellen Gedächtnisses
Gerhard Paul
9
14
1949 – 1959
«Abschied vom Pathos» – Beginn eines
«Mythos»
Die visuelle Gründungskonstruktion
der Bundesrepublik
Michael Ruck
EuroVisionen
Die Bildsprache des sich einigenden Europa
Daniela Kneißl
«Führer der Arbeiterklasse»
Der visuelle Kult um die «Liebe»
der Genossen
Rainer Eckert
Bild-Zeitung
Die Bilderwelt einer umstrittenen
Boulevardzeitung
Jürgen Wilke
40
48
56
64
Doppelhelix
Die Karriere eines Wissenschaftsbildes
Martina Heßler
72
Der Aufstand
Die In-Szene-Setzung eines Volksaufstands
Christoph Hamann
80
«Alle Wege des Marxismus führen
nach Moskau»
Schlagbilder antikommunistischer
Bildrhetorik
Gerhard Paul
«Das Wunder von Bern»
Die Bundesdeutschen als virtuelle
Gemeinschaft
Stefanie Schüler-Springorum
Der Playboy der DDR
Die heile Bilderwelt der Diktatur
im Magazin
Rainer Eckert
88
98
106
Marilyn
Diva und Sexikone der 50er Jahre
Elisabeth Bronfen
114
Der «Käfer»
Die Ikone des Wirtschaftswunders
Erhard Schütz
122
Geheimnisse eines Kinoerfolgs
Die Verfilmung von Des Teufels General 1955
Ulrike Weckel
130
Das Bild vom demokratischen Soldaten
Die Werbung der Bundeswehr um
ihren Nachwuchs
Thorsten Loch
138
Starschnitt
Die Bildersprache der Bravo
Detlef Siegfried
146
Die Halbstarken
Bilder einer neuen Jugend
Kaspar Maase
154
Coca-Cola
Globale Werbeikone und Symbol der
Amerikanisierung
von Rainer Gries
Die Bilder der Tagesschau
Die Mutter der bundesdeutschen
Nachrichtensendungen
Knut Hickethier
Arkadien, Dolce Vita und Teutonengrill
Tourismuswerbung und das Italienbild
der Deutschen
Cord Pagenstecher
162
170
178
Soraya
Die «geliehene Kaiserin» der Deutschen
Simone Derix
186
«Keine Experimente»
Adenauer als alternder Staatsmann
Frank Bösch
194
Laika
Das Bild, das dem «Sputnik-Schock»
ein Gesicht gab
Robert Kluge
Das Atomium
Das Symbol des Atomzeitalters
Jochen Hennig
202
210
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Inhalt
Das HB-Männchen
Die Werbefigur der Wirtschaftswundergesellschaft
Gerhard Paul
Mit kühnem Blick in die Zukunft …
Unser Sandmännchen erobert die
Kinderzimmer
Volker Petzold
6
218
226
1960 – 1969
Che
Eine globale Protestikone des 20. Jahrhunderts
Stephan Lahrem
Der Degendieb von Léopoldville
Robert Lebecks Schlüsselbild der
Dekolonisation Afrikas
Jörn Glasenapp
Hand-Zeichen im Kalten Krieg
Propaganda auf ost- und westdeutschen
Plakaten
Silke Betscher und Inge Marßolek
«Was ich von der Mauer wissen muss»
Zur Kunst- und Kulturgeschichte eines
politischen Bauwerks
Michael Diers
Mao
Das Porträt als Reliquie und Pop-Ikone
Gerhard Paul
322
Sgt. Pepper & Co.
Plattencover als Ikonen der Popkultur
Detlef Siegfried
330
Der Tod des Benno Ohnesorg
Ein Foto als Initialzündung einer
politischen Bewegung
Marion G. Müller
234
Kollektiver Rückenakt
Symbolbild der sexuellen Revolution
Gerhard Paul
242
Der Schuss von Saigon
Gefangenentötung für die Kamera
Stephan Schwingeler und
Dorothée Weber
250
Studentenrevolte
Mediale Protestbilder der Studentenbewegung
Kathrin Fahlenbrach
My Lai
Die neuen Opferbilder des Krieges
Lars Klein
258
Fluchtbilder
Schlüsselbilder einer mörderischen Grenze
Christoph Hamann
266
«Die Macht der Ohnmächtigen» im Bild
Die Ikone des Prager Frühlings
aus Bratislava
Elena Demke
Die Kuba-Krise
Luftbilder am Rande eines Weltkrieges
Manuel Köppen
274
Jimi Hendrix
Ikone der psychodelischen Popkultur
Gisela Theising
Der Jahrhundertmord
Attentat vor laufender Kamera
Sibylle Machat
282
Das Schweigen
Ein Film schockiert die Deutschen
Werner Faulstich
290
Der deutsche Michel
Das Autostereotyp der Deutschen
Tomasz Szarota
298
Der «Vorzeigegastarbeiter»
Die Begrüßung des millionsten
Gastarbeiters als Medienereignis
Veit Didczuneit
Versandhauskataloge
Die neue, bunte Welt des Konsums
Michael Wildt
306
314
«Der Mond ist ein Ami»
Bilder der Mondlandung und die
Inszenierung der Wissenschaft
Martina Heßler
338
346
354
362
370
378
386
394
1970 – 1979
«Anarchistische Gewalttäter»
Zur Mediengeschichte der RAF-Plakate
Susanne Regener
402
Der Kniefall von Warschau
Spontane Geste – bewusste Inszenierung?
Christoph Schneider
410
«Vorsicht Kunst»
Die Fotomontagen des Klaus Staeck
Gerd Blum
418
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7
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Inhalt
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Das Mädchen Kim Phúc
Eine Ikone des Vietnamkriegs
Gerhard Paul
426
Das Blutbad von München
Terrorismus im Fernseh-Zeitalter
Klaus Forster und Thomas Knieper
434
Willy Brandt
Vom Reformer zum Denkmal
Daniela Münkel
442
Tod eines Kameramannes
Fotografen und Kameraleute zwischen
den Fronten
Andreas Elter
«Sie kommen»
Selbst- und Fremdbilder der Neuen
Frauenbewegung
Silke Eilers
450
Scharfe Konturen für das Ozonloch
Zur Öko-Ikonografie der Spiegel-Titel
Joachim Radkau
In der Badewanne
Die fotografische Ikone einer Politik- und
Medienaffäre
Gerhard Paul
Das Geiseldrama von Gladbeck
Mediale Komplizenschaft als Echtzeitkrimi
Steffen Burkhardt
Unschärfe
Unscharfe Bilder in Geschichte und
Erinnerung
Bernd Hüppauf
Die Entführung
Die RAF als Bildermaschine
Rolf Sachsse
466
Der Tank Man
Wie die Niederlage der chinesischen
Protestbewegung von 1989 visuell
in einen Sieg umgedeutet wurde
Benjamin Drechsel
Die Grünen
Neue Farbenlehre der Politik
Kathrin Fahlenbrach
474
Der Fall der Mauer
Bilder von Freiheit und /oder Einheit
Godehard Janzing
458
532
542
550
558
566
574
1990 – 1999
1980 – 1989
Blockade
Friedensbewegung zwischen Melancholie
und Ironie
Fabio Crivellari
Im Sucher der Staatssicherheit
Das heimliche Auge der Macht
Karin Hartewig
Der Händedruck von Verdun
Pathosformel der deutsch-französischen
Versöhnung
Ulrich Pfeil
Turnschuh-Minister
Die Physiognomie der Macht
Eva-Maria Lessinger und
Christina Holtz-Bacha
Die Birne
Helmut Kohl in der Satire
Anja Besand
Tschernobyl
Die Unsichtbarkeit der atomaren
Katastrophe
Gerhard Paul
482
490
498
506
516
524
Die nackte Republik
Aktfotografie von Amateuren in der DDR
Klaus Honnef
Madonna
Die Konstruktion einer Popikone im
Musikvideo
Jan-Oliver Decker
Das neue Gesicht des Krieges
Cockpit- und Raketenbilder im
Zweiten Persischen Golfkrieg
Markus Lohoff
«Das Boot ist voll»
Schreckensvision des vereinten Deutschland
Cord Pagenstecher
Gestürzt
Zur Ikonografie des Denkmalsturzes
in Osteuropa
Eva Binder
Videoüberwachung
Das Interesse am Ungewöhnlichen
im gewöhnlichen Alltag
Jan Wehrheim
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590
598
606
614
622
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Inhalt
Die blutige Uniform
Oliviero Toscani und die «Benetton-Plakate»
Jürgen Döring
Bildbruch
Die visuelle Provokation der ersten
Wehrmachtsausstellung
Hannes Heer
Lara Croft
Die virtuelle Ikone der Mediengesellschaft
Astrid Deuber-Mankowsky
Der Medienkanzler
Die mediale Inszenierung des
Gerhard Schröder
Andreas Dörner und Ludgera Vogt
Johannes Paul II.
Der Schmerzensmann
Petra Dorsch-Jungsberger
Die Reichstagskuppel
Symbol der Demokratie wider Willen
Horst Bredekamp
8
630
638
646
654
662
670
Aufmerksamkeitsterror 2001
9/11 und seine Inszenierung als
Medienereignis
Stephan A. Weichert
The Falling Man
Bilder der Opfer des 11. September 2001
Godehard Janzing
Der «Kapuzenmann»
Eine globale Ikone des beginnenden
21. Jahrhunderts
Gerhard Paul
Die neue Transparenz
Reisen und Flanieren auf der virtuellen
Erde mit Google Earth und Virtual Earth
Florian Rötzer
Holocaust-Denkmal
Stolpersteine im Regierungsviertel
Claus Leggewie
Die authentische Katastrophe
Handy-Fotos aus London und ihre
Bedeutung für den Bildjournalismus
Kay Dohnke
710
718
726
734
Die Kanzlerin
Die vielen Gesichter der Angela Merkel
Gerhard Paul
742
Das Bild des Propheten
Der Streit um die Mohammed-Karikaturen
Sabine Schiffer und Xenia Gleißner
750
Second Life
Virtuelle Bilderwelt und der Traum
vom Metaversum
Karin Wehn
2000 – heute
Mohammed Al Durah
Die Ikone der zweiten Intifada
Esther Schapira
Tsunami
Bilder einer Katastrophe
Martin Hellmold
760
678
686
694
Danksagung
769
Ausgewählte Literatur
771
Die Autorinnen und Autoren
775
Bildnachweis
779
Geografisches Register
781
Personenregister
785
Inhalt Band 1
795
702
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1977
Die Entführung
Die RAF als Bildermaschine
von Rolf Sachsse
Zum «Metaphernnebel» (Wolfgang Kraushaar) des sogenannten Deutschen Herbstes 1977 gehört ein
prägnantes Bild: Hanns Martin Schleyer, damaliger Präsident von BDI und BDA, sitzt kurz nach
seiner Entführung unter dem Signet der Roten Armee Fraktion und hält ein Schild mit Datum und dem Text
«Gefangener der RAF» hoch. Kein anderes Bild sammelt so in einer einzigen Ansicht die komplexen
Ereignisse des Jahres 1977: die Gefährdung der Bundesrepublik Deutschland durch linken Terrorismus wie
durch die Aushöhlung des Rechtsstaats durch staatliche Ausnahmeregelungen. Allein die
Ansammlung von Schlagworten zur Kennzeichnung des Geschehens aus der historischen Distanz von drei
Jahrzehnten führt vor, dass die sprachliche Annäherung wesentlich schwieriger ist als die
symbolhafte Bündelung durch ein Bild, das – so war es von den Akteuren durchaus gewollt – zur Ikone
wurde. Ikone auch deshalb, weil das Bild als Ganzes wirkt. Kein Detail des Bildes spricht allein aus
sich heraus, weder das Gesicht des Opfers noch seine Hände, die Körperhaltung oder der Raum; kein Detail
des Bildes lässt sich extrahieren. Warum ist das so und was bedeutet das für die Wirkung dieses
Bildes über die letzten drei Jahrzehnte?
Nur selten reproduzierte Polaroid-Aufnahme der RAF von Hanns Martin Schleyer vom 6. 9. 1977;
hier reproduziert nach dem Abdruck innerhalb des Artikels «Der Bilderkrieg» von Martin Walser
in Der Spiegel, Nr. 21, 2004, S. 190, der aber keinen Herkunftsnachweis enthält. Von
Bildagenturen wie etwa Keystone wird vom 6. 9. 1977 ein hochformatiges Schwarzweißfoto
der RAF angeboten, das Schleyer in fast identischer Haltung, aber in anderem Schnitt zeigt.
Die RAF fotografierte Schleyer demzufolge mit zwei verschiedenen Apparaten.
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Rolf Sachsse
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y Die Bilder
Das Bild sind eigentlich mindestens vier: Als Fotografien gezeigt und unendlich reproduziert werden drei
Ansichten von Hanns Martin Schleyer hinter einem
Pappschild mit Text und vor dem RAF-Stern sowie
einmal mit einer weiteren Tafel zum «Kommando
Siegfried Hausner». Benannt ist dieses Kommando
nach einem Terroristen, der im Frühjahr 1975 bei
einer Bombenexplosion in Schweden schwer verletzt
wurde und im Gefängnis Stuttgart-Stammheim starb.
Das chronologisch erste dieser Bilder ist wohl das am
weitesten verbreitete: Eine nahezu quadratische Aufnahme (78 × 79 mm) aus einer Polaroid-Kamera der
Serie SX 70 zeigt Hanns Martin Schleyer in einer weinroten Sportjacke mit schwarzen Bündchen, darunter
ein dunkles Unterhemd; in beiden Händen hält er eine
Papptafel mit dem Text «6. 9. 1977 GEFANGENER
DER R.A.F.»; augenscheinlich sitzt er auf einem Hocker vor einer weißen Wand, an die ein größeres Plakat mit dem gedruckten Logo der RAF geklebt ist.
Wenn es das Original dieser Fotografie noch gibt,
so dürfte es in den Farben einigermaßen verwaschen
sein; die Dicke seiner Farbschichten hat vom ersten
Tag an dafür gesorgt, dass es nicht sehr scharf reproduziert werden konnte. Ob das Bild seinerzeit direkt
farbig reproduziert und in dieser Form den Nachrichtenagenturen übergeben wurde oder ob die späteren
farbigen Reproduktionen des Bildes am Computer generiert wurden, ist mit den mir vorliegenden Mitteln
nicht zu entscheiden. Eine von der Fläche her vollständige Reproduktion des ganzen Bildes ist mir ebenfalls nicht bekannt.
Die drei anderen Bilder dieser Geiselnahme sind
Varianten desselben Typs, immer ist dasselbe Plakat
mit dem RAF-Logo zu sehen; Größenunterschiede ergeben sich allein aus der unterschiedlichen Distanz
zwischen Wand und Kamera. Die zweite Aufnahme
zeigt Schleyer seitlich vor dem RAF-Logo sitzend; das
Schild mit dem Text «SEIT 20 TAGEN GEFANGENER
DER R.A.F.» ist sorgfältig geschrieben und wurde dem
Hanns Martin Schleyer
geb. 1915 in Offenburg; Dr. jur.; ab 1937 als NSDAP-Funktionär
Leiter des Studentenwerks; 1943–45 im Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren; 1949–51 Referent der Industrie- und Handelskammer Baden-Baden, ab 1951 bei der Daimler-Benz AG in Stuttgart; 1962–68 Vorsitzender des Verbands
der Metallindustrie Baden-Württemberg; 1974 erschien ein umfassender Bericht über Schleyers NS-Vergangenheit im Stern,
auf den sich die Terroristen später beriefen, um die Auswahl
ihres Opfers zu legitimieren; 1973 Präsident der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) in Köln, 1977 zudem
Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI).
Aufnahme der RAF von Hanns Martin Schleyer vom 25. 9. 1977,
das an die Pariser Zeitung Liberation geschickt wurde.
ullstein bild
Titelseite Liberation vom 28. 9. 1977 unter Verwendung der
RAF-Aufnahme vom 25. 9. 1977.
ullstein bild
BDA-Präsidenten umgehängt. Die dritte Aufnahme
stammt vom 6. 10. 1977, ähnelt im Arrangement bis in
Details der zweiten, auch die Aufschrift «SEIT 31 TAGEN GEFANGENER» entspricht weitgehend dem
Vorbild vom 25. September. Möglicherweise wurden
beide Bilder in derselben Wohnung angefertigt. Die
letzte Aufnahme stammt vom 13. 10. 1977, zeigt nur
eine kleine Tafel mit dem Datum und an der Wand neben dem Logo der RAF noch ein weiteres Schild mit
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Die Entführung
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1977
Menschen mit der Medienerfahrung der bundesdeutschen 1950er Jahre handelte, vor allem mit einer starken Affinität zur Popkultur der 1960er Jahre, ist diese
Bildinszenierung von einer – heute als postmodern
beschriebenen – Mehrfachcodierung geprägt.
y Die Vorbilder
Aufnahme der RAF von Hanns Martin Schleyer vom 13. 10. 1977.
ullstein bild
dem Text «Commando Siegfried Hausner Commando
Martyr Halimeh»; hier ist das Opfer bereits sichtlich
von den Strapazen seiner Gefangenschaft gezeichnet.
Von allen drei Aufnahmen sind mir nur schwarzweiße Reproduktionen bekannt.
Zu diesen insgesamt vier Bildern gibt es noch eine
kleine Anzahl von Ausschnitten und Standbild-Clips
aus mindestens zwei Videoaufzeichnungen, die die
Entführer der Presse und den Verfolgungsbehörden
zugespielt hatten. Dass diese Bilder in der Rezeption
zu einem einzigen verschmolzen sind, liegt an der
Ähnlichkeit ihrer Inszenierung. Jedes Bild enthält drei
Ebenen, die von unten nach oben oder von vorn nach
hinten gelesen werden können: das Schild, den Mann,
das Logo. Dabei ist die Reihenfolge wichtig: Erst die
propagandistische Information, dann das Bild des
Opfers als Beleg, darüber oder dahinter der teleologische Bezug zur Macht, das Logo als Signet. Diese Doppelung der Bezugsebenen hat sich in Täterbildern des
Terrors bis heute erhalten, da sie gleichermaßen auf
zwei kulturelle Grundmuster rekurriert: auf die Illustration persischer Firdausi-Epen aus dem 15. Jahrhundert mit ihrer strikten Anordnung von unten nach
oben wie auf die europäische Malerei mit ihrer räumlichen (Zentral-)Perspektive von vorn nach hinten.
Die räumliche Enge des Ganzen signalisiert Ausweglosigkeit oder – aus der Tätersicht – Entschlossenheit.
Beides, Bildaufbau wie Raumdarstellung sind Muster einer Gedächtnis-Topologie, die die gesamte Bildgeschichte der Menschheit durchzieht und einige Kulminationen in der christlichen Ikonografie gefunden
hat. Da es sich bei den Tätern der RAF durchweg um
Dass Menschen gedemütigt werden, indem man sie
öffentlich zur Schau stellt und dabei eine beschriftete
Tafel vor sie hält, ist in allen Kulturkreisen so lange bekannt, wie es schriftliche Überlieferungen gibt. Ein
prägnantes Beispiel findet sich in der Legende des
Bischofs Pothin, dessen frühchristliche Gemeinde in
Lyon im Jahr 177 von den Truppen des römischen
Kaisers Marc Aurel ausgehoben und in einem mehrtägigen Spektakel öffentlich gefoltert und ermordet
wurde; dabei wurde ein Mann namens Attalus mit
einem Schild durch die Straßen getrieben, auf dem
stand: «Dieser ist ein Christ». Ähnliche Inszenierungen sind als Strafen im arabisch-asiatischen Raum wie
im europäischen Mittelalter bekannt; umgekehrt setzt
ein Maler wie Lukas Cranach der Ältere 1533 zwei
Porträts sächsischer Fürsten hinter Bekenntnistexte,
die auf den hölzernen Bildträger geklebt wurden. Die
erkennungsdienstliche Behandlung von Tatverdächtigen, wie sie Alphonse Bertillon am Ende des 19. Jahrhunderts in die Polizeiarbeit eingeführt hat (y I: Verbrechergesichter), kennt ebenfalls die Einfügung eines
Namens- oder Nummernschildes vor das Porträt en
face, gelegentlich vor dem Hintergrund einer Größenskala oder eines anderen Informationsträgers.
Die Entführung
Am 5. 9. 1977 gegen 9 Uhr wird der Dienstwagen Schleyers
in Köln gestoppt; die Täter eröffnen das Feuer und töten drei
Sicherheitsbeamte und den Fahrer. Schleyer wird nach Erftstadt-Liblar gebracht, wo er in den ersten Tagen in einer Wohnung in einer Hochhaussiedlung gefangen gehalten wurde.
Am 6. 9. 1977 stellen die Täter ein erstes Ultimatum und fordern die Freilassung von elf RAF-Gefangenen; dem Brief wird
das erste Polaroidfoto beigelegt. Die Bundesregierung weigert
sich, dem Druck der Entführer nachzugeben; eine Klage des
Sohnes vor dem Bundesverfassungsgericht auf Erfüllung der
Forderungen wird am 15. 10. niedergeschlagen. Schleyer wird
in die Niederlande, später nach Brüssel verbracht. Am 25. 9.
und am 8. 10. 1977 entstehen weitere Fotografien, die jeweils
einem Brief mit neuen Forderungen beigelegt werden. Am
13. 10. 1977 entführt ein palästinensisches Kommando das
Flugzeug «Landshut» der Lufthansa; am 18. 10. gelingt die Befreiung der Maschine in Mogadischu/Somalia, nachdem die
Entführer am Tag zuvor den Piloten erschossen haben. Am selben Abend wird Schleyer von seinen Entführern erschossen.
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1977
Rolf Sachsse
Möglicherweise kannten die RAF-Täter solche erkennungsdienstlichen Bilder der Gestapo von Widerstandskämpfern gegen die NS-Herrschaft. Ein anderes
Arrangement war zuvor von nationalsozialistischen
SA-Horden ab 1933 mehrfach aufgenommen worden:
die Positionierung eines jüdischen Mitbürgers mit einer Frau hinter einem Spottschild und vor einer Phalanx von SA-Männern oder Polizisten. Diese Aufnahmen waren für einige Jahre nicht publizierbar; erst die
Vorbereitung systematischer Pogrome in den Jahren
1937 und 1938 ließ eine derartige Bildpolemik in antisemitischen Kampfblättern zu. Und als 1945 faschistische Würdenträger in Italien hingerichtet wurden,
trugen sie auf dem Weg zum Henker ebenso Schrifttafeln um den Hals. Die Ambivalenz solcher Inszenierungen vor den Augen der Öffentlichkeit und der Kamera ist bis heute erhalten geblieben. Zwar schaffen
die Texttafeln eine eindeutige Beschreibung des Bildgeschehens, sie konnotieren die Symbolik jedoch im
Gebrauch jeweils neu und anders für den gerade notwendigen Zweck einer Publikation.
Die theologische Wirkung des Bildes beruht selbstverständlich auf einem weiteren Detail: Das Logo der
RAF prangt auf jedem Bild hinter bzw. über dem Kopf
des Opfers und symbolisiert wie in Christentum und
Islam gleichermaßen das Auge Gottes, das sieht und
straft. Die Verdichtung des Pentagramms – als esoterisches Zeichen steht es für absolute Vollkommenheit
(die vier Elemente plus der menschliche Geist) und ist
damit Ausweis höchster Elite – durch die Maschinenpistole – für deutsche Terroristen selbstverständlich
ein deutsches Fabrikat – mit dem Schriftzug RAF in
der Compacta Outline kann ohne Weiteres als Auge
gelesen werden, aber auch als heraldisches Signum des
Herrschaftsanspruchs auf ein Territorium oder Staatsgebilde. Die Differenzen der räumlichen Beziehungen
zwischen dem Kopf des Opfers und dem Logo sind
eher wenig bedeutend; sicher aber ist die Tatsache,
Rote Armee Fraktion (RAF)
Anfang 1970 tun sich durch Vermittlung des Anwalts Horst
Mahler das Paar Andreas Baader und Gudrun Ensslin und die
ehemalige Journalistin Ulrike Meinhof zusammen. Sehr bald
stoßen weitere Männer und Frauen hinzu. Sie werden von
der Presse, vor allem den Blättern des Springer-Konzerns, als
«Baader-Meinhof-Bande» oder «Baader-Meinhof-Gruppe» gebrandmarkt. Nachdem die ganze Gruppe im Frühsommer 1970
eine Nahkampfausbildung in Jordanien absolviert hat, nennt
sie sich im August 1970 «Rote Armee Fraktion», um sich als
Vorhut einer künftigen, großen Bewegung darzustellen. Als
Signet wählt sich die RAF einen fünfzackigen Stern, der von
einer Maschinenpistole des Typs MP5 von Heckler & Koch
überschnitten wird, davor prangt das Kürzel RAF in den Lettern
einer Durchreibeschrift.
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dass Hanns Martin Schleyer auf dem letzten Bild der
Serie, kurz vor seinem Tod, deutlich unterhalb des
Plakats mit dem Logo sitzt, ein intendierter Hinweis
auf eine baldige, endgültige Lösung der inzwischen
jenseits aller Politik und Herrschaftsansprüche angelangten Aktion.
Ein sonderbares Detail des Bildes, das sich in allen Varianten wiederfindet, bildet die Schreibweise
der Selbstbezeichnung RAF, hier immer mit einem
Punkt hinter jedem Buchstaben. Es ist in erster Linie
als Verweis auf die Rezeptionsgeschichte der Gruppenbezeichnung zu lesen, die je nach Sichtweise der
Autoren von Baader-Meinhof-Bande bis zur Roten
Armee Fraktion – als die sie 1970 gegründet worden
war – reichte. Offensichtlich soll zum einen ein Unterschied zum Kürzel der britischen Royal Air Force
gemacht werden, zum anderen aber soll durch die
Abkürzung eine Aufwertung signalisiert werden, ganz
im Sinn allegorischer Verfahren des 16. und 17. Jahrhunderts als politischer Rhetorik. Eigenartigerweise
hat kurz nach diesem «Deutschen Herbst» eine liberale Partei der Bundesrepublik zum gleichen Verfahren gegriffen, um ihr politisches Profil zu verstärken.
Den Terroristen ging es in diesem Akt wahrscheinlich
noch um eine zweite Aufwertung: Mit der gesamten
Aktion der Schleyer-Entführung, die angeblich über
20 Monate lang vorbereitet worden war, wollte die
zweite Generation der RAF den inhaftierten Gründern und Gründerinnen die eigene Stärke demonstrieren.
In zahlreichen Texten zu diesem Bild ist auf diverse
Vorbilder aus anderen Entführungsfällen hingewiesen
worden, speziell auch im Hinblick auf die politischtheologische «Selbstermächtigung» der Täter (Terhoeven 2007). Die Vorbildfunktion der italienischen
Brigate Rosse und der uruguayischen Tupamaros ist in
diesen Fällen sicher zu konzedieren, doch gibt es ein
– meines Wissens unpubliziertes – Vorbild aus den
eigenen Reihen: Im März 1972 war eine sogenannte
Sympathisantin, nach ihrer Aussage bei der Polizei,
geteert und mit einem Schild, das sie als Verräterin deklariert, fotografiert worden. Auch bei früheren Entführungen der RAF war diese Bildform erprobt worden, wenn auch weniger präzise und symbolhaft als
bei Hanns Martin Schleyer.
Ganz vermessen wäre es, hier eine Komplizenschaft
zwischen Täter und Opfer zu konstruieren, doch
sicher hatte Schleyer die Bilder des wenige Monate zuvor entführten CDU-Politikers Peter Lorenz im Kopf,
sobald er der Aufnahmeprozedur zugeführt wurde.
Vielleicht kannte er auch andere Beispiele solcher Bilder aus der Geschichte und hat versucht, der demütigenden Inszenierung durch eine eigene Haltung entgegenzuwirken – was ihm im Lauf des Geschehens
auch zunehmend besser gelang. Insofern ist auch die
unendliche Reproduktion des ersten Bildes der vier
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Die Entführung
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Varianten eine öffentliche Verlängerung der Demütigung des Opfers durch die Medien.
y Die Bildermacher
Das Bundeskriminalamt zählte für den Herbst 1977
genau 20 Mitglieder der terroristischen Vereinigung
RAF, von denen fünf zu den Haupttätern der Entführung gehörten und dafür auch verurteilt wurden:
Peter-Jürgen Boock, Brigitte Mohnhaupt, Adelheid
Schulz, Christian Klar und Stefan Wisniewski. Ihre
Sozialisation ist ebenso hinreichend untersucht wie
jeder einzelne ihrer Wege in den Terrorismus, das
Schlagwort vom «Terror im Schlaraffenland» (Backes
1994) hat sich über die Jahre eingebürgert und auch
für einige Rezeptionsveränderungen der RAF in den
1990er Jahren gesorgt, bevor die Ereignisse des Herbstes 2001 den Begriff des Terrors neu zu definieren begannen.
Die fünf Haupttäter kommen gleichermaßen als
Urheber des Bildes vom entführten Hanns Martin
Schleyer wie der dabei benutzten Texttafeln in Betracht. Die notwendige Ausrüstung – eine Polaroidkamera vom Typ SX 70 und eine leichte Videokamera – gehörten zu dieser Zeit bereits weitgehend
zum gehobenen bürgerlichen Standard des visuellen
Dokumentierens der eigenen Familie. Die Polaroidkamera hatte zudem den Vorteil, dass man kein Fotolabor zur Ausarbeitung der Bilder benötigte, was der
Kamera einen eher zweifelhaften Ruhm bescherte:
Ein Großteil des weltweiten Umsatzes ging in die private Pornoproduktion, sodass der Hersteller gerade
in den späten 1970er Jahren mit einem umfangreichen
Kunstprogramm den eigenen Ruf zu verbessern suchte.
Für die Rezeption des Schleyer-Bildes hat die technische Genese keine Bedeutung gehabt.
Die Nutzung dieser Technik wie der damals noch
nicht so ganz einfach zu bedienenden Videokamera
stellte für die Täter kein Problem dar; sie waren zwar
keine Medienprofis wie die erste Generation der RAF
– Baader als Fotomodell, Meinhof als Journalistin,
Meins als Kameraassistent –, doch als um 1950 Geborene aus gutbürgerlichem Haus waren sie durchweg mit hoher technischer und designerischer Kompetenz ausgestattet. Mit derselben Leichtigkeit, mit
der die Popkultur der 1960er und 1970er Jahre das
gesamte Repertoire von Kunst- und Musikgeschichte
auf eingängige Motive und Logos verkürzte (Weibel
2004), konnten sich die Täter sowohl die Bildformen der christlichen Ikonografie wie der – auch auf
dieser beruhenden – Befreiungsbewegungen in aller
Welt aneignen. Den metaphorischen und allegorischen Aufwand, den die erste Generation mit der
Namensgebung und dem Logo der RAF betrieben
hatte, brauchte die zweite Generation nicht mehr; sie
konnte sich auf einfache Übernahmen von Bildformen und Arrangements beschränken, deren Wirkung
sich ohnehin, unabhängig von ihrem Tun, einstellen
würde.
Vielleicht mag auch ein spätes Erstaunen über diese
Wirkmächtigkeit dazu beigetragen haben, dass viele
Täter und Täterinnen dieser Gruppe ihre Sozialisation
während und nach der Haft in Medienberufen gesucht
haben. Die eher nachlässige Inszenierung des Bildes
und seiner Varianten während der Entführung, die
weder besonders ruppig – wie Bilder von Tupamarooder Brigate-Rosse-Entführungen – noch besonders
sorgfältig erscheint, lässt vom späteren Medienprofessionalismus der Interviewpartner, Talkshowteilnehmer und Bildredakteure aus dieser RAF-Generation
noch wenig erahnen.
y Die Nachbilder
Das Bild von Schleyers Entführung ist unendlich reproduziert und in vielerlei Hinsicht neu kontextualisiert worden, vom Magazintitel über literarische Essays (Walser 2004) bis zum Doku-Fiction-Spielfilm
im Jahr 1997. Gleich wie das Bild dabei beschnitten
wurde, blieben doch die drei konstituierenden Elemente erhalten: Schild, Opfer, Logo. Seltene Ausnah-
Titelblatt Der Spiegel, Nr. 38, 12. 9. 1977, unter Verwendung
einer RAF-Aufnahme vom 6. 9. 1977.
Der Spiegel, Hamburg
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men von dieser Regel waren der erste Spiegel-Titel
vom 12. 9. 1977, noch während der Entführung, als die
Schrifttafel nicht gezeigt wurde, und die Clips aus den
Videoaufnahmen der Täter, ebenfalls ohne Schrifttafeln. Sobald jedoch Hanns Martin Schleyer von seinen
Entführern ermordet worden war, erhielt die Schrifttafel jene Bedeutung, die ihr von den Tätern zugedacht worden war: die archaische Bestrafung durch
Demütigung. Die Medien verhielten sich dabei genau
so, wie es die Terroristen vorhergesehen und intendiert hatten – der Hinweis auf die RAF-Gefangenschaft war demütigender als der Verweis auf die
Verstrickungen in die NS-Zeit, die ebenfalls auf der
Tafel hätte stehen können oder sollen. Hanns Martin
Schleyer wurde damit jeder Bezug auf Individualität
genommen, er wurde zu einem mehr oder minder zufällig ins Visier der Täter geratenen Opfer (Wisniewski
1997).
Schleyers Haltung als Opfer hat der europäischen
Öffentlichkeit eindeutig imponiert und dafür gesorgt,
dass spätere Opfer, insbesondere der italienische Politiker Aldo Moro bei seiner Entführung und Ermordung im Mai 1978, auf ähnlich arrangierten Bildern
mit großer Gelassenheit agierten. Der Bildtypus selbst
war für mehr als ein Jahrzehnt tabu; es gab keine Inszenierungen als Zitat. Selbst als am Ende der 1980er
Jahre eine Reihe von Künstlerinnen und Künstlern
sich mit der RAF und ihrem Terrorismus zu beschäftigen begannen, wurden zahlreiche Bildtypen – von den
Fahndungsfotografien bis zu Aufnahmen und Arrangements aus dem Gefängnis Stuttgart-Stammheim –
wieder aufgegriffen und künstlerisch bearbeitet, dieser jedoch nicht. Auch die durchaus umstrittene Gedächtnisausstellung zur RAF in Berlin im Jahr 2005
hat dieses Bild nicht benutzt. Dass die verklärende
Selbstdarstellung der RAF auf der Basis Grimm’scher
Märchen, wie sie Astrid Proll 1996 mit ihrem Buch
Hans und Grete vornahm, wohlweislich auf dieses Bild
verzichtet, scheint selbstverständlich.
Dem Logo der RAF war eine andere Geschichte beschieden: 1999 stellten eine Ausstellung in London
und eine Modekollektion in Hamburg den damals angesagten radical chic nahezu gleichzeitig unter das Label «Prada Meinhof», eine phonetische Verballhornung des offiziellen Namens der Terrorgruppe. Bis
in den Sommer 2001 hinein finden sich eine ganze
Reihe von Übernahmen des RAF-Logos in diverse modische Formen der Pop- und Punkkultur. Das alles
ist schlagartig mit dem September 2001 vorbei; erst
nach der vieldiskutierten RAF-Ausstellung 2005 in
Berlin und nach den Entlassungen (und Nicht-Entlassungen) mehrerer Täter der Schleyer-Entführung im
Frühjahr 2007 greifen Kabarettisten und Karikaturisten das Thema neu auf – und übernehmen auch das
Bild des entführten Hanns Martin Schleyer.
Ob sie Gerichtsverfahren wegen des möglichen Tat-
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bestands der Verhöhnung der RAF-Opfer nach sich
ziehen oder nicht: Diese Bildübernahmen bestehen
immer aus den exakt gleichen Elementen, die zur Ikonenbildung des ersten Bildes geführt haben. Die dargestellte Person sitzt hinter einem Schild, dessen Text
das Wort «Gefangener» sowie eine Zeitangabe enthält,
und unter einem fünfzackigen Stern mit einem eingeschriebenen Logo. Es ist anzunehmen, dass sich auf
diesem Weg die Inszenierung und Visualisierung der
Schleyer-Entführung als weitere Leerform in das kollektive Gedächtnis der Deutschen einschreibt und damit endgültig von den vergangenen Konnotationen des
politischen Widerstands wie des Terror-Opfers löst.
y Die Bildermaschine
Das Bild des entführten Hanns Martin Schleyer ist unzweifelhaft ein Teil der umfangreichen RAF-Bildermaschine geworden, vielleicht sogar der schmerzhafteste.
Es ist das Wesen einer jeden Maschine, ihre Produktion unabhängig vom Verursacher weiterzuführen, solange Rohstoffe und Energie zugeführt werden; dies
gilt auch für mediale Prozesse und deren Tendenz zur
Verselbstständigung von Informationen. Die Mitglieder der RAF waren sehr darauf bedacht, ihr Bild in der
Standbild aus dem ARD-Fernsehspiel «Todesspiel» von
Heinrich Breloer aus dem Jahr 1977 mit Hans Brenner in der
Rolle des Hanns Martin Schleyer.
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Öffentlichkeit durch einprägsame Visualisierungen zu
fixieren: Von Anleihen bei Filmen wie Bonny & Clyde
über diverse Inszenierungen in der Tradition früherer
Widerstandsbewegungen bis zur Übernahme von Signets der Befreiungsarmeen aus Südamerika erarbeitete sich die erste Generation ein mediales Profil, das
ganz im gewünschten Sinn funktionierte. Einerseits
konnten sich die Täter als filmisch-theaterhafte Desperados im Stil Robin Hoods präsentieren, gerade
auch durch die Macho-Allüren der beteiligten Männer; andererseits implizierten diese Inszenierungen
auch eine Sensibilisierung jenes Umfeldes der Nach1968er-Studentenbewegung, aus dem man Sympathisanten und eine zweite Generation von Tätern zu rekrutieren suchte.
Diese wiederum sahen sich verpflichtet, gerade auch
in der Entführung von Hanns Martin Schleyer, die
früheren Taten symbolisch zu übertreffen. So scheint
es nachgerade konsequent, dass genau das Bild der
Entführung mit dem ersten Text aus Bekennerschreiben und Forderungen am Tag der Aufnahme einem
evangelischen Geistlichen in Wiesbaden zugespielt
wurde. Offensichtlich wollten die Täter sicherstellen,
dass der legendäre Ursprung ihrer Bildinszenierung
von Anfang an richtig verstanden wurde. Nicht bedacht haben sie, dass sich diese richtige Annahme sehr
bald gegen sie selbst kehren würde: Erst dieses Bild hat
Die Entführung
sie zu den bösartigen Kriminellen gestempelt, als die
sie in die Geschichte eingegangen sind.
Die Beziehungen zwischen Terror und Design sind
eng, da beide als Oberflächenphänomene begriffen
werden können, Ersterer als solches der Politik, Letzteres als solches der Ästhetik. In dieser Oberflächlichkeit synthetisieren sie alltägliche und sinnliche Erfahrungen, um sie zu außergewöhnlichen Ereignissen
werden zu lassen. Die RAF ist – gerade auch durch die
Auswahl ihrer Symbole und Inszenierungen – zum Synonym einer ins Kriminelle abgerutschten Elite der
1968er Studentenbewegung geworden; als Bildermaschine produziert diese RAF ununterbrochen Erinnerungen und Gedächtnispartikel weiter, die umso
leichter konsumiert werden können, je älter sie werden und je weiter sie sich vom Erfahrungskontext ihrer Zeitgenossen entfernen. Das Bild des entführten
Hanns Martin Schleyer kommt als Gegenthese aus
derselben Bildermaschine und führt – wie alle Legenden – die Hinfälligkeit körperlicher Existenz im Vergleich mit der Macht historischer Beschreibungen vor:
Dieses Bild prägt das hohe Ansehen des Mannes stärker als alle Funktionen, die er zu Lebzeiten innehatte.
Nach Hanns Martin Schleyer sind heute Sporthallen,
Straßen und Plätze benannt – damit ist er als Person
der politischen Geschichte kein Opfer mehr. Auch das
ist eine Wirkung dieses Bildes.
y Literatur
Uwe Backes, Terror im Schlaraffenland. Die biographische Perspektive, in: Konrad Löw (Hrsg.), Terror und Extremismus in Deutschland.
Ursachen, Erscheinungsformen, Wege zur Überwindung, Berlin 1994; Klaus Biesenbach (Hrsg.), Zur Vorstellung des Terrors. Die RAF, 2
Bde., Göttingen 2005; Regina Griebel/Marlies Coburger/Heinrich Scheel, Erfasst? Das Gestapo-Album zur Roten Kapelle, Eine FotoDokumentation, hrsg. in Verbindung mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Halle/Saale 1992; Wolfgang Kraushaar, Der nicht
erklärte Ausnahmezustand. Staatliches Handeln während des sogenannten Deutschen Herbstes, in: Ders. (Hrsg.), Die RAF und der linke
Terrorismus, Bd. 2, Hamburg 2006; Astrid Proll (Hrsg.), Hans und Grete, Bilder der RAF 1967–1977, Göttingen 1998; Petra Terhoeven,
Opferbilder – Täterbilder. Die Fotografie als Medium linksterroristischer Selbstermächtigung in Deutschland und Italien während der
70er Jahre, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 58 (2007) 7/8; Georg Christoph Tholen, Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt/M. 2002; Peter Weibel, Im Bauch des Biestes: Logokultur. Vom Symbol zum Logo: Zeichen des
Realen, in: Ders., Gamma und Amplitude, hrsg. und kommentiert von Rolf Sachsse, Berlin 2004; Stefan Wisniewski, Wir waren so
unheimlich konsequent … Ein Gespräch zur Geschichte der RAF, Berlin 1997.
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