Kindheitserinnerungen an mein geliebtes Ebenrode in Ostpreußen

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Kindheitserinnerungen an mein geliebtes Ebenrode in Ostpreußen
Kindheitserinnerungen
an mein geliebtes
Ebenrode in Ostpreußen
1931-1944
von
Käte Tober geb. Baltruschat
Nach 70 Jahren kreisen meine Gedanken immer noch und immer mehr zurück in meine Heimatstadt
Ebenrode Stallupönen, Ostpreußen, an die Orte meiner Kindheit die ich nicht vergessen kann. Diese
glücklichen friedlichen und entdeckungsreichen Jahre, damals vor der alles vernichtenden Flucht im
Oktober 1944 vor der russischen anstürmenden Armee auf Deutschland, begleiten mich ständig und
ziehen
mich
in
den
Bann
der
Glückseligkeit
der
Erinnerungen.
Warum lassen mich diese vergangenen Kinderjahre nicht los? Es ist wohl so, weil diese verlorene,
fröhliche Zeit nie wieder zurückgekehrt ist. Ein Zeitabschnitt nahm sein Ende, der Ernst des Lebens
begann. Aber diese kindliche, glückliche Zeit prägte dennoch den Charakter für das spätere Leben. Die
Wahrnehmungen von Gut und Böse, das Selbstbewusstsein und die Pflichterfüllung ermöglichten erst,
die spätere Erwachsenenzeit zu bewältigen. Durch meine gute Kindheit ist es mir später besser
ergangen, alle die Nöte und Sorgen, Entbehrungen und Anfeindungen leichter zu ertragen.
Darum versuche ich die kleinen und großen Geschichten und Streiche aufzuschreiben, weil die
Erinnerung an damals mich heute noch lächeln und schmunzeln lässt. Als vierjähriges Mädchen
empfand ich den „Kindergarten“, früher Spielschule eine aufregende Zeit. Nach anfänglicher Begleitung
durch unser Dienstmädchen, verlangte ich sehr bestimmt, alleine von unserer Bäckerei am Kleinen
Markt zur Spielschule, am Ende der Schirwindter Straße zu gehen. Vorbei an Webers „Ausspann“ über
der Lindenbaumallee der Rathausstaße bog ich an der Ecke von Dr. Leitsbach in die Schirwindter Str.
ein. Am Gefängnis, Ecke Maria-Jung-Str. grusselte es mich immer ein bisschen, am Amtsgericht fasste
ich wieder Mut und kam wohlbehalten bei Schwester Maria, mit der riesigen, kunstvoll gefalteten,
weißen Haube und Tante Bertha, den freundlichen Erzieherinnen an. Viele gleichaltrigen Jungen und
Mädchen tobten und lärmten durch die hellen Räume, im Sommer durch den Garten im Sandkasten
oder an der Hängeschaukel. Ein wenig Übung erforderte Reifen laufen lassen oder Springseil, ebenso
die Bauklötze zu Türmen oder Brücken zu stapeln. Mit Puppen zu spielen fand ich zwar lustig, aber viel
lieber sprang ich herum bei „Blinde Kuh“, oder „Versteck“ spielen. Großen Wert legten unsere beiden
Tanten auf Disziplin.
Friedlich und still saß die Kinderschar auf dem Fußboden oder auf kleinen Stühlchen, und lauschte
gespannt den Geschichten von Tante Bertha. Sie las uns Märchen vor, mal zum Lachen oder Fürchten,
oder wir lernten kleine Gebete. Auch so bekannte Kinderlieder wie:“ Alle meine Entchen“, oder „Kommt
ein Vogel geflogen“, wurden mit Begeisterung eingeübt.
Wir Kinder verfolgten diese Erziehungsmaßnahmen sehr ernsthaft und brav, einer lernte vom anderen.
Natürlich gab es auch Rangeleien und Gezetter zwischen durch, wenn mal der eine, das gerade vom
anderen geliebte Spielzeug, unbedingt verlangte. Unsere Tante Bertha in ihrer ausgleichenden Art,
verstand es jeden Streit zu schlichten und Ruhe kehrte wieder ein. Jungen und Mädchen lernten
miteinander umzugehen, mal liebevoll mit Küsschen oder leichter Umarmung, aber um sich
durchzusetzen, half auch ein Buff in die Seite oder böse Blicke. Eigentlich, waren es spielerische
Vorbereitungen für Durchsetzungsvermögen und kameradschaftliches Verhalten in Achtung und
Gleichberechtigung für den späteren Lebensweg. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr.
Ein wahres Sprichwort!. Unser erstes Rüstzeug für die späteren Jahre verbrachten wir Ebenroder
Kinder fröhlich, friedlich, unbekümmert, verheißungsvoll. Der Ernst des Lebens sollte beginnen.
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Inzwischen sechsjährig, fieberten wir der Schulzeit entgegen. Am 1. Schultag brachte mich meine
Mutter in die für mich riesige Volksschule in der Schulstraße. Ehrfurchtsvoll betrat ich den Klassenraum,
eine freundliche junge Lehrerin begrüßte uns herzlich, und als ich meine alten Kindergarten Kamaraden
entdeckte, schwand die Aufregung des Neuanfangs. Freude erfüllte mich, wir sind alle wieder
beisammen, um gemeinsam lesen, schreiben, rechnen zu lernen. An nur wenige Namen meiner
Mitschüler kann ich mich erinnern. Annemarie Becker aus der Gartenstraße bewunderte ich sehr, sie
wohnte mit ihren Eltern in einem schmucken Einfamilienhaus, eine fleißige Schülerin. Christel Trost,
Tochter eines Postbeamten, mit ihren Geschwistern besuchte ich oft in der Schützenstraße nahe des
Schützenparks am Leibgartner Weg in einem großen Mietshaus mit Torbogen. Teschners kinderreiche
Familie lebte auf der Dobel in der neu erbauten Siedlung. Auch mit Hornigs Kindern am Kleinen Markt
war ich befreundet. Ich ging gerne zu der Familie rüber, denn die Kinder hatten ein eigenes
Spielzimmer. Nach der Schule und den gemachten Schularbeiten stromerten wir gerne über den
Kleinen Markt und die angrenzenden Straßen. Schauten bei Kaufmann Reschat vorbei oder bei Heckel
um für ein Paar Pfennige Knasterbonbons zu kaufen. Ausspannhöfe hatten besondere Anziehungskraft,
denn dort lauerten kribbilige, spannende Momente. Die abgeschirrten Pferde der Bauernwagen
prusteten, verdrehten die Hälse, glotzen uns Knipse an, scharrten mit den Hufen oder ein langer
wedelnder Pferdeschwanz flog uns um die Ohren. Bei Palfner nebenan am Schmiedeeingang zischte
und qualmte es gewaltig, wenn die Pferde beschlagen wurden, und es stank nach verbranntem Horn,
wenn die glühenden Eisen den wiehernden Pferden auf der Hufe gesetzt wurden. Die Gesellen schrien,
schimpften und jagten uns weg. Zwar wichen wir vor ihren Drohgebärden zurück, aber so richtig
einschüchtern ließen wir uns nicht, denn wir wussten ja, nach getaner Arbeit waren die jungen
Burschen freundliche gutmütige Kerle. Meines Vaters Lehrlinge, 15-, 16-jährige Jungen brachten uns
mitten auf der Straße das Fahrradfahren auf einem Herrenfahrrad bei. Der Verkehr war nicht sehr groß.
Hin und wieder ein Auto, ein paar Fuhrwerke, Handwagen, Fahrräder oder Schubkarren bevölkerten
nachmittags die Straßen. Ein eigenes Damenfahrrad gab es erst später, nach unserer „Lehre“. Also das
rechte Bein unter die Querstange des Herrenrades auf die Pedale gestellt.
Ernst, Fritz oder wie der Lehrling gerade hieß, hielt das Rad am Sattel fest, schob an, schrie:“Treten,
den linken Fuß auf die Pedale“. Das Lenkrad schlenkerte und schon landete ich auf der Straße. Viele
Versuche scheiterten so ähnlich, immer zwischen Lachen und Weinen, aufgeschürften Kieen, voller
Zorn und neuen Versuchen. So ging das tagelang ohne Erfolg. Ernst lockte dann wieder, wollen wir
Radfahren, er würde bestimmt festhalten. Der Ehrgeiz packte mich, also los, unbedingt wollte ich
Radfahren. Es klappte schon ganz gut. Ernst rannte neben mir her, ich schrie:“Hälst du fest, ja, ja
bestimmt“. Dabei hatte er längst den Sattel losgelassen. Als ich es bemerkte, wurde ich unsicher,
schlenkerte mit der Lenkstange und rauschte in voller Fahrt in die nächste Hecke. Ernst lachte aus
vollem Hals, amüsierte sich köstlich. Ich heulte wütend! Aber dieser Sturz war der beste Lehrmeister.
Fortan konnte ich Rad fahren. Natürlich verboten unsere Eltern, besonders unsere Mutter, derlei
Unternehmungen und wiesen auf die Gefahren hin, aber welches Kind hält sich an Verbote, wenn es
doch so viele interessante Dinge zu erleben gibt.
Am Ende des Neustädtischen Marktes stand weithin sichtbar unsere evangelische Kirche mit dem
langen, spitzen hölzernen Turm. Das Wahrzeichen und der Mittelpunkt von Ebenrode, neben den 3
alles beherrschenden Märkten. Zum Kindergottesdienst betraten wir erfurchtsvoll das dunkel
erscheinende Kirchenschiff mit zwei Holzemporen. Neugierig verfolgten wir anstehende Hochzeiten.
Wenn die flotten Kutschen mit den festlich gekleideten Gästen, Damen in langen Kleidern mit Hut,
Herren in dunklen Anzügen mit Zylinder, vor der Kirchentür vorfuhren. Wir lungerten an dem etwas
ansteigenden Weg zur Kirche herum und bestaunten das zuletzt eintreffende schöne Brautpaar im
weißen Kleid und Myrtenkranz im Haar mit Schleier. Wir kleinen Mädchen seufzten sehnsüchtig,
würden auch wir, wenn wir groß sind, einmal so glücklich in die Kirche schreiten?
Vorher gab es noch andere Dinge zu begreifen. Männer in braunen Uniformen mit SA-Abzeichen
marschierten lauthals singend oder gröhlend durch die Straßen und Plätze. Manchmal wirkten die
Gruppen bedrohlich mit ihren ernsten Gesichtern.
Aber meine Eltern beschwichtigten uns Kinder, das ist die neue Zeit, diese Leute sorgen jetzt für Zucht
und Ordnung, ihr braucht euch nicht zu fürchten. Aber später, am 09. Nov. 1938 trat doch ein Ereignis
ein, das ich so gar nicht verstand oder aber gar nicht einordnen konnte.
Mitten auf dem Alten Markt, plötzlich hieß er „Adolf Hitler Platz“, brannten lichterloh bergeweise Bücher
und immer mehr Bücher wurden ins Feuer geworfen. Es war dunkel, spät in der Nacht, die halbe Stadt
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war auf den Beinen, Musik spielte, die Braunhemden feixten und lachten. Da zwischen standen meine
Familie und ich. Was war da los? Ich begriff nichts! Loderne, rote Flammenzungen und dicker Qual
erhellten die Bahnhofsgegend. Entsetzt schallten die Rufe durch die Menge: die Synagoge brennt! Ein
Tumult brach los. Autos rasten durch die Stadt. Menschen schrien, jammerten, weinten. Dieses Getöse
und Durcheinander erfüllte auch noch die nächsten Tage und Nächte die Stadt. Eine Erklärung seitens
meiner Eltern gab es nicht, nur ernste Gesichter.
Der Betrieb in der Bäckerei ging weiter, so als wäre nichts geschehen. Ich aber suchte einige meiner
Spielkameraden, die im Bullenwinkel, gleich neben Palfners Schmiede wohnten, vergeblich. Fleißig
marschierten wir Kinder in die Schule, denn bald hatten wir den nächtlichen, schrecklichen Vorfall
vergessen. Auf dem Schulweg kauften wir bei Klutke, im Schreibwarengeschäft am Markt fehlende
Hefte, oder sonstige Schulartikel. Aber wichtig waren die bunten Lackbilder, Blumen oder Engeldekors.
In der Schule herrschte reger Austausch zwischen den Schülern für die diversen Poesiealben. Auch
Schulbrote untereinander wurden getauscht. Die Mitschüler waren immer ganz wild darauf, wenn ich
Kuchen zum Tauschen mitbrachte.
Der Winter mit Eis und Schnee setzte meistens schon Mitte-Ende November ein. Die Wintervergnügen
begannen. Auf gings nach Bareischkemen, die Straße abwärts über die Bahnlinie nach Pillkahlen und
wieder bergauf zu Schweinbergers Grundstück. Dort gab es eine tolle Rodelbahn, die von allen Kindern
geliebt wurde. Mit dem Schlitten, einzeln oder zu zweit jagten wir unter viel Geschrei den Berg, sprich
Hügel, hinunter. Ein paar Dellen gab es im Gelände, bei guter Steuerung sprang der Schlitten elegant
darüber, dann spürte man im Bauch einen leichten Stoß, oder man erwischte die Dellen so unglücklich,
der Schlitten kippte um und wir wälzten uns im Schnee. Beide Varianten waren lustig und unter viel
Gelächter zogen wir die Schlitten zu neuen Abfahrten nach oben. Wir fühlten uns so herrlich frei, mit
roten Backen und triffenden Nasen im Schnee herum zu toben, auch wenn die Handschuhe und
Trainingshosenbeine vom Schnee total nass waren. Erschöpft und glücklich erzählten wir zu Hause in
der warmen Backstube von unseren Erlebnissen.
Kurz vor Totensonntag habe ich meine Schwester Lore einmal fürchterlich erscheckt. Irgendetwas sollte
sie zum Naschen aus der Speisekammer holen. Im dunklen Flur davor lagen Blumengestecke mit
weißen Kalablüten für die Gräber der Großeltern in Schökstupönen. Ich schnappte mir ein Gesteck und
hielt es der ahnungslosen Lore mit den Worten: „Hier kommt der Tod“ vor die Nase. Lore wurde
leichenblass und schrie. Ich aber freute mich diebisch, ihr einen Schrecken eingejagt zu haben. Für
diese Schandtat setzte es von Seiten meiner Mutter bestimmt Strafe.
Überhaupt, wie sah es aus mit Erziehungsmaßnahmen? So weit ich mich erinnere, gingen unsere
Eltern mit Lore und mir recht friedlich und milde um. Das Geschäft nahm die Eltern sehr in Anspruch.
Wir Kinder liefen so nebenbei mit. Wir aber achteten darauf, dass die Eltern nicht alle Streiche, die wir
mit unseren Angestellten trieben, bekannt wurden. Die Mädchen und Gesellen sahen uns vieles nach,
oder wiesen uns sofort in die Schranken durch entsprechende Wortwahl oder leichte
Handgreiflichkeiten. Wir verstanden diese Art Züchtigung wohl, denn gepetzt wurde nicht. Meine Mutter
hatte uns stets mit den Augen im Griff. Ihr strenger Blick verfolgte uns überall, wir hatten ein
untrüglichen Gespür für diese Blickzurechtweisung. Waren Besucher da und wir lungerten im Raum
herum, um Erwachsenengespräche aufzuschnappen, genügte so ein Augenblick und trollten uns. Viele
solcher „Augenblicke“ gab es die schwer zu beschreiben sind, aber sie zu deuten beherrschten wir
vollkommen. In der Erziehung waren sich meine Eltern einig. Kinder verstehen es großartig, einen
Elternteil gegen den anderen auszuspielen. Bei uns funktionierte diese Methode nicht. Ein „Ja“ war ein
„Ja“, ebenso bei „Nein“. Trotzdem genossen wir viele Freiheiten. Bei den sonntäglichen Spaziergängen
in den Schützenpark oder bei der Einkehr in einem Dorfkrug wurden wir immer gefragt, was wir denn
möchten, die Eltern ließen uns freie Wahl. Coca-Cola, damals schon, bekannt, war unsere beliebteste
Bestellung, auch Eis am Stiel oder Fruchtbecher. Neben dem „Hardt´s Hotel“ an der Goldaper Straße
prangte ein Aushang der Kino-Reklame: „Skandal um den Hahn“ in bunten Bildern. Jugendfrei! Das war
die Gelegenheit ins Kino zu gehen. Wir bettelten bei meiner Mutter um die je -,20 Pfennig Eintrittsgeld,
aber nein, das kam nicht in Frage. Vater verneinte auch aus Solidarität. Welch eine Enttäuschung, wir
waren total niedergeschlagen. Später, Jahre später erfuhren wir: Vater hatte denn doch hinter unserem
Rücken zu Mutter gesagt, „nu, jeff ene doch die Dittkes!“ Keiner hatte seine Autorität verspielt. Lore und
ich erreichten noch rechtzeitig die Vorstellung.
Richtig streng und unnachgiebig habe ich meinen Vater nie erlebt. Er war immer fürsorglich und
ausgleichend. Selbst in meinen späteren Erwachsenen-Jahren, als es uns nicht mehr so gut ging, war
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mein Vater uns stets ein liebevoller Ratgeber.
Noch eine Begebenheit war bezeichnet für meinen Vater. Die Mahlzeiten wurden in der großen Diele
neben der Küche gemeinsam mit der Familie, Gesellen, Lehrlingen und Mädchen eingenommen. Es
gab Fischsuppe mit Kartoffeln, die ich so gar nicht kannte und mochte. Die Regel bestand, was sich
jeder auffüllt, muss aufgegessen werden. Alle waren fertig und durften den Tisch verlassen. Mahlzeit!
Nur ich stocherte in meinem Teller herum. Mutters Blick eisern: „Du isst deinen Teller leer und bleibst so
lange sitzen.“ Widerrede oder Protest duldete meine Mutter nicht. Heiße Tränen und Schluchzer
erschütterten mein kleines Herz und Körper. Plötzlich stand mein Vater neben mir, legte tröstend die
Hand auf meine Schulter. „Na, will es denn gar nicht schmecken? Wollen wir es gemeinsam
probieren?“ Ein Löffel für dich, ein Löffel für mich,“ half er mir über die Situation. Bestimmt hat er für
mich die Suppe ausgelöffelt, ich war glücklich! Als meine Mutter später nach mir sah, lobte sie mich
sehr und meinte, mit ein bisschen Geduld und Ausdauer geht es doch.
Meine Vorfreude auf meinen 10-jährigen Geburtstag rückte näher. Ich durfte alle meine
Schulkameraden, die ich gerne mochte, einladen, Jungen und Mädchen. Auch Tanten und Onkel aus
der Verwandtschaft sollten kommen, meine Eltern machten ein großes Fest aus diesem Anlass.
Besonders auf meine Tante Mieze, Vaters Schwester, die ein kleines Häuschen in der
Bahnunterführung am anderen Ende der Stadt mit Onkel Franz und Cousin Gerhard bewohnte, freute
ich mich sehr. War sie doch die gute Seele meines Elternhauses, immer da wenn Not am Mann war.
Aber davon später. Alle, alle kamen! Der Kaffeetisch war mit hübschen, bunten Sammeltassen gedeckt.
Viele Tortenkuchen, Frankfurter-Kranz und Streuselkuchen prangten auf dem Tisch und wollten
gegessen werden. Die Gäste ließen sich nicht lange nötigen. Bei Kaffee, Kakao begann die große
Kuchenschlacht, Auftakt zu einer fröhlichen Geburtstagsfeier. Plötzlich klingelte es an der Wohnungstür,
laut und unüberhörbar, trotz des lebhaften Stimmungsgewirrs im Wohnzimmer. „Nanu, wer kommt den
von hinten, war die einstimmige Verwunderung“. Sonst kommen doch immer alle Leute durch den
Laden zu uns. Zur Überraschung meiner Mutter steht doch da ganz verschmitzt und stolz der kleine
Lorbas Winfried Loseris, mein Klassenfreund, mit dick in Zeitungspapier verpacktem Etwas in der
Hand. Meine Mutter bat ihn herein und wollte das Paket ein Empfang nehmen. Da protestierte der
kleine Steppke aber gewaltig: „Das ist nicht für dich“, belehrte er meine Mutter. “Nimm das
Zeitungspapier ab, was wegen der Kälte drum herum gewickelt war! Das Geschenk ist für Käte zum
Geburtstag. Er wollte es selbst überreichen“. Nie wieder habe ich so ein schönes Blumengebinde und
mit so viel Eifer vorgetragenen Wünschen, bekommen. Winfried Loseris, Gärtnersohn aus der Kasseler
Straße, überreichte mir sehr selbstbewusst und sicher, so wie es nur Kinder fertig bringen, ein
kunstvolles Blumenkörbchen mit 10 roten Tulpen bepflanzt. Um den Bügel darüber rankten sich viele
Maiglöckchen garniert mit grünem Schleierkraut. Welch eine Pracht! Nach dem großen Schmaus
spielten wir Kinder einträchtig in der Diele “Topfschlagen“, “Flaschendrehen“ mit kleinen Ratespielen
und „Teekesselchen“ und „ich seh und seh was“. Wer kann sich heute diese einfachen Spiele
vorstellen? Sie erforderten aber viel Vorstellungskraft. Später, noch mal gestärkt mit Würstchen und
Kartoffelsalat holen die Väter oder Mütter ihre müden aber glücklichen Sprösslinge zum
„Nachhausegehen“ ab.
Jedes Jahr Ende Januar im tiefsten Winter fand bei uns zu Hause das große Schlachtfest statt.
Wannen, Tröge und Mulden, Kannen standen bereit für die Unmengen zu erwartenden Fleischberge.
Drei von meinem Vater gemästeten Schweine waren morgens schon zum Schlachthof weit draußen vor
der Stadt an der Schirwinther-Str. zum Schlachten gefahren worden. Wenn Tante Mieze, Expertin im
Wurstmachen, eintraf, war das ein untrügliches Zeichen: jetzt beginnt die große „Schweinerei“. Die
gelieferten Schweinehälften zerlegte der Fleischer nach Anweisung meiner Mutter in Schinken-,
Karbonaden, Bauch und Speckstücke, getrennt zum Räuchern oder Einwecken. Flomen wurden zu
Schmalz angebraten. Fett und schieries Fleisch einzelt sofort sortiert für Leber-Blut-Grützwurst. Für die
Rauchwurst wurde extra vom Fleischer Sperling gegenüber, Rindfleisch geholt damit sie nicht zu fett
wurde. Aus Köpfen mit Schnauzen, Ohren und Pfoten entstand köstliche Sülze. Den Bregen ließen sich
meine Eltern mit Zwiebeln sofort schmecken, das »Extra« für Sie. Das Einsalzen der Schinken
übernahm mein Vater persönlich, er achtete auf die exakte Salzmenge und die Einreibung am
Knochen, um Maden zu vermeiden.
Nach fünftwöchiger Prozedur, wenden in der Lakelösung und Kontrolle, nahm Onkel Richard an einem
seiner Markttage die fertiggesalzenen Schinken nach Mecken mit, um sie dort wieder wochenlang in
den Rauch zu hängen.
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In den nächsten Tagen der Schlachtwoche roch das ganze Haus nach Fett, Fleisch und Gekochtem.
Zum ersten Mittagessen gab es für alle »Wellfleisch« satt, eine fettige wabbelige Angelegenheit. Ich
wich meiner Tante Mieze, eine überaus gütige Frau, nicht von der Seite. Bereitwillig erklärte sie mir die
Geheimnisse der Wurstherstellung, Mengen, Zutaten, Gewürze, Salz und Pfeffer. Es war eine Freude
ihr zuzusehen und sie ermunterte mich zum Mitmachen.
Als sie gerade dabei war, die Blutwurstmasse zurecht zu machen und eine bestimmte Menge Blut
zugoß, selbst aber noch Majoran und Pfefferkraut mischte, meine sie, ich könnte schon alles im Trog
umrühren. Herrlich, ich durfte helfen. Mit Händen und Armen bis an die Ellenbogen mengte ich in dem
roten Brei. Tante Mieze und ich waren so vertieft im Wurstmachen, das wir erschrocken hochfuhren, als
meine Mutter, die unbemerkt aus dem Laden gekommen war, entsetzt schrie »Mieze, wat mogt de
Marjell in ne Blotworscht«! Völlig unbeeindruckt erwiderte Tante Mieze: »Na wat denn, de Marjell mot
dat ok mol lere !« Fassungslos kehrte meine Mutter in den Laden zurück. Gegen Tante Mieze und ihre
Argumente kam keiner an. Ich glaube, Mutter lächelte etwas hilflos als sie uns wieder verließ.
Unbekümmert füllten wir die Wurstmasse mit einem Trichter in krause Därme, die dann im großen
Kessel auf dem Herd langsam garzogen.
Ähnlich wurden die Leber- und Grützwürste, mit viel Majoran und Pfefferkraut hergestellt. Allerdings
ohne meine Mithilfe.
Erleichterung, das Schlachtfest war geschafft ! Küche und Diele fein säuberlich geschrubbt, der
Fettgeruch verflogen. Die Frauen freuten sich über die vollen Regale in der Speisekammer. Alles war
gut gelungen. Die gut verschlossenen Weckgläser standen in Reihe und Glied, ebenso die
Schmalztöpfe. Die prallen Wurstsorten auf den Brettern regten den Appetit an. Speck und Schinken
lagen noch in der Pökellake, die Rauchwürste (Mettwurst) baumelten an einer Stange um in den
Därmen zu reifen. Mit einem oder auch zwei Schnäpsen vollendeten die Akteure das Werk. Tante
Mieze kehrte mit einem großen Fleischpaket zu ihrer Familie in der Bahnunterführung zurück., bis zum
nächsten Einsatz irgendwelcher Art, unsere gute hilfreiche Seele der Familie.
In vielen ostpreußischen Familien wurden Hausschlachtungen gemacht, denn ein Schwein zu halten,
bedeutete Abfallverwertung, dazu günstig an gutes Fleisch zukommen. Die Familien auf den
Bauernhöfen ware ohnehin Selbstversorger. Alle Lebensmittel wuchsen auf den Feldern, Gärten und
Ställen im Überfluß. Die Hausfrauen übertrafen sich in der Herstellung vieler Produkte und bester
Qualität.
Die darauffolgenden »Schmeckfeste« mit einigen guten Freunden und der Nachbarschaft verliefen
immer sehr gemütlich. Schließlich musste doch ein bisschen geprahlt werden mit den feinen
Wurstwaren. Selbst meine Schwester und ich saßen immer mit am Tisch der Erwachsenen und
belauschten die Gespräche. Zuerst gab es die deftige Brühe der Wurstkocherei mit einem Ringel
Grützwurst im tiefem Teller: Wurstsuppe.
Dann schnitt sich jeder enderweiß soviel Blut- oder Leberwurst ab wie er meinte vertragen zu können.
Die fette Sülze wurde mit Mostrich oder Essig beträufelt zur besseren Verdauung. Brötchen, Brot und
Butter standen natürlich auch auf dem Tisch, aber eigentlich nur so als Beigabe. Wurst schmeckt auch
ohne Brot.
Begleitet wurde dieses Festmahl mit viel Korn und Bier und Lobesworten von Seiten der Gäste an die
Hausfrauen. Wenn aber die Stimmung immer fröhlicher und ausgelassener wurde, durften wir Kinder
vom Tisch aufstehen und zu Bett gehen. Schade, jetzt wurde es doch erst interessant.
Ein wenig schüchtern, aber doch neugierig beobachteten Lore und ich die wöchentlichen oder 14tägigen Besuche von Onkel Richard aus Mecken. Mit seinem unübersehbarem Schimmelgespann kam
er nach Ebenrode um Besorgungen zu machen auf vielfältige Art und Weise. Der Höhepunkt für ihn um
die Mittagszeit war jedesmal die Plauderstunde mit meiner Mutter im Wohnzimmer. Mittagessen ? Um
Gottes Willen, nein ! Jemand lief schnell zu Fleischer Sperling gegenüber und kaufte einen großen
Ringel Brühwurst, der dann warm gemacht wurde. Mutter kochte dazu extra starken Bohnenkaffee,
stellte frische Brötchen und Butter dazu. Beide, Onkel Richard und meine Mutter ließen sich diese
Köstlichkeit schmecken, tauschten im anregendem Gespräch Neuigkeiten aus. Nur selten nahm an
diesem »Kaffeekränzchen« mein Vater teil. Dafür schlichen wir Kinder ins Zimmer, es könnte sein,
Onkel Richard bringt etwas mit. Ich war sein Patenkind, wohl ein süßes Mädelchen mit
Ponyhaarschnitt, er tätschelte mir verlegen den Rücken und schenkte mir eine Tüte Bonbons. Lore,
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meine ältere Schwester stand daneben, bekam aber nichts. und war sehr enttäuscht. Dazu muss ich
sagen, Lore hatte seit ihrer Kindheit ein Augenleiden (Kurzsichtigkeit) dass die Ärzte da noch nicht
heilen konnten. Sie trug eine dicke Brille und wurde überall in der Schule und auf der Straße als
»Brillenschlange« beschimpft.
Diese Schmach war für sie schwer zu ertragen. Trotz regte sich, diese Unzulänglichkeit stieß auf keine
Gegenliebe. Also auch Onkel Richard mochte Lore nicht. Meiner Mutter muss dieses Verhalten immer
sehr weh getan haben, denn ich hörte sie sehr bestimmt aber gefasst sagen: »Richard halte Dich
daran, ich habe zwei Töchter. Du darfst keine vorziehen!«
Diese Zurechtweisung „saß“, aber die gegenseitige Abneigung zwischen Lore und Onkel Richard blieb
lebenslang.
Mecken, das beherrschende Thema meiner Kindheit. Der Ort vieler Erlebnisse, vieler Geschichten,
vieler Erinnerungen, die mich mein Leben lang begleiten. Viele unbeschwerte Tage und Wochen habe
ich dort glücklich verbracht. Diese Zeit bleibt unwiederbringlich. Selbst den Ort und die Stelle fand ich
nie wieder auf all meinen Reisen der Spurensuche Ostpreußens.
Nur wenige Kilometer der damals wie heute verlaufenden litauischen Grenze lag Mecken, heute
erstreckt sich auf dem Gebiet nur grünes, verwildertes Brachland ohne eine Spur menschlichen
Lebens, endlos weit und verloren. Es gibt keinen Anhaltspunkt, keinen noch so marnkten Baum, keinen
Stein mehr. Damals ist ausgelöscht, als hätte es diesen Ort und diese Zeit nie gegeben.
In meiner Kindheit bin ich so viele Male mit der Familie, oder aber in den Ferien alleine, in Mecken
gewesen, im Sommer wie im Winter. Wenn es hieß am Sonntag fahren wir nach Mecken, war die
Freude groß. Mein Vater bestellte Pferd und Wagen bei der Mühle Prang in der Verlängerung Kasseler
Str. Pünktlich um 13.00 Uhr stand der Kutscher Krieg mit dem Fuhrwerk vor der Bäckerei und übergab
meinem Vater die Zügel nach einem heimlich zugesteckten fürstlichen Trinkgeld. Oftmals durfte ich auf
dem Bock neben Vater sitzen und die Pferdeleinen halten. Bei schönstem Sonnenschein trabte der
dicke Braune quer durch die Stadt, um an der Bahnunterführung Schulzens, Tante Mieze, Vetter
Gerhard und Onkel Ernst mit in den geräumigen Dogcart einsteigen zu lassen. Unter Lachen und
palavern wer wo sitzt, ging es dann endlich los rechts die Straße ab nach Petrikatschen (Schützenort)
an der Gastwirtschaft Richtung Bilderweitschen. Bei Schuggern an einem Gehöft bogen wir mit einem
Hopser von der asphaltierten Straße in die staubigen Wege ein, die mitten durch Roggen, Gersten und
Kartoffelfelder nach Mecken führten. Unterwegs zetterte unsere sonst so besonnene und patente Tante
Mieze rum: „Otto for nich so schnell, ach Duchen, ach Duchen“, waren stets ihre Warnrufe. „Die Kurve
nei, mi wort ganz schlecht von dat Geschuckel.“ Wir Kinder amüsierten uns köstlich. Manchmal streifte
uns ein mahnender Blick meiner Mutter. Ganz so ernst nahmen wir es nicht. Außerdem wickelte Tante
Mieze immer ein Butterbrot aus der Tasche, denn sie behauptete, die Kutschfahrt mache sie hungrig.
Lachhaft, die Fahrt dauerte gut eine Stunde und bei Tante Martha in Mecken war der Tisch stets reich
gedeckt.
Selbst meinem sonst so geduldigem Vater war dieses Geplapper seiner Schwester oftmals zuviel, er
ranste sie an: „Mieze hör op et es nich dat erste Mol, dat wie mit Perd un Woge fohre.“ Es herrschte
wieder Frieden als wir durch das geöffnete große Hoftor in den Innenhof des viereckig angelegten
Gehöftes am Wohnhaus hielten. An seiner Kette reißend, bellte wütend der Hofhund und meldete so
unsere Ankunft an. Alle wurden herzlich umarmt und willkommen geheißen, Senta, der Bernhardiner
Tante Martha´s Liebling, der Stubenhund sprang zwischen uns und wedelte freudig mit dem Schwanz.
Die erste Wiedersehensfreude war geschafft.
Die Erwachsenen tranken im Haus den ersten Begrüßungsschnaps, wir Kinder gingen auf
Entdeckungen. Längst hatten die Knechte das Fuhrwerk abgeschirrt, das Pferd versorgt, der Hofhund
legte sich beruhigt vor seine Hütte.
Der Sonntagsfrieden in der gleißenden Sonne legte sich auf alle Gemüter, die Störche in ihren Nestern
auf den Scheunen klapperten Beifall.
Im großen Eßzimmer bog sich der Tisch unter den vielen köstlichen, selbstgebackenen Kuchen von
Tante Martha, sie war eine Meisterin der Gastlichkeit.
Aus Obst aller Art, Streusel und Quark, Mohn enstanden mit Hefe und Mürbeteig wahre Wunderwerke
an Gebäck. Obwohl wir als Bäckerkinder Kuchen in jeder Form kannten und liebten, Tante Marthas
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Kuchen aber blieben unübertroffen eine Besonderheit und wurden gerne von allen mit großem Appetit
verspeist.
Nur einmal war ich tief enttäuscht bei einem Besuch in Mecken. Wie freute ich mich im Eßzimmer auf
den kommenden Kuchengenuß. Aber, oh Schreck, da standen auf dem Tisch nur Brot und Butter,
Marmelade und Honig. Meine Augen weiteten sich, ich war fast den Tränen nahe vor Entsetzen! Wo
war der Kuchen ?
Tante Martha, Vater Mutter und alle anderen taten gleichgültig, sagten: »Heute gibt´s nicht mehr.« und
der Kaffee wurde eingeschenkt.
Meine Enttäuschung war unbeschreiblich. Suchend schaute sich Onkel Richard um und fragte: »Wo ist
den der Kaffeezucker? Käte guck mal in den Schrank vielleicht steht er da ?« Gehorsam, noch immer
gekränkt, öffnete ich die Schranktür, was sehen meine Augen, Kuchen und Kuchen hatten die Großen
dort vor mir versteckt. Freude und Zorn und Erleichterung wechselten sich bei mir ab. Vielleicht haben
die Erwachsenen sich den Spaß gemacht um mich zu erschrecken, aber gleichzeitig war es für mich
eine Lehre, verzichten zu können.
Während die Erwachsenen es sich im Damenzimmer mit Veranda bequem gemacht hatten in den
großen Sesseln mit buntbestickten Kissen und ihre Gespräche führten, rangelten wir Kinder uns um
den heißgeliebten Schaukelstuhl, bis uns die Lust nach Abenteuern nach draußen lockte.
Wir schauten am kleinen Bach hinterm Stall nach den flauschigen Gieseln. die Salat schnabulierten
oder sich putzten. Die Glucken passten auf ihre Kücken auf, der Hahn krähte. Ein Bild der
Beschaulichkeit des Heranwachsens.
Respekt flößte uns der Kurhahn (Truthahn) ein. Wenn wir ihn ärgerten, spreizte er die Seitenfedern,
furchte am Boden entlang, merkwürdige krause Gebilde schwollen rot am Kopf an, er gluckste
bedrohlich und wurde wütend. Es wurde Zeit »reißaus« zu nehmen. Dafür war der Hofhund friedlich,
freute sich über gestreichelt werden und ließ uns sogar in seine Hütte. Den Pferdestall betraten wir
vorsichtiger, das Stampen, Gewiehere und Gezerre der großen Tiere am Halfter genoßen wir lieber mit
Abstand, aber wenn die freundlichen jungen Knechte, die Polenjungs, uns Kinder auf die Pferderücken
setzten verloren wir jede Scheu.
Bevor Tante Marthas das reichhaltige schmackhafte Abendessen richtete, ging sie mit Bronka zum
„Beschicken“ in den Schweine- und Hühnerstall, die laut quickten und gackerten, alle still wurden und
schmatzten, wenn die Tröge mit Drang und Getreide gefüllt waren. Trotz des Sonntagsstaats ließen die
Erwachsenen es sich nicht nehmen, Hof und Ställe zu begutachten und das wohlgenährte Vieh zu
loben.
Wie erwähnt, ohne Abendessen wäre eine Heimfahrt undenkbar. Danach hatten die Männer noch Lust
euf eine kleine Runde Skat. Die Frauen drängten auf die Heimfahrt wegen der Kinder die ins Bett
sollten. Da war nichts zu machen. Die Männer steckten de Peip oder Zigarren in Brand. Das Spiel
begann, wurde immer hitziger mit all den merkwürdigen Ausdrücken und Redewendungen. Der Kampf
begann zwischen den Männern und Frauen. Die einen wollten nach Hause, die anderen: „Nein das
Spiel ist noch nicht zu Ende.“ Jedenfalls ehe wir von Mecken nach Hause fuhren, war die Stube blau
von all dem Tabakqualm, aber auf uns Kinder wurde keine Rücksicht genommen.
Längst stand der Wagen mit dem angeschirrten Pferd zur Abfahrt bereit. Nur mit Mühe beendeten die
Männer ihr Spiel. Lautstark bestiegen wir den Wagen, das Pferd tänzelte und zog an. Halt, die
Talglichter in den Wagenlaternen mußten noch angezündet werden. Das Durcheinander hörte erst auf,
als unser Gespann im Trab den Hof verließ und in der Dunkelheit verschwand.
Die Schlittenfahrten im Winter nach Mecken zu Tante Marthas Geburtstag im Dezember bei eisiger
Kälte und viel Schnee waren für uns Kinder besondere Erlebnisse. Der geräumige Schlitten war mit
dicken Schafsfellen ausgeschlagen wie ein großer Sack. Wir Kinder in dicken Mänteln, Mützen, Schals
und Handschuhen saßen zwischen den Eltern in ihren Pelzen. Mit Schellengeläut auf den Pferderücken
flogen wir auf den eisenbeschlagenen Kufen über den festgefrorenen Schnee der Straße dahin. Welch
ein Spaß, welch ein Vergnügen!. Der eisige Fahrwind und Schneeflocken peitschten die Gesichter und
machten rosige Wangen. Diese atemberaubende, herrliche Schlittenpartie steigerte die Vorfreunde auf
all die Köstlichkeiten, die uns bei Tante Marthas Geburtstagskaffeetisch erwarteten.
Die Schlittenfahrten zu Onkel Richards Geburtstag im Februar verliefen meistens ganz anders. Die
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Kälte hatte noch zugenommen, es schneite fast ununterbrochen, der eisige Ostwind fegte große
Schneewehen zusammen. Aber Onkel Hans, Vaters Vetter Schmiedemeister in Drusken, bestand
darauf und setzte es bei meinem Vater jeder Jahr durch, trotz des schlechten Wetters nach Mecken mit
dem Schlitten zu fahren. Nach langem Quengeln nahmen beide mich meistens mit zu meinem
Patenonkel. Wie immer in dicken Pelzen verpackt flog der Schlitten mit Geläut über die verschneiten
Straßen, denn andere Schlitten hatten schon Spuren hinterlassen. Nichts Böses ahnend bogen wir bei
Schuggern in die Feldwege nach Mecken ein. Dort über dem freien Feld hatte der Wind die
Schneemassen zu hohen Wehen zusammengefegt. An ein Durchkommen war kaum zu denken. Onkel
Hans fuchtelte mit der Peitsche dem Pferd um die Ohren, laute Zurufe folgten, es mußte doch möglich
dein, mit der Pferdekraft durch diese Schneewehe zu kommen. Mit dem Mut der Verzweifelung zog das
Pferd, augenrollend kräftig an, sprang in die Wehe und steckte plötzlich bis zum Bauch im tiefen
Schnee.
Durch diese ruckartigen Bewegungen kan der Schlitten in Schieflage und kippte um. Wir drei kullerten
aus den Pelzdecken in den weichen Schnee.
Zuerst befiel alle ein Riesenschreck – Ist jemand verletzt ? Das Pferd zitterte!
Immer noch rollten und strampelten wir im Schnee herum. Onkel Hans schmipfte:“ Mot ons dat nu
passere?“ Wat en Schiet !“ Nu mot erscht de Piep in Brand.“ Gesagt, getan!“ Mein Vater blieb
besonnen. Langsam wurde das verängstigte Pferd mit den Händen aus dem Schnee gegraben, der
Schlitten auf die Kufen gestellt. Die Pelzdecken waren voller Schnee. Bei der Kälte und dem Wind fror
ich entsetzlich, die Hände und Finger wurden steif und kribbelten.
Nach langen und anstregenden Mühen der beiden Männer und des Pferdes gelang es endlich den
Schlitten auf die andere Wehenseite zu ziehen und ordnungsgemäß anzuspannen. Vater und Onkel
Hans keuchten von den Strapazen. Wir setzten uns in die nassen Pelzdecken und froren alle um die
Wette während der Weiterfahrt. Geschickt umfuhr mein Vater die Schneewehen auch wenn es
manchmal querfeldein ging.
Bei tiefverhangenem, grauem Himmel erreichten wir mit ziemlicher Verspätung, doch wohlbehalten,
den Hof von Mecken. ”Erbarmung, wat wer los?“ erkundigte sich Onkel Richard und schenkte eilig für
alle Schnäpse zum Aufwärmen ein. Selbst ich bekam einen Schnaps. „De Marjell is ja ganz verfrore!“
Ich heulte, die Finger kribbelten entsetzlich. Tante Martha rieb und knetete die Hände bis die
Lebensgeister, auch dank des Alkohols wieder zurückkehrten. Die ostpreußischen Winter haben so ihre
Tücken, da helfen eben nur warme Stuben und Hochprozentiges.
Nach dem sich alle wieder beruhigt hatten,begann die feuchtfröhliche Geburtstagsfeier mit besonders
gutem Essen. Später, wie üblich stritten sich die Männer beim Skat, die Zigarrenrauchwolken zogen
durch den Raum und ich freute mich dabei zu sein. An diesem Abend war es unmöglich nach Hause zu
fahren. Bei dem Schneegetöber und der Dunkelheit einfach zu gefährlich, man hätte sich verirrt. Wegen
der Bäckerei machte sich Vater keine Sorgen. Der Angestellte Stegenweit mit den anderen Gesellen
würden auch ohne den Meister die Backwaren für den Laden herstellen. Für mich bedeutete dieser
aufregender Winterausflug einen entschuldigt geschwänzten Schultag.
Noch ein anderes Erlebnis verband mich eng mit meinem Vater. Seine Eltern, meine Großeltern, hatten
ihre letzte Ruhestätte auf dem Friedhof in Schöckstupönen. Dorthin fuhren wir beide oft hin, um die
Gräber zu pflegen.
An einem schwülen Spätsommertag radelten wir die paar Kilometer aus Ebenrode heraus zum kleinen
idyillischen Landfriedhof. Vater säuberte die gittereingezäunten Grabstätte, ich sprang von einer zur
anderen Grabstätte und las die vielen mir unbekannten Namen. Fast unbemerkt zog ein Gewitter auf.
Vater mahnte zur Rückfahrt, aber diesmal lieber über die Chaussee über Petrikatschen, die Feldwege
konnten bei Regen matschig werden. Der erste Donner grollte, ich trat kräftig in die Pedale auf der
etwas abschüssigen Chaussee. Zwei Fuhrwerke kamen sich entgegen. Vater schrie warnend:“Fahr
langsam, paß auf!“ Der Regen hatte plötzlich heftig eingesetzt, ich war im Nu klatschnass, Panik
erfaßte mich, radelte ohne zu zögern auf diese sich kreuzenden Fuhrwerke zu. Haarscharf steuerte ich
zwischen beiden Wagen durch auf der engen Fahrbahn. Aus einigen Metern Entfernung begriff mein
Vater dieses waghalsige Manöver. Das Herz blieb ihm fast vor Schreck stehen und fiel entgeistert vom
Rad. Ich muss wirklich einen Schutzengel gehabt haben. Selbst heute erschaudere ich bei der
Erinnerung an diese enorme Gefahr.
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Was muss in Vater vorgegangen sein, mich so sehenden Augen in den Tod rasen zu sehen ?
Scheinbar erkannte ich die Tragweite meines Tuns gar nicht.
Im prasselenden Regen, zuckender Blitze und Donner ohne mich nach Vater umzusehen jagde ich
nach Hause um mich völlig durchnässt, frierend, verängstigt in die Arme meiner Mutter zu werfen.
Entsetzt verständigten sich meine Eltern über den Vorfall, als auch Vater leichenblass nach Hause kam.
Beide machten mir keine Vorwürfe. Liebevoll wurde ich frisch gewaschen ins Bett gebracht. Am
anderen Morgen erwachte ich mit hohem Fieber, Dr. Leitsbach wurde geholt und stellte
Nierenbeckenentzündung fest. Strikte Bettruhe und den bitteren Beerentraubenblättertee literweise zu
trinken,verordnete der Arzt.
So ganz wohl war mir bei der Sache nicht, Schuldgefühle plagten mich. Dann kam mein Vater ins
Kinderzimmer um mich zu besuchen. Mit bangem Herzen schaute ich ihm entgegen.Freudlich setzte er
sich auf die Bettkante und schenkte mir ein Marzipanherzchen. Seelig vor Glück und Freude schlang
ich meine dünnen Arme um seinen Hals.
Viele Ereignisse aus den damaligen Kindertagen bis Oktober 1947 sind mir in lebhafter Erinnerung
geblieben auch wenn ich zeitlich nicht alle so genau einordnen kann.
Im September 1939 begann der Krieg mit dem Überfall auf Polen. Die Bevölkerung jubelte über die
Wehrmachtserfolge, aber niemand wußte etwas über die Greueltaten die den Polen zugefügt wurden.
Die Propagandareden der Machthaber des »Dritten Reiches« verkündeten nur Siege durch die Armeen
im Radio. An den Aufmarsch zum Rußlandfeldzug im Sommer 1941 erinnere ich mich genau. Kolonnen
von kraftvollen jungen Soldaten marschierten singend an unserer Bäckerei am Kleinen Markt vorbei,
quer durch die Stadt in Richtung Grenze nach Litauen und Rußland. Nachts dröhnten die Panzer und
Geschütze durch die Straßen in endlosen Reihen die die Häuser erzittern ließen. Die Erwachsenen
blickten sorgenvoll auf diesen enormen Militäreinsatz der nichts Gutes versprach, aber wir Kinder und
die HJ Jugend begeisterte sich mit Hurra Rufen und Blumen schwenkend an diesem Aufmarsch. Der
Kleine Markt und unser Bäckereigelände war rappelvoll von Soldaten, Kradmeldern, Offizieren und
Autos. Alle warteten gespannt auf den Einsatzbefehl gegen Rußland. Fast unbemerkt von den
Bewohnern Ebenrodes überschritten die Truppen mit Panzern am 21. Juni 1941 die Grenze und
eroberten weite Landesteile der unvorbereiteten Russen. Kradmelder brachten die Siegmeldungen in
die Stadt auch wenn einige der Männer, die wir inzwischen kannten nicht mehr wiederkehrten.
Das Leben in Ostpreußen begann wieder normal zu werden. Die Menschen gingen ihrer Arbeit nach,
die Lebensmittel waren nicht knapp. Jeder hatte einen Garten um Kartoffeln und Gemüse anzubauen,
oder Verwandte auf dem Lande, die zur Versorgung beitrugen. Friedlich und beschaulich verlief das
Leben in der Stadt, in den Schulen, im Krankenhaus oder den sozialen Einrichtungen der NSDAP, den
Frauenschaften und dem Roten Kreuz. Auch wenn im Laden die Kunden meiner Mutter traurig
erzählten, dieser oder jener Angehörige sei gefallen oder verwundet überwog der Glaube an den
Endsieg unter dem Motto: „Führer befiehl, wir folgen dir.“ Besonders erfreut waren wir immer, wenn
einer der eingezogenen Drusker Bauernjungs Baltruschats auf Urlaub nach Hause kam (beim Heer und
Flieger) zuerst bei uns hereinschauten und begeistet vom Krieg erzählten. In späteren Jahren sah ich
auch ernste, bedenkliche Gesichter bei Urlaubern in Gesprächen mit meinen Eltern.
Ab dem 10. Lebensjahr wurden alle Kinder zur „Hitlerjugend“ verpflichtet. Die Staatsführung ordnete an,
die Jugendlichen in einer straffen Organisation zu politischem Denken und Handeln zu erziehen und zu
leiten. Nicht durch Gewalt sondern durch sanften Druck wurde auf die Vorzüge dieser Vereinigung
hingewiesen. Allein durch die tollen Uniformen, braune Lederjacken, Halstücher mit Lederknoten,
besondere Strickjacken, Röcke und Hosen, bunte Kordeln und Käppis, lösten bei Jungmädel und
Pimpfen große Begeisterung aus. Natürlich wollte jeder dazugehören. Auf dem Sportplatz fanden
Wettkämpfe statt. Weitsprung, Hochsprung, 100 Meter Lauf usw. Alle Disziplien die auch heute aktuell
sind. Die älteren Mädchen zeigten Gymnastikinformationen mit Keulen und Bällen. Besonderes
Interesse wurde auf die Sängerwettbewerbe gesetzt, wenn aus verschiedenen Orten die Gruppen
zusammen kamen, um die Sieger zu ermitteln, die die kernigen Lieder vortrugen.
Einige sind mir bis heute im Gedächnis geblieben, selbst die gesamten Texte „Vorwärts,vorwärts
schmettern die hellen Fanfaren“ oder „Unser Fahnen flattern uns voran“. Besonders beliebt war: „Hoch
auf dem gelben Wagen, sitz´
ich beim Schwager vorn“.
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Großen Wert wurde auf das Sammeln von Altmaterialen, wie Lumpen, Knochen, Eisen und Papier
gelegt, ebenso auf Heilkräuter wie Kamille, Schafgarbe, Huflattich, Frauenmatel usw. Kleine
Vergünstigungen oder Auszeichnungen spornten uns an, jeweils die größte Menge heranzuschaffen.
Im Saal des „Cabalzer Hotel“ wurden sonntags oftmals politische Reden der Partei geschwungen. Es
gehörte dazu als Jugendlicher daran teilzunehmen. Aber das Beste danach war, wenn anschließend
der uniformierte Fanfarenzug durch die Ebenroder Straßen marschierte und die markigen Melodien
schmetterte. Natürlich fanden politische Schulungen statt, die dazu dienten, die Heranwachsenden auf
die Partei und deren Ziele vorzubereiten. Auf Gehorsam und Pflichterfüllung wurden wir getrimmt,
Gemeinschaft wurde verordnet, eigene Anschauungen und Wünsche unterbunden. Dadurch war die
Unterordnung vorprogrammiert, der eigene Wille gebrochen, aber Begeisterung für das Wohl der
Allgemeinheit geschaffen, ohne Widerspruch.
Den meisten der Bevölkerung ist diese „Staatserziehung“ gar nicht bewußt gewesen. Gerne wechselten
die Jungen zum Reichsarbeitsdienst, die Mädchen machten ihr Pflichtjahr in den Familien, um später
gute Chancen bei der Wehrmacht zu erhalten, bei der Luftwaffe, der Marine oder beim Heer. Trotz aller
Pflichterfüllung gab es damals genug Möglichkeiten zur Freude und Entspannung. Herrliche Ausflüge
wurden organisiert, in die Romintscher Heide, an den Wyesiter See in Masuren. Die KDF Schiffsfahrten
auf der Ostsee waren begehrt, ebenso lustige Tanzveranstaltungen.
Was wir heute auch immer über die damalige Zeit denken mögen, im Gegensatz zu heute, wurden uns
die guten, alten deutschen Tugenden vermittelt: Fleiß, Gehorsam, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und
Verantwortung. Gerechtigkeit? Da bin ich mir nicht ganz sicher. Als Fazit würde ich heute sagen: „Mit
Zuckerbrot und Peitsche fand eine unmerkliche Umerziehung der Charaktere statt im Sinne der
Staatspartei. So ließen wir uns blenden!
Lores Konfirmation stand bevor und warf große Schatten voraus. (Außer den Geburtstagen blieb es
das größte Ereignis vor der Flucht, was wir damals noch nicht wußten) . Ich beobachtete die
Vorbereitungen aus dem Bett meiner Mutter, denn ich hatte Mumps (Ziegenpeter) und von Dr.
Leitsbach zu strikter Bettruhe verdonnert, meinte ich in Mutters Bett würde ich viel schneller gesunden.
Natürlich ließ mich Mutter gewähren.
Die Schneiderin kam in Haus und nähte für Lore das weiße Einsegnungskleid und das Prüfungskleid.
Auch ich wurde für diesen Anlaß neu ausstaffiert.
War das aufregend. Die Eltern, besprachen das Festmahl. Alle Verwandten, väterlicher und
mütterlicherseits wurden eingeladen. Die Mecker und Tante Mieze, Onkel Ernst mit Gerhard, die große
Drusker Familie Baltruschat mit Oberhaupt Onkel Hans. Die Insterburger Sippe mit Tante Therese,
Gertrud und Herta.
Besonders Wert legten meine Eltern auf Ohm Epha aus Insterburg, er war immer bei allen
Feierlichkeiten bei uns dabei. Der damals schon 80 jährige Onkel faszinierte mich als Kind mächtig. Er
wirkte so altmodisch, und sein Schlabberhals zwischen den abnehmbaren Vatermörderkragen hüpfte
hin und her. Mutters Schwester Bertha, eine hochgewachsene schöne Frau, reiste aus Nikolaiken an
(dort war sie Gemeindeschwester). Ihre vornehme Art strahlte Respekt aus. Jedes Gespräch erstarrte,
wenn sie nur den Raum betrat.
Inzwischen waren meine Hamsterbacken und der Hals auf Normalgröße geschrumpft, ich durfte wieder
herumspringen und mich mit Lore auf das große Fest freuen. Der Kirchgang beeindruckte mich, alle
jungen Mädchen schritten würdevoll mit Blumensträußchen in den Händen, die Jungen dunkel
gekleidet, in unsere alte, schöne Kirche. Zu Hause wurden alle Gäste recht vergnügt, das lag wohl an
dem Wein, der gereicht wurde.
Alle stellten sich zum Gruppenphoto auf, es gab ein heilloses Durcheinander, weil das neumodische
Blitzlicht am Besenstiel befestigt, nicht gleich funktionierte.
Nach dem Festmahl kredenzte mein Vater als Nachtisch seine neuste Kreation Speiseeis. Die
handbetriebene Eismaschine hatte er kürzlich auf der Königsberger Messe gekauft. Begeistert
probierten alle diese Köstlichkeit, Vanille und Schokoladeneis mit Schlagsahne und Waffeln dazu.
Nur Onkel Hans aus Drusken machte aus seinem Mißfallen keinen Hehl, er schimpfte: „Wat is dat forn
Schiet, dat is jo kolt!“ Trotzdem war es wohl ein schönes Einsegnungsfest denn fröhlich sein konnten
die Ostpreußen, auch wenn es dabei bißchen derb zuging.
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Beschaulich und friedlich ging das Leben weiter in Ebenrode. Die Kriegsereignisse von der Ostfront
hörten wir im Radio, pausenlos rollten die Züge mit Soldaten und Munition durch den Bahnhof.
Fröhliche Landser von der Front freuten sich auf ihren Urlaub in der Heimat. Langweilig wurde es nie
und wir Kinder genossen neben der Schule unsere Freiheit. Zu gern besuchten wir Tante Mieze an der
Bahnunterführung. Dort stand in der Veranda ein Grammophon mit einem goldschimmerden großen
Trubaß. Gerne erlaubte Tante Mieze uns, die großen Schellakplatten aufzulegen. Wir geritten in
Verzückung wenn aus dem Trubaß die etwas kratzigen Lieder erklangen. »Hein spielt abends so schön
auf dem Schifferklavier«, oder »Am Sonntag will mein Süßer mit mir Segeln gehn.« Welch eine
Verheißung klang aus diesen Melodien. Wir Kinder schmolzen vor Glückseeligkeit dahin. Es gab aber
noch einen Grund zu Tante Mieze durch die ganze Stadt zu spazieren. Etwas abseits von ihrem Haus,
am Bahndamm Richtung Eydtkumen, nur durch einen schmalen Trampelpfad zu erreichen, lag der
schilfumwachsene etwas modderige Lapatzteich. Dort tobten und tummelten sich die Kinder der
Bahnangestellten aus den großen Mietskasernen gegenüber von Tante Miezes Haus. Für mich war es
ein Vergnügen mich mit den Kindern in dem trüben Wasser herumzutollen, um eher schmutzig als
sauber aus dem Teich zu steigen. Auf wundersame Weise erfuhr meine Mutter von meinen unerlaubten
Ausflügen. Ich hatte eigentlich immer das Gefühl ihre Augen begleiteten mich überall. nichts bleib ihr
verborgen. Natürlich war ich mit meinen Schulkameraden schon viel und oft gerne in der Badeanstalt in
Baringen gewesen. Von jetzt an aber durfte ich meinen Badespaß nur noch in der Badeanstalt
ausüben. Dort gab es Umkleidekabinen, Liegeweisen, ein riesiges Schwimmbecken mit Springturm 3
und 1 m Brett und durch Holzabzäumung das Nichtschwimmerbecken. Mit den vielen mir bekannten
Kindern tobten wir im Nichtschwimmerbecken herum, bespritzten und alberten im Wasser herum
kletterten auf die Holzabsperrung und wagten einen Schritt ins Hauptbecken, da hatte man noch
Grund.
Nun wurde es aber endlich Zeit, schwimmen zu lernen. Meine Eltern hatten nichts dagegen
einzuwenden, beim Bademeister Schwimmunterricht zu nehmen. Stolz präsentierte ich meine Urkunde
im Freischwimmen und fühlte mich wohl im tiefen Wasser ohne »Grund zu haben« im großen Becken
meine Bahnen zu ziehen. Aber der Ehrgreiz packte mich und meine Mitschwimmer. Mutig geworden
durch unsere Leistung, wollten wir beweisen auch das Fahrtenschwimmzeugnis zu erreichen. Das
bedeutete ohne Unterbrechnung eine dreiviertel Stunde lang unsere Bahnen durch das große Becken
zu ziehen.
Rücken- oder Brustschwimmen war erlaubt. Etwas atemlos kletterten wir aus dem Becken. Doch nun
stand mir die größere Herausforderung bevor, der vorgeschriebene Sprung vom 3 Meter Brett. Von
unten her gesehen an der Treppe vom Turm war das ja gar nicht so hoch, aber als ich dann oben stand
auf dem schmalen Brett, verließ mich doch der Mut. Die Knie fingen an zu zittern. Am liebsten wäre
wäre ich wieder umgekehrt um das rettende Geländer zu ergreifen, aber da ertönte der mahnende Ruf
des Bademeisters: „Nun spring endlich, die anderen warten.“
Beherzt und „Augenzu“ machte ich einen Schritt nach vorn und sprang in die Tiefe. Das Wasser
gurgelte um mich herum, zog mich nach oben und ich erreichte unbeschadet die Wasseroberfläche.
Geschafft, ich war glücklich !
Beneidet habe ich alle Jungs und Mädchen die per Kopfsprung elegant ins Becken sprangen. Meine
Versuche endeten immer mit Bauchplatscher.
Jahrelang fanden in der Badeanstalt festliche Schwimmwettkämpfe statt. Bei herrlichem Sommerwetter
machte es allen einen Riesenspaß die Teilnahmer lautstark anzufeuern. Beifall zu klatschen und die
Sieger zu bejubeln.
Unbeschwerte Winterfreuden erlebten wir Kinder auf dem zugefrorenem großen Schützenparkteich
beim Schlittschuh laufen. Bei klarem Frost und roten Backen drehten wir unsere Runden auf der
spiegelglatten Eisfläche. Schon aus der Ferne war das Gekreische und Gejuchse zu hören von all der
Lebensfreunde, die uns umgab. Manchmal flossen auch Tränen, wenn die Jungs die Mädels mutwillig
anrempelten und Stürze auf dem Eis und ganz schön schmerzten. Wir zankten uns ein bisschen
herum, keiner wollte sich etwas gefallen lassen. WIr Mädchen schon gar nicht. Bald verflogen die
kleinen Rangeleie schließlich geschah alles aus reinem Vergnügen und kindlichem Übermut
Bei einsetzender Dunkelheit marschierten wir wieder einträchtig lachend durch den verschneiten
Schützenpark nach Hause. Durchgefroren mit durchnässten Handschuhen und Hosen, müde erschöpft
von allen Anstrengungen und hungrig, aber unendlich fröhlich erreichen wir unsere Bäckerei am
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Kleinen Markt. In der wohligen Wärme der Backstube und der Geborgenheit der Familie wich die Kälte
aus den erstarrten Gliedern. Begeistert mit glänzenden Augen erzählte ich meinen Eltern von den
Erlebnissen.
Im Winter in der Schummerstunde war die Backstube der beliebteste Ort. An diesem heimeligen Platz
rückten alle zusammen. Besonders still und gebannt lauschten, wir wenn mein Vater von seinen
Kriegserlebnisse im ersten Weltkrieg berichtete. Von der Schlacht um Verdan, seiner Gefangenschaft in
England und den Rücktransport von Southampton mit dem Schiff nach Deutschland. Spannend
berichtete mein Vater seine Eindrücke, wir Kinder konnten nicht genug davon bekommen.
Die Herbstjahrmärkte in unserer Kreisstadt Ebenrode waren besondere geliebte Ereignisse. Nach den
anstrengenden Erntearbeiten freute sich die ganze Bevölkerung auf Spaß und Vergnügen.
Endlich einmal den Alltag vergessen, einfach nur das Leben genießen. Das Fest warf ihre Schatten
voraus, buntbemalte Wagen von Pferden gezogen oder vereinzelt von Treckern rollten in die Stadt, auf
dem großen „Alten Markt“ bauten die Fahrensleute ihre Karussels auf.
Riesenrad, kleine Achterbahn, Kettenstühle, Pferdebahn und ähnliches. Jedenfalls alles was im Kreis
herum fuhr oder sich hoch in die Lüfte schwang. Neugierig beobachteten wir Kinder dieses Treiben und
freuten uns darauf, diese Attraktionen vielleicht ausprobieren zu dürfen. Buden mit viel Zuckerwerk,
gebrannten Mandeln, Liebesäpfel bunt und süß versprachen köstliche Überraschungen. Auch mein
Vater baute seinen Stand (Bude) auf. Plundergebäck, Pfannkuchen (Berliner), Krummejungs,
Raderkuchen in Fett angebraten dazu Steinpflaster, alles das gehörte zum Jahrmarktstreiben dazu und
mußte verkauft werden. Ohne Tante Mieze lief am Stand gar nicht. Der Umsatz stieg mit ihren
Späßchen und ulkigen Anpreisungen. Ständig holten die Lehrlinge Nachschub aus der Bäckerei. Über
eine Woche zog sich diese Jahrmarktsfreude hin. Aus allen Orten strömten die Leute heran, begierig
sich dem Treiben hinzugeben, um alle Sorgen einmal zu vergessen. Welch ein Wunder, diese bunte
glitzernde, überall duddelte laute mitreißende Musik, die köstlichen, oftmals unbekannten Naschereien,
die ausgelassene Menge erzeugte ungeahnte Glückseligkeit in dem meist tristen Alltag. Die Karussells
drehten sich unaufhörlich bei dem Ansturm der lachenden juchsenen vergnügten Marktbesuchern.
Einmal gastierte in der Stadt die Hochseiltruppe Traber. Während die Artisten mindestens in 30-40 m
Höhe auf dem gespannten Seil ohne Sicherung nur mit den langen Balancierstangen das Seil
überschritten, stockte den Zuschauern der Atem. Sowas hatte noch keiner gesehen ! Manche schauten
kaum hinauf, aus Angst vor einem Absturz, andere rissen die Augen auf voll Bewunderung. Bangen und
Zittern um den einsamen tollkühnen Mann da oben. Atemloses Staunen über so viel Mut breitete sich
aus über die stillgewordene Menge. Ein gewaltiger Jubel brach los, Hurrarufe und Geklatsche brandete
aus allen Kehlen und Händen, über die großartige Leistung der Traber-Truppe.
Mir schien, an Jahrmarktstagen geriet die ganze Stadt und Land aus dem Häuschen. Alles was Beine
hatte war unterwegs. Selbst in den Gasthäusern und den Kneipen ging es hoch her. Die Männer
feilschten auf dem Pferde- und Schweinemarkt um die zu verkaufenden Viecher. Per Handschlag ging
der Handel hin und her, lautstark prieß jeder sein oftmals hochwertiges Tier an, bis endlich der Handel
perfekt war, und im Krug mit viel Schnaps besiegelt wurde.
Der Höhepunkt für Lore und mich war, wenn mein Vater gegen Abend, wenn alle bunten Lichter den
Platz verzauberten mit uns über den „Rummel“ schlenderte. Vater spendierte Karussellfahrten ohne
Ende. Kam mit in die Geisterbahn, damit wir Beistand hatten, wenn ein bleiches Gerippe nach uns griff
und es uns fürchterlich grusselte. Zuckerwatte, oder sehr beliebt war „Türkischer Speck“, versüßte uns
diesen unvergleichbaren Rummelspaß nur mit unserem Vater allein. Kribbelnde Freude erfüllte die
Seele!
Wenn die Advent- und Weihnachstzeit heranrückte begannen in der Bäckerei besondere
Betriebsamkeiten. Neben dem normalen Backwerkangeboten mußten die, nur speziell zu Weihnachten
angebotenen Waren hergestellt erden, Die ersten Pfeffernüsse gingen über den Ladentisch.
Blecheweis rissen sich die Kinder um die Honigkuchenstücke mit und ohne Mandelkern. Makronen
wurden gebacken, Anisplätzchen, die ich so gar nicht mochte, Mürbeteigplätzchen, wir sagten dazu
„Ausstecher“, als Weihnachtsbäumchen, Mond und Sterne. Ebenso die Spritzkuchen, geformt durch
Tüllen, die vor die Fleischmaschine gesetzt wurden. Nach dem Backen wurden die Spritzen der Sförmigen Küchlein in Schokolade getaucht.
Eine Spezialität meines Vaters waren die Schokonüsse und Rosennüsse. Heller Teig einmal mit
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Schokolade gemischt oder die andere Sorte mit Rosenwasser getränkt. Aber das Besondere an den
Nüssen war die Umhüllung.
Fasziniert sah ich meinem Vater zu, wenn er in der Küche am Herd stand und in einem großem Kessel,
vollkonzentriert, eine bestimmte Menge Zucker mit ganz wenig Wasser mit dem Schneebesen auflöste,
bis der Zucker sich zu einem Faden bildete, läutern nannte er das. Aber er mußte auf einen ganz
bestimmten Punkt achten, sonst würde die Masse umschlagen und für die Nüsse unbrauchbar sein. Ich
habe nie gesehen, dass Vater diesen Punkt überschritten hat. Gekonnt goß er dann die Zuckerlösung
über die in einem Bottich bereitgestellten Nüsse, vermengte mit 2 Holzlöffeln alles sehr schnell. Nüsse
und Zucker verbanden sich, und nach dem Erkalten bildete sich eine süße, weiße, spitzige Kruste um
diese köstliche Nascherei. Viele tonnenartige Gefäße füllten sich mit diesen Süßigkeiten. Bis
Weihachten wurde alles verkauft, fast blieben nur wenige Teile für unseren „Bunten Teller“ zurück.
Gesellen und Lehrlinge hatten mit all diesen Herstellungsverfahren alle Hände voll zu tun, da wurden
Überstunden gemacht.
Besonders die Marzipanzubereitung erforderte große Aufmerksamkeit. Die Mandelrohmasse, oder das
billigere Persipan (Erdnuss) durfte nur mit wenig Puderzucker und Rosenwasser vermengt werden,
nach bestimmtem Rezept.
Altgeselle Steguweit verstand sein Geschäft und knettete viele Marzipankugeln zusammen. Lore und
ich strichen durch die Backstube, um ein bißchen Marzipanmasse zu ergattern. Dem Steguweit
standen wir immer im Weg, er schmipfte, aber dann, um uns los zu werden, steckte er jeder ein großes
Stück Marzipanmasse in den Mund. Wir erstickten fast daran, aber wir verstanden sein Verhalten und
verschwanden. Steguweit konnte sich von uns Kindern nicht aufhalten lassen, schließlich sollte er noch
viele Marzipanherzen mit einer Stanze anfertigen. So entstanden viele gleichmässige, oben gezackte
Herzen. Nach dem Flämen füllten die Bäcker die Herzen mit Zuckerguß und roten und grünen
Gelleestreifen.
Am späten Nachmittag, wenn der rege Betrieb sich etwas beruhigt hatte machte mein Vater sich daran,
das köstliche Teekonfekt zu formen. Ein ausgerolltes Marzipanquadrat teilte er mit Hilfe kleiner Leisten
in gleichmäßige Stückchen. Erst zu Kugeln dann zu kleinen Würstchen gerollt, enstanden daraus kleine
Kunstwerke, eben Teekonfekt. Er drehte und formte jedes Teil so gleichmäßig und sauber, eine
Maschine hätte diese Arbeit nicht präziser vollbracht. In liebevoller Kleinarbeit füllte sich das lange Brett
Stück für Stück, Vater wurde nicht müde, ehe die Masse verbracht war. Die eigentliche Veredelung des
„Königsberger Marzipans“ stand aber noch bevor, dazu mußten besondere Vorkehrungen getroffen
werden. Schmiedemeister Palfner hatte ein flaches Eisenstück mit zwei Löchern versehen nach den
vorgegebenen Maßen geschmiedet. Dieses Eisenstück warf mein Vater in die mit Brikett gespeiste
große Feuerung des Backofens. Vor der Fußgrube des Ofens lagen platzgenau zwei Ziegelsteine in der
richtigen Höhe und Abstand. Die Marzipanbretter standen griffbereit. Die gefährliche Phase stand
bevor. Wer mit dieser Arbeit nichts zu tun hatte, wurde rausgejagt, vor allem wir Kinder. Inzwischen war
die Eisenplatte rot durchgeglüht. Mit zwei starken Haken zog Vater die Platte aus der Feuerung und
legte sie auf die Ziegelsteine.
Vorsicht war geboten, jedes Fehlverhalten eine Katastrophe, aber Vater schaffte diese Arbeit
meisterlich. Nun stieg er in die Fußgrube, das Eisen knisterte und zischte. Langsam und sicher schob
er das Marzipanbrett durch die Öffnung der Ziegelsteine.
Dieses ist der Flämmvorgang, durch die Hitze wird dem Marzipan Feuchtigkeit entzogen und die
oberen Zacken jedes Teils werden braun. Ich erinnere mich heute noch an diesen Duft der dadurch
entstand. Herrlich !
Natürlich hatten wir Kinder durch die Backstubentür, aus sicherer Entfernung und mit staunenden
Augen, diesen Vorgang verfolgt. Diese Art der Handwerkskunst beeindruckte uns gewaltig und das
Können unseres Vaters dazu.
Nie wieder habe ich in meinem Leben so viele Düfte und herrliche Gerüche im Geschäft oder im Haus
wahrgenommen. Es roch nicht nur nach Äpfeln, Nuss und Mandelkern, nein es roch nach
„Weihnachten“ mit all seinen Geheimnissen und Überraschungen. In den letzten Tagen vor dem Fest
ging es besonders hoch her. Die meisten Hausfrauen brachten ihre selbstzubereiteten Kuchenteige
zum „Backen“. Wenige Leute besaßen einen geeigneten Herd. Bergeweise stapelten sich die
Blechformen, runde, lange, breite. Um keine Verwechselungen zu riskieren, gaben wir Nummern aus,
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eine klebten wir auf den Kuchen, die andere mit der identischen Zahl erhielt der Kunde.
In der Backstube war der Teufel los. Der Ofen war 2-etagig vollgestopft mit den unterschiedlichsten
Formen, da konnte es schon mal passieren, das ein Kuchen verbrennt. Meister und Gesellen
verstanden aber mit den Schiebern so geschickt umzugehen, sie schoben die Formen nach Dicke und
Beschaffenheit hin und her, alles hatte seine Ordnung. Keine Hausfrau beschwerte sich hinterher, ihr
Kuchen sei nicht durchgebacken. Laut wurde es auch zwischen dem Personal, wenn Kommandos
überhört wurden, oder einer nicht spurte. Es mußte schon Hand in Hand gearbeitet werden, damit der
Betrieb funktionierte. Besonders ärgerlich wurde mein Vater, wenn wegen der Wärme in der Backstube.
ein Hefekucheblech überquoll, denn da hatte wieder einmal einer nicht aufgeaßt. Dann schmiß er das
Blech zu Boden, der Teig fiel zusammen und wurde anschließend in den Ofen geschoben. Welch eine
wundersame Fügung, nach dem Backen kam aus dem Ofen ein wohlgeformter „Pirak“ heraus.
Beim Abholen aller dieser Kuchenformen gab´s auch Ärger. Die Zahlen waren nicht immer lesbar oder
eingebacken. Die Hausfrauen zetterten:“ Min Kocke is wech.“ oder „Dän hätt e andere Fru mitjenomen.“
Wir Kinder hatten dann vollen Einsatz. Manche Kunden waren schlau, vorsichtshalber klebten sie ihr
Namensschild auf die Kuchenform, das erleichterte die Suche ungemein. Bei dieser Back- und
Abholaktion half die gesamte Belegschaft mit. Eigentlich verliefen diese Ereignisse recht fröhlich und
vergnügt. Irgendeiner heiterte mit Witzchen oder Späßchen die Leute und Kunden auf. Schließlich
stand Weihnachten vor der Tür, wer wollte da böse sein. Zum Schluß hatte doch jeder „sinen“
Pulverkuchen, Mohnstrizel oder Pirak mit oder ohne Hilfe gefunden und ging beglückt nach Hause.
Erschöpft, fix und fertig, schloß einer die Ladentür, Ruhe kehrte ein. Die Belegschaft freute sich
darüber, na der Tag ist doch gut gelaufen. Auf dem Rand der Fußgrube sah ich meinen müden Vater
mit unserem etwas einfältigen Lehrling Alfred sitzen. Frohgelaunt verkündete Alfred stolz:“Also wenn ich
(Alfred), die Betonnung liegt auf ich) und der Meister nicht wären, hätte gar nuscht geklappt.“
Ich muß wohl in der Quarta oder sogar in der Untersekunda gewesen sein. Lebensmittelkarten gab es
längst, Fliegeralarm in den Nächten auch und nachts saßen wir oft im Keller. Königsberg hatten die
Engländer bei ihren Luftangriffen mit den Spreng- und Phosphor-Bombern fast dem Erdboden
gleichgemacht. In jenen Nächten war der rote Feuerschein bis ins 140 km entfernte Ebenrode zu
sehen. Die Ostfront zog sich langsam zurück. So gute Nachrichten über den Krieg, der sich über ganz
Europa erstreckte, gab es nicht. Deutsche Städte wurden bombardiert. Frauen und Kinder aus Berlin
und anderen gefährdeten Orten, evakuierte man nach Ostpreußen. Trotzallem schallten die
Durchhalteparollen: Heil Sieg, Deutschland wird gewinnen.
Beurteilen konnten wir Jugendlichen das nicht, waren wir doch durch die „Hitlerjugend“ voll auf das
damalige System getrimmt.
In Ostpreußen ging es uns immer noch gut. Das Leben verlief in ruhigen Bahnen. Da gab es in der
Schule im Lyzeum eine Verordnung, die ich sogar nicht verstand. Täglich sollte jedes Kind ein Stück
Rohkost mitbringen und in der Schule vorzeigen und essen. Je nach Jahreszeit einen Apfel,
Mohrrüben, Wrucken oder dergleichen. Also, wenn das so ist, wirds gemacht, Kinder sind gelehrig und
gehorchen.
Eines morgens, die Schultasche stand fertig gepackt im Laden, Mutter hatte Kundschaft und unterhielt
sich angeregt, trotzdem rief sie mir zu:“Denk an die Rohkost!“ Ich flitze in die Küche, fand aber nichts
passendes, nur da stand ein Eimer mit geschälten Kartoffeln für das Mittagessen. Ohne zu überlegen
schnappte ich mir eine und verkündete naiv und laut meiner Mutter:“ Ich fand nichts, dafür nehm ich
heute eine Kartoffel zum Vorzeigen mit, das fällt überhaupt nicht auf.“ Ob meine Mutter vor lauter
Kundschaft diesen Satz gehört hatte oder nicht, weiß ich nicht mehr.
Jedenfalls meine geliebte Klassenlehrerin Studienrätin Fräulein Balzer, ältlich, mit einem
wunderschönen geflochtenem Haarkranz auf ihren klugen Kopf, übersah mein etwas verstecktes
Rohkoststück in der Hand.
Was tags zuvor so gut geklappt hatte, dachte ich mir, kannste noch einmal probieren. Diese
Rohkostgeschichte fand ich so wie so albern und unsinnig. Mein Frühstücksbrot genügte mir, und
zuhause gab es genug zu essen.
Aber Fräulein Balzer kontrollierte in der Pause genauer. Der Schwindel flog auf ich bekam einen
Verweis, meine Mutter eine Nachricht. Schon von weitem sah ich die strengen Blicke von Mutter.
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Ein bisschen schuldbewusst und kleinlaut beichtete ich. Merkwürdigerweise verlief das Donnerwetter
recht glimpflich ab. Sah ich da um die Mundwinkel meiner Mutter ein kleines Zucken ? Diese Kundin
vom Vortag hatte bestimmt eine Tochter im Lyzeum, den ging es wohl nicht so gut, was die Ernährung
betraf und deshalb verpetzte sie mich in der Schule.
Die Gründe erfuhr ich nie, aber nur so muss es gewesen sein, überlegte ich. Von nun an reichte mir
meine Mutter immer ein bisschen wissend lächelnd ein Frühstückspäckchen mit Rohkost. ich nahm es
dankend an.
Im Gegensatz zu vielen anderen Kindheitsgeschichten fällt mir zu „Weihnachten“ wenig ein. In der
Adventszeit bis zum Fest drehte sich alles um das Weihnachtsgeschäft. Freundlich, aber doch hektisch
breitete sich bei allen der Arbeitseifer aus. Für Lore und mich fanden die Eltern wenig Zeit.
Uns war das ganz recht, so konnten wir unbemerkt aus dem Haus entwischen um mit Freunden
draußen im Schnee herumzutollen. Natürlich freuten wir uns nun auf den Heiligabend, würden wir alle
Geschenke bekommen, die wir auf unsere Wunschzettel geschrieben hatten?
Am Heiligabend beeilte sich unser Personal besonders schnell mit dem Aufräumungs- und
Säuberungarbeiten, um dann mit wohlgefüllten Weihnachtstüten und guten Wünschen zu ihren eigenen
Eltern und Familien zu fahren.
Das Wohnzimmer war seit ein paar Tagen verschlossen, Vorfreude und Neugier wechselten sich ab,
was verbarg sich dahinter? Unruhig auf den Stühlen herumrutschend verspeisten meine Eltern mit uns
in aller Ruhe Kartoffelsalat mit Würstchen. Dann kann der erlösende, feierliche Moment.
Das Weihnachtsglöckchen erklang. Vater öffnete die Wohnzimmertür. Voll Staunen und Erwartung
erglänzte der Tannenbaum mit vielen Kerzen und bunten Kugeln. Der Schein der Lichter spiegelte sich
in unseren Augen wieder.
Heimlich wanderten die Blicke zum Gabentisch. Es gehörte zum Ritual, zuerst sangen wir gemeinsam
die bekannten Weihnachtsleider, wie: „Ihr Kinderlein komet, Vom Himmel hoch, Oh Tannenbaum und
wenn dann, Stille Nacht Heilige Nacht“ verklungen war und wir unsere gelernten Weihnachtsgedichte
aufgesagt hatten, began endlich die Bescherrung.
Da lagen die heißersehnten Stiefel mit fertig befestigten Schlittschuhen, ein Traum. Mütze, Schal und
Handschuhe im gleichen Muster. Kinderbuch „Heidi“, lag da. Aber das Abenteuerbuch von Elli
Beinhorn, die im Alleinflug die Welt umflogen hatte, erregte mein besonderes Interesse.
Über all die schönen Geschenke freuten wir uns riesig, mit leuchtenden Augen voller Dankbarkeit im
Herzen umschlangen wir unsere Eltern, die selbst etwas gerührt, uns an sich drückten. Wir spielten
noch ein paar Runden mit den neuen „Schwarzen-Peter-Karten“ oder dem Mühle- und Dame-Brett,
aber dann mahnten unsere müden Eltern ins Bett zu gehen.
Wie in jedem Jahr besuchte uns die Insterburger Verwandschaft am 1. Feiertag. Tante Therese, Mutters
Schwester, mit Hertha und Gertrud. Meine Mutter bereitete das Mittagessen vor, Rotkohl, Kartoffeln und
unseren geliebten Schokoladenpudding. Für Vater dagegen war es ein Privileg, nein, eine
Selbstverständlichkeit, den Entenbraten im großen Backofen zu braten. Sehr sorgfältig ging er dabei zu
Werke. Die mit Salz und Majoran gewürzten Enten mit reichlich Äpfeln gefüllt brieten in einer großen
Eisenbratpfanne. Öfters zog er mit dem Schieber die Pfanne heraus, um die Enten zu beschöpfen oder
zu drehen. Wenn ich wollte, durfte ich ihm bei diesem Ritual zuschauen. Ich stand mit Vater in der
Fußgrube des Ofens, sah in den Ofen und verfolgte aufmerksam, wie Vater geschickt, fast andächtig,
mit dem Entenbraten umging. Die Enten schmurgelten und bräunten in der Pfanne. Ein köstlicher
Geruch breitete sich im ganzen Haus aus, und ließ vor Freude einem das Wasser im Munde
zusammen laufen. Um uns das Warten auf das Essen zu verkürzen, liefen Lore und ich zum Bahnhof,
um den lieben Besuch vom Zug abzuholen. Die Enten waren braun und knusprig, das Mittagessen,
entwickelte sich zu einem fröhlichen Weihnachtsschmaus. Die Erwachsenen hatten sich viel zu
erzählen. Lore und ich zeigten den Cousinen stolz unsere Geschenke, tollten draußen im Schnee
herum, um anschließend in der warmen Stube, die neuen Spiele auszuprobieren. Beim Kaffeetrinken
stärkten wir uns erneut am süßen Mohnstritzel. Frankfurter Kranz und Marzipan, alles Genüsse, die es
fast nur an Weihnachten gab.
Wenn die Zeit des Abschieds nahte, begleitete die ganze Familie, die mit Weihnachtsgebäck gefüllten
Tüten beladenen Insterburger, zum Bahnhof.
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Noch lange winkten wir dem Zug hinterher. Zufrieden stampften wir durch den Schnee vorbei an den
hellerleuchteten Fenstern der Häuser in der Goldaper Straße, dem Alten Markt und der nun dunklen
Kirche nach Hause. In aller Ruhe und Gemütlichkeit klang der 1. Feiertag aus. Die leuchtenden Kerzen
am Weihnachtsbaum verbreiteten ein bezauberndes Licht, im Rohr des Kachelofens schmorten
durftende Bratäpfel und die wohlige Wärme in der Stube verströmte Geborgenheit.
Jetzt, während sich meine Gedanken an Kindheitserinnerungen im fernen Ostpreußen beschäftigen,
fallen mir so viele Dinge ein, die das Alltagsleben damals ausmachten. Wohlgemerkt, all das spielte
sich in den Kriegsjahren ab, trotzdem verlief das Leben völlig normal. Soldaten und
Wehrmachtsfahrzeuge beherrschten das Straßenbild, ebenso Parteileute in ihren braunen Uniformen
taten sich wichtig. Die Bevölkerung störte das wenig, jeder ging seiner Arbeit nach und hatte mit sich
selbst zu tun, sein Leben einigermaßen zu gestalten und satt zu werden.
Mein Vater ging jeden Tag nachmittags zum Frisör Sperling gegenüber, um sich rasieren zu lassen, um
anschließend beim Kaufmann Reschat „nabern“ zu gehen. Das hieß, sich mit anderen
Handwerksmeistern vom Kleinen Markt zu treffen, um bei einem Korn oder Bier die kleinen und großen
Ereignisse zu erörtern. Wir Kinder liefen oftmals durch den Torbogen auf Fleischers Sperlings großen
Hof, schauten in die Werkstätten der Wurstmacherei hinein, aber vielmehr interessierte uns eine
Familie, die Busch-Petersen hieß, die im Vorderhaus wohnte, Es war eine völlig normale Familie, mit
deren Kinder wir spielten, aber der Name erschien mir so exotisch, so ungewöhnlich, wie konnte
jemand Busch-Petersen heißen, woher kamen die ? Ein ostpreußischer Name war das keineswegs !
Die Parkstr. Richtung Schützenpark hatte viel zu bieten. Gleich an der Ecke, aus dem „Palmgarten“,
einer Kneipe hörten wir Kinder lautes Gegrölle oder Schimpfworte und so mancher uns bekannter
Mensch trokelte auf die Straße. Diese Ecke gefiel meiner Mutter gar nicht, wir sollten dort nicht herum
stehen. Dann gabs in der Straße einen Klempner, der Dachrinnen und Rohre mit stinkendem Blei
lötete. In der Tischlerei Theophiel, mit der Tochter war Lore befreundet, schaute auch ich gerne vorbei,
die nette Familie erlaubte uns sogar, in der Werkstatt zwischen den Sägespänen zu wühlen, natürlich
nur, wenn die riemenbetriebenen Maschinen abgestellt waren. Eine “Tischlerei“ erfuhr ich dabei, sei ein
gefährlicher Arbeitsplatz, aber es roch so gut nach Holz.
Die Waschtage müssen für unsere Mädchen und die angemietete Waschfrau eine wahre
Herausforderung gewesen sein. Im Nebengebäude auf dem Hof zwischen dem Kohlenkeller und dem
Aufgang zum Mehlboden befand sich die Waschküche mit dem großen zu beheizenden Waschkessel.
Berge von Wäsche sollten bearbeitet werden. In dem dampfenden Raum schwitzten die Frauen, ihre
Finger schrumpften von der scharfen Lauge zusammen und wirkten ganz erschöpft. Im Sommer
brachten die Frauen die großen Laken und Bezüge auf die „Bleiche“ auf eine Wiese in der Parkstraße,
neben der Gärtnerei Grumblat, einige Minuten von der Bäckerei entfernt. Die ausgebreiteten
Wäschestücke trockneten schnell in der heißen Sonne, darum eben um zu bleichen, wurden die Stücke
immer wieder mit Wasser besprengt. Oftmals durfte ich dabei helfen, denn so mancher kühler
Wasserspritzer aus der Kanne, landete auch gezielt auf meinen nackten Beinen. Vergnügen bedeutete
das allemal, dem Spritzer und mir. Nachdem die Wäsche, meistens Leinentücher, fein säuberlich
zusammengelegt war, ging es zum Mangeln in das große Wohnhaus neben dem Schützenpark. Im
Keller des Hauses stand ein mit Steinen beladener Kasten, ein Ungetüm, darunter ein langer Tisch.
Zwischen Kasten und Tisch lagen die Holzrollen, um die die Wäschestücke gewickelt wurden. Diesen
mechanischen Vorgang des Mangelns ist schwer zu beschreiben, jedenfalls bewegten die beiden
Frauen den Steinkasten hin und her, mitsamt den Wäscherollen, es knirschte ein bißchen auf dem
Tisch. Am Ende, welch ein Wunder, glatte sanftglänzende Wäsche trugen die Frauen nach Hause. Aber
noch etwas faszinierte mich an diesem Haus.
Am Haupteingang prangte ein weißes Emailleschild mit der Aufschrift: Barmer Ersatzkasse. Was
bedeutete das ? Immer wieder stand ich vor diesem Schild und rätselte, wagte aber niemand zu fragen.
Konnte jemand für die Erbarmung, um Ersatz bitten ? So etwas konnte ich mir beim besten Willen nicht
vorstellen! Heute bin ich selbst in der Barmer Ersatzkasse: meine Krankenkasse!
Noch etwas war typisch für die damalige Zeit. Gemüse aller Art, heimische Kräuter aus den Gärten
verwendeten die Hausfrauen reichlich in der ostpreußischen Küche. Eintöpfe mit viel Fleisch und den
diversen Kohlsorten bereicherten den Speiseplan. Eine Besonderheit leisteten sich die Leute an den
Sommersonntagen. Zum gebratenen Fleisch oder Klopse tischten sie grünen Salat oder Gurkensalat
auf mit dickem Schmand und einem Schuss Essig dazu, statt wie heute mit Zitrone. Erst sonntags
morgens liefen die Hausfrauen oder ihre Kinder in die Gärtnerei Grumblat, den frischen Kopfsalat oder
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die Gurke einzukaufen. Jeder durfte sich aus den großen Beeten den schönsten Kopf aussuchen, erst
dann schnitt ein Gehilfe den Salatkopf ab. Ebenso wählen durften die Kunden die Gurken im
Gewächshaus. Natürlich griff jeder nach der dicksten und längsten, der Preis war immer gleich.
Auch die Kinderfeste im Schützenpark wurden trotz des Krieges jährlich gefeiert. Die ganze Stadt war
auf den Beinen, dieses Spektakel wollte sich keiner entgehen lassen. Eine Kapelle mit zündende
Melodien führte den Umzug an. Lachende, fröhliche Kinder in ihren schönsten Kleidern, Blumenkränze
im Haar folgten der Musik, dahinter die stolzen Eltern. Wettspiele wurden veranstaltet.
Im Musikpavillon führten wir Kinder kleine Theaterstücke auf und sangen Volkslieder. Überall
schmückten bunte Fähnchen und Luftballons den Park. In den beiden länglichen Pavillons machten es
sich die Eltern bei Kaffee und Kuchen gemütlich, alle umgab ein freundliches Plachandern, Gerenne
und Getue! Der ganze Schützenpark geriet außer Rand und Band, bei der lauten Musik, dem
Kindergeschrei, der Lebensfreude. Auch andere Festivitäten feierten die Ebenroder gerne im
Schützenpark, aber was den Trubel und die Stimmung anging, das Kinderfest blieb unübertroffen.
Am unteren Ende der Parkstraße an der Einmündung der unteren Heinrich-Maria-Jung-Straße
bewirtschaftete auf einem großem Gelände eine Firma, der Name ist mir entfallen, einen
Getränkehandel mit riesigem Eiskeller. Eimal gelang es mir, einen Blick in diese unterirdischen eisigen
Kellergewölbe zu werfen. Riesige schwere Eisblöcke lagen übereinander gestapelt. Dort unten war es
so kalt, trotz der Sommerwärme auf dem Hof, rann nicht ein Wassertropfen über den Boden. Peinlich
genau achteten die Arbeiter darauf, das das große eisenbeschlagenen Eichentore stets geschlossen
gehalten wurde.
Diese Eisblöcke verkaufte die Firma an Betriebe, die schnell verderbliche Waren herstellten oder deren
Zutaten gekühlt werden mußten, vorzugsweise an Bäckereien und Fleischer. Einige Privathaushalte,
die es sich leisten konnten, besaßen natürlich so einen neuen Eisschrank. Die Handhabung war
einfach. Den angelieferten Eisblock, je nach Größe und Gebrauch, zerkleinerte man per Beil in kleine
Stücke, füllte diese in ein blechausgeschlagenes Seitenfach des Eisschranks. Im Hauptfach mit guter
Isolation und isoliertem Deckel kühlten die Waren sehr gut. Der einzige Nachteil bestand darin, täglich
mußten die Eisbrocken erneuert werden, denn wegen des Kühlvorgangs schmolz das Eis, das Wasser
lief durch ein Rohr in einen bereitstehenden Eimer. Heute basieren unsere Kühlschränke auf einem
anderen Prinzip, aber der Eisschrank bleibt Vorreiter der Kühlverfahren. Übrigens: In den eiskalten
Wintertagen froren die Seen und Bäche in Ostpreußen sehr schnell zu, dicke bis 40 cm und mehr
Eisflächen bildeten sich. Mit Sägen und großem Aufwand transportierten die Arbeiter die „geernteten“
Eisblöcke per Pferd und Wagen in die dafür vorgesehenen Eiskeller.
Mit besonderer Freude denke ich an die Ausflüge und Ferienzeiten in Ostpreußen zurück. Wohin es
auch ging, mir fällt immer nur Sonnenschein, Heiterkeit und Ausgelassenehit ein. An Sonntagen liebte
es mein Vater, die Gegend und bekannte Ausflugsziele zu erkunden. Mit Pferd und Wagen gings den
steilen Berg nach Kattenau hinauf. Entweder fahren wir nach Kummeln zur Verwandschaft oder durch
das urige, für mich etwas verwunschene Packledimmer Moor, um gegen Abend über die Dörfer wieder
Ebenrode zu erreichen.
Die wunderschönen Orte, die etwas weiter weg von zu Hause lagen, erreichten wir mit der Eisenbahn.
Das Bahnnetz damals war so gut ausgebaut, die Züge hielten fast an jedem Ort, oder nur wenige
Kilometer davon entfernt.
Ich erinnere mich an die Ausflüge an den Wystiter See oder Marinowo See, in der Rominter Heide.
Herrliche, beschauliche Dörfer, Wälder und Seen zogen an den Abteilfenstern vorbei. Entzückend dabei
anzusehen, wie rotgedekte Bauernhöfe sich in die hügelige Landschaft anschmiegten. Gut bestellte
Roggen-, Gerste- und Haferfelder wiegten sich im Wind. Weite Kartoffelfelder dehnten sich aus. Die
saftigen, grünen Weiden, auf denen sanfte, schwarzbunte Küche friedlich grasten, reichten bis zum
Horizont.
Die ganze Familie, manchmal begleiteten uns Freunde oder Verwandte, genossen diese Touren durch
die traumhafte, ostpreußische Gegend mit dem unvergesslichen hohem blauem Himmel.
Oftmals unternahmen wir Wanderungen durch Wald und Flur. Stille und Einsamkeit ließen das
Geplapper verstummen, nur die Vögel zwitscherten und so mancher Sonnenstrahl verirrte sich durch
das grüne Blätterdach.
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Irgendwo an einem Zielort wurde Einkehr gehalten. In vielen Landgasthöfen warteten die Wirte nur
darauf, fröhliche Ausflügler mit leckerem Kuchen und Kaffee, Bier und Limonade zu versorgen.
Es war noch vor dem Krieg, daran kann ich mich lebhaft erinnern, fuhren meine Mutter, Lore, ich und
Cousine Herta jedes Jahr in den Ferien zur Sommerfrische nach Sorgenau bei Palmnicken an der
Samlandküste.
Gerne vermieteten die Fischersleute ihre Zimmer und großen Veranden an die damals zahlreichen
Sommergäste. Wir kannten „unsere Familie“ inzwischen sehr gut und wurden immer freundlich
willkommen geheißen. Für uns Kinder begann eine ausgelassene Zeit. Am weißen, feinkörnigen
Sandstrand bauten wir eine Burg, belegten den Wall mit all den gesammelten Muscheln und formten
daraus Namen oder den Ortsnamen der Heimatstadt. Burg an Burg schaufelten sich die Leute zum
Zeitvertreib ihren Besitzstand. Bunte Fähnchen flatterten im Wind, der lange Strand leuchtete in allen
Farben. So freizügig wie heute ging es dabei nicht zu. Hochgeschlossene aber bunte Badeanzüge
verhüllten den Körper. Arme, Beine, Kopf blieben der gleißender Sonne unbedeckt ausgesetzt. Welch
ein Vergnügen in die Wellen zu springen. Die Gischt schäumte auf, die Füße versanken in dem
rollendem Sand, der immer an den Strand schlagenden Wellen. Mutter paßte auf uns auf, damit wir uns
nicht zu weit in die Fluten wagten. Ebenso schön erschien uns die Ostsee, wenn der Wind nachließ,
das Wasser ganz ruhig an Land spülte, und wir schwimmen konnten. Die Strandfreuden und die
Badeerlebnisse überwogen bei weitem unserem Aufenthalt in Sorgenau. Aber auch die Spaziergänge
oberhalb der Steilküste und in den umliegenden Wäldern begeisterten uns sehr, dazu die fantastischen
Sonnenuntergänge über der glitzernden Ostsee. Vater besuchte uns an jedem Wochenende, brachte
Kuchen und leckere Köstlichkeiten mit, aber um so mehr überschlugen wir uns vor Freude, ihm von all
unseren überwältigen Unternehmungen zu erzählen. Noch etwas war neu für uns. Die fangfrischen
Flundern hängten die Fischer in ihren speziellen Öfen zum Räuchern. Spannend verfolgten wir diesen
Vorgang, wenn danach die goldgelben Flundern zum Kauf angeboten wurden. Herrlich, dieser
Geschmack, dieser Geruch, diese Frische! Vater nahm immer ein paar dieser geräucherten Fische von
seinen Besuchen mit nach Hause.
Aber immer wieder verlockend und spannend, von Jahr zu Jahr, verlebte ich Ferien in Mecken. Auf dem
Bauernhof gabs so viel zu entdecken, Tante Martha übertrug mir kleine Dienstleistungen, die ich gerne
übernahm. Barfuß brachte ich „Kleinmittag“ für die Knechte aufs Feld, die entweder je nach Jahreszeit,
pflügten, eggten oder Mist streuten. Das reife Korn mähten und zu dicken Garben banden, um sie
später zu Hocken aufzustellen. Picksig und unangenehm empfand ich den Weg über die Stoppelfelder,
aber bald fand ich einen Trick heraus, um einigermaßen heil den Leuten das Frühstück zu bringen. In
manchen Jahren durfte Herta aus Insterburg mit nach Mecken kommen, oder ein mir unbekanntes,
gleichaltriges Mädchen aus der weitläufigen Verwandtschaft, sollten mir ein wenig Gesellschaft leisten.
Diese Wendung kam mir sehr entgegen, nun war nicht nur die „Senta“, mein Spielgefährte, sondern
auch Herta oder Elisabeth Rasem, begleiteten unsere fröhlich Zeit.
Ich muß zugeben, manchmal hatte ich Heimweh nach zu Hause, weil es in Mecken, nur 2,3 Gehöfte
aber keine Kinder gab.
Kühe hüten empfanden wir als langweiliges Geschäft. Nicht alle Weiden und tiefe
Entwässerungsgräben waren eingezäunt, mußten aber abgegrast werden. Darum paßten wir auf, das
die dummen Rindviecher nicht in die umliegenden Felder liefen oder die Kartoffeläcker zertrampelten.
Wir dösten im Gras, alberten herum, ließen uns die Sonne auf den Bauch scheinen und schauten in
den blauen Himmel. Als ob die Viecher unsere Unaufmerksamkeit ahnten, nahmen sie „Reißaus“ und
genau dahin, wo sie nicht hin sollten. Mit viel Geschrei und Arme fuchtelnd hatten wir Mühe, die Herde
wieder zusammen zu bringen.
Auf dem Land heizten die Bauern im Winter die Stuben fast ausschließlich mit Torf und Holz. Onkel
Richard besaß eine Torfgrube, aus der jedes Jahr Torf gestochen wurde. Wir Kinder waren dabei
unerwünscht, denn leicht hätten wir in den weichen, matschigen Bode einsinken können, oder in die
wässerige Grube fallen. Aus sicherer Entfernung verfolgten wir dieses Spektakel. In langen Reihen
wurde die Torfmasse auf die Grasnarbe gestrichen. Nach einigen Tagen der Trocknung durch die
Sonne, schnitten die Männer die langen Streifen in 30 cm dicke Stücke, um diese nach der
nochmaligen Trocknung zu Haufen aufzuschichten, bis der Wind und die Sonne die Scheite zu
steinharten Briketts austrocknete. Welch ein mühseliger Arbeitsaufwand, die Männer und Frauen
arbeiteten nur barfaß, immer mit nassen Füßen. So interessant und lehrreich ich auch Torfstechen
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fand, gewundert habe ich mich doch, für die Beheizung unseres Backofens schaufelten der
Kohlehändler ganze Wagenladungen in den Brikettschuppen.
Wenn im Sommer in Mecken die Erntezeit begann, wollte ich zu den Verwandten auf den Hof. Emsiges
Treiben herrschte dort. Die großen Leiterwagen wurden in Stand gesetzt, die Axen nochmals neu
geschmiert und eventuell ein paar Erntehelfer besorgt. Das trockene Getreide mußte so schnell wie
möglich in die Scheunen gebracht werden, denn bei der Sommerhitze könnte plötzlich ein Gewitter
losbrechen, Regen und Sturm die Ernte mindern.
Nachdem die Pferde an die Leiterwagen angespannt waren, Knechte und Helfer auf die Wagen
kletterten, ich dazwischen, gings nach einem prüfenden Blick, Forken, Rechen alles da, hinaus aufs
Feld. Hocke für Hocke wurde angefahren, Garbe für Garbe stakten die Männer auf die Leiterwagen, wo
oben ein oder zwei Mägde die Garben säuberlich verteilten um das Gleichgewicht zu halten.
Meine Aufgabe hieß: “Weiterfahren“. Stolz übernahm ich den Dienst. Wenn Garben einer Hocke auf
dem Wagen verstaut waren, trieb ich mit den Zügeln die Pferde an, den Wagen zur nächsten Hocke zu
ziehen. Die Tiere hatten es nicht immer leicht, so aus dem Stand die schwerer werdenen Wagen weiter
zu bewegen. Tagelang, bei schweißtreibenden Temperaturen schufteten Männer und Frauen, die Ernte
in die Scheunen zu bringen, Der letzte hochbeladene Leiterwagen stand abfahrbereit, Onkel Richard
übernahm die Zügel, mich hoben die Männer lachend zu ihm hoch. Gemächlich zogen die müden
Pferde die schwanken Fuhre über die staubigen Feldwege zum Hof. Fröhlich plapperte ich hoch auf
dem Wagen mit dem etwas mürrischen Onkel. Plötzlich gab es einen Ruck, eine kleine Erschütterung.
Sackte da ein Rad weg, war da ein Loch in der Straße ? In Sekundenschnelle neigte sich die ganze
Ladung, die Garben rutschten eine nach der anderen zu Boden. Onkel Richard und ich fielen aus
beträchlicher Höhe den Garben hinterher. Ein wenig Angst machte sich breit, denn die halbe
Wagenladung stürzte über uns. Der Anblcik dieser Situation muß schrecklich bedrohlich ausgesehen
haben. Schimpfend befreite sich Onkel Richard. Mich fand er wohlbehalten zwischen den harten,
picksenden Garben. Ich sprang quieckend durch die ganze Bescherung, das war doch mal ein lustiges
Erlebnis. Onkel Richard zetterte herum, da hat doch einer beim „Beladen“ geschlafen. Die
Aufräumarbeiten raubten auch den müden Knechten den letzten Nerv. Der ersehnte Feierabend war
Futsch. Zum Glück verlief dieser Vorfall glimpflich, es hat ähnliche Unfälle gegeben, dabei scheuten die
Pferde und gingen durch.
Die meisten jungen Bauernsöhne erhielten in den Kriegsjahren den Einzugsbefehl zur Wehrmacht.
Dadurch wurden die Arbeitskräfte auf den Höfen knapp. Polen und Frankreich war besiegt, andere
europäische Staaten besetzt, die deutsche Reichsführung internierte junge Männer und Mädchen aus
diesen Ländern zur Zwangsarbeit in der Industrie und Landwirtschaft. Auf den Höfen standen von nun
an nur ausländische Arbeiter zur Verfügung, die oftmals zu Spannungen führten. Teils aus Hass wegen
der nicht gerade freundlichen Behandlung der Menschen, zum anderen wegen der
Sprachschwierigkeiten. Das bedeutete, diese Internierten waren auf Gedeih und Verderb der Willkür
der deutschen Herrenmenschen ausgesetzt.
Sie schufteten ohne Unterlaß, zum Teil auch unter Gewaltandrohung. Die Temperaturen kühlten ab, der
Himmel bedeckte sich, allmählig begann es Herbst zu werden. Die Kartoffelernte stand bevor, ich hatte
Herbstferien und wollte unbedingt nach Mecken Kartoffeln sammeln.
Begeistert machte ich mich in Begleitung meines Vaters mit dem Fahrrad auf den Weg. So hektisch wie
bei der Getreideernte ging es nicht zu. Säcke und Körbe standen bereit. Die jungen Polen lungerten
noch am Straßengraben herum. Inzwischen fuhr Onkel Richard mit dem Pflug die langen
abgetrockneten Kartoffelreihen ab, um durch das Umbrechen der Erde die Kartoffeln sozusagen
„auszugraben“.
Nun liefen die jungen Leute bückend, oder auf den Knien robbend hinterher, um die Kartoffeln je nach
Größe, in Körbe zu sammeln und in die bereitstehenden Säcke zu füllen. Mir machte es einen
Heidenspaß, dabei zu sein und mit den Mägden um die Wette zu sammeln. Für mich bestand ja nicht
unbedingt der Zwang, möglichst viele Säcke zu füllen. Trotz der schweren Arbeit kam der Spaß nicht zu
kurz. Wir machten Blödsinn, lachten, bewarfen uns mit Kartoffeln, wenn Onkel Richard mit seinem
Pflug ausser Reichweite war. Sprachschwierigkeiten spielten keine Rolle, ich verstand sie kaum, aber
lernte dabei so manches polnische Schmipfwort. Mir gegenüber zeigten sich die Polen freundlich, aber
hinter manchen Gesten verbarg sich heimlicher Zorn.
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Die schönste Belohnung für all die Tagesmühen bestand für mich darin: „Kartoffelbraten“. Die Jungs
harkten die trockenen Kartoffelstrunken zu einem Haufen zusammen, daraus entstand ein loderndes
Feuer, bis nur noch die heiße Glut qualmte und die hineingeworfenen Kartoffeln garten. Bevor der letzte
beladene Wagen das Feld verließ, verspeisten wir diese vortrefflichen Bratkartoffeln.
In einem Sommer, ich mag „Elf“ gewesen sein, verkündeten die Eltern, Tante Bertha, Mutters
Schwester, Gemeindeschwester in Nikolaiken, läd mich zu Besuch ein. Ich war Feuer und Flamme. Die
Eltern warnten, keiner hätte Zeit, mich zu begleiten. Selbstbewußt bestand ich darauf, alleine zu fahren,
schließlich wäre ich oft genug von Ebenrode nach Insterburg mit dem Zug zu Tante Therese gereist.
Bestimmt zögerten meine Eltern, sollten sie es wagen, mich alleine auf die Reise zu schicken ? Nach
Nikolaiken zu kommen war nicht einfach, denn ein dreimaliges Umsteigen verlangte schon Mut und
Zutrauen für ein Kind. Trotz aller Bedenken willigten die Eltern ein, sie setzten Vertrauen in meine
Fähigkeiten.
Mit meinem Köfferchen, genügend Taschengeld, darauf legte Vater großen Wert, den Fahrplan in der
Tasche und mit Proviant eingedeckt, brachte mich einer zum Bahnhof. In Insterburg, die Eltern hatten
vorher abgesprochen, das mich eine meiner Cousinen, Herta oder Gertrud in Empfang nahm, um mich
in den Zug nach Rothfließ zu setzten. Fröhliches Winken versetzt mich in Reisefieber, von nun an
musste ich alleine fertig werden. Kein bißchen Angst spürte ich, kaum jemand nahm Notiz von mir, ab
und an schaute der lächende Schaffner vorbei. In Rothfließ stand mein Anschlußzug nach Sensburg
bereit, trotzdem fragte ich freundlich nach, ob das auch der richtige Zug sei! Meine Zuversicht stieg,
allein zu reisen war doch eine feine Sache. In Sensburg hatte ich dann auch kein Problem mehr in den
Zug nach Nikolaiken umzusteigen. Mein Herz schlug höher, Freude erfaßte mich, der Zug schlängelte
sich an Felder, Wälder und glitzernden Seen vorbei im Gleichklang mit den ratternden Rädern. In
Nikolaiken nahm mich Tante Bertha in Empfang und lobte meine gute Ankunft. Die ersten Eindrücke
dieses zauberhaften, still am See gelegenen Masurenortes nahm mich gleich gefangen. Vom Bahnhof
an der großen Mühle und der Kirche vorbei, wanderten wir in den hübschen Stadtkern. Kleine, bunte
Häuser, mittendrin der Marktplatz, säumten die hügeligen Straßen. Hier sah alles so anders aus, keine
Hektik, kein Verkehr, ein paar Leute grüßten Tante Bertha, ein Hund bellte und doch schien mir der
Weg zu ihrer Wohnung sehr weit und anstrengend. Schöne beschauliche Tage folgten, Tante Bertha
wurde oft zu ihren Patienten in der Stadt und auf dem Land gerufen. Meistens machte ich mich alleine
auf Entdeckungstour. Der friedliche Segelhafen zog mich an, Möwen kreischten, es gab
Sommerfrischler, die die Sonne, die Ruhe und Behaglichkeit genoßen. Nikolaiken zeigte sich als
Erholungsort von seiner besten Seite. Verzückt sah ich den weißen Ausflugsdampfern nach, die in
Richtung Spirding See unterwegs waren. Die Seen, Kanäle der Masurischen Seenplatte sind alle
miteinander verbunden. In Nikolaiken an einer sehr schmalen Stelle überspannte eine Bogenbrücke
den Wanderweg und genau dort, an einem Pfeiler angekettet, schwamm der legendere Stinthengst mit
goldenem Krönchen auf dem Kopf. Immer wieder zog es mich an diesen Ort, und beflügelte meine
Fantasie. Leider ist heute Nikolaiken zu einem Jahrmarkt verkommen. Die Idylle und Beschaulichkeit
der damaligen Zeit gibt es nicht mehr. Der Commerz, hier und dort vernichtet überall die Schönheit der
Natur.
Nach Insterburg fuhren wir in all den Jahren gern und oft. Lore pendelte im Krieg mit dem Zug täglich
zwischen Ebenrode und Insterburg hin und her, um in der „Klopsakademie“ in der Wilhelmstraße,
hauswirtschaftliche Kenntnisse zu erlernen und zu praktizieren. So manches „Fresspaket“ lieferte sie
dabei bei Tante Therese ab, um deren Ernährung zu verbessern.
Auch, so erzählte Lore, hätte sie so manchen Spaß im Zug gehabt, wenn die jungen Landser von der
Ostfront ihren wohlverdienten Heimaturlaub mit dem vom Vaterland gesponserten Flasche Sekt
feierten.
Mir bereiteten die Insterburgfahrten großes Vergnügen. Tante Therese erlaubt mir großzügigerweise die
Stadt zu erkunden, stets mit der Warnung verbunden pünktlich, zum Essen zurück zu sein, und sich
nicht von fremden Leuten ansprechen zu lassen.
Der Alte Markt mit den vielen großen Geschäften und der Lutherkirche weckten mein Interesse. Hinter
der Kirche führte eine große Treppe hinunter zur Angerapp, über die sich eine gemauerte Bogenbrücke
spannte.
Abends freute ich mich darauf, Herta von ihrer Lehrfirma „Heiser“, am Alten Markt, ein Porzellan- und
Eisenhandel, abzuholen. Nach dem Abendbrot wanderten wir über die Hindenburgstraße, die
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Schluchten, ein hügeligen Wald und Erholungsgebiet entlang der Angerapp, in das für mich riesige,
moderne Schwimmbad zum Baden.
Welch eine Freude, sich im Wasser zu tummeln, wir beiden Wasserratten! Oft unternahmen Hertha, ich
und als Aufsichtsperson, die ältere Cousine Gertrud, die bei der Baustoffhandlung Osterroth als
„Chefin“ arbeitete, weil die Männer Wehrdienst leisteten, im Abendlicht ausgedehnte Spaziergänge
rund um den Schloßteich. Oftmals boten Gertrud und Herta mir an, Eis essen zu gehen auf der
bekannten, eleganten Terrasse der Konditorei Dünkel. Unter den sonnenschützenden Markisen
entfaltete sich behagliche Gastlichkeit und Wohlgefühl.
Ein besonderes Ereignis im Sommer oder Herbst 1943 haftet immer noch in meinem Gedächtnis, die
Reise nach Memel. Gertrud und Herta wollten ihren Vater und Frau Lina in Baugskorallen bei Memel
besuchen, die dort an der Kleinbahnstation eine Gaststätte bewirtschafteten, und wollten mich
mitnehmen.
Wie schon oft, stimmten meine Eltern zu. Natürlich sparten sie nicht mit Mahnungen und Ratschlägen,
mich gut zu benehmen, andersfalls würden weitere Reisen untersagt. Mit einer Menge „Brotmarken“
und genügend Taschengeld, fing die Reise in Insterburg an, das Rattern des Zuges nach Tilsit erhöhte
meine Spannung. Mulmig wurde mir bei der Bahnfahrt über die mächtige Eisendreibogenbrücke über
dem Memelfluß. „Oh, die wird doch nicht unter der schweren Zuglast zusammenbrechen ?“ dachte ich
bang. In Heydekrug machten wir Zwischenstation, bei einer anderen Tante Martha, um gut gestärkt
nach Baugskorallen weiter zu reisen.
Anmerkung: Der Eisenbahnverkehr während des ganzen Krieges rollte fahrplanmäßig und reibungslos
in Ostpreußen und durch das ganze Reich.
Fast jeden Tag bummelten wir mit der Kleinbahn nach Memel in die nördlichste Hafenstadt
Deutschlands. Die Marine war überall präsent, aber der Charme dieser idyilischen Stadt am großen
Marktplatz direkt an der Hafeneinfahrt gelegen, blieb erhalten. Wir streiften durch die Stadt. Schauten
das Theater mit dem davorstehenden „Ännchen von Tharau“ Brunnen an. Bewunderten die riesigen
alten Packhäuser, Speicher und den Leuchtturm. Die beschauliche Altstadt mit all den geschmückten
Häusern in den engen Gassen, Stockrosen neben den Haustüren, die prachtvolle Post und der
Skulpturenpark vermittelte eine friedliche Welt. Mitten durch die Altstadt von Memel floß gemächlich die
Dange ins Memelner Tief, also ins Kurische Haff. Dort am Ende befand sich eine Fähre, die Menschen
und Material über das Tief auf die Kurische Nehrung brachte. Diese Gelegenheit auf die Dünennehrung
zu fahren, um Schwarzort und Nidden anzuschauen, haben wir damals leider verpasst! Warum? Ich
kann es nicht erklären! Schade! Vielmehr bummelten wir durch die Stadt und am Hafen entlang, die
hübschen Geschäfte mit den Bernsteinauslagen und die kleinen Cafés zogen uns magisch an.
Eines Tages drucksten Gertrud und Herta herum, sie wollten in Kino gehen, aber wohin mit mir? Ihren
Vorschlag mich in einem Café warten zu lassen, fand ich sehr verlockend. Beide fühlten sich bei dem
Gedanken nicht sehr wohl, aber die Aussicht auf einen Kinobesuch überwog ihre Bedenken.
Für mich waren es die schönsten Stunden, damals in Memel. Ich fühlte mich wie eine Dame von Welt.
Bestellte Getränke, ein Stück Torte nach der anderen, blätterte in bunten Zeitschriften. Die Wartezeit
verlief wie im Fluge. Auf diese Weise kam jeder zu seinem Vergnügen.
Obwohl die Wehrmacht im Osten auf dem Rückzug war, die Erfolge spärlicher, verstärkte sich die
Propaganda von Goebels: „Sieg Heil - Der Endsieg wird unser sein!“. Die Bevölkerung jubelte längst
nicht mehr so optimistisch, jeder mußte Härten ertragen oder den Tod von Vater und Söhnen beklagen.
War es aus Sorge um unser Wohlergehen oder um uns zu ermutigen, ich weiß es nicht, mein Vater
schmiedete zukunftsweisende Pläne. Er wollte die Bäckerei vergrößern, vielleicht ein Café dazu!
Er stellte Lore und mir Reisen und Ausflüge in Aussicht nach Rügen auf die Nehrungen, oder wohin
auch immer. Obwohl Lore lange schon zum Ernteeinsatz oder sozialen Diensten eingeteilt war. Noch
litten wir in Ebenrode keine Not. Es gab genug zu Essen. Im Lyzeum lernte ich fleißig und machte mir
keine Sorgen um die Zukunft.
Aber der 20. Juli 1944 erschreckte die ganze Nation. Das Hitlerattentat im Führerhauptquartier in
Rastenburg gleich um die Ecke bei uns in Ostpreußen. Niemand wußte etwas von diesem
kriegerischen Standort. Teils Empörung, teils Befreiung, was bloß nicht laut werden durfte, machte sich
breit. Nun wurde es auch in Ostpreußen gefährlich. Am 1. August 1944 durchbrachen Kampfeinheiten
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der Russen die deutsche Ostgrenze bei Eydtkuhnen und Wirballen. Eiligst verließen die Bauern im
Grenzgebiet mit den schon seit Tagen gepackten Wagen ihre Höfe. Wer die Möglichkeit hatte, flüchtete
aus Ebenrode. Wir und die Mecker-Wagen fuhren gerade mal bis Kummeln bei Kattenau.
Unter Aufbietung aller Streitkräfte schlug die deutsche Wehrmacht diesen Angriff zurück. Pflichtbewußt
wie mein Vater war, kehrte er tagsdarauf nach Ebenrode zurück, die dagebliebene Bevölkerung mußte
doch versorgt werden. Ebenso die Bauern fuhren zu ihren Höfen zurück, die Kühe brüllten vor
Schmerz, sie wollten gemolken werden. Trotz scheinbarer Gelassenheit breitete sich unter den
Menschen Unruhe aus. Aus der Ferne hörten sich die Kampfhandlungen beängstigend an.
Donnergrollen Tag und Nacht, mit Fliegeralarm verbunden.
Die Evakuierung war verboten, keiner durfte die Heimat verlassen, immer noch gaukelten die Behörden
den Bewohnern vor, es bestehe keine mittelbare Gefahr. Waren die Menschen diesem Regime blind
verfallen? Es wagte keiner sich dagegen aufzulehnen, noch Eigenverantwortung zu übernehmen.
Zwischen Bangen und Hoffen vergingen ein paar Wochen. Unbemerkt startete die russische Armee
einen Großangriff auf die gesamten ostpreußischen Grenzen im Oktober 1944 und erreichten bald
Ebenrode. Ungeheuerliche Panik brach aus. Die Devise lautete nun auch ohne Parteizustimmung:
Rette sich wer kann.
Unter dramatischen Umständen flüchtete unsere Familie am 17. Oktober 1944 aus unserer Heimatstadt
Ebenrode, Ostpreußen.
Alles ging so unvorbereitet schnell, nicht einmal die Zeit blieb, Brote aus dem Backofen zu ziehen und
die Feuerung zu löschen. Eine Lokomotive pfiff schrill und unaufhörlich. Die Menschen verstanden
diesen Ruf, Granaten schlugen bereits in der Stadt ein. Überstürzt rannten wir zum Bahnhof und
erreichten gerade noch den allerletzten Zug.
Unwiederbringlich endete abrupt meine so sorgenfreie, glückliche Kindheit.
Voll Dankbarkeit und innerer Freude denke ich an meine lieben Eltern zurück. Durch ihre Wärme,
Fürsorge, Weitsicht, auch durch ihre Tatkraft erzogen sie mich und meine Schwester zu brauchbaren
Menschen. Die Eltern erst ermöglichten und schenkten uns eine wunderbare harmonische Kindheit.
Wir sind behütet und frei von Vorurteilen, aber auch zur Sparsamkeit aufgewachsen. Diese
Eigenschaften machten uns für das Leben zu ehrlichen, selbstständigen, pflichtbewußten Menschen.
Diese Tugenden bin ich mein Leben lang treu geblieben.
Die Erinnerung an meine Eltern trage ich voller Ehrfurcht,
Liebe und Dankbarkeit in meinem Herzen.
Ostpreußen-Ebenrode-Stallupönen (Heute Nesterov)
ist und bleibt immer meine Heimat.
Danke! Käte Tober geb. Baltruschat
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