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Inhaltsverzeichnis
• Vorwort
• Repression
• Abschiebepraxis und Verwaltungsehre
• Kaindl-Prozeß
• Abschiebehaft
• Betr.: Abschiebungshaft
• Flüchtlingsrat an Nds. Justizministeriurm .
• Antwort Nds. Justizministerium
• Das Monotone Gefängnis"
• An den Rändern der Verfassung
• Richter: Zellen menschenunwürdig
• Aufruf zur Entzäunung" in Worms
• Abschiebungen
• Ein Knast ist doch kein Wartesaal
• BGS im Einsatz gegen Kinder...
• Erweiterte Altfallregelung gefordert
• Nachträglich auftauchende Abschiebungshindernisse,
• Bund und Länder: Wir sind unzuständig.
• Abschiebungsstatistik.
• Junge türkische Familie soll sich für ein Jahr trennen
• Bürgerkriegsflüchtlinqe
• Fachtagung Flüchtlinge in Europa'
• Armenier
• Pfarrer Wallbrecht (Jena
• UNHCR-Stellungnahme
• Bürgerkriegsflüchtlinge in Goslar
• Länderberichte
• SRI LANKA
• Kirchenasyl
• Broistedter Gemeinde
• Kirchenasyl - wer trägt die Verantwortung
• ZASten
• Konzept des Nds. MI Abt.41
• Fragen des Flüchtlingsrats an Ml
• Grundsatz-Artikel
• Der Irrweg des Nationalismus
• Nation und Republik
• Der Tod eines Flüchtlings
• Totenquoten gibt es nicht
• Der Flüchtling - Sicherheitsrisiko Nr.1...........
Nds. Flüchtlingsrats-Rundbrief 24/94
3
Ein Wort zuvor
Von kleinen Schreibtischen:
Zwei Jahre lang schleppte sich die im Bürgerkrieg kriegsversehrte und beinamputierte Frau D.
(s. Titelbild) mit primitiven Krücken auf einem Bein durch das niedersächsische Gastland, weil
das zuständige Sozialamt die 173,- DM zur Anpassung der neuen Prothesen verweigerte. Das
Sozialamt? - Nein, nicht das "Amt" hat verweigert, hinter dem Schreibtisch sitzt ein Mensch mit
Namen und Adresse, dem ich ähnliche Erfahrungen mit seinesgleichen nicht wünsche. Die
Primitivkrücke heißt im orthopädischen Geschichtsbuch übrigens "Deutsche Achselstütze". Frau
D. wurde geholfen durch die Tatkraft einer Frau, die nicht weggesehen hat und durch den
niedersächsischen Behindertenbeauftragten. Von einem anderen Herrn hinter einem
Schreibtisch in einem anderen Amt hat Frau D. nun die Rückkehraufforderung in die Sicherheit
des Probe-Embargos erhalten.
Von großen Schreibtischen:
Am 25.11.94 tagt die Innenministerkonferenz in Magdeburg. Die norddeutschen Flüchtlingsräte
organisieren länderübergreifend mit PRO ASYL eine Mahnwache, um das "Kartell der
Verantwortungslosigkeit" öffentlich gebührend zu begleiten.
Am Tag der Menschenrechte, 10.12.94, wird der Abschiebeknast in Worms "entzäunt" (S.53ff),
eine "Gefangenenbefreiung" in Fortsetzung des Tag X. Ich hoffe, wir sehen uns dort.
VG Hannover: Belgien ist kein „sicheres Drittland“
Das Verwaltungsgericht Hannover hat am Samstag, den 12.11.1994 in letzter Minute die
Zurückweisung zweier togolesischer Flüchtlinge Flüchtlinge nach Brüssel mit der Begründung
gestoppt, in Belgien hätten die Flüchtlinge voraussichtlich kein faires Asylverfahren zu erwarten.
Weitere Informationen auf S. 8.
Letzte Meldung: Abschiebungen nach Rest-Jugoslawien sind trotz Aufhebung des Embargos
z.Zt. nicht möglich! Die Jugoslawische Republik verweigert die Aufnahme der Flüchtlinge,
solange kein Rückübernahmeabkommen abgeschlossen ist.
Mit herzlichen Grüßen von der Redaktion
George
8
Nds. Flüchtlingsrats-Rundbrief 24/94
Zu diesem Kapitel kann und will ich mangels
Erfahrung keine Aussagen machen. Als
Dachverband von Initiativen führen wir keine
unmittelbare Beratung durch. Im übrigen haben
lokale Gruppen aus Niedersachsen offenbar ähnlich
wenig Lust und/oder große Schwierigkeiten, auf
diese Frage/n zu antworten, wie wir: Unsere
Anfragen bei anderen Initiativen blieben bislang
ergebnislos.
5. Sonstiges
Es gibt keine uns bekannten Berichte aus
Niedersachsen über gewaltsam ausgetragene
Konflikte zwischen den verschiedenen
Flüchtlingsgruppen aus Ex-Jugoslawien. Der
Bürgerkrieg hat jedoch zu einer weitgehenden
Separierung der Gruppen geführt - jugoslawische
Zentren o.ä. gibt es unseres Wissens nirgendwo
mehr.
Auf örtlicher Ebene gibt es natürlich eine Reihe von
Selbstorganisationen (Behar - muslimische
Gemeinde, Bosnienvereine, Hilfe für Bosnien,
Kosovo-Albanische Opposition, ...), die jedoch
selten öffentliches Gehör finden. Insbesondere die
bosnischen Flüchtlinge aus Göttingen (Kontakt über:
Beratungszentrum für Flüchtlinge, Tel. 0551-55766)
beschweren sich zunehmend über ihre fehlende
Perspektive (keine Anwendung des § 32a AuslG zur
Schaffung eines B-Status, keine
Einwanderungsperspektive, ...). In Goslar sind die
aus Süddeutschland im Rahmen eines
„Lastenausgleichs“ aufgenommenen ca. 300
bosnischen Flüchtlinge aus Protest gegen ihre
Lebensbedingungen (ehem. ZASt-Außenstelle) in
den Hungerstreik getreten.
Kroatische Flüchtlinge finden sich zu unserer
Überraschung weitestgehend mit ihrem Schicksal ab
und verlassen in großer Zahl die Bundesrepublik.
In der Hoffnung, Euch weitergeholfen zu haben,
verbleibe ich mit herzlichen Grüßen
Kai Weber
Ein Knast ist doch kein Wartesaal
Belgien kein „sicheres Drittland“ / Auch am Flughafen in Hannover
kommt jetzt die sog. „Drittstaatenregelung“ zur Anwendung
Freitag nachmittag den 11.11.94 um 15 Uhr kam,
unmittelbar vor Abschluß der neuesten Rundbrief Redaktion und damit höchst ungelegen, ein
Brandanruf der Sozialarbeiterin Ingrid Frank aus der
JVA Hannover beim Flüchtlingsrat:
Zwei Togo-Flüchtlinge waren am Donnerstag, den
10.11.94 unmittelbar nach ihrer Ankunft am
Flughafen von der Grenzschutzstelle festgenommen
worden. Begründung: Die beiden Flüchtlinge, die
auf ihrem Flug von Lome nach Hannover in Brüssel
umgestiegen waren, hätten im „sichere Drittland“
Belgien Schutz gefunden.
Zur „Sicherung der Zurückweisung“ beantragte der
Grenzschutz Abschiebungshaft gemäß § 57 (1)
i.V.m. § 61 (1) AuslG für drei Tage, ohne daß die
betroffenen Flüchtlinge auch nur ein Wort über ihre
Asylgründe sagen konnten. Dies sei notwendig, so
die denkwürdige Begründung des BGS, „da der
nächste Rückflug von Brüssel nach Lome erst am
Sonntag, den 13.11.1994 erfolgt“. Die
Zurückweisung nach Brüssel könne erst am 12.11.
durchgeführt werden, da belgischen Grenzbehörden
die Zurückgewiesenen vorher nicht akzeptierten.
RA Schindler aus Hannover übernahm auf Bitten des
Niedersächsischen Flüchtlingsrats die Vertretung der
beiden Flüchtlinge, nachdem das „Netzwerk
Hannover“ wegen der exemplarischen Bedeutung
des Verfahrens und der schwerwiegenden
Menschenrechtsverletzungen in Togo die
Übernahme von Anwaltskosten in Höhe von 1.500,DM in Aussicht gestellt hatte.
Unter Bezugnahme auf einen vom Bernhard Zepf
vom Flughafendienst München dokumentierten Fall
eines togoischen Oppositionellen, der im Juli 1993
nach einer Zurückweisung durch den BGS München
innerhalb von nur wenigen Stunden aus Brüssel in
den Verfolgerstaat Togo abgeschoben worden war,
stoppte das Gericht vorerst die Zurückweisung nach
Belgien. Die Begründung für diese Entscheidung
liegt uns leider noch nicht vor - sie wird aber von
uns angefordert und kann jetzt schon bestellt
werden. Mittlerweile befinden sich die beiden
togoischen Flüchtlinge, die der oppositionellen UFC
angehören, in der Langenhagener ZASt.
Nds. Flüchtlingsrats-Rundbrief 24/94
Unabhängig vom positiven Ausgang dieses
Verfahrens wirft dieses Verfahren ein Schlaglicht auf
das erschreckende Ausmaß an Brutalität, mit der
deutscher Beamte das Asylrecht ohne Rücksicht auf
die Befindlichkeit von Flüchtlingen "streng
rechtsstaatlich" exekutieren: Da werden Flüchtlinge
aus einem Land, in dem schlimme
Menschenrechtsverletzungen zu beklagen sind,
gleich nach ihrer Ankunft verhört,
erkennungsdienstlich behandelt und inhaftiert. Ganz
9
selbstverständlich gehen die Grenzbeamten dabei
von einer Weiterschiebung der Flüchtlinge aus
Brüssel nach Lome aus, weshalb man sich rücksichtsvoll gegenüber den belgischen Behörden freundlicherweise bereit erklärt, die Flüchtlinge „in
time“ kurz vor dem Flug aus Brüssel nach Lome
(und nicht sofort) nach Belgien zurückzuweisen.
Nur gut, daß die Gerichte nicht alles mitmachen ...
Wenn die nationalen Regierungen
die selbstverständliche Aufgabe,
Schutz zu gewähren, bis der Krieg vorbei
und eine sichere Rückkehr in Würde möglich ist,
nicht erfüllen,
müssen die Bürger dies tun.
Zeitweiliger Schutz - halbherzige Hilfe
Abschlußerklärung
der Fachtagung "Flüchtlinge in Europa"
vom 14.-16. Oktober 1994 in Kassel1
Angesichts eines Krieges im ehemaligen
Jugoslawien,
der
Hunderttausende
dazu
gezwungen hat, in anderen europäischen Ländern
Zuflucht zu suchen, vor dem Hintergrund bereits
durchgeführter
Zwangsrepatriierungen
nach
Kroatien und drohender Massenabschiebungen in
andere Teile des ehemaligen Jugoslawien, trafen
sich vom 14.-16. Oktober 1994 VertreterInnen von
25 Kriegsdienstverweigerungs-, Friedens- und
Flüchtlingshilfsorganisationen aus der Schweiz,
Österreich und der Bundesrepublik Deutschland zu
einer Fachtagung, um gemeinsame Strategien und
Handlungsmöglichkeiten
zu
erarbeiten.
Die
1
VertreterInnen
erklärten
bestehenden Situation:
angesichts
der
M
ehr als 500.000 Flüchtlinge aus den
Kriegsgebieten des ehem. Jugoslawien haben
in den letzten Jahren in Westeuropa Zuflucht
gesucht. Was die nationalen Regierungen auf die
Haben-Seite einer humanitären Aufnahmepolitik
buchen, erweist sich für die Flüchtlinge als eine
wenig tragfähige Konstruktion.
* Die Aufnahme von Flüchtlingen erfolgte unter
dem Begriff des "zeitweiligen Schutzes"
(temporary protection), also unter der
Die Fachtagung wurde durchgeführt von Pro Asyl e.V. und Connection e.V., in Zusammenarbeit mit der Föderation grünnaher Landesstiftungen und Bildungswerke, BUNTSTIFT e.V. und Unterstützung des Helmut-Michael-Vogel Bildungswerkes.
10
Nds. Flüchtlingsrats-Rundbrief 24/94
Vorstellung, daß nach einem relativ schnellen
Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen an
eine Rückkehr gedacht werden könne. Fast alle
europäischen Regierungen versagen deshalb
Flüchtlingen aus dem ehem. Jugoslawien einen
verfestigten Aufenthaltsstatus. Die Tatsache, daß
ein Ende des Konfliktes nicht absehbar und ein
Groß-teil der von ihm Betroffenen nun schon
jahrelang im Exil lebt, wird von den meisten
europäischen Regierungen ignoriert.
In der Praxis bedeutet dies, daß für die
betroffenen Menschen eine Lebensplanung nicht
möglich ist. So sind sie beispielsweise von
Qualifikationsmaßnahmen weitgehend
ausgeschlossen und haben nur einen erschwerten
Zugang zum Arbeitsmarkt. Diese Situation führt
zu besonderen Belastungen der Familien, deren
Auswirkungen wiederum insbesondere Frauen
und Kinder treffen.
Ihr prekärer ausländerrechtlicher Status setzt die
Flüchtlinge vielfältigen Formen behördlicher
Willkür aus. Angesichts der schwierigen
psychosozialen Situation, in der sich die
Menschen befinden, ist diese Politik inhuman und
muß den Flüchtlingen den Eindruck vermitteln,
daß sie im Grunde unerwünscht sind.
* Bereits kurz nach Beginn der Fluchtbewegung
aus dem Krisengebiet haben die europäischen
Regierungen mit einer Politik der Abschottung
durch Visazwänge und anderweitige
Einreisehindernisse reagiert. Der erschwerte
Zugang hat drei Konsequenzen:
- Viele Flüchtlinge können die Krisenregion nicht
mehr verlassen und bleiben unmittelbar
gefährdet. Der Großteil der
Flüchtlingsaufnahme geschieht auf dem Gebiet
des ehem. Jugoslawiens.
- Die osteuropäischen Nachbarstaaten werden
zum Vorfeld westeuropäischer
Abschottungspolitik, indem sie Flüchtlinge in
einem Maß aufnehmen müssen, das ihre
wirtschaftlichen und administrativen
Möglichkeiten übersteigt.
- Es können seit dem Beginn der
Einreiserestriktionen lediglich noch diejenigen
Flüchtlinge einreisen, für die i.d.R. Privatleute
weitgehende Garantien übernehmen. Zu
erinnern ist daran, daß dem überwiegenden Teil
der Flüchtlinge Unterkunft bei Verwandten,
Bekannten und Landsleuten gewährt wird. Die
Staaten entziehen sich ihrer menschenrechtlich
begründeten Aufnahmeverpflichtung und
privatisieren die entstehenden finanziellen
Risiken. Dies ist ein in vielen europäischen
Staaten vorhandener Trend, der geeignet ist,
jede Art einer systematischen
Flüchtlingsaufnahmepolitik in künftigen
Krisensituationen zu unterlaufen.
* Flüchtlinge in den westeuropäischen Ländern
sehen sich mit der Tatsache konfrontiert, daß die
Behörden der Zufluchtsländer sie wiederum nach
ethnischen Kriterien sortieren, die häufig
entweder überhaupt nicht zutreffen oder mit
denen sich zu identifizieren sie ablehnen. Es ist
unerträglich, daß deutsche, österreichische oder
schweizerische Behörden Flüchtlingen die
Annahme oder die Beantragung bosnischer,
kroatischer oder anderer Pässe aufnötigen, indem
sie etwa vom Namen auf die Ethnie, von Ethnie
auf die Staatsangehörigkeit schließen oder vom
früheren Wohnort eine künftige
Staatsangehörigkeit ableiten. Der nationalistische
Irrsinn, dem viele Flüchtlinge sich gerade
entziehen wollten, nämlich der Entmischung der
Bevölkerung durch Vertreibung und die
Überstülpung ethnischer Kategorien, wird durch
diese Praxis westeuropäischer Behörden geradezu
bestätigt. Obwohl viele Flüchtlinge der Wille eint,
sich einem verbrecherischen Krieg entziehen zu
wollen und sie auf der Basis desselben
Willensaktes eigentlich dieselbe Behandlung in
den Zufluchtsländern verdient hätten, werden
ihnen ethnische Bekenntnisse abverlangt, die im
Resultat zu einer unterschiedlichen Behandlung,
in einem Fall etwa zu Duldung und im anderen
zur Abschiebung führt. Der Widersinn eines solchen Verfahrens zeigt sich insbesondere im Fall
der Menschen. die in sogenannten Mischehen
leben. Besonders absurd ist dieses Verfahren auch
im Falle der Roma, bei denen keine dieser
ethnischen Zuordnungen etwas an der praktischen
Heimatlosigkeit dieses Volkes ändert.
* Überwiegend wird Flüchtlingen aus dem ehem.
Jugoslawien weder der Schutz des jeweils
Nds. Flüchtlingsrats-Rundbrief 24/94
11
nationalen Asylrechts noch der der Genfer
Konvention zuteil. Verfolgung aus politischen
Gründen, wegen (angeblicher) Zugehörigkeit zu
wie auch immer definierten Ethnien oder Rassen,
wegen des religiösen Bekenntnisses und
insbesondere auch wegen der in diesem Krieg
besonders deutlichen frauenspezifischen
Verfolgung werden vielfach ignoriert, großenteils
aus dem zumeist an individueller Verfolgung
orientiertem Asylrecht hinausdefiniert, während
gleichzeitig sehr selten die Tatsache der
Gruppenverfolgung anerkannt wird, mögen die
Sachverhalte auch so eindeutig liegen wie im
Kosovo. Nach der Teilaufhebung des Embargos
sind viele Menschen, denen so der Schutz
individuellen Asyls oder kollektiver
Schutzregelungen versagt wird, unmittelbar von
Abschiebungen bedroht.
nach Restjugoslawien. Die restjugoslawische
Regierung hat keinerlei Garantien abgegeben,
geschweige denn eine Amnestie erlassen. Sie
verletzt weiterhin massiv Menschenrechte. Die
Gefahr eines offenen Krieges z.B. im Kosovo ist
nicht gebannt. Auch die in Kroatien
ausgesprocheneAmnestie gibt Deserteuren und
Kriegsdienstverweigerern in vielen Fällen keine
Sicherheit. Eine erneute Beteiligung von Kroatien
an kriegerischen Handlungen steht zu befürchten.
* Festzuhalten ist, daß die größte Gruppe unter den
Flüchtlingen Frauen und Kinder sind, die die
Hauptleidtragenden des Konfliktes sind. Dieser
Tatsache tragen die westeuropäischen Staaten an
keiner Stelle Rechnung. Die Fluchtgründe von
Frauen, z.B. Vergewaltigungen und Angst vor
selbiger sowie die Sorge um das leibliche und
seelische Wohl der eigenen Kinder, werden im
Rahmen der Asylverfahren mit dem Argument
nicht anerkannt, daß die Verfolgung nicht vom
Staat ausgehe und daher kein Grund bestehe,
Asyl zu gewähren. Bei der Unterbringung, der
medizinischen und psychosozialen Versorgung
und in anderen Bereichen erfahren die Interessen
von Frauen keine adäquate Behandlung.
* Widersprechen bereits die Zwangsrepatriierungen
nach Kroatien Grundsätzen des internationalen
Flüchtlingsschutzes (sie hätten nach dessen
Maßstäben auf freiwilliger Basis, in Würde und in
Sicherheit zu erfolgen) so gilt dies
selbstverständlich in besonderemMaße für die
drohenden Massenabschiebungen nach Serbien,
Montenegro, in den Sandschak und in den
Kosovo.
* Die nationalen Regierungen handeln im Geiste
des Nationalismus und eines nicht hinnehmbaren
Verständnisses von staatlicher Souveränität, das
sie übrigens mit den Regierungen der
Konfliktparteien teilen, wenn sie sich weigern,
den Empfehlungen der Parlamentarischen
Versammlung des Europarates zu folgen und
Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren keinen
Schutz gewähren. Obwohl die Parlamentarische
Versammlung betont hat, daß Deserteure und
Fahnenflüchtige "schwerwiegenden Gefahren der
Verfolgung unterliegen, wenn sie zurückgekehrt
sind", besteht aktuell in vielen Staaten die Gefahr
einer Massenabschiebung auch von Deserteuren
Statt Deserteure und Kriegsdienstverweigerer in
ihrer Opposition gegen den Krieg zu
unterstützen, werden sie einer erneuten
Rekrutierung ausgesetzt und für den Krieg
verwendbar gemacht. Die Abschiebung von
Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren in das
ehem. Jugoslawien ist deshalb nicht zu
verantworten.
* Die bei der Fachtagung anwesenden Vertreter
und Vertreterinnen von KDV, Friedens- und
Flüchtlingshilfsorganisationen begrüßen deshalb
die vielfältigen und phantasievollen Akte des
Zivilen Ungehorsams, durch die Abschiebungen
verhindert und Flüchtlinge geschützt werden
sollen:
- Dazu gehört das aktuelle, in mehreren hundert
Fällen gewährte Kirchenasyl, das Kirchengemeinden aus ihrem Selbstverständnis
christlicher Verantwortung heraus gewähren,
ohne dabei immer bei den Kirchenleitungen
Unterstützung zu finden.
- Dazu gehören die zunehmenden Fälle, in denen
auch andere gesellschaftliche Institutionen oder
Bürger gefährdeten Menschen Unterschlupf
gewähren und dies politisch vertreten.
- Dazu gehören die Aktivitäten der
Deserteursorganisationen, die in einigen Fällen
von Rekrutierung bedrohte Menschen aus
12
Nds. Flüchtlingsrats-Rundbrief 24/94
Kriegsgebieten herausholen und die Aktivitäten
der Flüchtlingsorganisationen, die gefährdete
Flüchtlinge, denen in den Zufluchtsländern der
Schutz verwehrt wird, in andere Länder
bringen, wo sie sicherer sind, oder manchmal
bessere Chancen in einem Anerkennungsverfahren haben.
- Dazu gehört das offensive Bekenntnis vieler
europäischer Städte und Gemeinden,
Deserteuren Schutz anzubieten und sie auch
gegen Regierungsweisungen nicht
abzuschieben.
Die bei der Fachtagung anwesenden Vertreter und
Vertreterinnen von KDV, Friedens- und Flüchtlingshilfsorganisationen aus der Schweiz, Österreich und
der Bundesrepublik Deutschland setzen einem
Europa der Abschottung die Idee eines Europas der
Solidarität und der Menschenrechte entgegen. Diese
wird praktisch in der Unterstützung von Menschen,
die sich nationalistischem Wahnsinn und Krieg
entziehen. Wenn die nationalen Regierungen die
selbstverständliche Aufgabe, Schutz zu gewähren,
bis der Krieg vorbei und eine sichere Rückkehr in
Würde möglich ist, nicht erfüllen, müssen die Bürger
dies tun.
Kassel, den 16. Oktober 1994
Letzte Meldung: Wegen eines fehlenden „Rückübernahmeabkommens“ verweigert die
Restrepublik Jugoslawien bis auf Weiteres die
Aufnahme von Flüchtlingen aus Deutschland.
Abschiebungen sind damit nach § 55 AuslG
wieder „faktisch unmöglich“!
Nds. Flüchtlingsrats-Rundbrief 24/94
F
ragen des Flüchtlingsrats zur von der Landesregierung geplanten Umwidmung von Teilen der ZASten in sog. „Gemeinschaftsunterkünfte“
1.
In der Kabinettsvorlage des MI vom 04.10.94
ist noch die Rede von veranschlagten
Kostenreduzierungen in Höhe von 8,64 Mio. DM
pro Jahr. In der Konzeption des MI, Ref. 41, vom
20.10.1994 wird der prognostizierte „Gewinn“
dagegen auf 5,76 Mio DM festgesetzt. Wie tragfähig
sind diese Prognosen, und warum hat sich innerhalb
von nur 3 Wochen eine derartige Veränderung der
Prognose ergeben?
2.
Das MI spricht davon, daß die Umwidmung
der ZASten in GUs keine zusätzlichen Kosten
nach sich ziehe. Gleichzeitig wird jedoch ein Betrag
von 7,5 Mio DM zum Ausbau der ZASt
Braunschweig (Husaren-Kaserne) für notwendig
gehalten. Dieser Betrag übersteigt allein schon den
Betrag, der angeblich durch die Konzeption der
Landesregierung. eingespart werden soll. Wie
kommt die Landesregierung. auf der Grundlage
dieser Zahlen zu der Behauptung, hier würden
Kosten eingespart? Auf welchen Zeitraum muß sich
das Land bei der Anmietung der Husaren-Kaserne
festlegen? Welche Folgekosten könnten daraus
entstehen? Was passiert bspw., wenn infolge des
Rückgangs der Flüchtlingszahlen das BMI
beschließt, die Zahl der Bundesamt-Dependenzen zu
verringern? Wäre es nicht im jedem Fall
kostengünstiger und sicherer, die Verträge für die
ZASt Braunschweig auslaufen zu lassen?
3.
23
Die Prognosen der Landesregierung über
angebliche Einspareffekte erscheinen auch aus
anderen Gründen als unseriös:
a) Die angeblichen Kosten von nur 400,- DM pro
Flüchtling und Monat für einen Platz in der ZASt
bedürfen der weiteren Erläuterung: Welche
Belegungsdichte wird hier für die Berechnung
zugrunde gelegt? Wie hoch sind die Kosten pro
Platz bei einer „aufgelockerten Belegungsdichte“?
Welche Kosten sind in die 400,-- DM pro Platz
eingerechnet? Alle bisherigen Erfahrungen sprechen
dafür, daß die Kosten bei einer zentralen
Unterbringung aufgrund der damit einhergehenden
sozialen und verwaltungstechnischen Probleme
sowie einer ausufernden Bürokratie höher liegen als
bei dezentralen Lösungen. Um die Zahlen des MI zu
prüfen, wäre daher eine Aufschlüsselung des
Kostenansatzes vonnöten.
b) Zusätzliche Kosten sind im Übrigen schon deshalb
zu erwarten, weil die mit einem Lagerleben
einhergehenden Probleme (soziale Konflikte,
Lagerkoller, Alkoholkonsum, psychische Probleme,
Vandalismus etc.) sich natürlich in höheren Kosten
für Therapien, Arztbesuche, Polizei- und
Feuerwehreinsätze, Renovierungskosten etc.
niederschlagen.
c) Laut Erlaß des MI vom 11.10.1994 sollen „nicht
mehr benötigte Wohnheimkapazitäten“ massiv
abgebaut werden. Der Erlaß sieht nicht nur vor, daß
bestehende Verträge für Flüchtlingswohnheime nicht
mehr verlängert werden sollen, sondern auch, daß
bestehende Verträge vorzeitig gekündigt werden
sollen. Die im Rahmen solcher vorzeitiger
Vertragskündigungen entstehenden „unvermeidbaren
Kosten“ müssen in diesen Fällen vom Land getragen
werden. Das Land zahlt hier mit anderen Worten
teilweise über Jahre die Mieten und andere
„unvermeidbare Kosten“ für leere, nicht genutzte
Wohnheime. Diese zusätzlichen Kosten entstehen
nur deshalb, weil das Land auf eine Verteilung der
Flüchtlinge auf die Gemeinden verzichtet. Sie
werden in der Kostenaufstellung des Landes jedoch
nicht berücksichtigt.
d) Weder der Kabinettsvorlage vom 04.10.94 noch
dem Konzeptpapier des MI vom 20.10.1994 ist zu
entnehmen, wie denn konkret die Standards der
Unterbringung in den der ZASt angeschlossenen
GUs sein sollen.
Wie groß ist die Belegungsdichte?
Wieviel Quadratmeter müssen pro Flüchtling zur
Verfügung stehen?
Wie viele Sozialarbeiter/innen entfallen auf wie viele
Flüchtlinge?
Werden die Standards für Flüchtlingswohnheime in
den neuen GUs eingehalten werden?
Was heißt „Auflockerung der Belegungsdichte“
konkret?
Wie kommt das MI auf die Idee, daß die
Umwidmung von ZASt-Plätzen zur
Gemeinschaftsunterkunft keine oder nur
unerhebliche Kosten verursacht?
Die Vorstellungen des MI bedürfen in jedem Fall
weiterhin einer Konkretisierung!
4.
Praktische Probleme
24
Nds. Flüchtlingsrats-Rundbrief 24/94
a) Trotz der vorgelegten Konzepte werden bis heute
Familien mit Kindern teilweise über Monate in der
ZASt festgehalten und erhalten faktisch keinen
Schulunterricht. Nach Aussage von
SozialarbeiterInnen gibt es Familien mit Kindern, die
seit über 6 Monaten in der ZASt untergebracht sind
und nicht verteilt wurden;
b) Nach wie vor werden Flüchtlinge auch über drei
Monate hinaus in der ZASt festgehalten, obwohl die
für eine Umwidmung von Teilen der ZASten
notwendigen Umbauten nicht erfolgt sind.
Auch die Verteilung von Flüchtlingen aus der ZASt
Oldenburg in eine Außenstelle der ZASt
Langenhagen erfüllt nicht die gerichtliche Forderung
nach einer wesentlichen Verbesserung des
Unterbringungsstandarts!
c) Werden Flüchtlinge, die sich länger als ein Jahr in
der zur GU umgewidmeten ZASt entsprechend den
Bestimmungen nach § 2 AsylbLG Bargeld erhalten?
Wie gedenkt das MI die daraus resultierenden
zusätzlichen Probleme zu lösen?
Oder ist daran gedacht, wie schon bei den in der
ZASt- Außenstelle in Goslar untergebrachten
Flüchtlingen widerrechtlich an einer Vollverpflegung
nach dem Sachleistungsprinzip festzuhalten? (K.W.)
Nds. Flüchtlingsrats-Rundbrief 24/94
25
Der folgende Text wurde wenige Tage nach der Freilassung eines Abschiebehäftlings geschrieben und
drückt meines Erachtens ganz gut einige Aspekte der Haft aus: Langeweile, Rechtlosigkeit,
Perspektivlosigkeit, Angst, Suizidgefahr, Rassismus etc.
Ursprünglich enthielt der Text noch genaue Stundenangaben, wodurch die Beschreibung noch
eindrucksvoller war. Wir haben es in Absprache mit dem Verfasser anonymisiert, da wir im Moment
vermeiden müssen, daß erkenntlich wird, woher der Text kommt. Wir möchten im Moment noch unsere
Spielräume im Knast nutzen; wir müssen andere Wege finden, um die Situation im Knast zu ändern, vor
allem aber eine Abschiebung überhaupt zu vermeiden. (Aus dem Schreiben einer Flüchtlingsinitiative)
Abschiebehaft 1:
Das Monotone Gefängnis
Das, wovon ich hier erzählen möchte, bezieht sich
speziell auf die Situation der zu deportierenden
Ausländer im Gefängnis. Es geht um ihre alltäglichen
Schwierigkeiten:
Von Montag bis Freitag werden die Zelltüren
morgens zur Einnahme des Frühstücks geöffnet und
nach der Auslieferung des Abendessens geschlossen.
Während des ganzen langen Tages - nur
unterbrochen durch das Mittagessen
und den Hofgang von einer Stunde dreht man seine Runden auf dem
Flur und zählt seine Schritte.
Während des ganzen Wochenendes
ist man eingesperrt. Man hat nur eine
Stunde Pause für den Hofgang und
langweilt sich zu Tode. Zweimal pro
Woche hat man ein Besuchsrecht.
Man darf jedoch nur einmal Besuch
empfangen, vorausgesetzt, man hat
eine Verbindung nach draußen zu
jemandem, der einen besuchen kann.
Nur einmal in der Woche darf man
telefonieren und zwar nur einen
Anruf. All dies gilt auch für
diejenigen, die Gefängnisstrafen für
begangene Delikte verbüßen (d.h. für
Straffällige). Es gibt aber einen Unterschied bei den
Zeiten der Öffnung und Schließung der Zellen. Jene
haben täglich ihre Zellen um 5 Stunden länger
geöffnet. Wenn man uns mit ihnen vergleicht, kann
man sehen, daß sie einen Vorteil haben. Wir sind
schärfer bestraft als sie. Man könnte sagen, daß wir
straffälliger seien als sie. Das verstehe ich nicht
mehr, und ich überlasse es kompetenteren Leuten,
gut fundierte Erklärungen hierfür abzugeben.
Es gibt einen Fernsehraum, den ich nicht mehr
betrete seit sich ein kleiner Zwischenfall ereignete,
als ich ausländische Nachrichten hörte. Ein
Deutscher kam in den Raum und wechselte direkt
das Programm, ohne freundlich zu fragen.
Er sagte, hier sei Deutschland und man
müsse deutsche Programme sehen. Ich
antwortete ihm, das wisse ich sehr gut,
daß ich in Deutschland sei (das versteht
sich von selbst) und daß er mir nichts
Neues sage. Ich sagte ihm, daß wenn es
ausländische Programme gäbe, diese dafür
da seien, gesehen zu werden. Er begann
Kauderwelsch zu reden und ich verließ
den Raum, um eine Eskalation zu
vermeiden. Denn ich habe genug Sorgen,
und derjenige ist der Stärkere, der im
Moment der Wut sich zurückzieht.
Mein
Fall
ist nur
ein Tropfen
im
Ozean.
Ich fragte mich, wie es sein kann, daß man
uns inmitten von Straftätern setzt?!
Die Beantwortung der Frage überlasse ich
den dafür verantwortlichen Personen.
An manchen Tagen stibt man vor Langeweile; man
dreht im Kreis, macht die paar Schritte im Gang, wie
im Irrenhaus. Das Schlimmste ist die Zeit nach der
26
Nds. Flüchtlingsrats-Rundbrief 24/94
Schließung; denn hier ist die Welt auf vier Wände
reduziert: ein Gitterfenster, ein Tisch, ein Stuhl, ein
Schrank, der das WC und das Bett versteckt.
Da kommen die teuflischen Gedanken, die
hundertmal durch meinen Kopf gehen. Ich begann
Selbstgespräche zu führen, über mein Los hier in
Deutschland und in meiner Heimat zu sinnieren, als
ob ich zwischen Himmel und Erde wäre. In meinen
Augen war nichts gerechtfertigt. Ich tappte im
Dunkeln. Ich fragte mich, wie lange dieser
Leidensweg dauern würde. Ich fragte mich, ob ich
mich noch gedulden sollte und all dieses Leiden
ertragen oder ob ich jetzt die Seele von meinem
Körper trennen sollte (Selbstmord). Diese Mischung
von Gedanken, Ängsten Sorgen, Unruhe und
Beklemmungen quälten mich psychisch, hinderten
mich daran zu schlafen, mich zu konzentrieren,
nachzudenken, logisch zu überlegen, lebendig und
wach zu sein, wie früher ein Gesprächsthema
anzugeben. Das hat meinen Geist zerfressen bis hin
zum Verlust meiner intellektuellen Fähigkeiten. Ich
hatte das Gefühl, nichts mehr zu können; wie ein
Auto, dessen Motor kaputt ist und das nur noch auf
dem Schrottplatz zu gebrauchen ist, hatte ich das
Gefühl, nur noch auf dem Friedhof einen Platz zu
haben.
Der Tag, den alle Deportationshäftlinge haßten und
fürchteten, war der vor dem Abtransport; der Tag,
an dem die Namen derjenigen bekannt gegeben
wurden, die am folgenden Tag zum Flughafen
gebracht würden, um „nach Hause“ geflogen zu
werden.
Mein dargelegter Fall ist einer von mehreren tausend
Fällen, die anonym sind, die keine Möglichkeit
haben, laut herauszuschreien, was sie schon gelitten
haben und jetzt leiden und noch leiden werden,
solange sie keine Hilfe und Unterstützung finden.
Mein Fall ist nur ein Tropfen im Ozean.
Abschiebehaft 2:
An den Rändern der
Verfassung
Kürzlich konnte man einer Notiz in der polnischen
Presse entnehmen, daß ein in Haft genommener
Abschiebungskandidat durch Gerichtsbeschluß seine
Freiheit
zurückerhalten hat.
Es fehle, so die
1938 beispielsweise
Richter, an der
geschah das mittels
gesetzlichen
Grundlage für die
der PolizeiVerhängung der
Ausländerverordnun
Abschiebehaft,
g, in der es lapidar
weshalb der
„Delinquent“ nicht hieß: „Zur Sicherung
länger als 48
der Abschiebung
Stunden
kann ein Ausländer
festgehalten
in Abschiebehaft
werden dürfe.
genommen werden.“
Diese sympathische Anordnung resultiert aus der
Tatsache, daß die Polen jetzt zwar über Bruchstücke
eine demokratischen Verfassung verfügen, aber noch
nicht über genügend Gesetze, um sie anschließend
wieder zu durchlöchern.
In Deutschland war die Lage umgekehrt. Wir
verfügten stets über ausreichende juristische
Abschiebungsgrundlagen, selbst wenn es uns an
demokratischen Verfassungsprinzipien mangelte.
1938 beispielsweise geschah das mittels der PolizeiAusländerverordnung, in der es lapidar hieß: „Zur
Sicherung der Abschiebung kann ein Ausländer in
Abschiebehaft genommen werden.“ 45 Jahre
Rechtsstaat und intensive Bastelarbeiten am
Paragraphen 57 des Ausländergesetzes, der sagt,
wann Abschiebehaft verhängt werden darf, haben
nichts daran ändern können: Nach wie vor bewegen
Nds. Flüchtlingsrats-Rundbrief 24/94
sich Theorie und Praxis des Abschieberechtes im
vordemokratischen Rahmen.
Daß die persönliche Freiheit eines der höchsten
Rechtsgüter ist und nur eingeschränkt werden darf,
wenn der Schutz der Allgemeinheit dies zwingend
gebietet, ist auch dem Bundesverfassungsgericht
schon frühzeitig aufgefallen. Daher die
Konzentration auf die Verletzung von
Straftatbeständen und die strengen
Vorraussetzungen für den Erlaß von Haftbefehlen.
Zu den freiheitssichernden Schutzbestimmungen
gehört auch, daß Untersuchungshäftlinge nur einen
kurz bemessenen Zeitraum unter Verschluß gehalten
und ihrer Menschen- und Bürgerrechte nicht beraubt
werden dürfen. Nun würde nach gewöhnlicher Logik
folgen: Was für diejenigen gilt, die einer
schwerwiegenden Straftat verdächtig sind, muß erst
recht für diejenigen gelten, die nur gegen
ausländerrechtliche Bestimmungen verstoßen haben.
Ein naiver Irrtum. Während für die
Untersuchungshaft in der Regel eine Obergrenze von
sechs Monaten vorgeschrieben ist, kann nach
Paragraph 57 Satz3 die AbschiebungsSicherheitshaft auf max. 18.Mon. ausgedehnt
werden. Über ein Jahr in Abschiebehaft zu schmoren
ist keine Seltenheit, wenn man auf die
„spektakulären Fälle" der letzten Wochen schaut.
Zwar hat in den vergangenen Jahren die
Rechtsprechung mehrfach der Ausländerbehörde
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klarzumachen versucht, daß die Abschiebehaft nicht
dazu ist, die Tätigkeit dieser Behörde bequemer zu
gestalten. Allein, die Kasuistik des Paragraphen57
erlaubt den Behörden gerade dieses Verfahren. So
genügte kürzlich die treuherzige Bemerkung eines
Ausländers, er werde nach Ablauf seiner
Aufenthaltsgenehmigung nicht ausreisen, den
Beamten, ihn einzusacken. Das war der „begründete
Verdacht“, er werde sich der (künftigen, aber noch
gar nicht verfügten) Abschiebung entziehen.
Der eingangs erwähnte Entscheid des polnischen
Gerichts enthält für uns zwar keine unmittelbar
juristische, aber doch eine die Menschenrechte
betreffende Botschaft. Ist es mit der Menschenwürde
vereinbar, umstandslos Bestimmungen, die für die
Untersuchungshaft in Strafverfahren gelten, auf
„Abzu-schiebende“ anzuwenden? Und sind die
unglaublichen Haftbedingungen für in
Sicherungshaft schmorende Ausländer nicht die
logische Folge eines Rechtsverständnisses, das die
Rechtsgarantien dieser Häftlinge noch niedriger
ansetzt als die „gewöhnli-cher“
Untersuchungshäftlinge? Nicht die Einrichtung
spezieller Ausländerknäste weist hier den Ausweg,
sondern ein anderes Verständnis des Art.2 unseres
Grundgesetztes, der von der Freiheit der Person
(und nicht nur der „Deutschen“) handelt.
Christian Semler,TAZ ,24.8.94
Abschiebehaft 3:
Richter:
Zellen menschenunwürdig
Die Zustände in der Bremer Abschiebehaft sind
z.T. menschenunwürdig. Das hat die 10.
Zivilkammer des Bremer Landgerichts festgestellt.
Danach darf der Vollzug der Abschiebehaft im
zentralen Polizeigebäude nur fortgesetzt werden,
wenn die Zahl der Insassen in mehreren
Arrestzellen verringert wird. Zwei Afrikaner, die seit
sieben bzw. neun Monaten auf ihre Abschiebung
warten, müssen nach dem Beschluß sofort in
andere Zellen verlegt werden. Deren Anwälte
hatten gegen die Art der Unterbringung geklagt.
Wir zitieren nachfolgend Auszüge aus dem
Beschluß des Landgerichts Bremen vom 5.8.94
mit dem Aktenzeichen 10T524/94 :
... „Die Zelle 18 ist mit 5 Feldbetten sowie weiterem
spärlichen Mobiliar ausgestattet. Ihre Grundfläche
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Nds. Flüchtlingsrats-Rundbrief 24/94
beträgt 2,70m x 7m, die Zellenhöhe erreicht 2,90 m.
Waschbecken und Toilette befinden sich innerhalb
der Zelle. Die in einer Zellenecke angebrachte
Toilette ist durch eine kaum Sichtschutz gewährende,
brusthohe schmale Blechwand abgeteilt.Die beiden
Zellenfenster bestehen jeweils aus 16 Glasbausteinen.
Belüftet wird die Zelle allein durch zwei, aus jeweils
4 Glasbausteinen bestehenden Kippfensteröffnungen.
Ein Luftschacht zum Abzug der von der Toilette
ausgehenden Gerüche existiert nicht Die Zelle 18
entspricht in ihrem Aufbau und Zustand der Zelle 20.
Nach Auffassung der Kammer verstößt die
gemeinschaftliche Unterbringung in diesen beiden
Zellen zumindest bei längerem Vollzug gegen das
Recht des Betroffenen auf Achtung seiner
Menschenwürde nach Art.1 Abs.1 GG. Bindende
Rechtsvorschriften, anhand derer der
menschenwürdige Vollzug von Abschiebehaft zu
konkretisieren wäre, existieren allerdings weder auf
Bundes- noch auf Landesebene. Auch der vom
Senator für Inneres am 15.12.89 herausgegebene
„Erlaß über den Polizeigewahrsam“ (Az.: 89/001 32-11) besagt nichts über die baulichen
Mindeststandards, die Belegungsstärke und die
sanitären Einrichtungen. Maßstab für solche
Minimalbedingungen kann aber der für den
Strafvollzug geltende § 144StVollzG und die dazu
ergangene Rechtssprechung sein. Dabei ist zu
beachten, daß zum einen die Abschiebungshaft im
Unterschied zum Strafvollzug keinen
Sanktionencharakter hat und haben darf, zum
anderen im Gegensatz zum Strafvollzug die Häftlinge
in der Abschiebungshaft bis auf den täglichen
Hofgang von 45 Minuten Dauer keine weiteren
Möglichkeiten haben, ihre Zellen - etwa zwecks
Arbeitsaufnahme - zu verlassen.
gegebenenfalls wie lange eine kurzfristige
Unterbringung anderer Häftlinge in diesen Zellen
ohne Verletzung der Menschenwürde möglich ist,
bedarf an dieser Stelle keiner Entscheidung.
Auch die sanitären Bedingungen in den Zellen 16, 22
und 24, in denen innerhalb der Zellen durch nahezu
deckenhohe Trennwände ein größerer sanitärer
Bereich abgetrennt, die Intimsphäre also besser
geschützt ist, geben zu Bedenken Anlaß, ob hier eine
langfristige Unterbringung unter dem Gesichtspunkt
der Menschenwürde zulässig ist. Da in diesen Zellen
aber jeweils neben den baugleichen Fensteröffnungen
ein motorbetriebener Lüfter und ein gesondeter
Abzugschacht vorhanden sind, bedarf es noch
weiterer Klärung hinsichtlich deren Effizienz, z.B. bei
der Unterdrückung der Geruchsverbreitung, so daß
insoweit ein Verstoß gegen die Menschenwürde
jedenfalls zur Zeit noch nicht festgestellt werden
kann. Die Zelle 7 mit einem abgetrennten Raum für
Toilette und Waschbecken genügt den gebotenen
Anforderungen in sanitärer Hinsicht.
Hinsichtlich der Zellen 7, 16, 22 und 24 mußte
jedoch für den Fall der Unterbringung des
Betroffenen in diesen Zellen angesichts der jeweiligen
Raumgröße die Belegungskapazität eingeschränkt
werden. Die Zellen 16, 22 und 24 werden z.Zt.
jeweils mit bis zu vier Häftlingen belegt. Unter
Einschluß des sanitären Bereiches haben sie eine
Grundfläche von 5,29m x 2,72m bei einer Raumhöhe
von 2,90m. Der eigentliche Raum für den
gewöhnlichen Aufenthalt, also abzüglich des
sanitären Bereichs, beträgt 3,60m x 2,72m, mithin
nur etwa 9,8 qm, der durch die Betten und das
sonstige Mobiliar zusätzlich verstellt ist. Bei einer
Belegung mit vier Personen stehen jeder Person
In den Zellen 18 und 20 führen allein der erzwungene rechnerisch nur 2,45 qm im gewöhnlichen
Aufenthaltsbereich zur Verfügung. Die Zelle 7
enge körperliche Kontakt sowie die Benutzung der
Toilette hinter einer kaum Sichtschutz gewährenden verfügt über eine Grundfläche von 2,70m x 7m,
mithin 18,9 qm. Sie wird mit bis zu fünf Häftlingen
kleinen Schamwand ohne gesonderten
belegt, denen dann lediglich 3,78 qm je Person zur
Abzugsschacht zu unzumutbaren gegenseitigen
Verfügung stehen. Bei dieser Zelle kommt die schon
Belästigungen der bis zu fünf Häftlinge. Durch die
Benutzung der Toilette durch fünf Häftlinge wird die erwähnte Besonderheit eines sanitären Nebenraumes
hinzu.
zur Verfügung stehende Luftmenge stark
beeinträchtigt. In den Zellen werden auch Mahlzeiten
Diese Räume entsprechen bei ihrer jetzigen
eingenommen. Im Hinblick auf diese sanitären
Zustände (vgl. dazu: OLG Hamm MDR 1967, 1024; jeweiligen Höchstbelegung von vier bzw. fünf
OLG Frankfurt, StV 1986, 27; von Hinüber,StV 94, Personen nicht den Anforderungen an eine
menschenwürdige Unterbringung über einen längeren
212 m.w.N. ) kann es dem Betroffenen nach
Überzeugung der Kammer nicht zugemutet werden, Zeitraum. Das gilt umso mehr, als die Häftlinge in
in diesen Zellen untergebracht zu werden. Ob und
Nds. Flüchtlingsrats-Rundbrief 24/94
den Zellen mehr als 23 Stunden am Tag verbringen
müssen.
Nach den für den Strafvollzug in der
Rechtssprechung entwickelten und hier
heranzuziehenden Grundsätzten zu den
Haftbedingungen wird die
Fortbewegungsmöglichkeit und die
Freizeitbeschäftigung durch eine Überbelegung der
Zellen derart eingeschränkt, daß von einer
menschenwürdigen Unterbringung nicht mehr die
Rede sein kann.
29
So hat das OLG Frankfurt (StV 1986, 27) die
Belegung eines Haftraums, der lediglich eine
Grundfläche von 11,54 qm hat, mit 3 Gefangenen für
rechtswidrig erklärt.
Das LG Braunschweig (NStZ 1984, 286) hält in
gleicher Weise einen Haftraum mit einer Grundfläche
von 7,98 qm für zwei Gefangene für zu klein. Das
OLG Celle (INFO 1986, 603ff., zitiert nach
Huchting/Schumann, AK StrVollzG, 3.Aufl., §144
Rn 4) schließlich hält einen Haftraum mit 13,15 qm
für zwei Gefangene für „gegenwärtig gerade noch
hinnehmbar.“...
68
Nds. Flüchtlingsrats-Rundbrief 24/94
”Kaindl-Prozeß” in Berlin:
”Vor Gericht gehören die, die für die rassistische Gewalt gegen
Einwanderer und Flüchtlinge und andere Minderheiten
verantwortlich sind.”
In der Nacht vom 3. auf den 4. April 1992 trafen
sich in einem China-Restaurant in Berlin-Kreuzberg
sieben Kader verschiedener Naziparteien. Diese pöbelten einen Blumenverkäufer an und drohten einem
Türken, der versucht hatte einzugreifen, daß sie sich
sein Gesicht merken würden. Daraufhin beschlossen
türkische, kurdische und deutsche AntifaschistInnen,
die Nazis zu vertreiben. Bei der Auseinandersetzung
im Lokal wurde der Funktionär der Deutschen Liga
Gerhard Kaindl durch einen Messerstich getötet. Für
den Berliner Staatsschutz stand unmittelbar danach
fest, daß die vermummten TäterInnen aus dem Umfeld der ImmigrantInnenorganisation Antifasist
Genclik kommen, was er auch der Nazipresse - wohl
sogar mit Namen von Verdächtigen - mitteilte. Antifasist Genclik ist ein Zusammenschluß türkischer
und kurdischer Jugendlicher und Erwachsener.
20 Monate später stellte sich der psychisch kranke
Erkan S. den Behörden. Obwohl er nach Meinung
eines Gutachters nicht in der Lage war, die
Verhörsituation zu verstehen, unterschrieb er die
vom Staatsschutz formulierten Aussagen. Daraufhin
wurde nach insgesamt 12 Menschen gefahndet. Gegen sieben von ihnen läuft seit dem 20. September
vor dem Berliner Landgericht ein Prozeß. Lautete
die Anklage zunächst noch auf gemeinschaftlichen
Mord, mußte sie im Laufe der Verhandlung auf
Körperverletzung mit Todesfolge reduziert werden.
Das Verfahren gegen Abidin wurde mittlerweile abgetrennt und durch einen Freispruch am 2.11.94 beendet. Obwohl er nachweislich in der Nacht überhaupt nicht in der Nähe des Restaurants gewesen
war, hatte er 11 Monate in Untersuchungshaft verbringen müssen. Auch Fatma wurde vor kurzem aus
der Untersuchungshaft entlassen.
Fatma hat auf die Bedingungen hingewiesen, unter
denen hier Menschen ohne deutschen Paß leben
müssen, auf die mehr als 60 Ermordeten seit der
Wiedervereinigung, die mehr als 10000 gewalttätigen Angriffe, die Duldung von Naziaufmärschen
durch Polizei und Justiz, die große Zustimmung eines Teils der Bevölkerung zu Pogromen, das Zurückziehen einer Polizeihundertschaft in Rostock,
damit der Mob das Wohnheim in Brand setzen
konnte. Sie verwies auf die Reaktion dieses Staates,
der Politik und Medien um Verständnis für die Äng-
ste und sozialen Probleme der TäterInnen bittet, die
Opfer aber allein aufgrund ihrer Anwesenheit zu den
eigentlichen Tätern erklärt und auf die Tatsache, daß
die etablierten Parteien solche Ereignisse zum Anlaß
genommen haben, um mit Parolen wie ”Das Boot ist
voll” und ”Asylantenschwemme” um Stimmen zu
werben und das Asylrecht abzuschaffen.
Sie erklärte dem Gericht, daß Rassismus und Gewalt
gegen Minderheiten in diesem Land nur mit der Diskriminierung durch Ausländergesetze beginnt, aber
mit alltäglichen Pöbeleien auf der Straße, auf Behörden, bei der Arbeit, in der Schule endet und das Leben bedroht.
In diesem Klima der noch zunehmenden Gewalt und
der Rechtlosigkeit hat sich Antifasist Genclik gegründet. Neben den Forderungen nach doppelter
StaatsbürgerInnenschaft, Wahlrecht für ImmigrantInnen und Gesetzen gegen Diskriminierung und
Ausgrenzung, die auf Demonstrationen, Veranstaltungen und über eine Zeitung vertreten werden, halten sie es aber auch für wichtig, sich nicht mehr vor
Naziterror zu verstecken, sondern dann gemeinsam
hinzugehen und zu stören oder Veranstaltungen zu
verhindern.
Auch Abidin verwies auf die tägliche Angst vor körperlichen und psychischen Angriffen und die nächtlichen Alpträume. Deutschland sei auch ihr Land,
deshalb sei es wichtig sich jetzt zu wehren und nicht
auf Angriffe zu warten..
Durch ihre Präsenz und Aktionen haben sie es wenigstens geschafft, daß es in ihren Hauptwohngegenden im Wedding, in Schöneberg und in Kreuzberg halbwegs sicher ist, daß sie zumindest in diesen
Gegenden abends spazierengehen können, ohne sich
ständig umschauen und zur Flucht bereit sein zu
müssen. In der Nacht zum 4. April 92 hätten sie erreichen wollen, daß Kreuzberg sicher bleibt. Deshalb
hätten sie die Faschisten vertreiben, nicht aber sie
töten wollen.
”Vor Gericht gehören die, die für die rassistische
Gewalt gegen Einwanderer und Flüchtlinge und andere Minderheiten verantwortlich sind.”
Freiheit für alle Antifas!
Der Kampf gegen Rassismus und Faschismus ist
notwendig und gerecht!

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