Rezensionen ICT 17 - RPI

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Rezensionen ICT 17 - RPI
Tugenden und Laster
Ein Blick in wichtige Bücher, Filme und Materialien (Rezensionen) – Stand 2001
Im Folgenden möchten wir einige Bücher vorstellen, die das Thema der “7 Todsünden” aktualisiert oder in
bestimmten kulturellen und geschichtlichen Zusammenhängen wieder aufnehmen. Dabei wird deutlich, dass
diese Ethik-Themen (wenn auch nicht immer unter der Sieben-Zahl oder unter dem Stichwort “Sünde”)
moralisches Verhalten quer durch die Kulturen qualifizieren, auch wenn die Kriterienraster abweichen. Manchmal
schmelzen jedoch selbst wesentliche Unterschiede zu graduellen Varianten zusammen, wie besonders der
Vergleich zwischen China und dem Westen zeigt.
Chen, Chao-Hsiu: Lächelnde List. 3x36 Erfolgs-Strategeme aus dem alten China. Kreuzlingen/München:
Hugendubel (Atlantis) 2001, 311 S. (mit Bambusbildern und Sinsprüchen)
Gegenüber den ausführlichen Darstellungen von Harro von Senger (s.u.) hat dieses Buch den Vorteil, dass es ohne den historischen Hintergrund der Strategeme als ursprüngliche Kriegsstrategie zu behandeln - eine Fülle
von Alltagsvarianten durchspielt.
Ein erhebliches Problem bildet in diesem Zusammenhang das Wort “List”, das zu den ältesten Wörtern gehört,
die Wissen bezeichnen (Ursprünglich: lehren, lernen). Im Laufe der Zeit und unter dem Einfluss des Christentums
erhielt “List” jedoch einen negativ-bösen Sinn. Das lässt sich gerade zu klassisch an der Paradies-geschichte
exemplifizieren, wo das hebräische Wort eigentlich nur die Klugheit der Schlange meint (klüger als die anderen
Tiere) und daraus dann “listiger” geworden ist.
Die Autorin - durch ihren ostasiatischen Hintergrund entsprechend geprägt - spiegelt nun die berühmten 36
Strategeme auf dreifache Weise, und zwar 1. unter dem Gedanken, sich selbst zu stärken, 2. im Sinne von “Den
Gegner schwächen” und 3. “Noch besser werden”. Dies macht den 1. Teil des Buches mit seinem dreifachen
“Durchspiel” der 36 Strategeme aus, der 2. Teil führt dann 108x3 Wege zur Lebensmeisterschaft vor, die unter
den Stichworten von Abhängigkeit bis Zweifel angewendet werden.
Dazu drei Beispiele:
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“Strategem 6: Als schlaues Kaninchen drei Verstecke anlegen - Die Welt steckt voller Jäger. Und jeder Jäger
bedeutet Gefahr. Jeder Gejagte kennt ein Versteck. Doch auch der Jäger kennt es. Deshalb ist es nötig, den
Jäger in die Irre zu führen und ihm ein leeres Versteck anzubieten, während man sich selbst schon längst in
Sicherheit gebracht hat” (S. 22).
“Strategem 31: Auf Holzscheiten schlafen und Regenwürmer essen - Bevor man sein Ziel erreicht, um
dadurch ein angenehmeres Leben zu führen, ist es nötig, die Entbehrung kennen gelernt zu haben, denn nur
dadurch weiß man das Wohltuende wirklich zu schätzen” (S. 58).
“Strategem 97: Den Bären zwingen, den verschwundenen Honig zu suchen - Wenn man weiß, wer den Fehler
begangen hat, ist es klüger, den Betreffenden nicht zu bestrafen, sondern ihn zu bitten, nach dem
Verursacher des Fehlers zu fahnden” (S. 149).
Die Gefahr besteht natürlich, dass bei solchen, aus dem Kontext gerissenen Sprüchen den Missverständnissen
nicht immer Einhalt geboten werden kann. Auf der anderen Seite lockt es zum Nachdenken und nicht selten zum
Schmunzeln und Stirnrunzeln, wenn die nach Orientierung suchenden LeserInnen sich die drei großen Ziele der
Selbststärkung, Gegner-Schwächung und Selbst-Verbesserung vor Augen führen.
Ein schönes Beispiel dafür ist Strategem 13: “Den Drachen mit dem Wind ziehen lassen”. Die Erkenntnis, dass
wir von körperlichen Gegebenheiten abhängig und etwa den Alterungsprozess nicht aufhalten können, macht
gelassen und führt zur Überlegung, wie wir mit der Natur und nicht gegen sie sinnvoll leben können (S. 33).
Also die Strategeme aus Orientierunsgpunkte für die Meisterung des Lebens. Wie sieht es dabei z.B. mit
Habsucht und Lüge aus, Todsünden, die in den Stategemen vorkommen?
Zu Habsucht (S. 225) Strategem 20 (großes Theater aufführen, um von sich abzulenken), 33 (Altes ausatmen,
Neues einatmen), 83 (Den Kopf des Schafes anpreisen, und das Fleisch des Hundes verkaufen).
Zu Lüge (S. 241) Strategem 25 (Am Ziel seine Wegbegleiter verabschieden), 53 (Die schmutzigen Schuhe
verschwinden lassen), 76 (Als Strohkopf zum Meister werden).
Die LeserInnen werden schnell merken, wie doppelbödig oft die Moral ist und wie schnell sie instrumentalisiert
wird, um nicht immer einwandfreien Ziele zu erreichen. Darüber hinaus ist es ein Buch, dass all die Kniffe, Tricks
und Listen des Lebens offenbart, so dass sie allein schon dadurch etwas von ihrer Listigkeit verlieren.
Reinhard Kirste
André Chouraqui: Les dix commandements aujourd’hui. Dix paroles pour réconcilier l’homme avec
l’humain. Paris: R. Laffont (Februar) 2000, 287 S. (Die 10 Gebote heute, in französischer Sprache
Elie Chouraqui / Albert Cohen zusammen mit dem Projektinitiator und Autor Alain Mamou-Mani, dem Rektor
des Großen Moschee Paris, Dalil Boubakeur, dem Großrabbiner von Frankreich, Joseph Sitruk und dem
Bischof von Versailles, Msgr. Jean-Charles-Thomas – unter Mitarbeit von Nicolas Krausz: Les dix
commandements. Paris: A. Michel (November) 2000, 262 S.
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André Chouraqui, geboren 1917, ist als französischer Jude in Algerien aufgewachsen, also im Schnittpunkt der
drei großen abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam. Das hat seine ethische Weltsicht
geprägt und hat ihn veranlasst, das hebräische Alte Testament, das Neue Testament und den Koran ins
Französische zu übersetzen und sich nachhaltig für eine Versöhnung zwischen den Kulturen einzusetzen. Nach
dem 2. Weltkrieg war er Mitarbeiter von René Cassin, der den Text der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten
Nationen mit erarbeitet hat.
Elie Chouraqui, dessen Beziehungen zu André Chouraqui sich während der Redaktionsarbeit leider nicht mehr
klären ließen, hat besonders in Frankreich als Romancier und Filmemacher erhebliche Berühmtheit erlangt. Seine
musikalische Komödie, eher eine Rockoper “Les Dix Commandements” wurde ein durchschlagender Erfolg. Als
glaubender Jude, aber nicht die Riten praktizierend, hat er mit diesem geradezu gigantomanischen Stück (Budget
von fast 20 Millionen Mark) seine eigenen religiösen Wurzeln und damit seine Identität wieder gefunden. Für ihn
steht außer Frage, dass der Mensch Regeln des Zusammenlebens braucht, um nicht unterzugehen. Die 10
Gebote sind dazu ein optimaler Beitrag.
Als “Les Dix Commandements” im Palais des Sports in Paris im Spätsommer 2000 aufgeführt wurden, war das
der Anfang einer Erfolgsserie, die sich bei den Tourneen in anderen Städten Europas fortsetzte. Elie Chouraqui
als Drehbuchautor und Regisseur, Pascal Obisco als Komponist haben etwas in Szene gesetzt, was die
internationale Presse in Jubel ausbrechen ließ. Dieses so heiter umgesetzte Drama erzählt mit den Mitteln des
Films, des Chansons und des Musicals die Geschichte der Befreiung Israels durch Mose, des Prinzen von
Ägypten. So erleben die ZuschauerInnen und ZuhörerInnen den Auszug aus der Sklaverei, den Weg durch die
Wüste, die Erfahrung der neuen Freiheit und die Übergabe der 10 Gebote am Sinai.
Dieses Werk brachte nicht nur viele positive Kritiken auf den Plan, sondern auch das hier angezeigte Buch als
interreligiösen Diskussionsbeitrag (September 2000). So setzen also das “Musical” und das Buch eine Debatte
auf verschiedenen Ebenen fort, die André Chouraqui eher wissenschaftlich und ethisch angestoßen hatte
(Februar 2000). Dadurch lässt sich auch methodisch leicht das, was Elie Chouraqui umgesetzt hat, in die
Besprechung des Buches von André Chouraqui: “Les dix commandements aujourd’hui” (Die 10 Gbeote
heute) hineinnehmen. Seine Text-Gliederung bildet auch die Grundlage für diese Besprechung.
Der Autor gibt seinem Buch den Untertitel: “Zehn Gebote, um den Menschen mit dem Menschlichen zu
versöhnen”. Und er stellt seinem Text auf einer Doppelseite Folgendes voran (S. 9-11):
Links: die 3000 Jahre alten biblischen 10 Gebote nach der alten hebräischen Fassung oder “die allgemeine
Erklärung der Pflichten des Menschen”: “Ich bin der Herr, Dein Gott ...” (Ex 20, 2-17).
Rechts: Aus unseren Tagen einige Auszüge aus der Allgemeinen Menschenrechtserklärung, Proklamation der
Generalversammlung der Vereinten Nationen im Palais de Chaillot, Paris, vom 10. Dezember 1948: “Alle
Menschen werden frei und gleich an Würde und Rechten geboren ....”
Das Buch selbst ist in drei, sehr ungleich lange Teile gegliedert:
Der 1. Teil gibt eine Vorschau mit dem Titel “Von den Pflichten zu den Rechten des Menschen.”
Der 2. und damit der Hauptteil trägt den Titel “Die zehn Gebote” und ist vielfach aufgefächert in Hauptkapitel,
jedem einzelnen Gebot gewidmet, mit zahlreichen Unterkapiteln, die die Forderung des Gebots in
verschiedensten Religionen und im Hinblick auf eine globale Ethik aufzeigen. Hier äußern sich die genannten
Vertreter der monotheistischen Religionen in ähnlicher Weise im Buch von Elie Chouraqui unter den Stichworten:
Mose-Licht des Talmud, Mose - Prototyp des Christentums, Mein Freund Musa ( = Islam) über religiöse Moral
und Bürger-Ethik.
Im 3. Teil “Über die Religionen hinaus” werden Zusammenhänge und Durchdringung von Geboten der
Religionen und Menschenrechten noch einmal beleuchtet und die Möglichkeit ihrer Verwirklichung als
lebenswichtig für die Erhaltung der Erde erkannt.
Ein Anhang gibt die Erklärung der verschiedensten Namen des hebräischen Gottes, dessen eigentlicher Name
nicht genannt werden darf, und eine Bibliografie.
1. Teil: Von den Pflichten zu den Rechten des Menschen
André Chouraqui stellt die im Grunde für alle sichtbare paradoxe Situation dar, dass in der Theorie die 10 Gebote
oder ihnen sehr ähnliche Forderungen die ethische Grundlage fast aller Staaten der Erde bilden, während sie in
der Praxis in dramatischer Weise als handlungsweisend fehlen. Das ganze Problem einer neuen Ethik liegt darin,
Gesetzgebung und öffentliches Handeln, Absichtserklärung und Aktion zusammenzubringen. Chouraqui will den
Wert der mosaischen 10 Gebote zu Beginn des 21. Jahrhunderts ins Blickfeld rücken, indem er ihre Bedeutung
zur Zeit Moses, im Christentum, im Islam und verwandte Gebote in anderen Religionen vorstellt. Er stellt den
Zusammenhang über Zeit und Glauben hinweg her, der zu einer globalen Ethik führt, zu einer sowohl religiösen
als auch laizistischen Moral und einem menschlichen Grundgesetz.
2. Teil: Die 10 Gebote
Als Einstimmung geht Chouraqui bis zur Schöpfungsgeschichte zurück. Dort gab Gott den Menschen nur ein
Gebot: “seid fruchtbar und mehret Euch (Genesis 1,28)”, und ein Verbot: “ von dem Baum der Erkenntnis sollst
Du nicht essen (Genesis 2,17)”. Nach der Sintflut kamen noch weitere Gebote hinzu, da die Neigung des
Menschen zum Bösen wuchs. Doch die Menschen, zwar nach Gottes Bild geschaffen, aber nicht nur Geist,
versuchten die Grenze zwischen Gott und sich selbst mit dem Turmbau zu Babel zu verwischen.
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In den folgenden Kapiteln über jeweils ein Gebot verfolgt Chouraqui bewusst den gleichen Kapitelaufbau: Kurzer
Rückblick in die Geschichte, die Situation bei Moses und das Gebot in der hebräischen Bibel, die Auffassung im
Christentum mit deren Anwendung und oft Umkehrung des Geforderten, die Formulierung im Islam mit deren
Folgen, ähnliche Gesetze in anderen Religionen und schließlich der Ausblick auf eine daraus resultierende
globale Ethik. Auf faszinierende und völlig schlüssige Art und Weise verknüpft Chouraqui dabei altes und
modernes Gedankengut.
Das 1. Gebot stellt sich heute als Provokation dar: “Ich selbst der Herr, Dein Gott”, wo der moderne Mensch
Millionen Götter kennt. Gott ist ein Gott ohne Form, ohne Grenzen, ohne Geschichte, es sei denn im Menschen
selbst. Die Gebote stehen nicht am Ende einer Entwicklung, sondern bilden die Bedingung für die Einheit allen
Lebens mit dem Schöpfergott, für die Versöhnung von Mensch und Menschlichkeit.
Beim 2. Gebot ergibt sich eine Verschiebung gegenüber der christlichen Folge. “Es sollen für dich keinen
anderen Götter sein ..., du sollst dir kein Bild machen ...” ist im Christentum Teil des 1. Gebots, hier aber
selbständig. Dadurch rücken alle übrigen Gebote in der Numerierung eins weiter, bis schließlich das christliche 9.
und 10., das Begehren in jeder Form, in eins gefaßt werden, wie es das Buch Exodus wiedergibt. Das muss man
bei der weiteren Betrachtung im Auge behalten.
Das 2. Gebot war das für die aus dem alten Ägypten ausziehenden Hebräer am schwersten zu fassen: ein
unsichtbarer Gott ohne Abbild. Das Gebot zeigt eine ungeheure Kühnheit des klaren Gedankens im reinen Geist,
das “Sein, das war, ist, sein wird und sein macht.” In moderner Zeit gibt es eine Unzahl anderer Götter, Geld,
moderne Fetische, Internet etc., die nichts mit der schöpferischen Liebe Gottes gemein haben.
Das 3. Gebot “Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnütz brauchen” erkennt die Macht des
Wortes, der Magie und Beschwörung an. Durch falschen Gebrauch wird Unheil geboren, wie man z. B. erkennt,
wenn die Kreuzzüge im Namen Gottes geführt wurden. Chouraqui will den Namen Gottes entmythologisieren und
den Nächsten als Gottes Ebenbild anerkennen. Die Nächstenliebe schafft Humanität. Diese globale Ethik wird
getragen vom reinen Geist im Wort (“Im Anfang war das Wort”, Joh 1,1).
Das 4. Gebot “Erinnere dich des Feiertags” ist eine umwälzende soziale Neuerung. Sie bildet eine Allianz unter
allen Lebewesen, denn die Forderung nach Ruhe umfasst Mensch, Tier und die ganze Erde. Musse zum
Nachdenken über alle Probleme der Welt, im politischen wie realen Sinn, über Gott, Gesellschaft und Umwelt,
entscheidet nach Chouraqui über das Fortschreiten der Zivilisation zum Guten oder Bösen. Das Ausnutzen aller
Ressourcen der Erde jederzeit und überall zerstört auf Dauer die Welt. Ein Innehalten ist nirgendwo Realität, aber
die einzige Möglichkeit des Überlebens.
Das 5. Gebot “Preise (ehre) deinen Vater und deine Mutter” ist das einzige, das sich mit der Generationenfolge
befasst. Das Verehren des Vaters dehnt sich aus bis auf den Vater im Himmel, das der Mutter bis auf die Mutter
Erde. Achtung und Liebe in der Familie bei Gleichheit der Geschlechter sind die Grundlage der Gesellschaft, bei
Ungleichheit beginnen alle Dramen der Gewalt.
Hier macht Chouraqui einen Schnitt und weist darauf hin, dass das 1. bis 5. Gebot das Leben des Einzelnen und
in der Gruppe regelt, während sich das 6. bis 10. auf die Beziehung zum Anderen außerhalb des eigenen
Bereichs bezieht. Aus der Religion stammend, sind die Gebote eine Proklamation, sie wirken nicht legislativ
sondern edukativ. Nicht Rache steht im Vordergrund des Handelns sondern Gerechtigkeit.
Das 6. Gebot “Du sollst nicht töten” meint vorsätzliches Töten, aus Rache, aus Angst. Völlig widersinnig ist ein
Töten im Namen Gottes. Und einen gerechten Krieg, gibt es den? Wie war das gegen den Nationalismus? Beim
6. Gebot geht es um die Zukunft der Menschheit oder ihren Selbstmord. Die Welt hat nur eine Wahl zur Existenz,
das Leben und nicht den Tod.
Das 7. Gebot “Du sollst nicht ehebrechen”, so weist Chouraqui nach, ist eigentlich falsch übersetzt. Es sei
gedanklich viel weiter gefasst und betreffe jegliche moralische Illoyalität allen anderen gegenüber. Man sollte
diese Forderung nicht nur in der Ehe stellen, sondern auf die ganze Gesellschaft beziehen, die immer mehr
zerfällt. Nur eine frei gewährte Liebe und Achtung dem Nächsten gegenüber können Grundlage einer globalen
Ethik sein.
Im 8. Gebot “Du sollst nicht stehlen” sieht Chouraqui die Ethik des Nomadenvolkes in der Wüste. Das Gut des
anderen musste tabu sein, da sonst ein Überleben nicht möglich war. Das kennen alle frühen Kulturen. Noch
heute ist dieses Gebot Grundlage jeder sozialen und politischen Gesellschaft. Aber ein Fehlverhalten im Großen
läßt sich nur ändern, wenn jedes Individuum begreift, dass es selbst sich als erstes sozial verhalten muss.
Im 9. Gebot “Du sollst kein falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten” zieht Chouraqui die Verbindung zum
4. Gebot. Am Feiertag, wenn alle Arbeit getan ist, soll der Mensch hintreten vor Gott, ihm seine Sünden in
Wahrhaftigkeit bekennen und die Lüge ablegen. Doch die Lüge zieht sich wie ein roter Faden durch die
Geschichte, von den Worten der Schlange im Paradies mit ungeheuerlicher Konsequenz der Folgen bis zur
Unaufrichtigkeit der heutigen Menschen untereinander.
Hier beschreibt Chouraqui die schlimmste Lüge der Weltgeschichte: den Juden wird Gottesmord vorgeworfen
durch falsches Zeugnis gegenüber Jesus. Sie haben nichts Falsches gesagt, nur den Sinn seiner Worte nicht
begriffen. Durch systematische Dämonisierung der Juden meinten die Christen, ein Recht zu haben, sie zu töten.
Das mündete nach 2000 Jahren in die Shoa. Erst der jetzige Papst Johannes Paul II hat die Größe, im Namen
der Kirche das jüdische Volk um Vergebung zu bitten. Die Worte und die Form des allgemeinen
Aufeinanderzugehens müssen jetzt gefunden werden. Jeder Fundamentalismus ist falsches Zeugnis wider Gott.
Nur eine wahrhaftige Gesellschaft kann gut werden.
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Das letzte Gebot lautet im Alten Testament “ Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, ... Weib, Knecht
etc.”, was im lutherischen Katechismus in zwei Teile aufgeteilt ist. Chouraqui macht deutlich, dass neun Gebote
Handlungsakte betreffen, nur das 10. befasst sich mit reinen Intentionen. Aber das Begehren ist die Mutter aller
Laster und zerstört den Menschen innerlich. Durch die Doppelbedeutung des Verbs “begehren” hat das
Christentum jegliches sinnliche Verlangen negativ belegt und alle Sinnenfreude negiert. Man muss unterscheiden
zwischen wünschen und begehren, das erste ist positiv für jede Gesellschaft, das zweite zerstörerisch, weil das
Begehren fremden Besitzes politische und soziale Unruhen hervorruft und bis zur Vernichtung des Anderen
führen kann.
3. Teil: Über die Religionen hinaus — Eine allgemeine Veränderung
Chouraqui sieht die Menschen des 21. Jahrhunderts, traumatisiert durch den Horror der Verbrechen des letzten
Jahrhunderts, mehr befähigt als je zuvor, eine menschliche Welt zu schaffen. Die UNO hat mit allgemeiner
Zustimmung die Menschenrechtsdeklaration verabschiedet, die Ächtung von Völkermord, rassischer und sozialer
Diskriminierung und vieles mehr. Das Verhältnis von Juden und Christen wurde revidiert. Damit ist auch der Weg
zum Verständnis anderer Religionen geebnet.
Auf der Suche nach dem Bündnis aller Bündnisse: Um die Utopie eines allgemeinen Friedens zur
triumphierenden Wirklichkeit werden zu lassen, müssen die Menschen lernen, zwischen gut und böse zu
unterscheiden und entsprechend zu handeln. Die 10 Gebote gehören der ganzen Welt, sie öffnen den Weg in
eine Ethik, die nicht nur die Menschheit, sondern den ganzen Planeten retten kann. Sie könnten der Motor sein,
um endlich den Menschen mit der Menschlichkeit zu versöhnen.
André Chouraqui hat auf faszinierende Weise die Bedeutung der 10 Gebote geschildert, die Geschichte ihrer
Achtung oder Missachtung durch die Menschen im Laufe von drei Jahrtausenden und ihren Wert in unserer
heutigen Zeit als Grundlage der Menschenrechte. In ihrer Einhaltung sieht er die einzige Überlebenschance für
unsere Welt, da die Achtung des Anderen als Ebenbild Gottes alles Leben bedingt. Ich kann dem Buch nur eine
baldige Übersetzung ins Deutsche wünschen und ebenso, dass das “Musical” von Elie Chouraqui auch in
Deutschland bekannter würde.
Nachteilig bei beiden Buchausgaben ist das Fehlen eines Personen- und Sachregisters. Sehr wünschenswert
wäre eine kurze Biografie der jeweiligen Autoren, die sich auf Grund ihrer eigenen religiösen Basis so nachhaltig
zu ihrem Glauben an das Gute im Menschen bekennen.
Susanne Luke
Fincher, David (Regie): Sieben/Seven, USA 1995 (Spielfilm, 130 Min.)
Darsteller: Morgan Freeman, Brad Pitt, Kevin Spacey, Gwyneth Paltrow
David Fincher’s ‘Seven’ – für den Religionsunterricht geeignet?
Ein kranker Killer begeht nach der Vorlage der sieben Todsünden bestialische Morde und wird von zwei
Polizisten verfolgt und auf tragische Weise gestellt.
Bereits die kurze Inhaltsangabe zeigt das didaktische Dilemma auf, das für den unterrichtlichen Einsatz nicht
unerheblich ist: Die Frage nach der vorherrschenden Gewaltpräsentation, nach der Gewaltästhetik des Films
dominiert und untergräbt dabei die Frage nach dem religionspädagogischen Bezug, der so manifest über den
Titel des Films vermittelt wird.
Und so sind die Ekel- und Gewaltszenen zunächst die bleibenden Erinnerungen an ‘Seven’:
Bereits zu Beginn des Films sieht man einen aufgequollenen Leichnam, am Küchentisch mit seinem Kopf in einer
Mahlzeit versunken, vom Mörder gequält und gemästet, bis ihm der Magen platzte. Der zweite Mordfall zeigt
einen zerstückelten Menschen, der in kniender Position vor einem mit Blut besudelten Teppich aufgefunden wird.
Mit dem eigenen Blut, so wird von den Detektiven rekonstruiert, ist er genötigt worden, eine der Todsünden auf
den Boden (‘Greed’) zu schreiben und dann langsam zu verbluten. In beiden wie auch in den folgenden Fällen
besteht offenkundig ein Zusammenhang der gemeuchelten Person zu der jeweiligen Todsünde, die der Killer
dann auch als Grundlage seiner Vollstreckungsmethode wählt; so straft er den Fettleibigen mit Völlerei, den
Habgierigen mit Verstümmelung, etc..
Der Film bietet so einen exemplarischen Höhepunkt der populären Gewaltkultur im Kino und reiht sich ein in
Filme wie ‘Das Schweigen der Lämmer’ oder ‘Pulp Fiction’. Hier wird sorglos und mehr unter dem Aspekt des
ultmativen Tabubruches mit Gewalt umgegangen, als dass die entsprechenden Szenen einer dramaturgischen
Bedeutung für den Film zugeführt werden können.
Vor dem Einsatz im Unterricht ist daher unbedingt zu klären, ob wegen bzw. trotz der grausamen
Gewaltdarstellungen überhaupt von den Schülern ein Zugang zum Film gewonnen werden kann, der dann ggf.
auch noch effektiv für die Unterrichtsgestaltung genutzt wird.
Interessant zu erheben und maßgeblich für die Entscheidung über den Einsatz ist sicherlich auch, wer von den
Schülern den Film gesehen hat und wie er sie bewegt hat, nachdem er ab Herbst 2000 auch im FreeTv zu sehen
war. Zumindest ist das Werk für den Pädagogen von Belang als Beitrag zu einer Jugendkultur, die es
wahrzunehmen gilt.
Die Erkenntnis für den religionspädagogischen Bezug des Films ist durch die Art der vorherrschenden
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Darstellung zunächst eine negative; die sieben Todsünden erscheinen als eine beliebige Schablone, auf deren
Basis Morde von einem Pychopathen verübt werden. Das Böse kommt, wie wir es von den meisten
amerikanischen Filmen dieses Genres kennen, von außen, ist personell fassbar und auch schließlich durch die
Polizei zu bewältigen.
Dennoch werden die Akteure nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, nach dem gängigen Klischee Gut/Böse
gezeichnet. Morgan Freeman/Somerset spielt einen alternden Cop, der kurz vor seiner Pensionierung steht und
den Fall mit einer gewissen Gleichgültigkeit und Trägheit(!) angeht, Brad Pitt/Mills hingegen verkörpert einen
jungen dynamischen, aber auch jähzornigen(!) Polizisten, der obsessiv wirkt und am Fall mehr beteiligt ist als er
es eigentlich sein muss.
Die unterschiedlichen Charaktere der Hauptdarsteller, deren Beziehung zum Thema der Todsünden so zunächst
nur angedeutet wird, werden im Laufe der Handlung immer mehr von Gegen- zu Mitspielern des Mörders,
übertreten die Grenzen ihrer als gut gedachten Rolle und verwandeln sich von Akteuren zu Opfern. Kevin
Spacey/Doe als selbsternannter Vollstrecker bezieht die beiden Polizisten immer mehr ein in sein grausames
Spiel von Schuld und Erlösung, bis dieses sich verselbständigt und Täter und Verfolger gleichermaßen zu
Marionetten ihrer Emotionen werden und sich selbst in die Gewalt der Todsünden bringen:
Nach dem Fund des fünften Toten schlägt der Serienkiller der Staatsanwaltschaft ein Geschäft vor: Er will die
Orte der letzten zwei Verbrechen verraten, wenn die beiden Polizisten ihn dorthin begleiten. Tatsächlich
inszeniert er diese Verbrechen jedoch erst vor Ort und erkennt sich dabei selber als schuldig an einer der sieben
Todsünden. Doe beneidet(!) Mills um seine attraktive Frau, tötet diese und präsentiert deren Kopf den völlig
konsternierten Polizisten in einem Karton, woraufhin Mills den Killer in einem Zornesausbruch(!) erschießt. Doe’s
Todsünden-Metzelei ist schließlich zu Ende geführt worden, und bei der Vollstreckung der Richtsprüche über die
Todsünder waren die Polizisten selbst behilflich und beteiligt.
Spätestens zum Showdown also tut sich eine Perspektive auf, die durchaus einen tieferen Zugang ermöglicht und
auch zum Thema der sieben Todsünden führt. Die Verwischung der Charaktere und des Täter/Opfer-Klischees
stellt die Frage nach dem religionspädagogischen Bezug neu, und bei genauerem Hinsehen wird ein klassisches
anthropologisches Paradoxon erörtert: Die Verfolgung/Vermeidung des Bösen/der Todsünden führt zu deren
Ausführung!
Das zunächst vordergründige Thema der sieben Todsünden wird so dramaturgisch zu einem Problem der
menschlichen Wesenheit an sich, und auch auf der symboldidaktischen Ebene des Films kann eine
entsprechende Entwicklung nachvollzogen werden:
Der Film spielt im ersten Teil in düsteren und unheilvollen, lichtlosen Settings (heruntergekommene Wohnungen,
Dauerregen, dunkle Bibliotheken), und so lange die Protagonisten im Zwielicht tappen, erlaubt ihnen der
Regisseur nicht einmal, das Licht anzuschalten. Und das Thema der sieben Todsünden selber hat ja etwas von
einer dunklen, mittelalterlichen Antiquiertheit, deren Bedeutung für den Menschen von heute nur schwer zu
fassen ist.
Am Ende aber wird das Licht eingeschaltet, der Showdown findet in einer hell erleuchteten, typisch
amerikanischen Wüstenlandschaft statt, und plötzlich ist die Frage nach den sieben Todsünden auch erhellt. Nur
für den ersten Moment verweilt sie im Dunkeln und lässt sich als überholt vernachlässigen, tatsächlich stellt sie
sich sowohl als aktuelle anthropologische wie soziale Frage für die Gesellschaft von heute und erfährt durch
diesen Film eine Aktualisierung auch für den Zuschauer. Das Böse ist nicht nur außen, wie zunächst vermutet,
sondern der Eigenart der Menschen inhärent, und erst ‘die Sonne bringt es an den Tag’.
Schade nur, das diese Aussage des Films bei lauter Blut und Leichenteilen nur schwer erkenntlich ist. Und so ist
und bleibt ‘Seven’ ein Film, den ‘man gesehen haben sollte, aber nie mehr wieder sehen will ”(so der Kommentar
eines Filmrezensenten der Berliner Morgenpost zur FreeTV-Premiere).
Ulrich Vaorin
Holl, Adolf: Jesus in schlechter Gesellschaft. Neuauflage. Stuttgart: Kreuz 2000, 190 S.
Bei seiner ersten Erscheinung 1971 bewirkte das Buch einen Skandal und nicht nur katholische Dogmatisten
fühlten sich beleidigt. Die Folgen dieser, aber auch weiterer Veröffentlichungen waren erheblich. Dem 1930
geborenen und damals in Wien arbeitenden katholischen Priester und Dozenten wurde nicht nur die
Lehrerlaubnis entzogen. Er wurde auch von seinem Priesteramt suspendiert. Jesus so menschlich, also auch
sündhaft und den Sündern derart zugeneigt darzustellen, Jesus so dicht an die Armen und Entrechteten, aber
auch an die zweifelhaften Gestalten heranzurücken, das war ein Skandal, den die Amtskirche nicht hinzunehmen
bereit war. Aber dieses Buch wurde gerade um dieser veränderten Denkrichtung willen ein Bestseller!
Man muss ja nicht mit allen Beurteilungen Holls einverstanden sein, aber den goldenen Heiligenschein Jesu
angekratzt zu haben, ist sein unschätzbares Verdienst. Jesus - nicht der entrückte Gottessohn, sondern ein
Mensch mit provokanter Lebenslinie, das ist natürlich bis heute ein Ärgernis, umso mehr, als ein solch
wahrhaftiger Mensch Gott gewissermaßen ebenbürtig wird , aber eben als Mensch und nicht im dogmatischen
Sinne eines Gottessohnes! In den einzelnen Kapiteln des Buches kommt diese Tendenz entsprechend zum
Ausdruck: Ein erstaunlicher Lebenslauf, ungesetzliches Verhalten, Jesus oder Christus ( = wahrhaft Mensch), Ich
habe nie ein Haus bewohnt, Haltet mich nicht fest, Zug nach unten, Sonst reden die Steine, Freunde nenne ich
euch.
So bekommen die provozierenden Aussagen und Handlungen Jesu durchaus eine “Fallgeschwindigkeit”, die
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seine Chance, schon zu seinen Lebzeiten etwa kirchlich anerkannt zu werden, gegen Null tendieren lässt.
Schließlich war Jesus einer, der seine Familie verließ, Jünger um sich sammelte, die damit ihren Broterwerb
aufgaben und sich wie Leute in diesen oft seltsamen neuen religiösen Bewegungen verhielt, also ein obdachloser
Wanderprediger, gefolgt von einigen Spinnern, die den Himmel auf Erden herbeisehnten und denen Jesus doch
eine richtige Revolution vorenthielt. Erst später hat man ihm den Heiligenschein quasi umgehängt.
Jesus, der Sünder, und doch geprägt von einer Menschlichkeit, durch die Gottes Liebe flutete. Adolf Holl macht
keinen Hehl daraus, dass er diesen Jesus mehr verehrt als den dogmatisch gestylten Jesus Christus des
späteren Christentums.
Die christologischen Streitigkeiten der Kirche um die Göttlichkeit und Menschlichekit Jesu ein Streit um Gottes
Bart? Das wohl weniger, sondern vielmehr eine notwendige Korrektur unserer golden eingefärbten Jesusbilder,
damit wir das wahre Ärgernis, das von diesem Jesus ausging, heute wieder spüren. Insofern lohnt es sich, dass
dieses Buch wieder auf dem Markt ist.
Reinhard Kirste
Khawam, René R. (Hg. und übers.): Le livre des ruses: la stratégie politique des arabes. Traduction
intégrale sur les manuscrits originiaux par R.R.Kh. Paris: Phébus (1976), 2. Aufl. 1991, 447 S. (ausführliches
Inhaltsverzeichnis) ( = “Das Buch der Listen. Die politische Strategie der Araber”)
In diesem Buch finden wir gewissermaßen das arabische Pendant zu den chinesischen Strategemen. Es wurde
100 Jahre vor dem berühmten Buch Machiavellis “Il Principe”, also im 13. Jahrhundert, geschrieben und bezieht
viele inzwischen verloren gegangene Texte mit ein, die sich damit faktisch nur über dieses Manuskript
erschließen lassen. Der Autor von “Le livre des ruses” ist unbekannt, er muss aber höchst belesen gewesen sein
und dürfte aus Ägypten oder aus dem Iran stammen.
Wir entdecken hier, wie sich arabische Lebenskunst zwischen den Strategemen Chinas und westlicher Moral
etabliert hat und eine Fülle von Lebens- und Überlebensstrategien entwickelt hat.
Der Herausgeber und Übersetzer, René Khawam, wurde 1917 in Aleppo (Syrien) geboren. Mit der Übersetzung
arabischer Manuskripte in europäische Sprachen ist er berühmt geworden. Mit diesen Texten nun legt er
Strukturen und Facetten arabischen Denkens vor, die den Westen mit seinen Moralvorstellungen eigentlich nicht
erschüttern dürften, besonders wenn man sich die skandalöse Arroganz ansieht, mit der “Il Principe” zu einem
politischen Besteller aller Zeiten gemacht wurde. Hinzu kommt die gerade zu schamlose Ignoranz, die nicht
wahrhaben will, dass die arabischen Rregierungen und Potentaten - teilweise durch Petrodollars immens reich
geworden – nun mit denselben Mitteln “zurück zahlen”, mit denen sie zuerst als Instrumente westlichen
Kolonialstrebens instrumentalisiert und ausgebeutet wurden.
Ursache vieler Missverständnisse und Vorurteile ist jedoch allein schon das Wort “ruse” bzw. “List”. Der Autor
macht auf die Vielschichtigkeit arabischer Begrifflichkeit und Sprache aufmerksam, die zwischen Kunstgriff,
Zielstrebigkeit und Täuschung schwankt (S. 11). Erst die einzelnen Geschichten machen diesen
Variantenreichtum auch für europäische LeserInnen deutlich.
Immerhin muss man unterscheiden zwischen der nützlichen Klugheit der Profeten, die aus der Weisheit Gottes
heraus handelten und lebten, den “Listen” der Engel und Geister (Djinn), den Taktiken der Kalifen, Könige,
Sultane, der Richter und “Ehrenmänner”, sowie der frommen und asketisch lebenden Männer.
Da wird hohes Differenzierungsvermögen gefordert, um die verschiedenen Ebenen der “Listen” richtig
einzuschätzen. Für platte Voruteile taugt also dieses Buch sehr wenig.
Daraus lässt sich sogar schließen: Was heute an “arabischen Listen” entdeckt wird, war im Grunde längst
vorhandenes Wissen im Horizont des Mittelmeerraumes: Geschichten und Gleichnisse, die über Jahrtausende
tradiert und zur Alltagsbewältigung eingesetzt wurden. Schon Abraham wandte nach dem Koran Listen an, um
die Götterbilder zu zerschlagen (vgl. S. 135 f), und das geht bis in die Politik von heute.
Also: Ein lohnendes, ein heiteres, aber auch nachdenklich machendes Buch, das zeigt, wie schwer ein friedliches
und harmonisches Zusammenleben von Menschen und Gesellschaften zu allen Zeiten war und immer bleiben
wird. Gewisse Regeln jedoch erkennen, durchschauen und ethisch zum Wohle möglichst vieler umzusetzen, das
steckt letzlich hinter all den Listen, Strategemen und taktischen Versuchen, die Menschen oft genug eben nicht
im Sinne des Gemeinwohls, sondern zur Befriedigung eigener Interessen missbraucht haben und leider weiterhin
missbrauchen werden.
Reinhard Kirste
Konrad Lorenz: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit. München/Zürich: Piper 1973, 219 S.
Konrad Lorenz beschreibt in seinem Buch “Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit” Sünden wider die
biologischen Grundlagen der Menschheit, die seiner Meinung nach auf längere Sicht den Untergang der
Menschen bewirken werden. Nach Lorenz sind Werte wie Liebe, Hass, Treue, Vertrauen, Misstrauen, usw.
Antriebssysterne, die wertneutral zu betrachten sind, d.h., sie sind weder gut noch schlecht. Probleme entstehen
nur, wenn sie nicht im Gleichgewicht sind. Die Natur und somit auch der Mensch wird von Regelkreisen gesteuert
(d.h. Systeme beeinflussen sich gegenseitig). Normalerweise treten in der Natur Regelkreise mit negativem
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Feedback auf, d.h. je stärker auf ein Glied der Kette eingewirkt wird, umso schwächer wirkt es auf das darauf
folgende ein. Das nennt man das Prinzip der Homöostase. Probleme treten dann auf, wenn sehr große
Teilfunktions-Störungen vorhanden sind oder das Regelsystem an sich gestört ist. Solche Störungen sind in den
von Lorenz genannten “acht Todsünden” gegeben. Diese Todsünden sind nach Lorenz:
1. Die Überbevölkerung: Der Mensch kann nur eine begrenzte Anzahl anderer Menschen lieben oder mit ihnen
befreundet sein. Wird die Anzahl der Menschen in der näheren Umgebung zu groß, so bedeutet das Stress.
Durch Stress wird aggressives Verhalten gesteigert. Das Gleichgewicht zwischen Liebe und Hass ist gestört.
2. Die Verwüstung des Lebensraumes: Die Verwüstung des natürlichen Lebensraumes des Menschen nimmt
immer größere Ausmaße an. Diese zerstört weiterhin die Ehrfurcht vor der Größe und Schönheit einer über
dem Menschen stehenden Schöpfung.
3. Der Wettlauf des Menschen mit sich selbst: Wenn Individuen derselben Art miteinander in Wettbewerb treten
und durch Selektion Einfluss auf die Entwicklung nehmen, kommt es zu positiver Rückkopplung in einem
System, das zu lawinenartigem Anschwellen von Einzelwirkungen führen kann. So werden Dinge wie Geld
und Zeit zum absoluten Wertmaßstab, die den Menschen daran hindern die einzige spezifisch menschliche
Fähigkeit, die der Reflexion auszuüben.
4. Der Wärmetod der Gefühle: Menschen verweichlichen durch ihre eigene Kultur. Sie sind nicht mehr bereit,
Unlust für spätere Lust auf sich zu nehmen. Sie möchten sofortige Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Freude ist
jedoch ohne überwundene Unlust nicht zu haben.
5. Der genetische Verfall: Nach Lorenz wird heute das Verhalten des Menschen zu stark durch Umwelt- und
Lernfaktoren erklärt. Soziale Faktoren wie ein natürliches Rechtsempfinden sind seiner Meinung nach jedoch
zu einem nicht zu vernachlässigenden Teil vererbt, d.h. anständige Menschen sollten sich fortpflanzen, um die
Menschheit weiter zu entwickeln.
6. Das Abreißen der Tradition: Die Jugend tendiert zur sogenannten Scheinartenbildung, um sich von
Erwachsenen abzusetzen (uniformierte Kleidung, Slang ...). Dies hat zur Folge, dass Angriffe auf Erwachsene
legitim werden, da es sich bei ihnen ja nicht um wirkliche Menschen handelt, sondern um eine andere Art.
Kinder haben kaum noch ldentifikationsmöglichkeiten, da sie ihre Eltern nicht mehr bei der Arbeit erleben.
Durch all diese Faktoren wird es schwierig, der Jugend den Wert der eigenen Kultur nahezubringen. In der
kulturellen Überlieferung sind jedoch wichtige arterhaltende Erfahrungen gespeichert, die so nicht mehr
genutzt werden können.
7. Die zunehmende lndoktrinierbarkeit: Die Masse der Menschen und die Möglichkeit, sie über Massenmedien
zu beeinflussen führen zu einer nie da gewesenen Manipulierbarkeit des Menschen seitens der
Großproduzenten.
8. Die Aufrüstung mit Kernwaffen: Nach Lorenz beschwört die Aufrüstung mit Kernwaffen Gefahren für die
Menschheit herauf, die leichter zu vermeiden sind, als die sieben vorher genannten Todsünden.
Das Buch ist insgesamt interessant und anschaulich geschrieben, Lorenz verwendet jedoch teilweise
ungewöhnliche Fremdwörter, die das Lesen des Buches manchmal erschweren. Manche Passagen sind bereits
von der Entwicklung der Forschung überholt (z.B. die Anlage-Urnwelt-Diskussion) und die Beispiele sind nicht
mehr alle ganz zeitgemäß (z.B. zu jugendlichen Subkulturen). Insgesamt jedoch ein lohnendes Buch.
Gudrun Heinrichmeyer
Anne Maguire: Die dunklen Begleiter der Seele. Die Sieben Todsünden psychologisch betrachtet. Zürich
und Düsseldorf: Walter 1996, 288 S.
Dr. med Anne Maguire praktizierte viele Jahre in London und Paris als Dermatologin. Seit einem Zusatzstudium
am Jung-Institut in Zürich führt sie eine psychotherapeutische Praxis in London. Im Rahmen ihrer Tätigkeit als
Psychotherapeutin stieß Anne Maguire immer wieder auf die “7 Todsünden". Sie versteht diese nicht im Sinne der
alten Kirchenväter als allgemeingültigen Wertekatalog, sondern als psychologische Wahrneit, als eine Darstellung
des Schattens im Sinne von C.G. Jung, d.h. des Bösen im Menschen.
Anne Maguire weist darauf hin, wie wichtig es ist, das Dunkle in unserem eigenen Innenleben zu erkennen, das,
was unsere Beziehung zu unserer Seele, zu unseren Mitmenschen und zur Natur zerstört. Wollen wir unsere
destruktive Seite verändern, sie beherrschen, so ist es wichtig, sie bewusst wahrzunehmen und sich mit ihr
auseinander zu setzen. Diese Auseinandersetzung betreibt die Autorin anhand der 7 Todsünden und ihrer
Äußerungen im Alltag ihrer psychotherapeutischen Praxis.
Das Buch ist in Kapitel zu den einzelnen Todsünden (Stolz – Superbia, Zorn – lra, Eifersucht – lnvidia, Trägheit Acedia, Wollust – Luxuria, Geiz – Avaritia, Völlerei – Gula) gegliedert. Am Anfang der Kapitel steht jeweils eine
Einstimmung, die Allgemeines zum Thema enthält und die Sünde beschreibt. Danach folgt jeweils eine
etymologische Betrachtung, in der die Bedeutung und der Wandel der relevanten Begriffe in den verschiedenen
Sprachen und Zeitaltern behandelt wird. Danach folgen Fallbeispiele aus ihrer eigenen Praxis, die verdeutlichen,
wie sich die jeweilige Todsünde in der Psyche des betroffenen Menschen zeigt, sowie Beispiele aus dem Alten
Testament, Dantes Göttlicher Komödie, der griechischen, römischen, germanischen und asiatischen Sagenwelt.
Das Buch beschreibt das Thema ausführlich und umfassend; um die psychologische Betrachtungsweise des
Buches jedoch wirklich zu verstehen, wäre es sinnvoll, sich vorher mit der Begrifflichkeit Jungs vertraut zu
machen, da die Autorin Begriffe wie “Schatten", “Animus", “Anima", “Archetyp", “Komplex" benutzt, ohne diese
weiter zu erklären.
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Gudrun Heinrichmeyer
Fritz Pasierbsky: Lügensprecher - Ehebrecher - Mordstecher. Warum wir nicht lügen sollen und es doch
nicht lassen können. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 1996, 219 S.
Fritz Pasierbsky wurde 1949 geboren. Der Sprachwissenschaftler und Sinologe ist Professor für deutsche und
allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Paderborn. Sein Buch bezeichnet er als einen “ungewöhnlichen Umschlagplatz menschlicher Ansichten und Meinungen über das Lügen” (S. 11). Er stellt seiner
Einleitung die deutsche Volksweisheit “Wer immer ganz offen ist, kann nicht ganz dicht sein” (S. 7) voran.
Es geht um die Auseinandersetzung zwischen den beiden Positionen: dem absoluten Wahrheitsgebot einerseits:
“Man muss immer die Wahrheit sagen (= Man darf niemals lügen)” und dem offensichtlich empirischen Befund
andererseits: “Es ist unmöglich, ohne Lüge zu leben (= Man muss lügen)”, wie schon der 116. Psalm sagt: “Alle
Menschen lügen” (S. 8).
Der Autor selbst will ausdrücklich für keinen der beiden Standpunkte Partei ergreifen. Partei ergriffen wird in den
sechs verschiedenen Kapiteln für den Menschen, der sich “immer wieder um Wahrheit bemüht und doch
schwindelt” (S. 11), der sich im Spannungsfeld dieser beiden ambivalenten Positionen durch das Leben schlagen
muss.
So treffen wir im 1. Kapitel mit dem Titel “Lügen aus Barmherzigkeit” auf die kritische Auseinandersetzung mit
Jurek Beckers Roman “Jakob der Lügner”. Jakob ist Bewohner des jüdischen Ghettos einer polnischen Stadt
während der deutschen Besatzung. Er wird angesichts der lebensbedrohlichen Situation zum Lügner – und damit
zum Hoffnungsträger für die Menschen seiner Umgebung. Am Ende bricht das Lügengewebe zusammen, und
Jakob ist das Opfer.
Im 2. Kapitel mit dem Titel “Ein Lobgesang auf die Lüge?” nimmt ein tibetischer Mönch Stellung zu Volker
Sommers Buch “Lob der Lüge”. Der Autor F. Pasierbsky verrät uns den Namen des Mönches nicht, so dass es
beim Lesen dieses Kapitels schwer fällt, die Ausführungen des Autors und die Ansichten des tibetischen
Mönches voneinander zu unterscheiden.
In seinem Buch rechtfertigt Sommer vom Standpunkt der Verhaltensforschung aus die Lüge. In seiner Argumentation stützt er sich besonders auf die Forschungen von R. Dawkins und J. Krebs über das “egoistische” bzw.
“zynische Gen” bei Tieren und Menschen. Damit gehört, so folgert er, die Lüge zur psychologischen
Grundausstattung des Menschen und ist Motiv für Evolution und Geschichte. Für ihn gilt die Formulierung
Dawkins: “Individuen sind nichts als Überlebensmaschinen, programmiert von Genen, um mehr Gene zu
machen” (S. 37).
Der tibetische Mönch will sich ausdrücklich nicht als Vertreter einer offiziellen religiösen Lehrmeinung äußern. Er
bringt seine persönliche Betroffenheit über Sommers Buch und der Definition des Menschen als lügnerischer
Kampfmaschine zum Ausdruck, in der Hoffnung, dass Buddha und die Lehre ihm bei seiner Argumentation helfen
mögen.
“Politiker gleich Lügner?” ist die Kernfrage und der Titel des 3. Kapitels. Das inszenierte Streitgespräch
zwischen dem altchinesischen Weisen Konfuzius und dem an Macht orientierten Machiavelli über das Lügen in
der Politik ist eine Montage aus verschiedenen Textausgaben. Hintergrund für diese Inszenierung ist das
internationale Symposium in Hammamet Tunesien 1994 mit dem Thema “Lügen in der Politik”, initiiert durch den
Sufi-Gelehrten Al Tariq, der durch seinen Friedens- und Wahrheitsappell heftige kontroverse Diskussionen
auslöste.
Konfuzius setzte vor 2500 Jahren darauf, dass sich ein geordnetes Gemeinwesen ohne die sittlichen Grundsätze
wie Ehrlichkeit und Recht nicht verwirklichen lässt. Für Machiavelli galt vor 500 Jahren in seinen “Regeln der
Staatskunst” hingegen der Primat der Macht gegenüber dem Primat der sittlichen Grundsätze.
Im 4. Kapitel mit dem Titel “Das Tao kennt keine Lüge” lesen wir die Briefe des taoistischen Mönches Pu
Wuwei an den heiligen Augustinus vor 1500 Jahren. Er erbittet von Augustinus Belehrung über die
Jakobsgeschichte im Alten Testament, wo Jakob beim Erlangen des Erstgeborenenrechtes als Betrüger
dargestellt wird. Wie steht es um die Thesen “Lügen um keinen Preis” und “Wenn einer eine Spange stiehlt, so
wird er hingerichtet. Wenn einer ein ganzes Land stiehlt, so wird er Landesfürst” (S. 116)? Pu Wuwei hat diese
Briefe offensichtlich mit der Absicht geschrieben, in der Auseinandersetzung mit Augustinus einen eigenen
taoistischen Standpunkt zum Thema Lügen zu entwickeln. Es bleibt anzumerken, dass die Antwortbriefe des
Augustinus nicht mehr erhalten sind, sondern nur durch die in Pu Weis Briefen angeführten Zitate zu
rekonstruieren sind. Am Ende seines letzten Briefes fasst Pu Wuwei seine Erkenntnisse zusammen: Es ist das
Tao als Weg und Sinnorientierung.
Im 5. Kapitel “Wer lügt, der stiehlt” untersucht der Autor deutsche Sprichworte auf den Zusammenhang
zwischen Lügen und Gewalt. In Bezug auf Siegmund Freud, die Analyse von biblischen Geschichten sowie eine
Skizze über Tristan und Isolde macht Pasierbsky deutlich, dass Lügen tiefenpsychologisch mit Gewalthandlungen
zusammenhängt. Er arbeitet unter anderem eine allgemeine Struktur von Lügenprozessen heraus. Mit diesem
Handlungsmuster lässt sich das Lügen beschreiben und deuten.
Im 6. Kapitel fragt der Autor: “Lässt sich Liebe auf Lüge aufbauen?” Es geht hier um die These: Tristans und
Isoldes Liebe ist eine Lügengeschichte! Pasierbsky analysiert, welche besondere Lügenstruktur in dem Roman
von Gottfried von Straßburg um 1210 auftreten. Die Frage “Sind Liebe und Lüge miteinander vereinbar”
beantwortet er in einem Paradoxon: Ja und Nein! (S. 203).
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Der Anhang enthält eine Sammlung deutscher Sprichwörter und sprichwörtlicher Redensarten über das Lügen.
Resümee: Das vorliegende Buch untersucht eingehend das Phänomen des Lügens und richtet sich an alle, die
im Spannungsfeld zwischen Lüge und Wahrheit ihren Weg suchen. Gegensätzliche Standpunkte und ihre
Komplexität werden deutlich. Der Leser erhält wertvolle Orientierungshilfen u.a. durch vielfältige und ausführliche
Literaturhinweise für die persönliche Auseinandersetzung und die Entwicklung eines eigenen Standpunktes zum
Thema “Lügen”.
Renate Straßburger
Schimmel, Solomon: The Seven Deadly Sins. Jewish, Christian, and Classical Reflections on Human
Nature. New York u.a.: Free Press/Macmillan 1992, 298 S., Register, Abb.
Der Professor für jüdische Pädagogik und Pschychologie am Hebrew College in Brookline (Massachusetts)
nimmt die christliche Tradition der 7 Todünden von jüdischer Seite auf und reflektiert sie an Christentum, Islam
und an anthropologischen Grundvoraussetzungen (ähnlich wie A. Chouraqui). Er hebt sich von der gängigen
Meinung ab, dass die “7 Todsünden” ein mittelalterlich-veraltetes Thema seien, vielmehr sind sie gefährlicher und
tödlicher denn je, weil sie Teil der menschlichen Natur sind (sowohl was das Individuelle wie das Soziale angeht).
Im Grunde ist es ein Jammer, dass uns die zunehmende Säkularisierung mit der Psychologie allein gelassen hat,
wenn es um unsere Schwächen, überhaupt um unsere “gefallene Natur” geht. So fehlt der heutigen Psychologie
ein adäquates Kriterienraster, wenn man etwa an die Probleme von Drogen der verschiedensten Art denkt (vom
Alkohol bis zum hemmungslosen Konsum). Die vielen Hilfsprogramme und Selbsthilfegruppen (z.B. Anonyme
Alkoholiker) zeigen unseren hemmungslosen “Appetit” (“Habgier” u.a.).
Gerade die “New Age”-Bewegung hat auf die religiöse Notwendigkeit personaler Therapie aufmerksam gemacht,
auch wenn manches bizarr anmuten mag. Zwischen Delphin-Therapie und schamanistischen Ritualen hat sich
ein weites Feld von “Patchwork-Religiosität” aufgetan, ohne dass wirklich den Ursachen all dieser “Laster”
nachgegangen würde. Bezöge man sich stattdessen intensiver auf die traditionellen religiösen und moralischen
Lehren über Sünde und Tugend, käme man dem menschlichen Ursprung näher. Die großen Religionen haben
innerhalb ihrer jeweiligen Konzeption konsequent eine menschliche Zielbestimmung angegeben, die über den
Tod hinaus reicht. In der ethischen Umsetzung heißt das, das wir Glück nicht ohne Selbst-Kontrolle ( =
Achtsamkeit) oder durch “Tugend” erreichen können.
Es lohnt sich also, die psychologische Weisheit der Religionen neu zu entdecken und für das eigene und
gesellschaftliche Verhalten fruchtbar zu machen. Dass Judentum, Christentum und Islam dabei unterschiedliche
Visionen haben unterstreicht nur noch die Zielangabe einer Meisterung des Lebens von einem Verständnis des
Göttlichen her, das Schimmel im Blick auf die drei monotheistischen Religionen nun auch für jede der Todsünden
eigenständig untersucht. Er zeig, wie in diesem Kontext die säkulare moderne Psychologie “zu kurz springt”, weil
die sozialen Konsequenzen jeder einzelnen Todsünde verheerende Wirkung zeigen, man denke an Stolz und
Arroganz, an Völlerei und Pornografie, an Habgier und Drogenmissbrauch, an Neid und Terrorismus, an Trägheit
und Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden anderer, an Zorn und Gewalt, an Gier und Misstrauen, an Stolz und
Diskriminierung ... Diese Reihe von aktuellen Gegenüberstellungen zu den “klassischen” Todsünden (pride, envy,
anger, lust, gluttony, greed, sloth) und die Art, wie Schimmel diese Gedanken aufbereitet, zeigen, dass wir ein
aufregend zu lesendes Buch vor uns haben, das schon fast 12 Jahre auf dem Markt ist und von dem es bisher
leider keine deutsche Übersetzung gibt.
Eigentlich lässt sich die Botschaft Schimmels sehr prägnant zusammenfassen, wenn man/frau die “7 Todsünden”
wirklich ernst nähme: Vergesst euere religiösen Wurzeln nicht, sie geben euch Halt und tragen euch auch durch
schwierige Situationen des Lebens.
Reinhard Kirste
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Schmid, Wilhelm: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. stw 1385. Frankfurt/M.: Suhrkamp
1998, 566 S. ;Register
Schmid, Wilhelm: Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000,
183 S.
Landläufig ist man/frau von Philosophen Hochkarätiges, Hochgestochenes und oft schwer Verständliches
gewöhnt. Da ist es umso erstaunlicher, wenn sich einer aus den Gefilden der Wissenschaft aufmacht, praktische
Philosophie zu lehren, und zwar im Sinne von Kunst, das Leben so zu gestalten, dass es rundherum bejaht
werden kann. Da werden sogar die Medien aufmerksam, und der Philosoph wird in den Talkshows des
Fernsehens herumgereicht.
Nun hat der Autor, geb. 1953, offensichtlich biografische Wurzeln, die ihn das Bodenständige nie vergessen
ließen. Er kommt von einem Bauernhof, wo das Bücherlesen nicht gerade eine intensiv geübte Tätigkeit war. Und
diese “Erdanhaftung” hat Schmid bewusst aufgenommen, gerade nachdem er Dozent der Philosophie in Erfurt
wurde.
Seine Philosphie der Lebenskunst hat darum ein starkes ethisches Schwergewicht. Im Kontext der Moderne fragt
er nach Lebensnomen und Lebensstilen für sich, die anderen und die Gesellschaft. Insofern liegt das Schulfach
“Praktische Philosophie” in Nordrhein-Westfalen durchaus in der Denkrichtung des Autors, auch wenn er sich
dazu verständlicher Weise nicht äußert, geht es doch nicht um schulpraktische Konsequenzen, sondern um
Basis-Aussagen.
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Die einzelnen Themen sind neben philosophie- und psychologiegeschichtlichen Skizzen Hinführungen zu:
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Freiheit und daraus erwachsende Lebenskunst
Veränderungen der Machtstrukturen, auch verstanden im Sinne von:
Politik als humanistische Lebenskunst
Autonomie, Demokratie und Wahlmöglichkeit
Selbst-Gestaltung für das Individuum und für die anderen, auch im Sinne gesellschaftlicher Gruppen
Erlernen von Lebenskunst als hermeneutisches und pädagogisches Programm
Ästhetik im Sinne von: Das rechte Maß finden, und zwar vom Lustgenuss angefangen, über den Umgang mit
der Zeit bis hin zur Gelassenheit, dabei aber ausgerechnet den Zorn (!) nicht vergessend.
Schließlich sozusagen als Gipfel der Lebenskunst: Ökologisches Bewusstsein und Weltgestaltung.
Dies alles geht ohne Transzendenzbezug, ist also eine innerweltliche, sich bewusst begrenzende praktische
Philosophie, die letztlich jedoch zur Grundlegung für ein angenehmes Leben wird, das der einzelne allein und mit
anderen genießen kann.
Ob das denn wirklich schon ausreichend ist, mag besonders angesichts der Frage nach Gerechtigkeit vorerst
dahin gestellt bleiben, weil Schmid Verfahrensmuster entwickelt, die die Menschenrechte allerdings ausdrücklich
mit einbezieht:
“Sich um die Menschenrechte sorgen, ist grundlegend für jede reflektierte Lebenskunst, denn der Geltung von
Menschenrechten ist die Ermöglichung von Lebenskunst von Grund auf zu verdanken: Diese Rechte – Recht
auf Leben, auf Menschenwürde, auf Freiheit der Person, freie Entfaltung der Persönlichkeit, körperliche
Unversehrtheit, Meinungs-, Glaubens-, Gewissensfreiheit – haben die Ermöglichung der freien Lebensgestaltung
jedes einzelnen Individuums im Blick, und sie können als ’natürliches Recht’ ohne weitere Begründung von jedem
einzelnen auch dort in Anspruch genommen werden, wo ihre Geltung nicht staatlich garantiert ist” (S. 179).
Im Buch “Schönes Leben?”, das zu einem nicht geringen Teil Auszüge aus der “Philosophie der Lebenskunst”
enthält, spitzt er die Thesen dieses zuvor erschienenen Buches zu, indem er konkretisiert, was er unter einem
schönen Leben versteht und wie jede/r einzelne dorthin kommen kann. Interessant ist dabei die schon erwähnte
eher positive Einschätzung einer bestimmten Form des Zorns:
“Ein Fehler wäre, den Zorn zu unterschätzen, ein anderer, ihn zu verachten. Der Zorn ist der Stachel, der das
Selbst daran hindert, nur ‘gut’ zu sein. Unverzichtbar ist es jedoch, um gegen das Intolerable in Bewegung zu
kommen, das hinzunehmen ein Zeichen von Selbstmissachtung wäre; dabei geht es keineswegs nur um das,
was das Selbst unmittelbar selbst betrifft, sondern auch um das, was Anderen widerfährt ... Das Subjekt der
Lebenskunst sieht seine Aufgabe darin, Formen des Ausdrucks selbst auszuwählen und auszuarbeiten, sowie
Formen des Umgangs mit dem Zorn einzuüben, in die er eingebunden werden kann” (S. 95).
Hier lässt sich durchaus eine gewisse Nähe zu Brechtschen Umwertung der 7 Todsünden entdecken, bleibt hier
aber auf den Zorn beschränkt, während in anderen Zusammenhängen Ansätze im Blick auf die Gier festzustellen
sind (z.B. wenn es mehr als um ein bloßes Wollen geht, S. 203 in der “Philosophie der Lebenskunst”).
Bei der eingrenzenden Bewertung beider Bücher zeigt sich im Blick auf das vorliegende ICT-Heft zu den
7 Todsünden, dass Schmid beide Male haarscharf an der Problematik der Todsünden vorbeigleitet. Das hängt
wohl zum einen damit zusammen, dass (sofern ich genau genug gelesen habe) das Wort “Sünde” überhaupt
nicht und das Wort “Schuld” nur am Rande vorkommt. Zum andern scheinen die Linsen, mit denen er dieser
Thematik denn doch nahe kommt, so eingestellt zu sein, dass hinter seinem Humanitätsverständnis eine dunkle
Folie auftaucht, die das Zerstörungspotential des Menschen immerhin anzeigt, aber damit die positiven Konturen
der Grundlegung einer Lebenskunst umso deutlicher hervortreten lässt.
Gerade weil Schmid die menschlichen Situationen sozusagen philosphisch neu (bzw. auf antike Lebensmuster
akzualisierend) begründet und nur “quasi-transzendental” sieht, ergibt sich eine ungewohnte Perspektive, zu
einem sinnvollen Leben zu kommen. Es macht den Genuss selbst zu einem ethischen Wert und zu einer Tugend.
Es lohnt sich darum, Schmid genau zuzuhören, mit ihm Lebensstrukturen zu entwickeln. Vielleicht aber sollte er
dem Religiösen und einer transzendetalen begründeten menschlichen Sinngebung mehr Chancen einräumen
und Religion und Göttliches nicht in die (historische) Marginale schieben.
Reinhard Kirste
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Senger, Harro von:: Strategeme. Die berühmten 36 Strategeme der Chinesen - lange als Geheimwissen
gehütet, erstmals im Westen vorgestellt. München: Scherz: 2000, Bd. 1: 10. Aufl. Bd. 2: 1. Aufl. 448 S., 816
S., jeweils mit Register
Senger, Harro von (Hg.): Die List. Frankfurt/M.: Edition Suhrkamp 2039, 1999, 500 S. Autoren neben Hg.:
B. Kienast, E. Graefe, R. Zoepfel, F. Wilhelm, E. Schockendorff, P. Walter, P.G. Schmidt, Th. Zotz, U.
Rebstock, C. Soliva, H. Klingenberg, A. Schwarz, H. Steger, H. Pilch, U. Guzzoni, G. Eigler, Xuewu Gu, F.
Buggle, G. Haug-Schnabel, P. Sitte
Im Buch von Chao-Hsiu Chen “Lächelnde List” habe ich schon auf die durch Strategeme geprägte Alltagskultur
hingewiesen. Harro von Sengers Bücher nehmen das Thema nun in einer Breite, historischen Tiefe und in einem
Variantenreichtum auf, der im Grunde jede Möglichkeit einer detaillierten Rezension sprengt.
Mit den hier genannten Arbeiten gelingt es dem Züricher Sinologen, die Forschung im Rahmen der
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Kulturbegegnung in einer Weise zu sensibilisieren, so dass unterschiedliche Verhaltensweisen des einzelnen wie
der Gesellschaft Verstehen auch unter anderen Denkvoraussetzungen ermöglichen und bestimmte Handlungen
nicht mit der Brille des (westlichen) Vorurteils einzuordnen. Das ist angesichts unterschiedlich wirkender
Moralvorstellungen gerade zwischen China und Europa nicht gerade leicht. geradezu fulminant (aber auch auf
einer erheblichen Menge von Seiten: über 1200!) hat sich von Senger dieser Aufgabe gestellt und das
Bravourstück fertig gebracht, die LesereInnen in eine aufregende und so bisher kaum bekannte Forschungsarbeit
hinein zu nehmen.
Das Buch der 36 Strategeme wurde auch in China erst 1941 entdeckt, auch wenn die darin enthaltenen
Weisheiten und Handlungsanleitungen eigentlich nur festschreiben, was zu kleineren und größeren teilen in die
Handlungsmuster privaten und öffentlichen Verhaltens in China seit Tausenden von Jahren gehört.
Es kann hier nicht auf die vielfältige Geschichte der Strategeme eingegangen werden, vielmehr sollen einige
Aspekte hervorgehoben werden, die eine Verbindung zum europäischen und speziell zum biblischen und
christlichen Denken herstellen. In seinen beiden dicken Strategem-Büchern hat von Senger dazu verzügliche
Verbindungsbrücken hergestellt, über die sich der Rezensent gerne leiten ließ. Mit der dort niedergelegten Fülle
von Beispielen aus der klassischen chinesischen Tradition, aus den Traditionen des Mittleren Osten, dem
Mittelmeerraum und Europas damals und heute hat er ein Weltpanoptikum erstellt, dass die Aktualität dieser
Strategeme immer wieder deutlich macht. Wenn die Leserin/der Leser im Blick auf die historischen Umstände
nicht immer genau hinein liest, kann es geschehen, dass erst beim Nach-lesen wirklich bewusst wird, dass ein
Zeitunterschied von 3000 Jahren oft wie nichts zusammen schmilzt.
Darum möchte ich gezielt die 36 Strategeme wenigstens benennen und es den LeserInnen dann überlassen,
nach den Konkretionen einmal in von Sengers Doppelband und dann in der “List”, wo er als Herausgeber fungiert,
weitere geistige Entdeckungsreisen zu machen. Hier also diese 36 Verhaltens-Formulierungen – eine Ethik auf
mehreren Ebenen – gestützt auf das älteste Traktat Sanshiliu Ji (Mihen Bingfa):
1. Den Kaiser täuschen (indem man ihn in ein Haus am Meeresstrand einlädt, das in Wirklichkeit ein
verkleidetes Schiff ist) und (ihn so dazu veranlassen), das Meer (zu) überqueren
2. (Die ungeschützte Hauptstadt des Staates) Wei belagern, um (den durch die Hauptstreitmacht des Staates
Wei angegriffenen Staat) Zhao zu retten
3. Mit dem Messer eines anderen töten (dabei als biblischen Beispiel David-Bathseba-Uria, Bd. 1, S. 68f)
4. Ausgeruht den erschöpften Feind erwarten
5. Eine Feuersbrunst für einen Raub ausnützen
6. Im Osten lärmen, im Westen angreifen
7. Aus einem Nichts etwas erzeugen
8. Sichtbar die Holzstege wieder instand setzen, heimlich nach Chenchang marschieren
9. Das Feuer am gegenüberliegenden Ufer beobachten
10. Hinter dem Lächeln den Dolch verbergen
11. Der Pflaumenbaum verdorrt anstelle des Pfirsichbaums
12. Mit leichter Hand das (einem unerwartet über den Weg laufende) Schaf wegführen
13. Auf das Gras schlagen, um die Schlangen aufzuscheuchen (und dadurch in Erfahrung zu bringen, ob und
wo im Gras Schlangen lauern/ um die Schlangen zu verjagen)
14. Für die Rückkehr der Seele einen Leichnam ausleihen (das könnte z.B. auch für die TV-Sendung
“Versteckte Kamera” gelten)
15. Den Tiger vom Berg in die Ebene locken
16. Will man etwas fangen, muss man es zunächst loslassen
17. Einen Backstein wegwerfen, um einen Jadestein zu erlangen
18. Will man eine Räuberbande unschädlich machen, muss man deren Anführer fangen
19. Das Brennholz unter dem Kessel wegnehmen
20. Das Wasser trüben, um Fische zu ergreifen
21. Die Zikade wirft ihre goldglänzende Hülle ab
22. Die Türe schließen, um den Dieb zu fangen (mit dem Beispiel aus dem Neuen Testament zur Frage der
Vollmacht Jesu, Mk. Mk 11,27-32 parr; vgl. Bd. 2, S. 282)
23. Sich mit einem Feind verbünden, um zunächst den nahen Feind anzugreifen
24. Vorgeben, dass man durch den Staat Yu zwecks Angriff auf den Staat Guo nur hindurchmarschieren wolle,
und jenen dann doch besetzen
25. (Ohne Veränderung der Fassade eines Hauses in dessen Innerem) die Balken stehlen und gegen (morsche)
Stützen auszutauschen
26. Die Akazie schelten, (dabei aber) auf den Maulbeerbaum zeigen
27. Verrücktheit mimen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren
28. Auf das Dach locken, um dann die Leiter wegzuziehen
29. (Dürre) Bäume mit (künstlichen ) Blüten schmücken
30. Die Rolle des Gastes in die des Gastgebers umkehren
31. Das Strategem der schönen Frau
32. Das Strategem der Öffnung der Tore (einer in Wirklichkeit nicht verteidigungsbereiten Stadt)
33. Das Strategem des Zwietracht Säens
34. Das Strategem der Selbstverstümmelung
35. Das Ketten-Strategem oder die Strategem-Verkettung, z.B. bei der apokryph-biblischen Geschichte von
Judith und Holfernes, vgl. Bd. 2, 717-724) und der Oster-Erzählung von den Jüngern auf dem Weg nach
Emmaus, Lk 24,13-35). Sehr schön sind hier miteinander verbunden: Nr. 21 (Metamorphosen-Strategem,
11
Nr. 27: Jesus spielt den Dummen, Nr. 3: Stellvertreter-Strategem und Nr. 13: Die Provokation).
36. (Rechtzeitiges) Weglaufen ist (bei sich abzeichnender völliger Aussichtslosigkeit) das Beste (auch das beste
der 36 Strategeme?)
Um zu zeigen, wie in der westlich-theologischen Tradition mit List und Lüge umgegangen wird, sei auf die
Schlüsselstellung des Thomas von Aquin hingewiesen, mit dem sich im Sammelband u.a. beschäftigt:
Schockenhoff, Eberhard: List und Lüge in der theologischen Tradition (in: Harro von Senger (Hg.): Die List.
es 2039. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 157-158
Die List als Sünde gegen die Klugheit: “Die Einordnung in das klassische Tugendschema der
aristotelisch-thomistischen Ethik bietet einen guten Leitfaden, um ein Verständnis dafür zu gewinnen, warum die
List in der moraltheologischen Bewertung in die Nähe von Täuschung, Verstellung und Betrug geriet, ohne
allerdings mit ihnen formell identifiziert zu werden. Im architektonischen Gesamtaufriss der Summa theologiae
des Thomas von Aquin wird die List (dolus) zusammen mit der Klugheit des Fleisches (prudentia carnis), der
Verschlagenheit (astutia) und dem Betrug (fraus) unmittelbar als ein Widerspruch zur Klugheit diskutiert, der
dieser gleichwohl verwandt ist. Die sittlich verwerfliche Bewandtnis der List und ihr sündhafter Charakter ergeben
sich in erster Linie aus ihrem Gegensatz zur Gerechtigkeit gegenüber dem Nächsten, unter deren Teiltugenden
die Wahrhaftigkeit in Wort und Tat einen besonderen Rang einnimmt. Indem die List in diesem doppelten Kontext
der Wahrheits- und Wahrhaftigkeitssemantik gestellt wird, ist eine entscheidende Weichenstellung bereits
vorgenommen: Sie muss nun in allen ihren Erscheinungsformen als ein Verstoß gewertet werden, der sich
entweder gegen die recht verstandene Klugheit und damit gegen die Vernunftnatur des Handelnden selbst oder
gegen die Gerechtigkeit und damit gegen den Wahrheitsanspruch des anderen richtet.
Die Möglichkeit zu einer positiven oder wenigstens neutralen Bewertung der List ergibt sich dann allenfalls aus
dem abgestuften Verpflichtungsmodus der Wahrhaftigkeit: Anders als die Gerechtigkeit ist die Wahrheitspflicht
kein debitum legale im strikten Sinn, keine Rechtspflicht, die wir jedermann in gleicher Weise schulden. Sie ist
vielmehr moralische Pflicht, insofern nämlich jeder Mensch ex honestate, d.h. aufgrund menschlicher Ehrenhaftigkeit, dem anderen die Offenbarung und Mitteilung der Wahrheit schuldet (Thomas von Aquin: Summa
theologiae. II-II 109,3). Die Tugend der Wahrhaftigkeit unterscheidet sich von der bloßen Etikette und Höflichkeit
dementsprechend dadurch, dass es in ihr nicht nur um die gefällige, verlässliche und reibungslos eingespielte
Verwirklichung der Sozialnatur des Menschen, aristotelisch gesprochen: um eine reine Umgangstugend, sondern
um die Möglichkeit geselligen Zusammenlebens überhaupt geht.”
Diese ausgeweiteten Andeutungen lassen schon erahnen, wie aus einer Kriegskunststrategie im alten China ein
ganzes Netzwerk von Verhaltensweisen entstanden ist, die sich keineswegs in das Schema von Gut und Böse
(im westlich-christlichen) Sinne ohne weiteres einordnen lassen, dass hier vielmehr ein Leitfaden der
Lebensklugheit über Jahrhunderte entwickelt wurde, der gerade das ethische Schematismus-Denken ins Wanken
bringt.
Wenn man/frau sich unter diesen Gesichtspunkten noch einmal Bert Brechts “Die sieben Todsünden der
Kleinbürger” anschaut, könnte man/frau versucht sein zu glauben, Bert Brecht wären die 36 Strategeme
keineswegs fremd gewesen ...
Reinhard Kirste
Werner, Jürgen: Die sieben Todsünden. Einblicke in die Abgründe menschlicher Leidenschaft.
Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1999, 224 S.
Leidenschaft – das ist produktive Energie und verursachtes Leid. Kein Mensch kann sich den Leidenschaften in
ihrer positiven und ihrer zerstörerischen Seite entziehen. Jeder und jede kennt sie aus eigenem Erleben und aus
der Beobachtung an anderen. In welchem Ausmaß aber braucht der Mensch die Bosheit und die Sünde? Kann
nur der leidenschaftlich das Leben genießen, der auch um die lebensvernichtenden Mechanismen der
Leidenschaften weiß?
Das Buch “Die Sieben Todsünden” von Jürgen Werner bejaht diese Frage eindeutig. Es lädt die LeserInnen dazu
ein, intensiv in die Abgründe der menschlichen Leidenschaft zu blicken. Diese Abgründe sind in der christlichen
Tradition in den 7 Todsünden, als umfassende Beschreibung des Bösen, zusammengefasst worden. Sie stellen
die “Stammeltern in einer Genealogie der Freveltaten dar”, denn vermischt man sie untereinander, so entsteht
eine neue Sünde.
Der u.a. an einer Jesuiten-Hochschule ausgebildete Theologe, Philosoph und Germanist Jürgen Werner stellt
sich in diese Tradition und nimmt seine LeserInnen in 7 Stationen (Wollust, Zorn, Neid, Geiz, Hochmut, Völlerei
und Trägheit) mit auf die Reise durch die Abgründe der menschlichen Seele. Äußerst genau und detailliert
versucht er, das Wesen, die Ursachen und die Auswirkungen der einzelnen Todsünden zu ergründen. Seine
scharfsinnige Analyse ist nicht primär unter psychologischem Gesichtspunkten geschrieben, sondern aus der
Sicht eines Philosophen und genauen Beobachters. So sucht Jürgen Werner nach immer neuen Definitionen, die
er durch eine Fülle von Beispielen aus der Philosophie- und Literaturgeschichte illustriert. Er zeigt überraschende
Zusammenhänge auf und hält den Lesenden einen manchmal erschreckenden Spiegel eigener Abgründe vor.
Nie aber vermittelt er dabei das Gefühl, nun endgültig diese Leidenschaft durchschauen zu können. Wer nach
billigen Ratschlägen sucht, wie die Sünden überwunden werden könnten, wird enttäuscht. Geht es doch dem
Autor gerade darum, den Facettenreichtum der Todsünden aufzuzeigen. Er will das Missverständnis vermeiden,
man könne diese Leidenschaften je völlig im Griff haben. Denn darin besteht seines Erachtens die größte
Selbstlüge des Menschen, dass er meint, die dunkle Seite der Leidenschaften durch philosophisch - theologische
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Gedankengebäude oder eine rigide Moral beherrschen zu können.
In der Einleitung “Warum das Böse mit Händen zu greifen und doch nicht zu fassen ist” wird deutlich, dass es das
Anliegen des Autors ist, die Existenz des Bösen und der Sünde gegen den Trend unserer Zeit (auch in der
Theologie) nicht zu verharmlosen, sondern ihr in ihrer realen Bedrohlichkeit ins Auge zu sehen. So ist das Buch
eine Herausforderung an die LeserInnen, sich mit dem Bösen als Gesamtphänomen auseinander zu setzen und
die negativen Leidenschaften der eigenen Persönlichkeit eingehend zu betrachten.
Der Autor will die Einsicht wecken, dass Gut und Böse in den Leidenschaften nahe beieinander liegen und in
unserer Welt nicht eindeutig zu trennen sind. Dabei wirbt er auch für eine neue theologische Interpretation der
Sünde: “Sünde bedeutet nicht die Trennung von Gott, wie es die Kirche lehrt. Sünde ist eine fatale Sucht nach
Gottes Nähe.” Und später führt er weiter aus: “Das Böse ist die Gottwerdung des Menschen, das Gute die
Menschwerdung Gottes.”
Das 224 Seiten lange Buch ist ein großer Gewinn für alle, die den Blick in die eigenen Abgründe nicht scheuen
und nach größerer Selbst- und Fremderkenntnis suchen. Es ist aber auch eine Fundgrube für diejenigen, die sich
mit den 7 Todsünden im Kontext von Veranstaltungen und Unterricht beschäftigen wollen. In der unglaublichen
Fülle an Zitaten, Aphorismen und Zusammenfassungen von komplexen Gedankengängen aus dem Bereich der
ganzen Geistesgeschichte wird jeder und jede viele Anregungen finden. Es sei noch positiv anzumerken, dass
man das Buch nicht unbedingt in einem Stück lesen muss, sondern es sich auch immer wieder abschnittweise
vornehmen kann.
Katharina Behr
Wuketis, Franz M. und Maria: Humanität zwischen Hoffnung und Illusion. Warum uns die Evolution einen
Strich durch die Rechnung macht. Stuttgart: Kreuz 2001, 200 S., Register
Um es gleich vorweg zu sagen, das Buch des Autorenehepaars Wuketis aus Wien ist deshalb so spannend zu
lesen, weil die grundlegende Auseinandersetzung mit Geschichte und Idee der Humanität unter den Bedingungen
aktueller Konfrontationen geschieht. Die beiden WissenschaftlerInnen geben dabei allerdings jeglichem
Zweckoptimismus eine herbe Absage. Das begründen sie schon aus der Entwicklungsgeschichte des Menschen,
an der Problematik des Rassismus, der in Herrenmenschen und Untermenschen einteilt, an die Gefahren und
Realisierungen autoritärer Herrschaftsstrukturen und an die inhumanen Kräfte unserer egoistischen
Menschennatur. Unsere Zivilisation hat es nicht vermocht, Rache und Todesstrafe weltweit abzuschaffen.
So schwankt das Buch zwischen Desillusion und Hoffnung, nachdem faktisch alle menschenfreundlichen Utopien
zunichte geworden sind. Und die eigentliche Frage bleibt: Was ist uns Menschlichkeit und harmonisches
Zusammenleben (nicht auf Kosten anderer), sondern in gleichberechtigtem Miteinander wirklich wert?
Das Ehepaar Wuketis beruft sich dabei auf Albert Schweitzers Gedanken der Ehrfurcht vo dem Leben und der
daraus erwachsenden Anthropologie und Ethik (S. 179f). Hans Küngs Weltethos halten sie in diesem
Zusammenhang für eine Illusion, so gut dieses Konzept auch immer gemeint sei (S. 180ff). Die Kluft zwischen
Arm und Reich, zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern wird sich wohl nie schließen.
Homo homini lupus - der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, das scheint die Negativ-Folie zu sein, auf der dann
die beiden Wuketis doch noch eine aus Elementen der überlebensstrategischer Vernunft entwickelte Hoffnung
formulieren können: “Vielleicht ... wird sich die Menschheit in nicht allzu ferner Zukunft aufgrund zunehmendem
Elends gezwungen sehen, sich zu vereinen; und zwar gegen eine Natur, die auf Ausbeutung durch die
intelligenteste Spezies brutal mit Katastrophen antworten wird. Dieses Szenario ist nicht unrealistisch ... Zu den
vordringlichsten Aufgaben der Menschheit gehört heute die Verbesserung der Lebenssituation der Armen und
Ärmsten dieser Welt. Alle Regierungen müssten in diesem Zusammenhang das Menschenmögliche tun” (S.187f).
Nur, ob sie dieses tun, steht dahin, selbst wenn man an den ökonomischen Mehrwert solchen Handelns
gegenüber dem kurzfristigen egoistischen Profit zu glauben bereit ist und diesen Mehrwert sogar mit vielen
vernünftigen und überlebensstrategischen Gründen belegen kann.
Der pessimistische Beigeschmack verlässt die LeserInnen bei der Lektüre dieses Buches nicht. Ob die
Negativ-Beschreibungen und die entsprechenden Szenarien wirklich einen Sinneswandel herbeiführen? Die von
den 10 Geboten ausgehenden Ermutigungen André und Elie Chouraqui’s (s.o.) scheinen mir doch hilfreicher zu
sein.
Reinhard Kirste
Zuerst erschienen in: Die 7 Todsünden. Iserlohner Con-Texte Nr. 17 (ICT 17).
Hg:. Reinhard Kirste / Paul Schwarzenau). Iserlohn 2001, S. 71–83
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