Unerwartet im Tessin eingetroffene Käfer vertilgen grosse Mengen
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Unerwartet im Tessin eingetroffene Käfer vertilgen grosse Mengen
2 16. Januar 2015 Thema Ambrosia-Samen können bis zu 40 Jahre keimfähig bleiben Blütezeit ist ab Ende Juli Die Pflanze wird zerstört, bevor sie Samen bilden kann Unerwartet im Tessin eingetroffene Käfer vertilgen grosse Mengen Ambrosien Impressum Einzige deutschsprachige Tessiner Zeitung: Wöchentliche Ausgabe REDAKTION Chefredaktion: Marianne Baltisberger (mb) Rolf Amgarten (ra) Martina Kobiela (mk) TZ/Magazin Ute Joest (uj), Leitung Bettina Secchi (bs) Die TZ-Redaktion betreut auch: www.ticinoweekend.ch Ständige Mitarbeit Gerhard Lob (gl) Antje Bargmann (ab) Sarah Coppola-Weber (Italien) Johann Wolfgang Geisen (Karikatur) Agenturen Dienste: Schweizerische Depeschenagentur (sda) Fotoagentur Ti-Press Ticino-Agenda Hildegard Miotti Monica Huwiler VERLAG Herausgeber: Giò Rezzonico Verkaufte Auflage: 7’301 (WEMF-beglaubigt, Basis 2012/13) KONTAKTE Verlag und Redaktion Rezzonico Editore SA Via Luini 19, 6601 Locarno Tel. 091 756 24 60 Fax 091 756 24 79 [email protected] (Redaktion); [email protected] (Magazin) [email protected] (Verlag) Abonnements Email: [email protected] Schweiz: 1 Jahr Fr. 139.- (inkl. die Zeitschrift TicinoVino Wein Fr. 33.50) Administration Postcheck 65-200-3 Tel. 091 756 24 00 Fax 091 756 24 09 Marketingleiter Maurizio Jolli Tel. 091 756 24 00 Fax 091 756 24 97 [email protected] Werbung Tessiner Zeitung Via Luini 19 – 6600 Locarno Tel. 091 756 24 37 - Fax 091 756 24 35 [email protected] Werbeberater Antonio Fidanza 079 235 16 40 Giuseppe Scarale 079 353 91 19 Susanna Murara 079 536 80 70 Für kleine Inserate: Publicitas Tel. 091 910 35 65 Fax 091 910 35 49 INSERTIONSPREISE FÜR DIE EINSPALTIGE MILLIMETERZEILE Inseratenseite (Spaltenbreite 25 mm): 81 Rp. - Rubrikanzeigen: Stellenangebote 88 Rp., Immobilien, (nur Inserate): 98 Rp., Occasions-Fahrzeuge 88 Rp., Finanz (nur Inserate): 88 Rp. Todesanzeigen und Vermisstanzeigen (im redaktionellen Textteil): Fr. 2.15 Reklameseite (Spaltenbreite 44 mm): Fr. 2.98; Für Jahresabschlüsse Preisermässigungen von Kurt F. de Swaaf Die Allergiker können aufatmen. Endlich Winter, endlich ist die Luft wieder rein – zumindest was den Pollenflug betrifft. Gräser und Co. haben ihre Blüte eingestellt. Vor wenigen Dekaden jedoch setzte die alljährliche Erleichterung deutlich früher ein. Damals waren es Beifuss und manche Gräser, die als Letzte grössere Pollenmengen freisetzten. Seit sich allerdings Ambrosia artemisiifolia in der Südschweiz niedergelassen hat, müssen Heuschnupfen-Patienten bis Mitte Oktober mit Belastungen rechnen. Die aus Nordamerika eingeschleppte Pflanze ist ein notorischer Spätentwickler. Ihre Blüte beginnt normalerweise erst Ende Juli. Abgesehen davon haben die Pollenkörner ein viel höheres allergenes Potential als diejenigen von heimischen Arten. Im Tessin hat der kantonale Pflanzenschutzdienst der Ambrosia schon seit Jahren den Kampf angesagt. Die zuständige Agronomin Marta Balmelli verbringt hierfür viel Zeit im Gelände. Sie überwacht die bereits bekannten Bestände, registriert neue Standorte und observiert die Populationsentwicklung. Normalerweise gedeiht Ambrosia artemisiifolia in unserem Kanton ganz hervorragend. Die Art profitiert vom milden Klima. Als Balmelli und ihre Kollegen jedoch im Juli 2013 im Mendrisiotto in der Nähe der Ortschaft Balerna unterwegs waren, machten sie eine ungewöhnliche Beobachtung. “Ich habe gesehen, dass die Pflanzen nicht wirklich gesund sind”, erzählt die Expertin im Gespräch mit der TZ. Blätter und Seitenzweige der Ambrosien waren angefressen. Auf den geschädigten Gewächsen krabbelten kleine Larven und Käfer herum. Anscheinend hatten sie den Pflanzen so zugesetzt. Balmelli sah die Sechsbeiner zum ersten Mal. Um welche Spezies es sich wohl handelte? Und woher kamen sie? Um diese Fragen zu klären, bat die Wissenschaftlerin den an der Université de Fribourg lehrenden Heinz Müller-Schärer, einen anerkannten Fachmann für herbivore Insekten, um Hilfe. Er untersuchte die Tierchen und bekam schnell einen Verdacht. Nach Rücksprache mit Experten in den USA bestätigte sich seine Vermutung. Die gefrässigen Käfer gehörten zur Art Ophraella communa, welche ursprünglich HUNGRIGE HELFER AUS ÜBERSEE Ein natürlicher Feind: Die Ophraella communa ist wie die Ambrosia aus den USA eingewandert aus Nordamerika stammt – genauso wie Ambrosia artemisiifolia. Doch damit nicht genug. Ophraella communa ist eine so genannte oligophage Spezies, ein Nahrungsspezialist. Sowohl die ausgewachsenen Exemplare wie auch ihre Larven fressen mit Vorliebe Ambrosien. Sie sind wahrscheinlich einer der wichtigsten natürlichen Feinde der invasiven Pflanzen. Kein Wunder also, dass man in einigen Weltregionen versucht hat, Ophraella communa gezielt gegen die grassierenden Ambrosien-Plagen einzusetzen. Mancherorts mit beeindruckenden Ergebnissen. “In China ist Ophraella ein totaler Erfolg”, erklärt Heinz MüllerSchärer. Jedes Jahr werden dort in speziellen Anlagen Millionen der hungrigen Helferlein gezüchtet und anschliessend an Ambrosia-Standorten freigelassen. Unter günstigen Bedingungen bringen die Käfer bis zu sechs Generationen pro Saison hervor, sagt Müller-Schärer. Für die Pflanzen hat das verheerende Folgen. Sie werden zerstört, bevor sie Samen bilden können. Auch die Blüte fällt weitestgehend aus, die Pollenbelastung der Luft nimmt drastisch ab. Um bis zu 90 Prozent, wie MüllerSchärer berichtet. Wie Ophraella communa nach Europa gelangen konnte, ist nicht bekannt. Eine gezieltes, von den Behörden angeordnetes Aussetzen hat nicht stattgefunden. Die grössten Ansammlungen der Käfer wurden indes in der Nähe des Flughafens Malpensa nordwestlich von Milano angetroffen. Es scheint also plausibel, dass die Tierchen per Flugzeug in die Lombardei gekommen sind. Auch zu Land sind die Insekten gerne als blinde Passagiere unterwegs, wie Heinz Müller-Schärer aus eigener Erfahrung weiss. Bei der Arbeit im Gelände trafen er und seine Kollegen die Käfer öfter in ihren Autos an. Das würde auch erklären, warum sich die Art im norditalienischen Raum so schnell bis weit in das westliche Piemont hinein ausbreiten konnte, meint der Biologe. “Wir gehen davon aus, dass sie nicht von alleine bis Turin gekommen ist.” Die Nachricht über die Ankunft der kleinen Exoten wurde von Fachleuten mit getrübter Begeisterung aufgenommen. Denn Ophraella communa frisst zwar bevorzugt Ambrosien, aber sie kann auch anders. Wenn ihre Leibspeise nicht in ausreichenden Mengen zur Verfügung steht, versucht sie auf nah ver- wandte Pflanzenarten auszuweichen. Eine dieser Alternativen ist die Sonnenblume. Vielleicht, so die Befürchtung, stellen die Käfer deshalb auch eine potentielle Landwirtschaftsplage dar. Sonnenblumen werden schliesslich auch in der Schweiz und andernorts in Europa angebaut. Doch Heinz Müller-Schärer gibt diesbezüglich vorsichtig Entwarnung. Man habe im vergangenen Sommer im Tessin und in Norditalien Freilandversuche mit verschiedenen Sonnenblumen-Sorten sowie mit Topinambur, Zinnien und Beifuss durchgeführt, alles Angehörige desselben Pflanzenstammes, zur der auch Ambrosia artemisiifolia gehört. Die Gewächse wurden jeweils in unmittelbarer Nähe zu ein paar Ambrosien aufgezogen. Auf letztere setzte man die Käfer aus und schaute, was nun passierte. “Die Larven von Ophraella sind sehr gut zu Fuss unterwegs”, sagt Müller-Schärer. Sie können leicht über einen Meter auf dem Boden zurücklegen. Und die ausgewachsen Exemplare haben Flügel. In den Versuchspflanzungen gelang es den Tierchen dennoch nicht, den Sonnenblumen ernsthafte Schäden zuzufügen – auch nicht, als ihre ursprünglichen Wirtspflanzen ab- gefressen waren und sie ausweichen mussten. Es ist eine Frage des Wachstums, wie Heinz Müller-Schärer erklärt. Wenn die Sonnenblumen, so wie hierzulande im Anbau üblich, früh ausgesät werden, seien sie für Ophraella schon bald so gut wie ungeniessbar. “Zu dick und zu holzig.” Das heisst: Bis sich die Käfer in Massen vermehrt haben und eventuell andere Nahrungsquellen brauchen, es für saftige Sonnenblumenblättchen bereits zu spät. In Europa dürfte die Bedeutung von Ophraella communa als Biowaffe gegen Ambrosien vermutlich auf die südlichen Gefilde begrenzt bleiben. Die Art braucht ein warmes Klima, um grosse Populationen aufbauen zu können. “Heisses und trockenes Wetter fördert die Käfer”, betont Heinz Müller-Schärer. Bei niedrigeren Temperaturen dagegen entwickeln sich die Tiere langsamer und bringen pro Saison weniger Generationen hervor. Deshalb haben sie im vergangenen, eher nasskühlen Sommer den Ambrosien-Beständen nicht so stark zugesetzt wie 2013. Um die Käfer gezielt gegen die pflanzlichen Invasoren einsetzen zu können, müsste man sie so wie in China jedes Jahr massenhaft züchten, meint Müller-Schärer. Der Aufwand könnte sich gleichwohl lohnen, denn im Tessin müssen die Ambrosien zum Beispiel entlang der Autobahn A2 jedes Jahr mühsam von Hand ausgerissen werden, wie Marta Balmelli berichtet. “Kilometer um Kilometer, zu Fuss.” Zudem ist kein schneller Sieg gegen die Gewächse in Sicht. Dort, wo Ambrosia artemisiifolia einmal aufgetreten ist, können die Samen im Boden rund 40 Jahre lang keimfähig bleiben, erklärt Balmelli. Zwischen Gotthard und Chiasso wurden bislang etwa 480 solcher Standorte registriert. “Und wir kennen sicherlich nicht alle Bestände.”