Pier Paolo Pasolini: I racconti di Canterbury Eine Analyse

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Pier Paolo Pasolini: I racconti di Canterbury Eine Analyse
Pier Paolo Pasolini:
Pieter Breughel der Ältere
I racconti di Canterbury
Flemish Proverbs (1559)
Eine Analyse des Films unter besonderer Berücksichtigung seiner Quellen
von Mathias Hamp
(die kopierten Details sind
im HS Chaucer und seine romanischen Vorbilder LMU 2004
rechts außen und zentral im
Hintergrund)
Im Jahre 1972 erschienen
den Zuschauer für einige Themen der Filmkritik des
fast unverständlich erscheinen. Der Umgang mit
rausgeschmissen, weil sie nicht zum Film gepasst
die Canterbury Tales (CT)
Filmes sensibilisieren soll.
Chaucers Original ist wohl bis auf The Reeve’s und
haben. Es war eine der wichtigsten Korrekturen, die
The Miller’s Tale als äußerst freizügig zu bezeichnen.
ich am Film vorgenommen habe. Für mich als Autor
Für Friar und Cook’s Tale sowie die von Chaucer
war die Struktur das Hauptproblem des Filmes. Ich
vorgeschlagene Rahmenhandlung (RH) erlaubte sich
könnt nicht erklären, warum die erste Geschichte die
Pasolini besondere Freiheiten und schrieb sie nach
erste und nicht die siebte […] oder sonst eine ist.“iii
seiner Art um. Auch die Reihung der einzelnen
Das Problem der RH löste Pasolini in zwei Schritten.
Episoden entspricht nicht dem Original. So mancher
Zunächst ließ er alle Prologe des Originals aus, um in
Filmanalytiker sah hinter der Anordnung General
etwas verwirrender Weise nahtlos von eine Episode
Prologue (1), Merchant’s (2), Friar’s (3), RH, Cook’s
in die nächste überzuleiten, dann setzte er die eigens
(4), RH, Miller’s (5), Wife of Bath’s Prologue (6),
kreierte RH, in der er persönlich die Rolle des
Reeve’s (7), RH, Pardoner’s (8), Summoner’s Tale (9)
Chaucers übernahm, ein und ergänzte in dieser
und dem Schluss, also Chaucer’s Retraction, eine
Weise die ursprüngliche Rahmenhandlung, die
verborgene Ordnung, etwa nach der Art eines
zumindest im General Prologue und der Retraction
Crescendo der Analität von Snyder ii . In einem
vertreten ist, durch eine weitere Ebene, die noch
Interview gab Pasolini persönlich Auskunft über den
näher in Themen des Filmes weiter unten diskutiert
strukturellen Aufbau seines Wekes: „Ich hatte einige
werden soll.
in der Adaptation des
italienischen Regisseurs Pasolini (1922-1975), der
diesen Episodenfilm in den Rahmen zwei weiterer Filme,
nämlich Il Decamerone und Il fiore delle mille e una
notte als eine Trilogia della vita der Öffentlichkeit
vorstellte. Sexuell ausschweifend, nahmen viele der
damaligen Kinogänger Anstoß an diesem Film, der sich
der Befreiung der Kinoleinwände verschrieb. Nach
seiner Herausgabe hatte man den Film zensiert und
öffentlich wegen seinem obszönen Gehalt angeprangert.
Im Schutze der Dunkelheit der Kinosäle erfreute sich die
Trilogia insbesondere Il Decamerone nichtsdestotrotz
großer Beliebtheit. Dieser wurde sogar zu einem der
raren internationalen Kassenschlager des italienischen
Kinos. Folgendes Referat dient in erster Linie zur
Identifizierung und der Bewertung der literarischen und
bildlichen Quellen des Filmes, wobei nicht auf den
Versuch einer Filmanalyse verzichtet werden soll, die
Die Quellen des Filmes
Die Schuld in der Pasolinis Film zu Geoffrey
Chaucers gleichnamigem Werk aus dem 14.
Jahrhundert steht, ist jedem Kenner dieses Stücks
englischer Literaturgeschichte wohl von vorneherein
klar. Pasolinis Quellenverarbeitung geht aber weit
über die Maße einer detailgetreuen Adaptation hinaus.
Viele Episoden enthalten weitaus mehr als nur die
ursprünglichen Tales des mittelalterlichen Dichters.
Der narrative Gehalt seiner Geschichten, dient
Pasolini eher als ein Gerüst, in das er die
Assoziationen aus seiner Lektüre des Textes und
weitere noch zu nennenden Quellen einbaut. Dieses
Gemisch wird unter den Filmkritikern unter dem
Begriff der Contamination i geführt, welcher dem
multisemantischen Charakter des Filmes Ausdruck
verleihen soll. Die Bilder des Films sind tatsächlich so
sehr von fremden Einflüssen kontaminiert, das sie
Szenen gedreht, um zu zeigen wie die Pilger ihre
Geschichten zu erzählen begannen … Diese
Intermezzi
habe
ich
dann
aber
wieder
Vgl. Welle, Rumbe in: Baranski 1999. S.93-112;
345-361.
ii Snyder 1980. S.144.
iii Feldini, Fofi 1986. S.147-148.
i
Aufnahme aus PPP RdC
Detail aus Breughels
Aufnahme aus PPP RdC
Detail aus Breughels
Aufnahme aus PPP RdC
Detail aus Boschs Gemälde
(Reeve’s Tale 1:55:00)
Gemälde (1559)
(Reeve’s Tale 1:18:00)
Gemälde (1559)
(Sumonner’s Tale 1:43:30)
(1505-06)
Nicht nur Chaucer, sondern auch die Werke mehrerer
Die Themen des Filmes
Homosexualität, Pädophilie, Skathologie, Prostitution,
Filmanalyse
Maler aus dem MA und der Renaissance sollten in
Gleich in den ersten Bildern der RdC offenbart sich die
Sadomasochismus usw.. Dem thematischen Exzess
Angesichts
den Pasolini-Film eingeflochten werden. Besonders
Verwandtschaft des in England situierten Film zum
steht der formelle oder stilistische Exzess gegenüber,
Pasolinis gibt es weiterhin eine bedeutsame Tendenz
sind Breughel und Bosch zu erwähnen, die mit den
italienischen
ja
dem PPP’s Film frönt. Das Vermischen verschiedener
den Film in einem wenn nicht autobiographisch, dann
Bildern Flemish Proverbs und The Temptation of Saint
wahrhaftig zu den Quellen Chaucers gehörte, woran
Filmgenres (Chaplin in Friar’s Tale), die Multivalenz
zumindest
Vorgänger
Decamerone,
der
des
im
schauspielerisch
zeitgenössischen
auftretenden
Kontext
des
Anthony bei den Raconti di Canterbury (RdC) eine
PPP geschickt zu erinnern weiß, als er in einer RH
der Retraction, die ihren Nährboden im Spiel zwischen
Nachkriegs-Italiens zu
besondere Rolle spielen sollten. Details aus diesen
Chaucer bei der Lektüre des ital. Klassikers zeigtiv. In
den mehrgliedrigen gebrochenen Rezeptionsebenen
wohl ein Interview mit PPP, in dem der Regisseur die
Bildern, etwa die Hinterteile der Müllerin und deren
den Filmrevuen wird oft das Zitieren traditionsreicher
zwischen Chaucers romanischen Quellen, und
Motivation zum Dreh der CT in den Kontext einer
Tochter der im aufgehängten Fass schlafende
Werke PPP’s als ein Thema genannt, was bei der
Pasolinis
einzelnen
Nostalgie vergangener Tage bringt. Die Trilogia della
Schreiner, sowie einige Szenenkompositionen wie der
Behandlung der Quellen des Filmes weiter oben klar
kulturhistorischen Hintergründen findet, bietet bei
vita sei, sozusagen, der nostalgische Entwurf einer
General Prologue erinnern an Breughel. Die
geworden sein dürfte. Die Komplexität der Zitierweise
Filminterpretationen natürlich viel
Gegenwelt, „that
Schlussepisode die auf dem Etna gedreht bildet den
sowie die Vielfalt der Themen hat Rumble zu einer
differierende Meinungen. Z.B. meint Rumble in der
industrialization. There wasn’t any consumer society,
analen Höhepunkt der RdC der den Blick des
beispielhaften Gliederung der Themen unter dem
Retraction im lächelnden PPP in der Rolle Chaucer’s,
there weren’t any assemlly liner. There was nothing in
Quellen
sowie
den
Freiraum für
interpretieren viii .
[…] hasn’t
Anlass gab
yet experienced
Zuschauers frei auf den Anus eines Teufels und
Überbegriff des Exzesses
in dem er das
der gerade den Satz “Qui finisco I Racconti di
common wirh the society of today. Except there was a
mehrerer behörn ter und beflügelter Dämonen lenkt,
Konzept von Calabrese’s „Representation of excess
Canterbury, raccontati per il solo piacere di
kind of demand for sexual freedom owing to the
die direkt aus den visionären Gemälden eines Boschs
vs. excess in representation“ anwendet. Tatsächlich
raccontare”, schreibt, zu erkennen, dass „that
beginning of a bourgeois freedom that are doomed to
stammen könnten und auch stark an Dante’s Inferno
erweist sich dieses Konzept als sehr nützlich für die
pleasure was a product of a dark irony, which Pasolini
finish quickly.”ix Pasolini sah etwas bedroht, nämlich
erinnern. Wie im Detail oben ersichtlich stammt die
Filmanalyse. Mit dem ersten Begriffsteil assoziiert man
attributes to Chaucer’s bourgeois ‚guilty conscience’.“vi
die Idee einer authentischen Sexualität, die aller
Idee zu einem Satan, der als Kapuziner-Mönche
wohl sofort alle Szenen die zur viermaligen
Hingegen sieht Viano darin: [PPP] offered a smiling
sozialer Konditionierung vorausgeht: Also eine Art
„Erscheinende“ auf dem natürlichsten aller Wege aus
Zensierung des Filmes geführt haben, also die
image of himself as a man who has reached the
ideelle Paarung von Rousseau mit Freud stand als
sich herauslässt aus der Phantasie des Malers.
Sodomisierungsszenen in der Hölle, das Zeigen
serene wisdom of old storytellers. “vii
Fragezeichen im Hintergrund der unaufhaltsamen
inspiriert,v
männlicher Geschlechtsorgane, die Themen um
Homogenisierung Italiens, das so reich an Dialekten
und soziokulturellen Besonderheiten war (Siehe PPP
wird, es handle sich um eine Form von Prostitution, da
Kurzbiografie
Gedichtsammlungen, die nur wenige verstehen und
friaulische
in zwei Szenen die älteren Lüstlinge vor der Gefahr
1922 Pier Paolo Pasolini wird in Bologna am 5. März
die von der Kritik ignoriert werden.
stehen verbrannt zu werden. Zieht man zu diesen
als
einer
1972 erscheint mit Empirismo eretico eine Sammlung
kleinbürgerlichen Konsumenten, die der Marxist PPP
Beobachtungen
bis
Volksschullehrerin geboren. Sein Vater stammt aus
seiner theoretischen Schriften über das Kino, das er
zutiefst bedauerte x , wird als der Entstehungs-
homosexuellen Themen aus Il Decamerone hinzu, so
Ravenna, seine Mutter aus Casarsa della Delizia im
als die geschriebene Sprache der Wirklichkeit
genanntxi.
Der tief im Realismus
kann man eine durchgehende Linie einer positiven
Friaul.
bezeichnet. Er schreibt über sein Leben und über
verwurzelte Filmemacher und Literat PPP sah sich der
Hinterlegung von Homosexualität nachvollziehen, die
1939 Während des Krieges lebt Pier Paolo im Friaul.
seine linguistischen Ausdrucksprojekte.
Grundlage seiner Filme, die das echte Leben zeigen
im ersten Teil der Trilogie in Konkurrenz zu allen
Er arbeitet als Lehrer und beginnt Gedichte in seiner
1974 als sich der Kreis seiner “häretischen
sollten, entzogen. Selbst die Drehorte in der dritten
glücklichen Formen der Heterosexualität stehen und
Muttersprache zu schreiben, Poesie a Casarsa.
Erfahrungen” schon beinahe schließt, schreibt er La
Welt, wie für Medea oder Edipo re waren diesem
im zweiten Teil im Kontrast zu den Aberrationen der
1945 zieht sein um zwei Jahre jüngerer Bruder Guido
meglio gioventù um.
beginnenden globalisierten Kapitalismus ausgesetzt,
gleichen
als
mit einer nationalistisch gesinnten Partisanengruppe
1975 Pasolini wird am 2. November 1975, in der
so dass sich PPP in seiner Verzweiflung gezwungen
Schlusswort daraus, dass PPP beflügelt von dem
in den Krieg und wird von kommunistischen Guerrillias
Nacht vom Allerheiligen auf den Allerseelentag, in
sah in seinem cinematographischen Werk ein neues
Erfolg
getötet.
Ostia von einem der “Ragazzi di vita”, den
Kapitel aufzuschlagen. So antizipierte er schon 1968
Botschaft der Forderung nach einer Legitimierung
1947 wird Pasolini Mitglied der Kommunistischen
strichjungen, die er so oft beschreibt, durch
bei einem Flug zum türkischen Drehort von Medea die
seiner Existenz als Homosexueller, im zweiten Teil der
Partei Italiens, wird aber 1949 nach einer Klage
“Stockschläge” ermordet.
Trilogia noch ehrlicher hervorbringt. Mit dieser
wegen Verführung Minderjähriger aus der Partei
herausinterpretierten Motivation antwortet er meiner
ausgeschlossen und vom Schuldienst suspendiert.
„authentische“ Sexualität werden, dessen Darstellung
Meinung nach indirekt auf die Frage
aus der
1951 Er geht mit der Mutter mach Rom und
ihm nach der Meinung vieler Filmkritikerxiii bei den
Schlussszene des Decamerone antwortet: Ich frage
veröffentlicht Le ceneri di Gramsci, ein Buch mit
RdC missglückt, weil sie dort zumindest für die
mich: Warum ein Werk vollenden, da es doch
Gedichten in italienischer Sprache, das ihn offiziell als
heterosexuellen Szenen durchgehend negativ belegt
wunderbar ist, von ihm zu träumen.
Dichter bekannt macht.
Dichtung)
aufgefasste
Diese
Umwälzung
hintergrund der RdC
Trilogia della
von
.
vitaxii.
der
als
Bedrohung
Italiener
zu
Leitmotiv der dreiteiligen Gruppe
Episodenfilmen
sollte
die
noch
stehen.
seines
die
homoerotischen
Persönlich
Decamerone
folgere
die
ich
verschlüsselte
■
beginnend mit der sexuellen Frustriertheit Mays bis
zur rektalen Befreiung geistlicher Sünder. Die einzige
klar homosexuelle Szene The Friar’s Tale zeigt den
von der Gesellschaft in seiner Freiheit, ja sogar seiner
Existenz bedrohten Homosexuellen, der aus freien
Stücken heraus einen Sex genießt, der nicht negativ
belastet zu sein scheint, obwohl der Eindruck erweckt
eines
Berufsoffiziers
und
Vgl. Gérard 1986. S.87.
Rumble1996. S.349.
vi Rumble 1996 S.64
vii Viano 1993. S.280.
viii Vgl. Gordon 1996.
ix Schwartz 1986. S.583.
x Vgl. Gérard 1986. S. 85.
xi Vgl. Rumble 1996, Viano 1993, Jansen 1977,
Gérard 1986usw.
xii Schwartz 1986. S.569
xiii Vgl. Rumble 1996, Viano 1993, Gérard 1986, usw.
xiv Snyder 1980. S.144.
iv
v
Reaktionen aus, die dazu führen, dass sich Pasolini
Franca Feldini, Goffredo Fofi: Pier Paolo Pasolini – Lichter der
Vorstädte. Frankfurt. 1986.
1977.
Nico Naldini Bio: Pasolini – una vita. Torino. 1989.
Patrick Rumbe, Bart Testa (Hg.): Pier Paolo Pasolini – Contemporary
Perspectives. Toronto. 1994.
Trilogy of Life. Toronto. 1996.
1960 wendet er sich dem Kino zu und dreht Accattone,
Mamma Roma, La Ricotta, Uccellacci e uccellini, Il
Vangelo secondo Matteo etc.
Barth David Schwartzer Bio: Pasolini Requiem. New York. 1983.
Otto Schweizer: Pier Paolo Pasolini – Selbstzeugnisse und
Bilddokumentationen. Hamburg. 1986.
Enzo Siciliano Bio: Pasolini – Leben und Werk. Weinheim. 1980.
1964 gibt er Poesia in forma di rosa, und 1971
organizzar
Dublin. 1999.
Patrick Rumble: Allegories of Contamination – Pier Paolo Pasolini’s
dutzende Male vor Gericht verantworten muss.
e
Fabien Gérard: Pasolini ou le mythe de la barbarie. Bruxelles. 1993
Zygmut Baránski (Hg.): Pasolini Old and New – Surveys and Studies.
Peter Jansen, Wolfram Schütte (Hg.) : Pier Paolo Pasolini. München.
violenta lösen in der Öffentlichkeit eine Reihe von
Trasumanar
Quellen
Robert Gordon: Pasolini – Forms of Subjectivity. Oxford. 1996.
Die beiden Romane Ragazzi di vita und Una vita
wird. Snyder geht in seiner Filmanalyse, wie schon
erwähnt, von einer Steigerung „from tale to tail“xiv aus
Sohn
in
Druck,
zwei
Stephen Snyder: Pier Paolo Pasolini. Boston. 1980.
Maurizio Viano: A certain Realism – Making Use of Pasolini’s Film
Theory and Practice. LA. 1993.
Vgl. Gérard 1986. S.87.
Rumble1996. S.349.
vi Rumble 1996 S.64
vii Viano 1993. S.280.
viii Vgl. Gordon 1996.
ix Schwartz 1986. S.583.
x Vgl. Gérard 1986. S. 85.
xi Vgl. Rumble 1996, Viano 1993, Jansen 1977,
Gérard 1986usw.
xii Schwartz 1986. S.569
xiii Vgl. Rumble 1996, Viano 1993, Gérard 1986, usw.
xiv Snyder 1980. S.144.
iv
v