Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus

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Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus
Die drei Welten des
Wohlfahrtskapitalismus
Esping-Andersens Typologie von
Wohlfahrtsstaaten
Chris Young: Sozialstaat / Wohlfahrtsregime I
Universität Fribourg, Schweiz
Bereich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit
Frühlingssemester 2013
Programm
• Geführte Tour durch Esping-Andersens Text Die
drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus
• die 3 Bausteine von Esping-Andersens WFS
Analyse
• die 3 Dimensionen des Wohlfahrts-RegimeKonzepts
• Stratifizierung
• Dekommodifizierung
• Verhältnis Markt-Staat-Familie
• die 3 Wohlfahrts-Regimetypen
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Folie 2
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Programm
• Nächste Woche
• Deutschland, USA und Schweden als
Beispiele für die Wohlfahrtsregimetypen
• Kritik an Esping-Andersens Typologie
• Wenn Sie über etwas stolpern, etwas nicht klar
ist
• gleich fragen
• oder notieren und am Schluss der Sitzung
bringen
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Wieso Esping-Andersen?
•
•
•
Text von 1990 – dennoch immer noch aktuell
Wichtiger Referenzpunkt für die heutige
Wohlfahrtsstaatsforschung
Kein heiliger Text – aber unumgänglich, um
viele heutige Forschung zum Wohlfahrtsstaat
zu verstehen
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Der „Drei Welten“ Text
Titel: Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus
Untertitel: Zur politischen Ökonomie des
Wohlfahrtsstaates
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Der „Drei Welten“ Text
1. Das Vermächtnis der klassischen Politischen
2.
3.
4.
5.
6.
Ökonomie
Die Politische Ökonomie des
Wohlfahrtsstaates
Was ist ein Wohlfahrtsstaat?
Eine Respezifizierung des Wohlfahrtsstaates
Die Ursachen für die Ausbildung wohlfahrtsstaatlicher Regime
Schluss
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Bausteine aus früherer Forschung
•
Esping-Andersen kritisiert bestehende
Konzepte, baut auf andere auf
Bausteine für Esping-Andersens
Wohlfahrtsregime-Konzept
•
•
•
•
Kritik an der quantitativen Methode
Inspiration von Richard Titmuss
Inspiration von Thomas Marshall
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Kritik an früherer Forschung
« Eine bemerkenswerte Eigenschaft der
gesamten einschlägigen Literatur ist ihr
fehlendes Interesse am Wohlfahrtsstaat
als solchem. »
Esping-Andersen 1998:32
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Baustein 1: Ausgaben genügen nicht
COUNTRY/YEAR
Sweden
France
Denmark
Germany
Italy
United Kingdom
Switzerland
Australia
United States
1980
1990
27
21
25
23
18
17
14
11
13
2000
30
25
25
22
20
17
13
14
13
2005
29
28
26
26
23
19
18
18
15
29
29
27
27
25
21
20
17
16
Sozialausgaben in % des BIP nach OECD 2010
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Baustein 1: Mini Diskussion
Fragen in 3-4er Gruppen diskutieren
1. Was fällt Ihnen in der Tabelle auf?
2. Wie kann man die Unterschiede
erklären?
3. Wieso bedeutet eine gleich hohe
Sozialleistungsquote nicht ein ähnlicher
Sozialstaat?
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Baustein 2: Richard Titmuss
• residualer WFS: nur beschränkte
Leistungen und Interventionen
• leistungsbasierter WFS: Ansprüche
basieren auf Erwerbsarbeit
• institutioneller WFS: greift stark ins
Marktgeschehen ein, starke Umverteilung
und universale soziale Rechte
(nach Titmuss 1974)
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Baustein 2: Richard Titmuss
«[Der Ansatz von Titmuss hat die]
Forschenden gezwungen, von der black
box der Staatsausgaben abzulassen und
sich stattdessen den Inhalten von
Wohlfahrtsstaatlichkeit zu widmen. »
Esping-Andersen 1998:53
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Baustein 3: Thomas Marshall
• Bürgerliche Rechte (Freiheitsrechte):
Schutz vor staatlicher Willkür (18. Jhdt.)
• Politische Rechte (Mitbestimmungsrechte):
allgemeines Stimm- und Wahlrecht
(19. Jhdt.)
• Soziale Rechte (Teilhaberechte):
Anspruch auf Absicherung vor sozialen Risiken
(20. Jhdt.)
(nach Marshall 1950)
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Drei Dimensionen des WFS
«[Die soziale Staatsbürgerschaft] beinhaltet
[erstens] die De-Kommodifizierung des
Status der Individuen gegenüber dem
Markt. Zweitens beinhaltet [sie] eine
bestimmte Form sozialer Stratifizierung.
Drittens muß der Wohlfahrtsstaat auch im
Sinne einer Schnittstelle zwischen Markt,
Staat und Familie verstanden werden.»
Esping-Andersen 1998:36 (fett: C.Y.)
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Drei Dimensionen des WFS
Drei Dimensionen von Wohlfahrtsregimen
• De-Kommodifizierung
• Stratifizierung
• Verhältnis von Staat, Markt und Familie
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De-Kommodifizierung
De-Kommodifizierung
• ‚commodity‘ heisst ‚(Handels-)Ware‘
• De-Kommodifizieren heisst ‚dem Markt
entziehen‘
• Der Grad der De-Kommodifizierung gibt
an, wie stark die Wohlfahrt des Einzelnen
vom Markt abhängig ist
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De-Kommodifizierung
« Der Begriff [De-Kommodifizierung]
bezieht sich darauf, in welchem Ausmass
Individuen oder Familien unabhängig von
ihrer Teilnahme am Markt einen sozial
akzeptablen Lebensstandard halten
können. »
Esping-Andersen 1990:37; eigene
Übersetzung
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De-Kommodifizierung
• De-Kommodifizierung beschreibt die Qualität
sozialer Rechte
• Voraussetzung: die Norm ist erwerbstätig zu
sein
• Wer nicht (zu wenig) erwerbstätig sein kann, soll
trotzdem einen akzeptablen Lebensstandard
haben
• Das wird durch (1) Lohnersatz (z.B. Altersrente)
und (2) Dienstleistungen gewährleistet
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De-Kommodifizierung
Lohnersatz bei...
Dienstleistungen wie...
Krankeit/Unfall
Elternschaft
Arbeitslosigkeit
Alter
Aus-/Weiterbildung
Kinderbetreuung
Altenbetreuung
Medizinische Leistungen
Bildung
Vollständigkeit, Dauer,
Zugänglichkeit?
Qualität, Zugänglichkeit,
Kostenlosigkeit?
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De-Kommodifizierung
• Die dekommodifizierende Wirkung einzelner
Merkmale von Sozialversicherungen ist oft
schwierig zu entscheiden (z.B. die
Praxisgebühr in Deutschland)
• Durch fiktive Vergleiche kann es klarer werden
(was wäre stärker oder schwächer
dekommodifizierend?)
• Oft ist es sinnvoll, De-Kommodifizierung auf
der Ebene ganzer Sozialversicherungszweige
oder gar ganzer Wohlfahrtsstaaten pauschal
anzuschauen
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Stratifizierung
• ‚stratum‘ heisst (Gesellschafts-)Schicht
• stratum+facere = Schichten machen
• Stratifizierung heisst die Hervorbringung
von Schichten
• WFS fördern bestimmte Ungleichheiten
und verursachen neue
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Stratifizierung
« Der Wohlfahrtsstaat ist nicht allein ein
Instrument zur Beeinflussung und
gegebenfalls Korrektur der
gesellschaftlichen Ungleichheitsstruktur.
Er stellt vielmehr ein eigenständiges
System der Stratifizierung dar, indem er in
aktiver und direkter Weise soziale
Beziehungsmuster ordnet. »
Esping-Andersen 1998:39
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Stratifizierung
Zwei Mechanismen
• Stigmatisierung
• Statusdifferenzierung
Ein Massstab
• Universalismus
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Stratifizierung
Stigmatisierung
• Stigma: Zeichen, ‘Stempel’
• Wenn der Bezug von wohlfahrtsstaatlichen
Leistungen den Bezüger entwertet
• Führt zu einer klaren, symbolischen
Teilung der Gesellschaft in zwei Gruppen
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Stratifizierung
Statusdifferenzierung
• vom Markt produzierte Einkommensunterschiede werden erhalten
• bestimmte Bevölkerungsgruppen werden
bevorzugt, mit Privilegien ausgestattet
• sowohl symbolisch als auch materiell
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Universalismus
«[Universalismus heisst:] Alle Bürger
werden, unabhängig von ihrer
Klassenzugehörigkeit oder MarktsteIlung,
mit ähnlichen Rechten ausgestattet.»
Esping-Andersen 1998:41
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Verhältnis von Staat, Markt, Familie
• Nicht unabhängig von De-Kommodifizierung und
Stratifizierung, sondern eng mit diesen verknüpft
• Keine mehr / weniger Dimension wie DeKommodifizierung und Stratifizierung
• Stattdessen: einzelne Bündel von
Eigenschaften, die zusammen auftreten,
einander bedingen
• Vor allem Familie kommt in dieser dritten
Dimension neu dazu
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Verhältnis von Staat, Markt, Familie
• Welches Idealbild der Familie beeinflusst die
Sozialpolitik? Katholisch? Emanzipatorisch?
• Wie werden die Lasten der Care Arbeit verteilt?
Ist es klar, dass die Familie sie trägt oder gibt es
andere Lösungen?
• Hängt von vielen Faktoren ab, wie..
• Wie werden Careleistungen erbracht? Wer bezahlt
Kinderkrippen?
• Welche Berufsbiographien sind möglich?
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Drei Wohlfahrtsregime nach E.-A.
• E.A. schlägt drei Wohlfahrtsregime vor
• liberale
• konservativ-korporatistische
• sozial-demokratische
• Wohlfahrtsregime sind Idealtypen
• Reale Wohlfahrtstaaten entsprechen nie genau,
nur mehr oder weniger einem Regime
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Drei Wohlfahrtsregime nach E.-A.
Die 3 Wohlfahrtsregime (1990!):
• liberal: staatliche Sicherung beschänkt sich auf eine
kleine Gruppe, viel Platz für Marktlösungen,
Kinderbetreuung ist Privatsache
• konservativ: staatliche Sozialversicherungen für viele,
Kinderbetreuung ist Familien(Frauen-)Sache, Struktur
der Versicherungen fördert traditionelle Familien
• sozial-demokratisch: staatlich finanzierter Lohnersatz,
Kinderbetreuung ist Staatssache, Förderung von
Frauenerwerstätigkeit
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Schlusspunkt
«Beziehen wir unsere zentralen
Definitionskriterien von Wohlfahrtsstaaten
auf die Qualität sozialer Rechte, auf
soziale Stratifizierung und auf das
Verhältnis zwischen Staat, Markt und
Familie, dann setzt sich die Welt aus
einzelnen Regime-Typen zusammen.»
Esping-Andersen 1998:46-47
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Literatur
Esping-Andersen, Gøsta (1990). The three worlds of welfare capitalism. Princeton (N.J.):
Princeton University Press.
Esping-Andersen, Gøsta (1998). Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus. In: Ostner,
Ilona und Stephan Lessenich (Hg.). Welten des Wohlfahrtskapitalismus : der
Sozialstaat in vergleichender Perspektive. Frankfurt a. M.: Campus Verlag.
Marshall, Thomas Humphrey und Elmar Rieger (1992 [1950]). Bürgerrechte und soziale
Klassen : zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates. Frankfurt a. M. [etc.]: Campus
Verlag.
OECD (2010):Social Expenditure – Aggregated Data. Online Datenbank: SourceOECD
Social Expenditure Database. Zugriff auf
http://www.sourceoecd.org/database/socialexpenditure am 1.2.2010.
Titmuss, Richard (2008) [1974]). What is Social Policy?. In: Leibfried, Stephan und
Steffen Mau (Hg.). Welfare States: Construction, Deconstruction, Reconstruction
(138-147). Cheltenham: Edward Elgar.
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