Shakespeare DasRätselum dengrossen Dramatiker 12
Transcrição
Shakespeare DasRätselum dengrossen Dramatiker 12
Nr. 4 | 27. April 2014 NZZ am Sonntag Shakespeare Das Rätsel um den grossen Dramatiker 12 Liebe &Musik Margriet de Moor erzählt von Amouren 7 Verena Stefan Mein Grossvater in der Waldau 10 Aussenpolitik Paul Widmer über Schweizer Diplomatie 18 Bücher am Sonntag Mystiker aller Zeiten betonen, dass sich ihre Erkenntnisse nicht in Worte fassen lassen, und füllen so Bibliotheken. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyNDUzNgMAvnWmmg8AAAA=</wm> Aus «Vierzig Wege zur Erleuchtung», NZZ am Sonntag <wm>10CFXKqw4CQRBE0S_qSVU_Z2lJ1m0QBD-GoPl_xYLjJted4-gY-H3db4_93gQ8RBlp2bHF0MqeqgNeDWcp6Beenab45wXc0mDrawQurEUKITaXzRzv5-sDIsW4e3IAAAA=</wm> Mystiker heissen sie alle. Die einen suchen Gott, die andern das Nichts, die einen den Rausch, die andern die Askese. Doch eins verbindet sie: die Sehnsucht nach dem Absoluten. Von Manfred Papst 10 Ausgaben für nur Fr. 25.– SMS mit Keyword «NZZ26», Namen und Adresse an Nr. 880 (20 Rp./SMS) Lesen Sie weiter Der Artikel ist gratis! nzz.as/2826 Inhalt Shakespeare oder Wie es euch gefällt William Shakespeare (Seite 12). Illustration von André Carrilho Der Wälzer ist 9,5 Zentimeter dick, zählt 1100 Seiten und wiegt 1,5 Kilo. Erworben habe ich ihn als Jugendlicher vor knapp 50 Jahren in einem Londoner Buchladen. «The Complete Works of William Shakespeare», eine Ausgabe zum 400. Geburtstag, machte Lust, das eine oder andere Stück in der Originalsprache zu lesen. Verlorene Liebesmüh! Wenn ich heute den vergilbten Band in die Hand nehme, packt mich erneut das Verlangen, in die Dramen um Gewalt, Liebe und Kampf einzutauchen. Menschliche Laster und Leidenschaften in allen Ausprägungen – was ihr wollt. Sie mögen den englischen Dramatiker nicht? Finden gar: Viel Lärm um nichts? Dann lesen Sie den Essay von Manfred Koch. Er zeigt, was am Rätsel Shakespeare noch heute fasziniert (Seite 12). Die ganze Welt ist eine Bühne – und jeder spielt dabei in vielen Rollen. Von W. S.s riesigem Einfallsreichtum schimmert immer wieder ein Stück bei unserem Mitarbeiter Charles Lewinsky durch. Beispiel gefällig? Seine Kolumne über die suchtkranken Autoren (S. 15). Daran hätte das Publikum im Londoner Globe Theatre sicherlich Spass gehabt. Viele von uns verfolgt der alte William mit seinen Bildern und Szenen ja bis in die Sprache und Redewendungen. Oder beim Versuch, in einen Text wie diesen mindestens ein halbes Dutzend seiner Stücktitel und Zitate einzubauen. Ob’s gelungen ist, mögen die Shakespeare-Kenner unter Ihnen beurteilen. Ende gut, alles gut. Urs Rauber Belletristik Paul Auster: Winterjournal Daniel Pennac: Der Körper meines Lebens Von Simone von Büren 6 Jürg Schubiger: Nicht schwindelfrei Von Martin Zingg Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling Von Charles Linsmayer 7 Margriet de Moor: Mélodie d’amour Von Judith Kuckart 8 Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe Von Stefana Sabin 9 Hans-Ulrich Treichel: Frühe Störung Von Jürg Scheuzger Catherine Leutenegger: Kodak City Von Gerhard Mack 10 Verena Stefan: Die Befragung der Zeit Von Sandra Leis 11 E-Krimi des Monats Peter Zeindler: Die weisse Madonna Von Christine Brand Kurzkritiken Belletristik 11 Michael Herzig: Frauen hassen Von Regula Freuler Hjalmar Bergman: Skandal in Wadköping Von Manfred Papst Durs Grünbein: Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond Von Manfred Papst Martina Clavadetscher: Sammler Von Regula Freuler Essay 12 Auf der Suche nach Shakespeare William Shakespeare ist biografisch kaum zu fassen. Manfred Koch nähert sich dem grossen Dramatiker, der vor 450 Jahren geboren wurde ISOLDE OHLBAUM / LAIF 4 Die Berner Autorin Verena Stefan hat die Geschichte ihres Grossvaters literarisch aufgearbeitet (S. 10). Kolumne 15 Charles Lewinsky Das Zitat von Jon Fosse Kurzkritiken Sachbuch 15 Jean-Michel Wissmer: Heidi Von Kathrin Meier-Rust Friedhof Forum Zürich: Das Eigene Von Urs Rauber Ioannis Zelepos: Kleine Geschichte Griechenlands Von Geneviève Lüscher Pamela Pabst, Shirley M. Seul: Ich sehe das, was ihr nicht seht Von Kathrin Meier-Rust Sachbuch 16 George Soros im Gespräch mit Gregor Peter Schmitz: Wetten auf Europa Roman Herzog: Europa neu erfinden Von Joachim Güntner 18 Paul Widmer: Diplomatie Von Michael Ambühl 19 Michael Jürgs: Sklavenmarkt Europa Von Berthold Merkle Yvette Estermann: Erfrischend anders Von Urs Rauber 20 Annerose Sieck: Weiberwirtschaften Von Geneviève Lüscher Artur Domoslawski: Ryszard Kapuscinski Von Kathrin Meier-Rust 21 Frank Dikötter: Maos grosser Hunger Felix Lee: Macht und Moderne Von Harro von Senger 22 Perry Anderson: Die indische Ideologie Von Bernhard Imhasly 23 SabineHenze-Döhring,SieghartDöhring: GiacomoMeyerbeer Von Corinne Holtz Yoko Kawaguchi: Japanische Zen-Gärten Sarah Fasolin 24 Bartholomäus Grill: Um uns die Toten Von Klara Obermüller Reiner Klingholz: Sklaven des Wachstums Von Reinhard Meier 25 Michael Hampe: Die Lehren der Philosophie Von Kirsten Voigt Susanne Dieminger, Roland Jeanneret: Piccard Von Urs Rauber 26 Dieter Steiner: Rachel Carson Von Martin Amrein Das amerikanische Buch Scott Eyman: John Wayne. The Life and Legend Von Andreas Mink Agenda 27 A Secret Garden. Indian Paintings from the Porret Collection Von Manfred Papst Bestseller April 2014 Belletristik und Sachbuch Agenda Mai 2014 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura., Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected] 27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Romane Daniel Pennac schreibt über die Empfindungen und Veränderungen seines eigenen Leibes «Daswarmein Körper, abernichtich» Paul Auster: Winterjournal. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2013. 256 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 21.–. Daniel Pennac: Der Körper meines Lebens. Aus dem Französischen von Eveline Passet. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 448 Seiten, Fr. 32.90, E-Book 24.–. Von Simone von Büren In seinem Essay «L’Adieu au corps» (Métailié 1999) argumentiert der französische Soziologe und Anthropologe David Le Breton, der Körper werde zunehmend als Entwurf behandelt, den man nach Belieben umgestalten könne. Und der Autor Daniel Pennac schreibt in seinem neuen Roman, der Körper werde durch die Verfahren der modernen Medizin umgekehrt proportional zu seiner Zurschaustellung zum Verschwinden gebracht. Der Körper als zu perfektionierendes Objekt der Schönheitschirurgie also, als manipulierbares Instrument der Identitätsgestaltung, als endlos sezierter Gegenstand der modernen Medizin, als frei wählbares Accessoire der OnlineSelbstdarstellung. Im Gegensatz zu diesen Phänomenen stehen zwei neue literarische Werke, die den Körper in seiner Sinnlichkeit und Verletzlichkeit ins Zentrum stellen. Bereits viel besprochen wurde Paul Austers Memoiren «Winterjournal», ein fragmentiertes Selbstgespräch, in dem der 64-jährige Autor zu ergründen versucht, «wie das für dich war, in diesem Körper zu leben – vom ersten Tag, an den du dich erinnern kannst, bis heute». Auster betrachtet sich und seinen Körper in verschiedenen Räumen, Lebensphasen und Zuständen; versehrt, panisch, erregt, rauchend, alternd. Er gibt uns Inventu4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014 ren von Narben und Verletzungen, Listen von Geschlechtskrankheiten und Lieblingsgerichten und einen Katalog aller Wohnungen, in denen er gelebt hat. Austers «Memoir», dessen psychologisches Gegenstück «Report from the Interior» soeben auf Englisch erschienen ist, passt zur Selbst-Mythologisierung des New Yorker Autors in insgesamt sechs Memoiren und den autofiktiven Vexierspielen in seinen Romanen. Leider ruht sich Paul Auster auf diesem Mythos zu sehr aus. Vieles in «Winterjournal» wirkt inhaltlich und formal unausgegoren. Viele der erwähnten Körpererfahrungen sind nur Anlass für Anekdoten, bleiben austauschbar und in der blossen Auflistung allgemein: «Niesen und lachen, gähnen und weinen, rülpsen und husten, dich am Ohr kratzen, dir die Augen reiben, die Nase putzen, dich räuspern, an den Lippen knabbern, mit der Zunge an den unteren Schneidezähne entlangstreichen, frösteln, furzen.» Vom Krimi zum Tagebuch Wie man all diese körperlichen Erfahrungen nicht nur inventarisieren, sondern ergründen, sinnlich beschreiben und zutiefst nachvollziehbar machen kann, zeigt Daniel Pennac in seinem neuen Roman «Der Körper meines Lebens». Der mit seiner Krimireihe um Benjamin Malaussène bekannt gewordene Autor erzählt darin das Leben eines Mannes als die Geschichte seines Körpers. Vorbemerkungen etablieren den Text als postum publiziertes Journal eines 1924 geborenen, bekannten, im Roman jedoch anonym bleibenden Franzosen. Dieser eröffnet das Journal 1936 als schwächlicher Zwölfjähriger mit dem Vorsatz, nie mehr Angst zu haben, und führt es konsequent, wenn auch mit mehrjährigen Lücken, weiter bis kurz vor seinem Tod im Alter von 87 Jahren. Während Auster bilanzierend zurückblickt, schreibt Pennacs Protagonist in der Gegenwart des jeweiligen Alters. Dabei geht er konsequent vom Körper aus – von seinem eigenen und dem anderer Menschen. «Der Blickwinkel vom Körper her ist ein ganz anderer», erklärt er seiner Tochter, wie um Auslassungen und Gewichtungen zu entschuldigen. Tatsächlich stellt das Journal eine ungewöhnliche Autobiografie dar. Das Datum, das neben dem jeweiligen Alter vor jedem Eintrag steht, verortet die individuelle Biografie zwar in der Geschichte. Aber man erfährt kaum etwas über den Zweiten Weltkrieg oder die 68er in Paris und noch weniger über Ausbildung, Beruf oder Einstellungen des Journalschreibers. Am ehesten ergibt sich ein Bild von seinen Beziehungen zu den Menschen, aus deren Körper er hervorging, mit deren Körper er sich vereinigte, deren Körper er hervorbrachte: die gefühlskalte Mutter, der «immer weniger werdende» depressive Vater, die kraftstrotzende Bedienstete Violette, Frau, Kinder, Enkel und Urenkel. Die schiere Vielfalt von Erfahrungen und Empfindungen, die das Journal festhält, ist imposant: Es geht um Mandelentzündung, Onanieren, Angespucktwerden und die Erinnerung an die väterliche Hand auf dem Kopf. Um die Phänomene des Niesens und Gähnens, um das Vergnügen des Einschlafens und Rasierens, um den bestialischen Gestank von perforierten Nasennebenhöhlen, eine schmerzhafte Polypen-Extraktion und das «spontane Zubruchgehen» von Zähnen, Nägeln und Oberschenkelknochen. Minuziös hält der Verfasser fest, wie er absichtlich in Ohnmacht fällt, sich beim Einschlafen beobachtet und beim ersten STEPHEN SMITH / STONE / GETTY IMAGES Der Körper «als Sack voller Überraschungen»: Der französische Autor Daniel Pennac liefert ein fiktives Tagebuch der besondern Art. Mal Sex versagt. Er beschreibt die Überraschung der ersten Ejakulation ebenso minuziös wie den eingebildeten Lauchfaden zwischen den Zähnen. Er denkt nach über Schmerz, das Versiegen von Begierde und die Sehnsucht nach der physischen Gegenwart seiner Toten. Pennacs Text ist gleichzeitig spezifischer und universeller als jener Austers. In der aufmerksamen Wahrnehmung des Körpers «als Sack voller Überraschungen und Generator von Ausscheidungen» eröffnet sich dem Leser etwas AllgemeinMenschliches. Als älterer Mann beobachtet der Journalschreiber, wie eine Tennisspielerin im Jardin de Luxembourg verstohlen «den Geruch unter ihrer Achselhöhle aufpickt», und erlebt dabei eine «dieser wunderbaren Empathiesekunden, die uns zu Angehörigen ein und derselben Gattung machen». Dieselbe tröstliche Erfahrung des Verbundenseins durch die gemeinsame Kondition der Körperlichkeit ermöglicht Pennacs Roman, vom ersten panischen Eintrag bis zu seinem erwartungsgemäss bitteren Ende. Man kann sich den 450 Seiten Körpernotizen über Jahreszahlen, Alter oder das Schlagwortverzeichnis mit Einträgen wie «Katheter», «Fiasko, sexuelles» oder «Anfall von Kindheit» nähern. Man kann sie aber auch chronologisch lesen, was beeindruckend die Kontinuität des Ichs bei sich veränderndem Körper veranschaulicht, die Kontinuität zwischen dem Kindheits-Ich, das auch im 80-Jährigen noch hervorbricht, und dem Greisen-Ich, das sein Alter in dem alternden Körper seiner Kinder erkennt. Zutiefst fremd Die vielen humorvollen Passagen – etwa Violettes Methode der «akustischen Anästhesie», die den Jungen durch plötzliches Schreien vom Schmerz ablenkt, oder das «Entjungferungs-Gänsespiel», das die Teenager entwickeln – täuschen nicht über eine grundlegende Not hinweg: Die schmerzliche Distanz zwischen Geist und Körper, die das Journal zu überbrücken versucht und die es durch den strengen Fokus auf das Körperliche gleichzeitig aufrechterhält. Dass dem Journalschreiber sein eigener Körper «aufs innigste fremd» ist, zeigt sich unter anderem in seiner Angst vor Spiegeln, in denen er sich stets mit Befremden betrachtet: «Das war mein Körper, aber nicht ich. Ich sagte: Du bist ich? Du, das bin ich? Ich, das bist du? Das sind wir?» Da klingt Paul Austers Zweitperson-Erzählperspektive an, die Bemühung um einen Dialog zwischen Ich und Du, Ich und Körper. Es ist diese Distanz dem Körperlichen gegenüber, die die bewusste Annäherung in der Form eines Journals erst erfordert. Diese Annäherung lässt in beiden Büchern immer dann nach, wenn der Körper funktioniert, und sie intensiviert sich, wenn physische Abläufe gestört sind, bei extremem Schmerz, intensiver Lust und den bei beiden Autoren zentralen Angstzuständen. In den Momenten, die Pennacs Journalschreiber «Überraschungen» nennt, den Momenten, in denen das Ich aufhört, den Körper zu analysieren und zu instrumentalisieren, und kurz, plötzlich, wie in der frühesten Kindheit, nur Körper ist. ● 27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Roman Sensible Erzählung über einen Mann, der sich unmerklich selbst abhandenkommt Jürg Schubiger: Nicht schwindelfrei. Haymon, Innsbruck 2014. 112 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 11.90. Von Martin Zingg Wie es wirklich um ihn steht, kann Paul nicht sagen, er weiss es nicht. Unabweisbar ist jedoch die Vermutung, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmt: «Er sei krank, hiess es, oder er sei krank gewesen. Ihm selbst war aber gar nicht so. Für den Vorgang, den die bekümmerten Menschen um ihn Genesung nannten, hatte er kein genaues Wort. Er sagte Besinnung dazu oder Auffrischung, Aufforstung.» Paul ist, wie sich allmählich herausstellt, aus seinem bisherigen Leben herausgekippt. Er geht nicht mehr zur Arbeit, er kann gar nicht, irgendetwas ist dazwischengekommen. Er tappt durch seinen Alltag, den er ohne Hilfe seiner Frau Marion wohl kaum bewältigen könnte, und muss erleben, wie sein Gedächtnis ihn immer wieder im Stich lässt. Dafür erinnert er sich sehr plötzlich und überraschend an einiges, was er unmöglich so genau wissen kann, wie es ihm nun mit einem Mal vor Augen steht. In seinem Kopf hat sich etwas verschoben – wir erfahren nicht, was. Paul weiss es ebenso wenig, und manchmal weiss er auch nicht mehr so genau, wie man sich benimmt. Das kann ihn dann durchaus charmant machen, für andere jedenfalls, für Aussenstehende, ob er davon etwas merkt, bleibt allerdings offen. Er sieht die Welt in nur ihm er- kennbaren Zusammenhängen. Immerhin wird er, der vieles und viele vergisst, seinerseits nicht vergessen. Sein Bruder Theo taucht gelegentlich bei ihm auf, auch sein Berufskollege Steff – und ganz allmählich ergibt sich aus vielen Facetten eine Vorstellung von dem Leben, das Paul einmal geführt haben muss und aus dem er nun sachte und unaufhaltsam in ein anderes Leben gerutscht ist. Von diesem anderen Leben erzählt Jürg Schubigers jüngster Roman «Nicht schwindelfrei». Schubiger ist ein Virtuose der kleinen Verschiebung, des fast unmerklichen Übergangs, das hat er schon in seinen Romanen «Haller und Helen» und «Kleine Liebe» auf wunderbare Weise vorgeführt. In seinem neuen Buch schickt er seinen Protagonisten Paul von Matt auf eine prekäre Reise ins Ungewisse. Was ihn dabei erwartet, kann Paul auch darum nicht wissen, weil sich sein biografisches Gepäck buchstäblich aufgelöst hat. Er hat kein Erinnerungsvermögen mehr: Ihm steht nun alles offen, alles ist denkbar – und nichts davon wäre zwingend. Paul unternimmt ausgiebige Spaziergänge in der freien Natur. Und immer wieder besucht er das Kunstmuseum der Stadt, wo er irgendwann eine Teilzeitanstellung als Aufseher finden wird. Was er in den Museumsräumen sieht, fasziniert ihn, weil die «Jahrhunderte aufbewahrt» werden: «Vergangenes war hier betretbar.» Zu seinen Lieblingsstücken zählen ein Bild von Robert Zünd, «Eichenwald», und das «Bildnis eines jungen Mannes» von Hans Memling. Diese Bilder werden, wenn er sie betrachtet, lebendig, sie stos- ALAMY WennsichimKopf etwasverschiebt Im Museum stösst der derangierte Protagonist von Jürg Schubigers neuem Roman auf Erinnerungen. sen kleine Geschichten an, die von Erinnerungen kaum zu unterscheiden sind: «Erinnerungen kamen so mühelos von irgendwoher, wie sie einen wieder verliessen.» Dabei erweist sich das Museum als verlässlicher, stabiler Ort. Das holländische Haus mit dem Rosenspalier – ein anderes Bild, das er mag – ist jederzeit dort anzutreffen, wo es hingehört. Mit «Nicht schwindelfrei» ist Jürg Schubiger ein höchst einnehmendes Werk gelungen. Erzählt wird das Geschehen in einer Sprache, die geschmeidig und gespannt bleibt und bis zuletzt alles elegant in Schwebe hält. Entscheidend ist der Kunstgriff des Erzählers: Er hält seinen Protagonisten frei von psychologischen Erklärungen, er lässt ihn scheinbar voraussetzungslos agieren und schafft so Raum für unzählige kleine Überraschungen. Zum grossen Lesevergnügen trägt damit auch all das bei, was dieser Roman kunstvoll verschweigt. ● Roman Gertrud Leutenegger legt einen sinnlich-farbenfrohen Frühlingstext vor Erinnerungen an eine Schwyzer Kindheit Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling. Suhrkamp, Berlin 2014. 218 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 21.–. Von Charles Linsmayer «Allem fern sein, um allem nah zu sein. Und beides, Ferne und Nähe, noch lange nicht durchdringend genug.» Die Worte hätten auch in «Vorabend» stehen können, Gertrud Leuteneggers erstem Buch, in dem sie 1975 in nächtlichen Wanderungen die Nähe Zürichs mit der Ferne ihrer andern Lebensschauplätze in Beziehung setzte und vorschützte: «Mein Thema ist, dass ich keines habe.» Eines, wenn nicht das zentrale Thema ihres Schreibens war von je her das Erzählen als solches: das sich gegenseitige InsBild-Setzen, wie es die Verliebten in «Ni6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014 nive» oder in «Komm ins Schiff» tun. Und davon ist auch der neue Roman Leuteneggers wieder geprägt, in dem sich im Zeichen eines panischen, durch den isländischen Aschenregen erhitzten Frühlings eine Erzählerin aufmacht, um in nächtlichen Gängen die Nähe der Stadt London mit der Ferne einer Geschichtenwelt zu verbinden, die den eigenen Erinnerungen an die Schwyzer Kindheit und an das Waldzimmer im Sommerhaus eines priesterlichen Onkels die Erzählungen eines jungen Londoner Zeitungsverkäufers gegenüberstellt. Ob erfunden oder nicht, avanciert dieser Jonathan, dessen eine Gesichtshälfte grässlich entstellt ist, mit seinen Geschichten aus Newlyn und Penzance, die dank den Erinnerungen seiner Grossmutter weit vor seine Zeit zurückreichen und auch die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs evozieren, so unabdingbar zum Mitfabulierer, dass es heisst: «Solange wir redeten, ertranken wir nicht.» Kaum je hat Gertrud Leutenegger so sinnlich-farbenfroh erzählt wie in diesem Londoner Frühlingsrausch mit dem blauen Schaum der Glockenblumen unweit der pulsierenden Weltstadt. Wunderbar, wie das Schwyzer Sommerhaus allmählich mit dem Haus von Jonathans Grossmutter zum Doppelhaus der Erinnerung zusammenfliesst und wie die Begegnung zwischen den ungleichen Partnern bei aller Vitalität doch zu einer jener Parabeln im Banne von Liebe und Tod mutiert, wie Gertrud Leutenegger sie immer wieder erzählt hat und wie sie am Ende im weissen Fahrrad, das Jonathan zurücklässt, ebenso ihr finales Symbol findet wie seinerzeit «Komm ins Schiff» im weissen Totenschiff. ● Roman Die Niederländerin Margriet de Moor verwebt auf musikalische Art vier Liebesgeschichten AmouröseVerstrickungen Margriet de Moor: Mélodie d’amour. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Hanser, München 2014. 384 Seiten, Fr. 30.90, E-Book 24.90. «Mélodie d’amour», der neue Roman der niederländischen Schriftstellerin Margriet de Moor, die einmal Klavier und Gesang, später auch Kunstgeschichte und Archäologie studiert hat, erzählt von der Liebe. Besser, von Lieben, die gross sind, aber nicht grösser als der Tod. Das hat etwas Ernüchterndes, das hat etwas Erlösendes. Das hat seine eigene Grösse. Die vier Geschichten sind auf musikalische Art miteinander verwoben. Motive kehren wieder, ergänzen, widersprechen einander und überraschen den Leser. In der ersten verzeiht Atie ihrem Mann Gustaaf die Beziehung zur Untermieterin Marina nicht, auch wenn die beiden Frauen selber miteinander befreundet sind. Aber Freundschaft ist die zerbrechlichste Form von Liebe, sagt Margriet de Moor. Atie wird krank. Gustaaf zieht mit Marina aus, hat neben seinen vier Söhnen ein fünftes Kind mit ihr und weiss doch, dass er noch immer Atie liebt, so wie sie ihn. Denn wie sonst hätte es dazu kommen können, dass die schwerkranke Atie ihren Gustaaf, den immer Treulosen und immer Hilfsbereiten, als er sie auf dem Weg zur Toilette auf den Rücken nimmt, wie ein Raubtier in den Nacken beisst, wie eine Beute reisst. Der Anfall von Wahnsinn erleichtert Atie so sehr, dass sie, Gustaaf noch immer im blutenden Nacken sitzend, nicht bis zum Klo wartet, bis sie Wasser lässt. Fragile Freundschaft Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand anderer als Margriet de Moor diese Szene so anmutig direkt, so intim und diskret zugleich hätte beschreiben können. Als Atie nach langer schwerer Krankheit stirbt, tragen ihre vier Söhne, unter ihnen der jüngste, Luuk, an einem Dienstag, dem 10. November 1970, den Sarg mit der Mutter in die Amsterdamer Regennacht hinaus, damit Gustaaf von seiner Liebe Abschied nehmen kann. Denn betreten darf er Aties Haus nicht mehr, und das Verbot gilt über den Tod hinaus. Gustaaf ist mit dem Fahrrad und mit allen seinen Erinnerungen gekommen. Als der Regen aufhört, weiss er, dass Liebe sich nicht herunterdrehen lässt wie Gas auf Sparflamme. Die nächste Geschichte handelt von Luuk, dem jüngsten Sohn von Atie und Gustaaf. Verheiratet mit Myrte auf ewig, lernt er in einem Café Cindy kennen, die ihn vom ersten Blick an liebt, bis die Vernunft verbrennt. Cindy, dreiundvierzig, die Lehrerin, die sich bald als eine Stalkerin in dieser Affäre entpuppt, wächst am Anfang der Beziehung mit dem grossen, schwerfälligen Mann, den ich mir wie ALLARD DE WITTE / HOLLANDSE HOOGTE / IMAGO Von Judith Kuckart Die Schriftstellerin Margriet de Moor hat früher Musik studiert. Dieses Wissen flicht sie in ihren neuen Roman ein. Hier am Klavier, zu Hause in Haarlem (NL) 2007. einen grossen, arglosen, sanftfarbenen Hund vorstelle, über sich hinaus. Sie wird witzig, erfindungsreich, inszeniert zufällige Begegnungen mit Luuk. Es ist Winter 1987 in Amsterdam. Luuk geht auf eine Geschäftsreise und ruft Cindy nicht wie versprochen an. Ab da beginnt die Deformation Cindys, der sie selber erschrocken zuschaut. Am Ende untröstlich geworden, beisst sie nicht zu wie Atie, sondern wird anders zur Furie. An einem klaren Tag will Cindy mit einem Babyrevolver in einem Bus auf Luuk und seine Neue geschossen und wenigstens das Herz getroffen haben. Von Eifersucht geplagt In der dritten Geschichte steht die Neue von Luuk, Roselynde, im Zentrum. Es ist eine Affäre voller Harmonie, denn Roselynde, die einmal ihren Bruder liebte, hat mit jener ersten Leidenschaft das Schlimmste hinter sich. Sie ist am 15. November 1942 bei Nymwegen geboren, als ein liebes Kind. Dann hat sie sich als Dämonin entpuppt. An einem Junimorgen 1957 hat sie bei den Wäldern südlich von Nymwegen ein anderes Mädchen, das ihr selber ein wenig, dem Bruder Rogier aber so ganz das Herz stahl, im Spiel unter den Zug getrieben. Der Bruder verwindet das Unglück nicht. So hat Roselynde mit ihrer Eifersucht auch den geliebten Bruder in den Tod getrieben. Seit jenem Tag im Juni des Jahres 1957 wartet er nur noch auf die Erlaubnis zu sterben. Bis es so weit ist, liest er manisch, meist bei offnem Fenster und manchmal mit der Schwester neben sich im Bett. Rosealynde erzählt Luuk im Juni 1992 diese Geschichte von Liebe und Schuld, damit die Erinnerungslast verschwindet, verschwindet wie eine Faust, wenn die Hand sich öffnet. Am Ende ihres Geständnisses taucht auch die Szene mit Cindy im Bus wieder auf. Aber anders. Eine Frau, die Roselynde nicht kennt, kramt in der Handtasche und schaut dabei Luuk und sie an, als wolle sie die beiden etwas fragen. Dann verdreht die Frau die Augen, bricht zusammen. «Du trägst schöne Schuhe», sagt sie zu Roselynde, als sie nach der Ohnmacht an Luuks hilfsbereitem wie treulosem Arm an der nächsten Station aussteigt. Schliesslich Geschichte Nummer vier: Luuk hat eine zauberhafte Mutter, mindestens zwei Geliebte und eine Ehefrau Myrte, die ihren freundlichen Blick nicht gern auf die Augen eines anderen Menschen fokussiert. Myrte weiss von Luuks Affären, aber schläft nicht ungern allein. Denn sie hat lange vor Luuk den Vater ihrer Reiterfreundin so leidenschaftlich geliebt, dass alles, was danach kommt, nur noch Beziehung sein kann. Jetzt sind die ehemaligen Freundinnen fast um ein halbes Jahrhundert älter, reisen durch nördliches Licht in eine Landschaft mit schönen Pferden hinein. Die Momente der Erinnerung flechten sich geschmeidig und mit gekonnter Rhythmik in dieses Roadmovie ein. Myrte, mit einem Glas Bier oder Wein in der Hand, hat längst begriffen, dass man Geheimnisse akzeptieren muss. Auch jenes letzte, grösste, den Tod. «Das Wie, meine Lieben, ist meist sehr viel relevanter als das Warum. Es ist auch menschlicher», sagt Margriet de Moor. ● 27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Klassiker Der erste grosse Roman der nordamerikanischen Literatur: Nathaniel Hawthornes «Der scharlachrote Buchstabe» in neuer Übersetzung LabyrinthdesElends Von Stefana Sabin Immer wieder hat Nathaniel Hawthorne in Novellen und Erzählungen puritanische Strenge und instinkthafte Lebenslust einander gegenübergestellt und eine effektvolle psychologische Spannung aufgebaut, indem er den inneren Konflikt zwischen Selbstgerechtigkeit und Selbstzweifel zum zentralen Handlungsmoment machte – so auch in jenem Roman, seinem ersten, der 1850 erschien und ihn fast sofort zum amerikanischen Klassiker machte: «Der scharlachrote Buchstabe». Darin erzählt Hawthorne die Geschichte von Hester Prynne, die während der langen Abwesenheit ihres Mannes ein uneheliches Kind bekommt, von der puritanischen Gemeinde als Ehebrecherin öffentlich erniedrigt und dazu verurteilt wird, an ihrem Kleid sichtbar einen roten Buchstaben A (für «adulteress» – Ehebrecherin) als Zeichen der Schande zu tragen. Am Pranger denkt Hester über ihr Leben nach: «Zuletzt erschien wieder», heisst es, «der raue Marktplatz der Puritanersiedlung mit den versammelten Städtern, die ihre harten Blicke auf Hester Prynne richteten – ja, auf sie –, die auf dem Gerüst des Prangers stand, ein Kind im Arm und den Buchstaben A auf der Brust, scharlachrot, mit goldenem Faden phantasievoll bestickt. Konnte das wahr sein? ... Ja! – dies waren ihre Wirklichkeiten.» Am Pranger der Puritaner Anders als der Vater ihres Kindes, Arthur Dimmesdale, der von Selbstzweifeln und Schuldgefühlen gepeinigt wird und schliesslich daran verzweifelt, und auch anders als ihr zurückgekehrter Mann Roger Chillingworth, der sich von Zorn und Rache leiten lässt, erträgt Hester ihre Strafe mit Würde und findet die innere Kraft zu einem Neuanfang. Aber als sich ein Weg «aus dem Labyrinth ihres Elends zu öffnen schien», als sie mit Dimmesdale und ihrer Tochter nach Europa fahren könnte, durchkreuzt Chillingworth ihre Pläne. Wie im antiken Drama zeigt sich «das finstere, grimmige Gesicht des unausweichlichen Schicksals» in dieser Geschichte von Sünde, Schuld und Strafe. Hawthorne zeichnet das Bild der streng puritanischen Gemeinschaft im Boston der Mitte des 17. Jahrhunderts, und in Hesters Versuch, ihr Selbstbild mit der ihr aufoktroyierten allegorischen Identität zu versöhnen, deckt er einen psychosozialen Kampf auf, der über die puritanische Epoche hinaus die amerikanische Mentalität geprägt hat und auch über das 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014 Der amerikanische Roman «Der scharlachrote Buchstabe» in der jüngsten Verfilmung von 1995 mit Demi Moore in der Hauptrolle. IMPRESS Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe. Aus dem Englischen übersetzt und kommentiert von Jürgen Brôcan. Hanser, München 2014. 480 Seiten, Fr. 39.90, E-Book 29.90. Lokale hinaus eine zeitlose, allgemeingesellschaftliche Auseinandersetzung reflektiert. Denn Hester verstösst gegen eine soziale Regel, nicht gegen ein göttliches Gesetz, und ihre Geschichte handelt von der Beziehung zur Gemeinschaft, nicht von der Beziehung zu Gott – es ist die Geschichte einer Sozialisation, die nicht als öffentliche Anpassung, sondern als innere, ja verinnerlichte Selbsterkenntnis zu verstehen ist. So legte Hawthorne die puritanische Selbstgerechtigkeit als psychologischen Absolutismus bloss, und in der Figur Hesters, die als Ehebrecherin ausgegrenzt wird und sich der sozialen Repression fügt, ohne sich selbst – ohne ihr Selbst – aufzugeben, entwarf er die erste authentische Heldin in der amerikanischen Literatur. Dass diese Heldin auf eine historische Gestalt zurückzugehen schien, verlieh ihrer Geschichte eine realistische Dimension über ihre fiktionale Plausibilität hinaus. Und das war Nathaniel Hawthornes grossartiger Erzähltrick: Hesters Geschichte als Quellenfiktion vorzugeben und zugleich die Fiktionsleistung offenzulegen. Was er erzähle, erklärte er im Vorwort, sei «nur Authentizität des Umrisses». Diese Authentizität des Umrisses erlaubte ihm, die fiktive Wirklichkeit allegorisch zu verfremden und dramatisch zu übersteigern, ohne den realistischen Rahmen zu sprengen. Und indem er das Geschehen mit unheimlichen und mysteriösen Ereignissen anreicherte, wies er auf eine verborgene Realität hinter der Realität hin. Hawthornes Roman war – trotz manch empörter Kritik – ein Bestseller und wurde schon ein Jahr nach seinem Erscheinen unter dem Titel «Der Scharlachbuchstabe» ins Deutsche übersetzt. In regelmässigen Abständen folgten Neuübersetzungen. Nun hat Jürgen Brôcan den amerikanischen Klassiker neu übertragen. Er hat manche Ungenauigkeiten voriger Übersetzungen – vor allem in Bezug auf historische Details – beseitigt und für die Strenge und sublimierte Bildhaftigkeit des Originals immer wieder Entsprechungen gefunden. Seelische Abgründe Aber die letzte Zeile des Romans, die die Inschrift auf Hesters Grab wiedergibt, ist Brôcan völlig misslungen. «On a field, sable, the letter A, gules» heisst es im Original. «Auf schwarzem Feld ein roter Buchstabe» heisst es in der Übersetzung von Richard Mummendey, die Manesse gerade neu verlegt hat. Wenn Brôcan «Auf sablem Feld der Buchstabe A, in gueules» übersetzt, macht er aus einem schwer verständlichen englischen einen unverständlichen deutschen Satz. Und auch die Gattungsbezeichnung «Eine Fantasie», die Brôcan gewählt hat, missdeutet Hawthornes «A Romance». Denn Hawthornes Roman ist keine träumerische Liebesgeschichte, sondern ein psychologischer Schauerroman, der einen Blick in die Abgründe der Seele tut. ● Roman Hans-Ulrich Treichel erzählt von einem arbeitsscheuen Reisejournalisten und dessen frühkindlicher Traumatisierung MutterundSohnfindennie dierichtigeDistanzzueinander Hans-Ulrich Treichel: Frühe Störung. Suhrkamp, Berlin 2014. 189 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 18.–. Von Jürg Scheuzger Der etwa 45-jährige Franz, der triste Protagonist in Hans-Ulrich Treichels neuestem Roman «Frühe Störung», hört in seinem Kopf andauernd den Kehrreim «Mutter Mutter Mutter», und nachdem er sich davon hat heilen lassen durch eine mehrjährige Psychoanalyse, hört er den stets wiederholten schrillen Ruf der Mutter, «Franz!», fast wie einen Tinnitus, auch über den Krebstod der Mutter hinaus. So hat sie den Knaben vor Jahrzehnten in einer grossen Charlottenburger Wohnung zu oft gerufen. Der 1952 geborene Hans-Ulrich Treichel hat mit dem Roman «Der Verlorene» 1998 berechtigtes Aufsehen erregt. Aus der Sicht eines Knaben wird dort vom Schicksal einer Familie erzählt, die auf der Flucht aus dem Osten 1944/45 einen kleinen Sohn verliert und ihn (vielleicht) erst findet, als es zu spät ist. Mit «Menschenflug» schrieb Treichel 2005 eine Fortsetzung zum «Verlorenen», die sehr kontrovers beurteilt wurde. Dem Thema der gestörten Familienbindungen bei begüterten westdeutschen Bürgern ist der Autor im neuesten Werk treu geblieben. Franz ist ein arbeitsscheuer akademischer Reisejournalist, dessen schlichtes Lebenswerk ein Reiseführer über den Darss ist, eine touristisch gut erschlossene Ostsee-Halbinsel. Dass er den Reiseführer wiederholt überarbeiten darf, betrachtet er als Lebensaufgabe. Er muss nur wenig arbeiten, denn er erbt die grosse Wohnung der Mutter, die er lohnend vermieten kann. Franz ist nicht nur ein Minimalist, er ist ein Langweiler. In konsequent durchgehaltener Rollenprosa erzählt er – wem eigentlich? – mit vielen faden Details von seinem faden Leben. Dabei gelingen Treichel humoristische Glanzstücke, so die Beschreibung eines softpornografischen Reisemagazins über Indien, das in der DDR veröffentlicht wurde, oder der gescheiterte Datscha-Besuch bei einer brandenburgischen Bildungsministerin. Komisch mag man auch die Schilderung von Franz’ Reise nach Kalkutta (auf der Flucht vor der finalen Krankheit der Mutter) finden: Franz verbringt Tage im Zimmer und Park seines Hotels, um sich nicht zu viel Indien zumuten zu müssen. Dennoch: Ein langweiliger Mensch bleibt langweilig, auch wenn ein wortgewandter Autor ihm die Sprache leiht. Hans-Ulrich Treichel konstruiert eine lebenslange Double-Bind-Beziehung von zwei Menschen, welche die richtige Distanz zueinander nicht finden in einem Hin und Her von Nähe und grösstmöglicher Entfernung. Der seine Probleme reflektierende Sohn evoziert für dieses Paradox von Nähe und Ferne die Ur- und Schlüsselszene, die wiederholte gemeinsame «Mittagsruhe» von Mutter und Kind in einem Bett: «[…] ich fühlte mich wie die Maus in der Falle neben dem atmenden Leib der Mutter, die […], während sie einschlief, immer näher an mich heranrückte und mich mit ihrem Bauch und ihren Schenkeln berührte. Ich rückte daraufhin bis an den äussersten Rand des Bettes, doch die schlafende Mutter rückte mir nach und drückte sich an mich. In ihrem Nachthemd, das so dünn war, dass ich es gar nicht spürte. Ich spürte nur die Wärme darunter, die Körperwärme der Mutter, […] oder zumindest den feuchten Schweissfilm auf ihrer Haut, denn meine Mutter schwitzte, während sie schlief.» Diese intensive Urszene einer lebenslangen Traumatisierung variiert Franz mehrmals, und sie wird durch die Wiederholung noch schrecklicher. Der Autor kommentiert nichts in diesem Roman; es spricht ausschliesslich Franz. Dennoch darf man annehmen, dass Treichel der im Übrigen blass gezeichneten Mutter die Schuld gibt an der Lebensunfähigkeit und der reflektierten Gefühlskälte des Sohnes. Dieser beendet seinen Lebensroman niederschmetternd lakonisch: «Ich bin ein altes Kind, das sich vor seiner toten Mutter fürchtet.» ● Kodak Ein Konzern verliert den Anschluss Die Schaufenster der Geschäfte sind zugenagelt, die Fenster darüber dunkel. Hier hat sich das Leben so verflüchtigt wie die Farbe an den Häusern. Warum hier einer noch eine Parkuhr füttert, bleibt sein Geheimnis. Die State Street in Rochester ist die Adresse von Kodak. Die Firma, die das Fotografieren mit dem Rollfilm zum Massenvergnügen gemacht hat, wurde hier 1881 von George Eastman gegründet. Anfang 2012 musste sie die Bilanz deponieren, weil sie den Anschluss an die digitale Fotografie verschlafen hatte, obwohl die erste elektronische Kamera in ihren eigenen Labors entwickelt wurde. Der Niedergang des Weltkonzerns stürzte auch die Stadt in die Krise, die von seinem Wohlergehen lebte: Rochester im Bundesstaat New York war eine typische Company Town, wie man sie sonst eher aus den Stahl- und Autostädten des Nordens der USA kennt. Detroit wurde dort zum Inbegriff einer sterbenden Stadt. Zigtausende verloren ihre Jobs. Catherine Leutenegger hat seit 2007 immer wieder in Rochester fotografiert und den Verfall dokumentiert. Ohne Larmoyanz, nüchtern und präzise erzählen ihre stillen Bilder von einer Veränderung, die zum Wirtschaftsprozess gehört. Der steile Abstieg ist auf den Bildern der zwischen Lausanne und New York pendelnden Fotografin einfach der zweite Teil der Erfolgsgeschichte. Diese Unaufgeregtheit macht die Reportage so zwingend wie berührend. Urs Stahel, A. D. Coleman und Jörg Bader steuern erhellende Texte bei. Gerhard Mack Catherine Leutenegger: Kodak City. Kehrer, Heidelberg 2014. 160 Seiten, 98 Farbabbildungen, Fr. 49.90. 27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Verena Stefan schaut in ihrem dokumentarischen Roman zurück Demalten Dorfarztwird derProzess gemacht Von Sandra Leis «Ich bin so göttlich froh! Wenn zehn Ärzte mich untersuchen täten, würde keiner mehr etwas finden», frohlockt die Serviertochter Beatrice Tanner im «Kreuz». Und setzt damit ein Gerücht in Umlauf, das für sie und Dr. Julius Brunner zum Verhängnis wird. Man schreibt das Jahr 1949, auf Abtreibung steht Gefängnis. In Oberfelden, einem fiktiven Dorf im Kanton Bern, wird so lange getuschelt und getratscht, bis der Landjäger vor der Tür steht und den Arzt abführt. Weil der 74-Jährige schwer herzkrank ist, kommt er nicht in Untersuchungshaft, sondern in die Heil- und Pflegeanstalt Waldau. Ein Psychiater untersucht Brunners Zurechnungsfähigkeit und unterzieht ihn einem Assoziationstest. Abschliessend hält er fest: «Auch heute ist die Rückfallgefahr erheblich. Die beiden Fälle aus dem Jahr 1949 beweisen, dass der Angeschuldigte, trotzdem er zeitweise bettlägrig war, auf seine kriminelle Tätigkeit nicht verzichten konnte. […] Wir müssen deshalb die Verwahrung vorschlagen.» Davon sieht das Gericht ab – Julius Brunner wird auf Bewährung verurteilt und kann seine letzten Lebensmonate zu Hause verbringen. Autobiografisch grundiert Festgehalten und zu einem dokumentarischen Roman geformt hat diese Lebensgeschichte die Enkelin des Dorfarztes, die Berner Autorin Verena Stefan. International berühmt wurde sie 1975 mit ihrem Erstling: «Häutungen» traf den Nerv der Zeit und wurde zum Kultbuch der deutschen Frauenbewegung. 1993, fünf Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, erschien «Es ist reich gewesen. Bericht vom Sterben meiner Mutter». Und 2007 veröffentlichte Stefan, die in Montreal lebt und an Krebs erkrankt war, den Roman «Fremdschläfer». Hier verschränkt sie in einer persönlichen und poetischen Weise die beiden Grunderfahrungen Krankheit und Immigration. 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014 In die Irrenanstalt Waldau bei Bern wurde der Grossvater der Autorin Verena Stefan eingeliefert, weil er der gewerbsmässigen Abtreibung angeklagt war (Aufnahme um 1944). PHOTOPRESS / KEYSTONE Verena Stefan: Die Befragung der Zeit. Nagel & Kimche, Zürich 2014. 224 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 21.90. Ihre Bücher haben alle einen Bezug zur eigenen Biografie. Ein wichtiges politisches Anliegen ist ihr seit vielen Jahren das Recht auf Abtreibung: 1972 erschien das von ihr mit herausgegebene «Frauenhandbuch Nr. 1» über Abtreibung und Verhütung; auch für die Abschaffung des Abtreibungsparagraphen 218 in Deutschland machte sie sich stark. Weder Held noch Bösewicht In ihrem jüngsten Roman, «Die Befragung der Zeit», erzählt die heute 66-jährige Stefan nun, wie es war, als der eigene Grossvater der gewerbsmässigen Abtreibung angeklagt wurde. Sie lebte mit ihm unter einem Dach und war noch keine zwei Jahre alt, als er in die Waldau eingeliefert wurde. Persönliche Erinnerungen an den Sommer 1949 hat sie also keine. Ihr Wissen schöpft sie aus einer 800-seitigen Akte, die im Staatsarchiv des Kantons Bern aufbewahrt ist. Hier sind die Abtreibungsprozesse des Grossvaters und die Verhöre der Frauen fein säuberlich dokumentiert. Weiter hatte die Autorin Einsicht in seine Krankengeschichte; erhalten geblieben sind auch einige seiner Briefe und die Tagebücher ihrer Mutter. Verena Stefan verwebt kursiv gedruckte Originalzitate mit frei erfundenen Schilderungen zu einem Sittengemälde des ländlichen Bern in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Das ist oft berührend und erschütternd, manchmal aber auch etwas behäbig und langatmig. Zum einen liegt es an den wechselnden Perspektiven – immer wieder fragt man sich, wer eigentlich spricht. Oft ist es die auktoriale Erzählstimme, dann ist es eine der Figuren, deren Gedanken uns mit dem Stilmittel der erlebten Rede näher gebracht werden sollen. Zum anderen liegt es daran, dass Verena Stefan zu viel will: «Die Befragung der Zeit» ist ein Abtreibungs-, Psychiatrie-, Familien- und Eheroman, eine Arztbiografie und eine Grossvater-Enkelin-Geschichte. Gerade letztere wird immer wieder heraufbeschworen und behauptet, aber kaum je erzählt. Im Kern, und für den lohnt sich die Lektüre dieses Buches, geht es um den Dorfarzt Julius Brunner. Verena Stefan zeichnet ihn als widersprüchliche Persönlichkeit: Sie stilisiert ihn weder zum Helden und Vorkämpfer der Abtreibungsbefürworter, noch macht sie aus ihm einen Bösewicht, der die Notlage von jungen schwangeren Frauen schamlos ausnutzte. Er leistete saubere Arbeit und liess sich dafür ordentlich bezahlen: Für eine «Auskratzung» verlangte er 120 bis 150 Franken, während er für eine Konsultation nicht mehr als 12 Franken bekam. Verena Stefan hat Zahlen und Fakten recherchiert, gleichzeitig will sie den Menschen ein Gesicht geben. Das gelingt nicht immer gleich gut – eindringlich aber porträtiert sie das Ehepaar Julius und Lina Brunner. Wir erfahren, welche Lebensträume beide haben, warum es auf der Hochzeitsreise zum ersten heftigen Streit kommt und was das Paar auseinandertreibt: Der erste Sohn – nach zwei Töchtern – stirbt wenige Stunden nach der Geburt, beim zweiten erleidet Lina eine Fehlgeburt, weil sie im achten Monat Fenster putzt und stürzt. Das kann er ihr nicht verzeihen. Julius, der anderen Frauen Kinder wegmacht, darf die eigenen Buben nicht lebendig haben. In ihrem Andenken an die Grosseltern schreibt Verena Stefan: «Er hätte gern ein anderes Leben mit Lina gehabt, ein fröhlicheres. […] Er schafft Abhilfe. Nur Lina hat er nicht helfen können.» Eine Lebensbilanz, die nachdenklich stimmt. ● E-Krimi des Monats Spion im Ruhestand Kurzkritiken Belletristik TANJA DEMARMELS / EX-PRESS Peter Zeindler: Die weisse Madonna. Reinhardt, Basel 2014. 288 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 25.–. Sembritzki steht vor dem Spiegel und betrachtet den alten Mann, der ihm entgegenblickt: sein «eigenes Ich, dieses rätselhafte Individuum, dem er immer wieder verwundert begegnete, das still vor sich hin alterte und bei dem er, wenn er es beim Rasieren anschaute, immer wieder schmerzlich die Symptome dieses Prozesses registrierte: Zuerst einmal, wenn er dieses Gesicht betrachtete, sich dann aber auch die skurrilen Eigenheiten dieses Mannes im Spiegel in Erinnerung rief, die ihn immer mehr besetzten.» Er denkt dabei an die Anzeichen von Geiz, an seine Gereiztheit – und konstatiert erstaunt, was für ein übellauniger alter Kauz er geworden ist. Sembritzki ist ein Spion im Ruhestand, der partout weiterhin Spion sein will und sich schwer damit tut, dass sein Leben plötzlich perspektivenlos wirkt. Und: Sembritzki ist der Protagonist in einem facettenreichen Agentenroman des Schweizer Schriftstellers Peter Zeindler. Sein neuester Krimi ist pünktlich zu seinem achtzigsten Geburtstag erschienen. Und so fragt man sich unwillkürlich, ob der Autor nicht auch ein wenig von sich selber schreibt, wenn er mit kritischem, ja fast schmerzerfülltem Blick das Altwerden betrachtet. Doch dann erhält Sembritzki einen anonymen Telefonanruf. Und als er sich mit dem Mann, der ihm etwas zu sagen hat, bei der Teufelsbrücke treffen will, kommt er zu spät: Der Mann ist tot. Dafür begegnet Sembritzki kurz darauf in der Klosterkirche von Einsiedeln einer geheimnisvollen Deutschen – in die er sich auf den ersten Blick schwärmerisch verliebt. Im Bewusstsein, dass die Liebe bei ihm meist verfliegt, bevor sie richtig ankommt. Der in Bern wohnhafte Sembritzki macht sich auf nach Deutschland, woher der tote Informant stammt. Und fortan liefert der Roman alles, was eine Agentenstory braucht: eine Verschwörung im rechtsextremen Milieu mit Bezug auf die reale Terrorzelle rund um Beate Zschäpe, mehrere Anschläge auf Sembritzki – mit einem Motorrad, mit vergiftetem Sekt – und, jawohl, auch eine Sexszene des alternden Agenten mit einer Gefährtin in BondManier. Sembritzki ist überrascht, dass dies noch funktioniert. Trotz zahlreicher philosophischer Abschweifungen Sembritzkis, der sich immer wieder auf Paracelsus beruft, bleibt die Handlung spannend. Womit sowohl der Autor als auch sein Spion beweisen, dass sie für ihr Metier noch lange nicht zu alt sind. Von Christine Brand ● Michael Herzig: Frauen hassen. Thriller. Grafit, Dortmund 2014. 347 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 21.90. Hjalmar Bergman: Skandal in Wadköping. Manesse, Zürich 2014. 444 Seiten, Fr. 33.90, E-Book 23.90. Als «Bullenoper» kündigte der Berner Wahlzürcher Michael Herzig in einem Videoclip den vierten Fall um Stadtpolizistin Johanna di Napoli an. Auf den ersten beiden Fällen stand «Kriminalroman», auf den nächsten «Thriller». Aber «Bullenoper» passt noch besser, weil es die Steigerung des Autors im Hard-boiledStil ausdrückt. «Frauen hassen» ist steinhartgesotten (und der bemüht doppeldeutige Titel das Einzige, was es auszusetzen gibt): mit einer Rockerbande, korrupten Polizisten, schmierigen Teppichetagen-Typen, der Brutalität und seiner coolen Protagonistin mit dem weichen Kern. Die Erzählstruktur ist anspruchsvoller als im Genre üblich, da der Autor Perspektiven, Schauplätze und Zeitebenen wechselt – was ihm mühelos gelingt. Michael Herzig weiss, wovon er schreibt: Er war fast 16 Jahre bei der Stadt Zürich angestellt, am längsten im Bereich Sucht und Drogen. Dieser spannende psychologische Roman gehört zu den Klassikern der schwedischen Literatur. Er stammt aus der Feder von Hjalmar Bergman (1883– 1931) und erzählt von zwei höchst unterschiedlichen Männern: einem neureichen Grobian und einem feinsinnigen, alteingesessenen Amtsgerichtsrat. Die beiden lieben sich nicht. Just am Tag, als ihre Söhne das Abitur ablegen sollen – es ist der 6. Juni 2013 –, brechen dramatische Konflikte auf. Heikle Affären kommen ans Licht, ein uneheliches Kind, ein vertuschter Bankrott. Bergman erzählt die Geschichte als Sommerroman mit raschen, witzigen Dialogen und treffenden Schilderungen skurriler Charaktere. Vierzig Jahre lang war dieses unverwüstliche Werk auf Deutsch nicht mehr lieferbar. Nun liegt es endlich wieder vor, übersetzt von Günter Dallmann, in schöner Ausstattung und versehen mit einem klugen Nachwort von Peter Urban-Halle. Durs Grünbein: Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond. Suhrkamp, Berlin 2014. 151 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 21.-. Martina Clavadetscher: Sammler. Erzählung. Martin Wallimann, Alpnach 2014. 141 Seiten, Fr. 25.90. Der 1962 geborene Lyriker und Essayist Durs Grünbein gilt als Poeta doctus schlechthin. In seinem neuen Gedichtband beweist er seinen Rang aufs Neue. «Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond» besteht aus ungereimten Terzinen, welche die menschliche Entdeckung des Mondes und die Neuentdeckung der Erde vom Mond aus behandeln. Nicht das Betreten eines unbelebten Himmelskörpers im Jahr 1969 ist für Grünbein die grosse Tat der Apollo-Mission, sondern das neue Bild unseres blauen Planeten, das wir seither haben. Bildungsgesättigt, sprachmächtig und musikalisch sind Grünbeins Verse. Der Dichter überblendet die Raumfahrt des 20. Jahrhunderts mit Cyrano de Bergeracs imaginärer Reise zum Mond im Jahr 1657. Im blitzgescheiten Essay «Lyrische Libration», der den Zyklus ergänzt, erläutert er dessen Hintergründe und Entstehung. Die 34-jährige Martina Clavadetscher ist vielseitig präsent: als Hausautorin am Luzerner Theater, wo im März ihr Jugendstück «My Only Friend, the End» uraufgeführt wurde, als Kolumnistin fürs Radio, Spielfilm-Drehbuchautorin, und nun debütiert sie mit «Sammler» auch als Prosaschriftstellerin. Hauptfigur ist die junge Kulturredaktorin Sofia, die unter Depressionen und Neurosen leidet und beim Antiquariatsbesuch in einen Kriminalfall verwickelt wird. Clavadetscher packt zu viel in diesen schmalen Band: zu viele Themen, zu viele Adjektive. Die Plausibilität bleibt dabei auf der Strecke, und das ausgerechnet bei so wichtigen Aspekten wie der Charakterzeichnung und dem Krimi-Plot. So verhält sich Sofia als Journalistin unprofessionell distanzlos; und woher der Täter weiss, wer die junge Frau (also Sofia) ist, die auf seine Spur gerät, bleibt ungeklärt. Regula Freuler Manfred Papst Manfred Papst Regula Freuler 27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Essay Am 23. April jährte sich – höchstwahrscheinlich – der 450. Geburtstag des bedeutendsten Dramatikers der Weltliteratur. Sein grossartiges Werk wird immer noch weitherum gespielt. Manfred Koch über die wenig bekannte Person hinter dem Dichter AufderSuche nachShakespeare Shakespeare war wirklich Shakespeare! Seit mehr als 150 Jahren kursieren Gerüchte, der Schauspieler William Shakespeare aus dem Städtchen Stratford-upon-Avon könne nicht der Verfasser jener 38 Stücke sein, die unter seinem Namen veröffentlicht wurden. Was man von ihm weiss, ist wenig und deutet nicht auf ein Genie. Bezeugt ist seine Taufe am 26. April 1564 (da die Taufe damals gewöhnlich am dritten Tag nach der Geburt erfolgte, schloss man auf den 23. April als Geburtstag; fast unheimlich mutet dann die Tatsache an, dass Shakespeare am 23. April 1616 starb). Urkunden belegen seine Heirat mit einer gewissen Anne Hathaway, die Geburt dreier Kinder, einige Immobilienkäufe sowie Geldgeschäfte, die er anscheinend sehr profitorientiert betrieb. Er war Teilhaber des Londoner Theaters, an dem er spielte, zog sich in seinen letzten Lebensjahren aber nach Stratford zurück. Am Ende steht sein Testament mit der berühmt gewordenen Verfügung, er vermache seiner Frau sein «zweitbestes Bett» (mehr nicht). Es gibt keine Shakespeare-Briefe, keine Tagebücher, keine Schilderungen seiner Persönlichkeit durch Zeit- William Shakespeare 38 Theaterstücke und 154 Sonette sind überliefert von William Shakespeare (1564–1616), der gemeinhin als bedeutendster Dramatiker der Weltliteratur gilt. Seine so üppigen wie bühnenwirksamen Werke werden bis heute häufig gespielt. Für die deutsche Literatur war die berühmte Schlegel/Tieck-Übersetzung, die ab 1797 erschien, stilbildend. In jüngerer Zeit fanden die Übertragungen von Erich Fried (1921– 1988) starke Beachtung. Zum 450. Geburtstag des Dichters sind zahlreiche Neueditionen und Monografien erschienen; hervorgehoben sei hier die so pointierte wie gründliche Gesamtdarstellung von Hans-Dieter Gelfert: William Shakespeare in seiner Zeit. C. H. Beck, München 2014. 471 Seiten, Fr. 36.90, E-Book 27.–. Auf den Leib geschriebene Rollen Führend in der Gunst der Hobbydetektive, die den «wahren Shakespeare» aufgespürt haben wollen, ist Edward de Vere, der 17. Earl of Oxford. Von dem sind immerhin einige respektable Gedichte überliefert, die aber stilistisch so wenig mit Shakespeare gemein haben, dass man geradezu von einer multiplen Persönlichkeit ausgehen müsste. Ausserdem starb auch er zu früh (1604), um Stücke wie «König Lear» oder «Ein Wintermärchen» geschrieben haben zu können. Warum also so viel Lärm um nichts, warum die verlorne Liebesmüh bei der Suche nach dem mysteriösen Ghostwriter? Eine einleuchtende Antwort gibt der Berliner Anglist Hans-Dieter Gelfert in einer neuen, souveränen Gesamtdarstellung Shakespeares und seiner Zeit. Es ist «das weit verbreitete Interesse an Verschwörungstheorien», das manche dazu treibt, Shakespeares Werk vor allem deshalb faszinierend zu finden, weil sie glauben, dass es nicht von ihm stammt. Dabei ist es viel plausibler, Shakespeares Meisterschaft damit zu erklären (jedenfalls zum Teil), dass er Schauspieler war. Wären Schillers Dramen, fragt Gelfert frech, nicht um einiges le- bendiger, wenn Schiller auch Schauspieler gewesen wäre? Shakespeare schrieb seinen Mitspielern die Rollen förmlich auf den Leib, er erarbeitetedieStückemitihnenimProbengespräch auf der Bühne. Und er schrieb aus dem eigenen, agierenden Leib heraus, seine Sprache ist erfüllt von szenischer Bewegung. Dieser Dramatiker wusste, was es heisst, vor bis zu 3000 Zuschau- Das weit verbreitete Interesse an Verschwörungstheorien treibt manche dazu zu glauben, Shakespeares Werk stamme nicht von ihm. ern auf einer Rampenbühne ohne Kulissen eine erdichtete Welt entstehen zu lassen. Die Illusion musste allein durch die Körper und die eindringliche Sprache der Akteure erzeugt werden. Das Publikum im Londoner Globe Theatre, Shakespeares wichtigster Spielstätte, war extrem gemischt: Im Parkett, um die Bühne herum, standen die Angehörigen der Unterschicht, in den überdachten Galerien sassen die bessergestellten Bürger, aus den Logen grüsste der Adel. Von derb bis poetisch Shakespeare beherrschte alle Sprachregister, die es für die Befriedigung dieser bunten Menge brauchte, vom volkstümlich Derben bis hin zur feinsten poetischen Rhetorik. Die Vitalität der ländlichen Feste mit ihren Fress- und Saufgelagen, der rituellen Bärenhatz, den Narrentänzen und den obszönen Laientheateraufführungen um Robin Hood und die lüsterne Maid Marion – das war ihm aus seiner Kindheit in der Provinz vertraut. Aus diesen Erfahrungen entstand eine Figur wie Falstaff, der unvergessliche Held des Bauchs in Shakespeares Werk, der den Mitspielern Gelegenheit gibt, ihn mit immer neuen Schimpfnamen einzudecken: Falstaff, der «Fleischberg», der «Bierschlingel», der «Pferderückenbrecher», oder der «vollgestopfte ▲ 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014 genossen. Und dieser blasse, ungreifbare Mann, so fragte man, soll ein Werk geschaffen haben, das an Einfallsreichtum und Sprachmächtigkeit seinesgleichen sucht? Ein Provinzler, der nie eine Universität von innen sah, soll jene enorme Bildung besessen haben, die man den Dramen entnehmen kann? Ausgeschlossen, meinen die sogenannten Anti-Stratfordianer bis auf den heutigen Tag und präsentieren munter Gegenkandidaten. Annähernd 60 sind es im Lauf der Jahre geworden, darunter Prominente wie der Philosoph Francis Bacon, die Königin Elizabeth I. sowie Shakespeares Hauptkonkurrent im damaligen Theaterbetrieb, Christopher Marlowe, der wortgewaltige Autor des ersten grossen «Faust»Dramas (der war nur leider schon tot, als Shakespeares wichtigste Stücke entstanden, weshalb man Urkunden über sein Ableben für eine listige Fälschung erklärte und ihn incognito im italienischen Exil weiterleben liess). ANDREAS HUB / LAIF ULLSTEIN BILD Touristen im Globe Theatre in London, einer Rekonstruktion aus dem Jahr 1997 (oben). «Othello» in einer Aufführung in Berlin, im Haus der Berliner Festspiele, am 7.5.2005 (rechts). Kupferstich mit dem angeblich authentischen Porträt William Shakespeares aus dem Jahr 1623 (unten). 27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Essay creation sonnets» erklären, in denen das Ich ganz unverhohlen den angesprochenen Jüngling zum Verkehr mit Frauen ermuntert: «Wo ist die, deren ungepflügter Schoss / Nicht gern gepflügt sein will im Ehebett?» Er soll auf Masturbation verzichten («Treibst, Schöner, du nur mit dir selbst Verkehr») und das «Gut», das die Natur ihm gab, gefälligst «weitergeben». Shakespeare trennt ganz rational die adlige Erbfolgepolitik von der Gefühlswelt des Erzeugers. Der Frau den Samen, ihm, dem Sprecher der Gedichte, die Liebe. Wie körperlich die sein kann, bleibt offen. Ein Gedicht plädiert für eine rein platonische Beziehung: der Penis («prick») sei «ein Ding, das keinen Wert besitzt für mich. / Gab sie (die Natur) das Ding dir, Frauen zu entzücken, / Schenk mir die Liebe; sie magst du beglücken.» Dem steht die glühende Sinnlichkeit gegenüber, mit der anderswo beschrieben wird, «wie mich dein Blick entzündet». MAURITIUS IMAGES Gesellschaftliche Spiele Über William Shakespeares Leben ist wenig bekannt. Gesichert scheint sein Geburtshaus (Bild) in Stratford-upon-Avon in der Grafschaft Warwickshire (UK). ▲ Kaldaunensack», der «gebratene Krönungsochse mit dem Pudding im Bauch». Oder zärtlicher, wie ihn seine Lieblingshure Doll Tearsheet (von A. W. Schlegel kongenial mit «Dortchen Lakenreisser» übersetzt) nennt, nämlich: «Du verwettertes, kleines, zuckergebackenes Weihnachtsschweinchen.» Doch auch die hohe literarische Sprache lernte Shakespeare schon in Stratford kennen, wo er höchstwahrscheinlich die Lateinschule besuchte und seinem Lieblingsdichter Ovid begegnete. Unvergleichlich schön sind in Shakespeares Stücken die vielen Liebeswerbungen und Liebeserklärungen, oft durchwirkt mit einer Fülle mythologischer Anspielungen. Ein Beispiel ist im «Sommernachtstraum» Hermias Versprechen, mit dem geliebten Mann, den ihr Vater ihr verwehrt, in den Ardenner Wald zu fliehen: Mein Lysander! Ich schwör’ es dir bei Amors stärkstem Bogen, Bei seinem besten goldgespitzten Pfeil, Und bei der Unschuld von Cytherens Tauben; Bei dem, was Seelen knüpft, in Lieb’ und Glauben; Bei jenem Feu’r, wo Dido einst verbrannt, Als der Trojaner falsch sich ihr entwandt; Bei jedem Schwur, den Männer je gebrochen, Mehr an der Zahl, als Frauen je gesprochen: Du findest sicher morgen mitternacht Mich an dem Platz, wo wir es ausgemacht. Vermutlich hat keiner der Zuschauer im Parkett verstanden, was hier im einzelnen gemeint ist. Vom Zauber dieser Verse waren aber gewiss auch die kleinen Handwerker und Ladengehilfen hingerissen, vielleicht mehr noch als die Lords in den Logen, die erst einmal in ihrem Bildungswissen kramten. Wahnsinn der Liebe Shakespeares Texte kreisen um zwei grosse Themen: Die Sinnverwirrungen, ja der Wahnsinn der Liebe und der Kampf um politische Macht. Weil die Sprache der Liebe in seinen Dramen und Gedichten eine so ungeheure Intensität aufweist, war man verständlicherweise begierig zu wissen, wie es sich mit «Shakespeare in Love» wirklich verhielt. Doch der Privatmann William Shakespeare wollte offenbar nichts von sich preisgeben, er zog es vor, im Verborgenen zu leben. Kann man 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014 den Texten etwas über sein Inneres entnehmen? Verräterischer als die Dramen erscheinen Shakespeares Sonette, denn hier spricht ein Ich, das so heftig liebt und hasst, dass der Leser gar nicht anders kann, als persönliche Erfahrung zu unterstellen. Wer sich einliest in die Sonette, gerät indessen in ein neuerliches Verwirrspiel. 126 der insgesamt 154 Gedichte sind an einen jungen, schönen Mann gerichtet, dem das Ich in unüberhörbar homoerotischen Tönen huldigt, 25 an eine dunkelhaarige Frau («dark lady»), die äusserst attraktiv, aber sexuell unersättlich und deshalb treulos ist. In zwei der Dark-Lady-Sonette spielt Shakespeare mit seinem Vornamen: «Will» bedeutet im Englischen neben «Wille» auch «sexuelles Verlangen» und – ganz konkret – das Geschlechtsorgan. Ein Vers wie «Will will fulfill the treasure of thy love» (Will will dir füllen deinen Liebesschatz) ist demnach ein so kunstvolles wie unanständiges Wortspiel. Die dunkle Dame Die Frage, ob Shakespeare homo-, hetero- oder bisexuell war, lässt sich mangels biografischer Zeugnisse nicht beantworten. Zum Glück. besitzt seinen «Will», in seiner Hörigkeit sie zugleich verabscheuend bittet er sie, «Will» freizugeben und bemerkt doch machtlos, wie in ihrer Nähe «Will schwillt». Heerscharen von Biografen suchten in zeitgenössischen Dokumenten nach schwarzhaarigen Frauen in Shakespeares Bekanntenkreis, auch eine schwarze Kurtisane namens Lucy Negro wurde in Betracht gezogen. Überzeugende Beweise gibt es für keine der Kandidatinnen. Noch seltsamer mutet die Liebeswerbung um den jungen Mann an, auch wenn hier ein plausibler Vorschlag für dessen Identifizierung vorliegt: Henry Wriothesley, der dritte Earl of Southampton. Denkbar ist, dass Shakespeare von der Adelsfamilie den Auftrag erhielt, den heiratsunwilligen Sohn poetisch von der Notwendigkeit einer Eheschliessung zu überzeugen, um den Fortbestand der Dynastie zu sichern. Das würde die 17 sogenannten «pro- Die Frage, ob Shakespeare – nach heutigen Kategorien – homo-, hetero- oder bisexuell war, lässt sich mangels biografischer Zeugnisse nicht beantworten. Zum Glück, möchte man sagen, denn die Suche nach Festlegungen führt in die Irre! Der Reiz seiner Stücke, speziell der Komödien, liegt ja gerade im wunderbaren Schillern der Liebe zwischen allen möglichen Formen menschlichen Einander-Ersehnens. Zwar sind die Paare am Ende immer Mann und Frau, aber zuvor, in den turbulenten Verkleidungsszenen, sind es eben doch sehr häufig zwei Männer, die sich näherkommen. In «Was ihr wollt» erobert Viola als Page Cesario das Herz des Herzogs, Rosalinde in «Wie es euch gefällt» probt gar, verkleidet als Jüngling Ganymed, mit dem in sie verliebten Orlando, wie er kunstvoll um Rosalinde werben soll. Bedenkt man, dass die Frauenrollen im damaligen Theater von jungen Männern gespielt wurden, kann man sich vorstellen, welch flirrende Atmosphäre von geschlechtlicher Vieldeutigkeit solche Liebesszenen umgab. Die Komödien enden mit Hochzeiten, in den Tragödien treten von Beginn an verheiratete Paare auf, die meistens schrecklich sind. Othello erwürgt seine Frau im Eifersuchtswahn, Macbeth wird zum Meuchelmörder unter dem Einfluss seiner Gemahlin, die ihn an Grausamkeit noch übertrifft. «Gross möcht’st du sein», belehrt sie ihn, «bist ohne Ehrgeiz nicht, doch fehlt die Bosheit, die ihn begleiten muss.» Hamlets Vater wird, unter Mithilfe seiner Ehefrau, vom eigenen Bruder umgebracht; hernach vermählen sich die Übeltäter und gründen ein Beilager, dessen Schandhaftigkeit der junge Hamlet drastisch anprangert: «Im Schweiss und Brodem eines eklen Betts, / Gebrüht in Fäulnis, buhlend und sich paarend.» Ihren Zauber entfaltet die Liebe bei Shakespeare in Fluchträumen wie dem Ardenner Wald, fern von der Macht und von ehelichen Besitzverhältnissen. Dort können die Liebenden einander phantasievoll umschwärmen. Sie sind sich ihrer Gefühle keineswegs sicher, wissen mitunter gar nicht mehr, wer sie eigentlich sind, aber das Happy End ist garantiert. Shakespeares grosse Kunst hat wohl auch damit zu tun, dass er selbst die Unsicherheit über seine erotische Identität nie verlor. Das verlieh ihm den skeptischen Blick auf jene gefestigten Menschen, die glauben, selbstbestimmt ihren Weg durchs Leben zu gehen, und nicht merken, dass sie doch immer nur die Rollen spielen, die die Gesellschaft ihnen vorgibt: Die ganze Welt ist eine Bühne und Mann und Frau sind darauf nur wie Spieler. Sie haben ihren Auftritt, ihren Abgang, und jeder spielt dabei in vielen Rollen. l Kolumne LUKAS MAEDER Charles LewinskysZitatenlese Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein letztes Buch «Schweizen. Vierundzwanzig Zukünfte» ist im Verlag Nagel & Kimche erschienen. So wie man nach den verschiedensten Dingen süchtig werden kann, sei es Briefmarkensammeln oder Glücksspiel oder Heroin, kann man auch nach dem Schreiben süchtig werden. Kurzkritiken Sachbuch Jean-Michel Wissmer: Heidi. Ein Schweizer Mythos erobert die Welt. Schwabe, Basel 2014. 166 S., Fr. 19.90 (auch als E-Book). Friedhof Forum Zürich (Hrsg.): Das Eigene. 65 Personen zum eigenen Tod. Präsidialdept. Zürich, 2014. Unpaginiert, Fr. 18.–. Die Romandie liebt das Heidi über alles – weiss aber offenbar wenig über seine Herkunft. Jean-Michel Wissmer, Literaturwissenschafter und Autor in Genf, will diesem Unwissen abhelfen und trägt dafür alles zusammen, was es über Heidi zu vermelden gibt: vom geografischen Schauplatz des Heidilands bis zu Biografie und Werk von Johanna Spyri, von den Umwandlungen, Fortsetzungen und Adaptionen der Geschichte – darunter ein knappes Dutzend Kinoversionen – bis zur japanischen Heidimania. Dazu wird Spyris Heidi-Geschichte kritisch-deutend nacherzählt, unter Einbezug der stark religiös-pietistischen Komponente, die heute meist ausgeblendet wird. Für Deutschschweizer gerät Wissmers Begeisterung etwas wortreich, doch seine kenntnisreiche Hommage an den erfolgreichsten aller Schweizer Mythen bleibt mitreissend. 65 Persönlichkeiten setzten sich auf Aufforderung des Stadtzürcher Bevölkerungsamtes künstlerisch mit dem eigenen Tod, der Gestaltung des Grabmals und der Vorstellung auseinander, wie sie nach dem Ableben in Erinnerung bleiben wollen. Die in der Ausstellung «Verschieden bis zuletzt» (2012/13) gezeigten Spuren des gelebten Lebens werden nun in Buchform präsentiert. Die Beiträge von Prominenten wie Gottfried Honegger, Doris Fiala, Corine Mauch oder Iso Camartin und von Normalsterblichen kommen meist originell, heiter, manchmal auch bemühend daher. Denn der Tod ist zwar gesellschaftlich kein Tabu, aber immer noch eine der grössten individuellen Herausforderungen. Dass das Büchlein der Vergänglichkeit gewidmet ist, zeigt sich nach zweimaligem Durchblättern, wenn die ersten der schlecht gebundenen Seiten herausfallen. Ioannis Zelepos: Kleine Geschichte Griechenlands. C. H. Beck, München 2014. 240 Seiten, Fr. 19.90, E-Book 12.–. Pamela Pabst, Shirley M. Seul: Ich sehe das, was ihr nicht seht. Hanser, Berlin 2014. 215 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 19.90. Wer hat nicht schon verständnislos den Kopf geschüttelt, wenn die Rede auf Griechenland gekommen ist. Es fällt schwer, dieses Land zwischen Orient und Okzident zu verstehen, wenn selbst die Griechen sich nicht darüber einig sind, ob sie nun zu Europa gehören oder nicht. Erschwerend für das Verständnis wirkt sich auch aus, dass die moderne, aber kaum bekannte Geschichte Griechenlands kompliziert ist. Der Staat ist jung, er löste sich erst im Unabhängigkeitskrieg 1821 aus dem Osmanischen Reich. Es folgten die Balkankriege, die traumatische «Kleinasiatische Katastrophe», der Bürgerkrieg von 1941 bis 1949, die Militärdiktatur und schliesslich der EU-Beitritt. Ioannis Zelepos, Neogräzist an der Universität München, ist ein Kenner der neugriechischen Geschichte. Sein Buch bietet all denen einen anschaulich geschriebenen Einstieg, für die Hellas mehr bedeutet als Urlaub am Meer. Die Autobiografie der ersten blinden Strafverteidigerin in Deutschland, verfasst mit Hilfe einer Ghostwriterin, ist ein einziges Lese- und Erkenntnisvergnügen. Pamela Pabst, geboren 1978, war als Frühgeborene erblindet. Wie sie dank einsatzfreudiger Eltern, grosser Intelligenz und ungeheurem Fleiss die normale Schule, dann Gymnasium und JuraStudium meistert, erzählt sie mit grosser Frische. Erzählt von ihrer frühen Liebe zur juristischen Sprache und zu AnwaltTV-Serien («Liebling Kreuzberg»), von Vorleseangst, hochempfindlichen Fingerkuppen und dem richtigen Gebrauch des Blindenstocks, erklärt, wie man mit Hilfe von menschlichen Vorlesern und Computern ein Staatsexamen besteht und als Anwältin arbeitet. Sie vermisse das Sehen nicht, weil sie es nicht kenne – schreibt Pabst. Dank ihrem überaus lebens- und arbeitsfreudigen Buch beginnt man dies tatsächlich zu glauben. Jon Fosse Einer nach dem andern schlurften sie herein. Als Erster, seiner Zeit wie immer voraus, erschien der avantgardistische Lyriker. Er wäre gern ganz aussen gesessen, denn nur am Rand der Gesellschaft sah er seinen Platz, doch die Stühle standen im Kreis. Vor ihnen waren die Anonymen Alkoholiker dran gewesen. Als Nächster kam der Essayist, die Hände tief in den Taschen seines Samtjacketts vergraben. In der letzten Nacht hatte er einen Rückfall gehabt, und die Spuren des Kugelschreibers hatten sich nicht ganz entfernen lassen. Die Lyrikerin hatte ein Buch mitgebracht (kein eigenes natürlich, das war in dieser Runde nicht erlaubt) und las noch im Gehen zum zehnten Mal denselben Abschnitt. Seit sie das Schreiben aufgegeben hatte, konnte sie sich einfach nicht mehr konzentrieren. Der Romancier kam, der Epiker und auch der Mann, der so stolz darauf war, dass seine Literatur nirgendwo einzuordnen war. (Die Literatur, die er früher mal geschrieben hatte, selbstverständlich, denn inzwischen war er clean. Die meiste Zeit clean.) Die Luft im Versammlungsraum des Gemeinschaftszentrums war stickig, und das verblichene Theaterplakat an der Wand warb für eine Inszenierung, die schon lang nicht mehr auf dem Spielplan stand. Der Kaffee aus der ausgeleierten Filtermaschine schmeckte nach Löschpapier. Löschpapier, mit dem jemand die Tinte einer Kurzgeschichte getrocknet hatte, eines Essays, eines Einakters, eines… Nein, an solche Sachen durften sie nicht einmal denken. Der Kaffee schmeckte, wie abgestandener Kaffee eben schmeckt, basta. Metaphern, das wusste jeder von ihnen, waren der erste Schritt zum Rückfall. Der Versammlungsleiter war ein ehemaliger Krimiautor. Seit sieben Jahren hatte er kein Wort mehr geschrieben, und sie bewunderten ihn alle sehr dafür. Nicht jeder hatte die Stärke, den Entzug von der Sucht so konsequent durchzuhalten. «Wer möchte als erster etwas sagen?», fragte der Versammlungsleiter. Der Essayist erhob sich mit blassem, schuldbewusstem Gesicht. Ganz langsam zog er die rechte Hand aus der Tasche und spreizte die Finger, so dass die andern die Kugelschreiberflecken nicht übersehen konnten. Ein Raunen ging durch den Raum. Nein, kein Raunen. Ein Stöhnen. «Mein Name ist Wilhelm», sagte der Essayist. Seine Stimme zitterte. «Mein Name ist Wilhelm, und ich bin Schriftsteller.» Kathrin Meier-Rust Geneviève Lüscher Urs Rauber Kathrin Meier-Rust 27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Europäische Union Der Milliardär George Soros und der frühere deutsche Bundespräsident Roman Herzog wollen die EU verbessern – auf sehr unterschiedliche Weise Therapienfürein starkesEuropa George Soros im Gespräch mit Gregor Peter Schmitz: Wetten auf Europa. Warum Deutschland den Euro retten muss, um sich selbst zu retten. DVA, München 2014. 192 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 19.90. Roman Herzog: Europa neu erfinden. Vom Überstaat zur Bürgerdemokratie. Siedler, München 2014. 155 Seiten, Fr. 27.90, E-Book 17.90. Von Joachim Güntner Ein Fest europäischer Einheit steht nicht zu erwarten, wenn die Bürger der EU vom 22. bis 25. Mai ein neues Europaparlament wählen. Gut möglich, dass ein Drittel der Sitze an Parteien geht, denen die Auflösung der Europäischen Union lieber wäre als ihr Ausbau. Seit den letzten Wahlen vor fünf Jahren hat die Finanz- und Währungskrise die Gräben zwischen EU-Ländern mit halbwegs soliden und denen mit maroden Haushalten vertieft. Für die nun zum Sparen verdonnerten Griechen etwa ist Deutschland ein Zuchtmeister, der weniger helfen denn strafen will. Die hart ins Sozialsystem schneidende Austeritätspolitik und der Zusammenbruch vieler Firmen haben dort grausame Folgen gezeitigt: Die Selbstmordrate ist gestiegen, die Zahl schwerer Depressionen ebenfalls, dafür sank das Geburtsgewicht der Neugeborenen, und es gibt wegen der schlechten Vorsorge mehr Totgeburten. Soros will Eurobonds Um aber in einer globalisierten Welt zu bestehen, muss Europa stark sein. Es muss die Ursachen seiner Krise erfassen und ausräumen. Diese Überzeugung bestimmt den Milliardär, Spekulanten und Philanthropen George Soros ebenso wie den ehemaligen deutschen Bundespräsidenten und Verfassungsrichter Roman Herzog. Wo es allerdings konkret wird, bei der Problemdiagnose und bei den Lösungsvorschlägen, gehen beider Auffassungen wiederholt auseinander. Gregor Peter Schmitz, Korrespondent des «Spiegels» in Brüssel, hat mit George 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014 Soros ein längeres Gespräch geführt, das nun, angereichert durch immer wieder eingeschobene Hintergrundberichte des Journalisten, als Buch unter dem Titel «Wetten auf Europa» erschienen ist. Der Untertitel weist die Richtung an: «Warum Deutschland den Euro retten muss, um sich selbst zu retten». Die Alternative, dass Deutschland aussteigt und zur D-Mark zurückkehrt, wird zwar erwogen, aber mit ernsten Warnungen versehen: Die Folge, meint Soros, würde eine stark aufgewertete D-Mark sein. Deutsche Waren würden für ausländische Abnehmer teurer, und die Handelsüberschüsse im Export, denen Deutschland seinen Wohlstand verdankt, hätten ein Ende. Auch würde die Produktion noch mehr ins billige Ausland verlagert. Die Schuld an der ruinösen Finanzkrise geben Schmitz und Soros nicht den Spekulanten, sondern den «Strukturfehlern» der Währungsreform. So sei es «die verhängnisvollste Schwäche der Währungsunion», dass die Mitgliedsstaaten nicht mehr selber Banknoten drucken könnten, sondern sich Geld in ihrer eigenen Währung von der Europäischen Zentralbank leihen müssten. Bedürftige ständen so wie Drittweltstaaten da und hätten viel schneller einen Staatsbankrott zu gewärtigen. Über die Folgen, die es für die Gemeinschaft hätte, würden einzelne Mitglieder zur Bekämpfung ihres Haushaltsdefizits auf Teufel komm heraus Euros drucken, verlieren die Autoren kein Wort. Soros plädiert entschieden für eine Vergemeinschaftung der Schulden über Eurobonds. Anders als deutsche Bürger glaubten, sei ihr Land keineswegs der grossmütige Geber, sondern habe «als grösster Profiteur einer stabilen Eurozone am meisten von deren Auflösung zu befürchten». Schmitz stützt diese Argumentation, rechnet vor, dass die Deutschen sogar von der Krise profitierten, weil sie sich nun besonders günstig Geld leihen konnten und weniger für den Schuldendienst ausgeben mussten. Nach Schätzungen des Instituts für Weltwirtschaft habe Deutschland an der Krise hundert Milliarden Euro verdient. Der Leser erfährt, und das ist reizvoll, in dem Gesprächsband einiges über den Privatmann George Soros: über seine Kindheit als Jude in Ungarn, über die antisemitische Verfolgung, das Leben im Untergrund und den bewunderten Vater, der die eigene und auch andere Familien mit gefälschten Papieren schützte, nachdem die Nazis im März 1944 Budapest besetzt hatten. Amüsant, dass Soros eigentlich Philosoph werden wollte. Für ihn ist die Europäische Union – nicht die USA – «das ideale Modell einer offenen und freien Gesellschaft». Er bemängelt, dass die Währungsunion ohne politische Union vollzogen wurde. Seine Botschaft ist eindeutig: Die EU braucht mehr innere Grosszügigkeit und Solidarität, am Euro muss festgehalten werden, und am Ende der europäischen Einigung sollte ein Staatenbund mit einem volksnahen Parlament, eigenen Ministerien und einer Regierung stehen. Herzog gegen Regelungswut Roman Herzog, der «Europa neu erfinden» will, liest sich um einiges zurückhaltender. Der Überstaat, zu welchem Politiker und Bürokraten in Brüssel die EU entwickelten, müsse einer Bürgerdemokratie weichen. Sein Buch beginnt mit einer Darstellung des institutionellen Aufbaus der EU – hier hat der Text die nüchterne Qualität eines Lehrbuchs. Wie sind die Befugnisse zwischen Europäischem Rat, Ministerrat, Europäischer Kommission und Europäischem Parlament verteilt? Deutlich macht Herzog die Schwäche des europäischen Parlaments, das weder selbst Gesetze initiieren noch den Präsidenten der EU-Kommission oder deren Mitglieder vorschlagen kann, sondern dem nur übrig bleibt, in Abstimmungen das Schlusswort zu sprechen, also Vorschläge abzulehnen oder anzunehmen. Die EU, bilanziert Herzog seine Institutionen-Analyse, biete «ein Bild, das viel mehr einer konstitutionellen Wahlmonarchie ähnelt als dem einer parlamentarischen Demokratie». Zum Demokratie-Defizit gehört, dass Brüssel dem Prinzip der Subsidiarität, obwohl es vertraglich verankert ist, zu IMAGO wenig huldigt. Einmischung in Belange der Mitgliedsstaaten sind gang und gäbe. Die politisch-bürokratische Regelungswut, von Herzog als «Normenhypertrophie» bezeichnet, hat den aquis communautaire, die Gesamtheit aller Vorschriften und Verträge in der EU, auf über sechzigtausend Druckseiten anschwellen lassen. Beabsichtigt war dabei eine Angleichung der Rechtsverhältnisse, doch das Resultat ist für Bürger und Unternehmer undurchsichtig. Roman Herzog verlangt hier nach energischem Rückbau. Zwei Unterschiede zur Position von George Soros fallen besonders ins Auge. Roman Herzog hält es lieber mit einer Politik des Sparens statt mit einer Vergemeinschaftung der Schulden. Verschwender sollten bestraft werden, allerdings nicht mit Geldbussen, die ja ihr ökonomisches Desaster noch verschlimmern, sondern etwa mit dem Entzug von Stimmrechten. Und anders als Soros verlangt Herzog nicht danach, die EU stärker politisch zu vereinigen. Dazu fehle es an Homogenität der Teilnehmer. Vielmehr überlegt er ein Zwei-Schichten-Modell: Dann gäbe es einerseits die Staaten, welche dieselben Wertüberzeugungen teilen, darum eng zusammenarbeiten können und – Herzog gebraucht diesen Ausdruck nicht, aber wir verstehen ihn so – gleichsam ein auch politisch vereinigtes Kerneuropa bilden. Daneben aber den weiten Kreis europäischer Staaten, für welche die EU bloss ein Wirtschaftsverbund ist. Einer Aufnahme zum Beispiel der Türkei in die Wirtschaftsgemeinschaft stände dann nichts entgegen, mag das islamische Land auch politisch noch nicht in Europa angekommen sein. Von den beiden Büchern hat der frühere deutsche Bundespräsident Herzog den trockeneren und dennoch originelleren Text vorgelegt; George Soros ist eher etwas für EU-Enthusiasten. ● Wohin geht der Weg: Auflösung oder Ausbau der EU? Die Wahlen zum Europäischen Parlament am 25. Mai 2014 werden darüber Aufschluss geben. Im Bild das österreichische Parlament in Wien. Über 35‘000 bÜcher aus zweiter hand! Grösster Onlineshop für gebrauchte Bücher der Schweiz <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUysDA0NwYA3aPlRA8AAAA=</wm> <wm>10CFXKIQ7DQAxE0RN5NeO113EMq7CooApfEgX3_qhtWKX_2dv38ob7x_Y8tlcRMBfFwujl6Y1gMXuzkQVDKGgrUoNM-J8XMEdHnz8j-BYTKTrEbGpke5_XB9zZTjlyAAAA</wm> Kontakt Sara Grob, Betriebsleiterin 071 393 41 71 071 393 41 72 [email protected] Tel. Fax Email http://facebook.com/buchplanet.ch http://blog.buchplanet.ch Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch 27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Schweiz Botschafter Paul Widmer hat ein Handbuch zur Diplomatie geschrieben – ein Standardwerk, auch wenn es Calmy-Reys ambitiöse Aussenpolitik skeptisch beurteilt «Nichtda,umKaffeezuservieren» Paul Widmer: Diplomatie. Ein Handbuch. NZZ Libro, Zürich 2014. 496 Seiten, Fr. 64.90. Von Michael Ambühl ALESSANDRO DELLA VALLE / KEYSTONE «Zu allen Zeiten gab es Situationen, in denen Völker das Bedürfnis hatten, ihre Probleme nicht mit Krieg, sondern mit Verhandlungen zu lösen. Dazu bedarf es des Gesprächs.» Oder eben der Diplomatie. Wer sich für diese interessiert, der liegt mit dem neuen Buch «Diplomatie» von Paul Widmer genau richtig. Es trägt seinen Untertitel «Ein Handbuch» zu Recht. Das rund 500 Seiten zählende Werk bietet in der Tat eine umfassende und systematische Darstellung des weiten Feldes der Diplomatie. Den Begriffsbestimmungen folgt eine ausführliche Beschreibung der Geschichte. Zudem sind die Regeln der Diplomatie sowie deren Formen und Funktionen zentrale Themen. Abgerundet wird das Handbuch durch ein Glossar der diplomatischen Sprache. Wer sich allerdings einen verstaubt daherkommenden Ringordner vorstellt, täuscht sich. Das Buch ist ansprechend geschrieben und enthält zahlreiche Anekdoten – ein wahrer Fundus für Redenschreiber in Aussenministerien. Es ist informativ und wohltuend systematisch. Widmer hat keinen weiteren Beitrag zur ohnehin schon reichen Memoirenliteratur geliefert. Die Darstellungen Widmers berücksichtigen die vorhandene internationale Literatur, erfolgen aber aus einem Schweizer Blickwinkel. Allerdings werden überall Querbezüge zu diplomatischen Diensten anderer Länder gemacht, insbesondere zum Auswärtigen Amt von Deutschland. Dass sich das Kapitel über Theorien, welche die Sonderbehandlung von Diplomaten begründen. Schon früh bereitete es den Normalbürgern Mühe, den Verstoss gegen das Gleichbehandlungsgebot zu verstehen. Die heute gängigste Begründung geht auf den Schweizer Völkerrechtler Emer de Vattel (1717– 67) zurück. Sie argumentiert mit der Notwendigkeit der ungestörten Amtsausübung des diplomatischen Personals und hat ihre Berechtigung insbesondere in schwierigen Staaten. Um Abgrenzungsprobleme zu vermeiden, gelten die Regeln auch in den problemlosen Ländern. Obwohl Diplomaten weltweit gehalten sind, die Gesetze des Empfangsstaates zu respektieren, sind Verstösse insbesondere gegen Verkehrsregeln an der Tagesordnung. Zudem ist die Zahlungsmoral schlecht: Nur gerade 7 Prozent der Parkbussen werden beglichen. Es liegt nahe, dass sich Widmer in seinem Handbuch auch eingehend mit der Person des Diplomaten resp. der Diplomatin beschäftigt. Die Aufzählung der charakterlichen und beruflichen Eigenschaften sowie der amtlichen Funktionen ist ausführlich. Widmer scheut sich, zu Recht, auch nicht vor einer Wertung, diese fällt manchmal gar positiv aus. die Geschichte der Diplomatie auf den westlichen Kulturkreis beschränkt, erscheint angesichts der sonst grossen Fülle von Informationen über die globale Diplomatie als lässliche Sünde. Ist Diplomatie nötig? Der Autor befasst sich einleitend mit der Frage, ob es die Diplomatie überhaupt noch brauche, wo doch die Übermittlungstechnologie so vieles revolutioniert habe. Interessanterweise scheint diese Infragestellung eine lange Tradition zu haben. So hat bereits Hugo Grotius, der Begründer des Völkerrechts, Anfang des 17. Jahrhunderts befunden, man solle die Diplomatie am besten gleich wieder abschaffen. Und Lord Palmerston, bedeutender britischer Staatsmann, meinte nach der Einführung der Telegraphie: «My God, this is the end of diplomacy.» Widmer ist überzeugt, dass man sich um die Zukunft der Diplomatie keine Sorgen machen müsse, denn unabhängig von Theorien und Technologien, werde die Diplomatie weiterbestehen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ging es bei der Schweizer Diplomatie weniger um die Frage des Weiterbestehens als schlicht um das Bestehen. Ein Aussenministerium gab es bis 1848 gar nicht. Auch dem jungen Bundesstaat waren die Beziehungen zum Ausland nicht sehr wichtig: Das Aussenministerium – das Politische Departement, wie es damals hiess – leitete jeweils der Bundespräsident, sein Beamtenpersonal bestand aus einem Sekretär. Erst 1857 ernannte der Bundesrat einen professionellen Gesandten und schickte ihn nach Paris. Bald darauf eröffnete die Schweiz auch Gesandtschaften in Wien, Rom und Berlin. Widmer erläutert im Abschnitt über die Vorrechte und Immunitäten die Gute Dienste und Mediation Bundespräsident Didier Burkhalter am Neujahrsempfang im Bundeshaus am 15. Januar 2014: Der ghanesische Botschafter Sammie Pesky Eddico stellt ihm Diplomatinnen seiner Botschaft vor. Im letzten der 15 Kapitel kommt der Autor auf einen in der Öffentlichkeit besser bekannten Aspekt der Diplomatie zu sprechen, die sogenannte Drittstaatendiplomatie. Neben den begrifflichen Klärungen – gute Dienst im engeren Sinne (ohne Beteiligung des Drittstaates an den Verhandlungen) und Mediation (mit einer aktiven Rolle des Dritten) – werden auch verschiedene diesbezügliche Aktionen der Schweiz dargestellt. Hier glaubt man die politische Haltung des Autors herauszuspüren, der einer ambitiöseren Aussenpolitik gegenüber skeptisch ist. Dass Schweizer Aussenpolitiker oft mehr machen möchten, als nur Hotelierdienste anbieten, stösst bei ihm nicht auf viel Verständnis. «On n′est pas là pour servir le café», pflegte die frühere EDA-Chefin, Bundesrätin Micheline Calmy-Rey, zu sagen. Für Widmer aber ist Mediation weniger ein Geschäft für Klein- als für Grossstaaten. Dem widersprechend haben aus Sicht des Rezensenten die Grossen allerdings oft Eigeninteressen, die eine glaubwürdige Vermittlung erschweren. Diesen Makel hat die neutrale Schweiz nicht – einen Trumpf, den sie aus Sicht ausländischer Beobachter durchaus noch vermehrt ausspielen könnte. Eine aktive Friedens(-Vermittlungs-)Politik ist dem Ansehen der Schweiz sehr zuträglich – gerade auch vor dem Hintergrund, dass unser Land nur allzu oft als wenig solidarisch wahrgenommen wird. ● Michael Ambühl ist Professor für Konfliktmanagement an der ETH Zürich. Zuvor war er Staatssekretär im Eidgenössischen Finanzdepartement. 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014 Schwarzmarkt Nach wie vor gibt es Menschenhandel in Europa Michael Jürgs: Sklavenmarkt Europa. Das Milliardengeschäft mit der Ware Mensch. C. Bertelsmann, München 2014. 352 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 19.90. Von Berthold Merkle Die schrecklichen Bilder über die menschenverachtenden Lebensbedingungen der asiatischen Bauarbeiter an den WMStadien in Katar haben alle schockiert. Doch dieses Elend ist mitten unter uns, zeigt Michael Jürgs in seinem neuen Buch «Sklavenmarkt Europa». Der renommierte deutsche Journalist, ehemals «Stern»-Chefredaktor, ist fassungslos angesichts des wirtschaftlichen Ausmasses dieser schmutzigen Branche. 15 Milliarden Euro im Jahr setzen die kriminellen Organisationen damit um. Der 68-Jährige ist ein alter Hase des Journalismus, doch fällt es ihm beim Beschreiben der Zustände und Geschäftspraktiken schwer, die Contenance zu wahren. «Begehrteste Ware im internationalen Menschenhandel ist die Ware Frau», schreibt Jürgs. Auf dem Sexmarkt würden 58 Prozent der Umsätze erzielt, 36 Prozent durch Zwangsarbeit und Dienstbotenausbeutung und immerhin noch 1,5 Prozent mit zu Bettlern «abgerichteten» Kindern. Der Autor verwendet bewusst die Sprache von Finanzanalysten. «Darf man das?», fragt er und hat so seine Zweifel. Aber mit der scheinbar unbeteiligten Sehweise kann er das ganze widerwärtige Gebilde in seiner perversen Logik sezieren. Sexuelle Ausbeutung sei ein sicherer Wachstumsmarkt, heisst es da. Denn: «Jedes Jahr wachsen ihm neue Kunden nach, jedes Jahr erlangt eine neue Ware Marktreife.» Durch das grosse Angebot sinken die Preise, so dass sich die Freier für 25 Euro in den Laufhäusern bedienen lassen können. Michael Jürgs weiss, dass diese Bezeichnungen zynisch sind. Doch sieht er darin für sich eine Vorsichtsmassnahme: der «Zynismus schützt mitunter vor Verzweiflung». Gelegenheit dazu hat er mehr als genug auf seiner Reise durchs Reich der Finsternis zwischen den Lieferantenländern im Osten Europas und den Abnehmern im Westen. Er ist bei Strategietagungen von Europol und bei FrontexEinsätzen dabei. Dort hört er unglaubliche Geschichten. Von jungen Mädchen beispielsweise («blonde Moldawierinnen sind ein Exportschlager»), die direkt am Flughafen versteigert werden, um fortan ihren Kaufpreis in Bordellen abzuarbeiten. Dass ihnen dies nie gelingt, ist für den Verfasser nur ein weiteres perfides Indiz für die gigantische Geldmaschine der kriminellen Organisationen. Die Menschenhändler haben bei kurzen Transportwegen und offenen Grenzen besonders profitable Bedingungen. Dank des riesigen ökonomischen Ungleichgewichts in Europa treffen die Versprechungen für ein besseres Leben bei armen Familien im Osten auf offene Ohren, so dass sie ihre Töchter auch «freiwillig» den «Arbeitsvermittlern» mitgeben. Den Widerstand am Zielort brechen dann «Violent Specialists», die ALESSANDRO DELLA BELLA / KEYSTONE EineSchandedes 21.Jahrhunderts Mögliche Opfer von Menschenhandel: Prostituierte am Zürcher Sihlquai (April 2010). ihr brutales Handwerk in den Uniformen der ehemaligen Diktaturen gelernt haben und nach dem Ende des Ostblocks nicht lange nach neuen Tätigkeitsbereichen suchen mussten. Makabrer Höhepunkt ist das Organgeschäft auf dem Sinai. Jürgs dachte erst an eine Spielart der legendären Wandermärchen. Doch er kennt Zeugen, die die ausgeschlachteten Körper gesehen haben. Was die Zwangsprostituierten in den Rotlichtvierteln im übertragenen Sinne sind, wird hier wortwörtlich vermarktet: Frischfleisch. Jürgs nennt Menschenhandel in jeder Form eine Schande und fordert beim Kampf gegen die Sklavenhändler den gleichen Einsatz wie gegen den Terrorismus. Einen ersten Schritt dazu hat er mit seinem engagierten Buch getan: Diese unglaublichen Geschichten rütteln wach – so fest, dass es richtig weh tut. ● Politik Yvette Estermann schildert ihren Weg von der Migrantin zur SVP-Nationalrätin in Luzern Musterschweizerin aus der Slowakei Yvette Estermann: Erfrischend anders. Mein Leben. Orell Füssli, Zürich 2014. 224 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 21.–. Von Urs Rauber Wäre die Ärztin Yvette Estermann nicht Politikerin, würde sie wohl als Musterschweizerin wahrgenommen: eine harmonische Persönlichkeit, charakterfest, hilfsbereit, traditionsbewusst und grün angehaucht. Doch Estermann sagt auch: «Ich bevorzuge die direkte Sprache und nenne die Dinge etwas unschweizerisch meist beim Namen.» Wenn eine solche Person die Masseneinwanderung und den Sozialhilfemissbrauch anprangert, goutieren das ihre Kontrahentinnen schlecht. Obwohl sie als Frau und Ausländerin eine Karriere hingelegt hat, auf die eine linke Partei stolz wäre, hätte sie die Exponentin in ihren Reihen. Geboren 1967 im slowakischen Bratislava, wächst Yvette in einer gläubigen Familie auf, wird als eifrige Schülerin Klassenbeste, erlebt, wie im morschen Sozialismus der 80er Jahre «die Arbeitsmoral und die Motivation der Menschen im Keller» sind. 1993 promoviert sie zur Ärztin und kommt der Liebe wegen in die Schweiz. Hier eröffnet sie in Luzern eine Praxis für klassische Homöopathie und Naturmedizin. 1999 erhält sie das Schweizer Bürgerrecht, tritt der SVP bei und rutscht bald als erste Ersatzfrau in den Luzerner Grossrat. Im Oktober 2007 wählen sie die Luzerner Stimmberechtigten mit Glanz in den Nationalrat. Estermanns Kampf für Freiheit und Unabhängigkeit, für Eigenverantwortung, Sicherheit und einen gesunden Patriotismus wurzeln in ihrer sozialistischen Prägung. Im Kantonsparlament setzt sie sich dafür ein, dass in den Schulen die Landeshymne gelehrt wird, was bei der Jugend erstaunlicherweise gut ankommt. Klare Worte wählt sie auch, wenn es um die «linkslastige» Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft geht, die seit Jahren versuche, «das Rütli politisch zu instrumentalisieren, indem nur ihr genehme Gruppen am Bundesfeiertag das Rütli betreten dürfen». Die äusserlich sanft auftretende SVP-Politikerin kämpft gegen Frauenquoten ebenso wie gegen gentechnisch veränderte Pflanzen. Eher skurril muten ihr (erfolgloser) Kampf für die Abschaffung der Sommerzeit und ihre esoterisch-philosophischen Auffassungen zu Glück, Meditation und persönlicher Balance an. Innerhalb der SVP aber zählt Estermann nicht zu den Hardlinern, sondern plädiert für mehr Kompromiss- und Kooperationsbereitschaft gegenüber anderen sozialen Kräften. Stolz verweist sie auf ihr Pflichtbewusstsein als Volksvertreterin: Gemäss Internet-Plattform «Politnetz» habe sie am wenigsten gefehlt im Parlament, und als eine der ganz Wenigen übe sie keine anderen Mandate aus. «Erfrischend anders»: So sieht sie sich im kurzweilig geschriebenen Selbstporträt – durchaus zu Recht. ● 27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Gesellschaft Immer mehr Frauen fragen sich, wie sie im Alter leben wollen; Selbstbestimmung und Gemeinschaft stehen dabei im Zentrum WohnengegendieAlterseinsamkeit Annerose Sieck: Weiberwirtschaften. Gemeinschaftlich wohnen und leben auch im Alter. Ueberreuter, Wien 2014. 223 Seiten, Fr. 29.90. Die Gesellschaft altert. 2060 wird jeder dritte Mensch 65 Jahre oder älter sein, und es werden sich darunter deutlich mehr Frauen als Männer befinden. Die wenigsten werden den Lebensabend in einer luxuriösen Residenz mit diskreter Pflegeabteilung verbringen können. Viele Alleinstehende – gleichzeitig oft Alleinerziehende – haben in ihrem Arbeitsleben nur wenig auf die hohe Kante legen können, ihnen winkt die Altersarmut. Anderen steht nach dem Ableben des Partners ein zu gross gewordenes Haus, eine zu weitläufige Wohnung zur Verfügung, in der sie vereinsamen. Gegen diese wenig rosigen Aussichten fangen viele Frauen an, Massnahmen zu ergreifen. Die «Oma-Option», die Kaffeefahrt und der Seniorinnen-Stammtisch sind ihnen zu wenig. Sie wollen ihr Leben auch im Alter aktiv gestalten und begeben sich auf die Suche nach neuen Wohnformen, gehören sie doch einer Generation an, für die das Wort «Wohngemeinschaft» kein Fremdwort ist. Seit einigen Jahren entstehen, nicht nur in Deutschland, Österreich und der Schweiz, alternative Wohnprojekte für Frauen im Rentenalter. Die deutsche Historikerin und Journalistin Annerose Sieck (geboren 1958) hat sich einige davon angesehen, hat die Bewohnerinnen nach ihren Beweggründen, ihren Erfahrungen, Ängsten und Sorgen befragt und sie selber erzählen lassen. Viel Posi- INGRID FARAG Von Geneviève Lüscher tives und wenig Negatives ist dabei zusammengekommen. Für ihre Recherchen reiste Sieck unter anderem nach München, Hamburg, Stuttgart sowie nach Wien, leider hat es für die Schweiz, aus welchen Gründen auch immer, nicht gereicht. Dennoch dürften die Schlussfolgerungen und Denkanstösse auch hierzulande auf viel weibliches Interesse stossen. «Frauen sind eher bereit als Männer, sich auf alternative Wohn- und Lebensformen einzulassen», schreibt Sieck. Und das nicht erst im Alter. So hat sie festgestellt, dass sich Frauen schon mit 40 oder 50 Jahren Gedanken über neue Wohnformen machen und diese auch ausprobieren. Schon seit den 1990er Jahren entstehen Vereine und Genossenschaften, die «Wohnraum von Frauen für Frauen» organisieren. Die Pionierinnen wollten Nicht nur ältere Frauen finden sich zu Wohngemeinschaften zusammen: Projekt KalYpso in Wien. weder im Altenghetto noch mit ihren Kindern unter einem Dach leben und auch nicht in eine «normale» WG einziehen. Sie wollten eigenständig leben, aber nicht allein. Jede sollte in der Hausgemeinschaft eine eigene Wohnung haben. Heute gibt es in Deutschland über 250 Wohnprojekte dieser Art, noch häufiger finden sie sich in Skandinavien und den Niederlanden. Im Gespräch mit den Bewohnerinnen stellte sich heraus, dass allen Beteiligten klar sein muss, dass ein solches Wohnprojekt kein Familienersatz sein kann, dass die eigenen sozialen Netzwerke und Aussenbeziehungen, auch mit Männern, wichtig sind. Selbständigkeit ist unabdingbar; Pflegeleistungen können die Mitbewohnerinnen keine erbringen; in solchen Fällen bleibe auch hier nur die Klinik. Die Frauen sollten bestimmte charakterliche Eigenschaften mitbringen wie soziale Kompetenz, Toleranz, Konfliktfähigkeit, Interesse an Anderen, Neugier und die Bereitschaft zu lernen. Denn das gute Funktionieren der Gemeinschaften müsse in jedem Fall und immer wieder erarbeitet werden, es sei nicht gottgegeben, das Experiment könne auch scheitern; nicht immer würden die hohen Erwartungen erfüllt. Fast überall bereite das Austarieren der Bedürfnisse nach Nähe und Abgrenzung, die sehr individuell ausgeprägt seien, die grössten Schwierigkeiten. Männer als Mitbewohner seien in diesen Frauenwohnprojekten kein Thema. Nicht explizit ausgeschlossen, gälten sie aufgrund ihres dominanten Verhaltens in den meisten WG als Störfaktor und seien nur besuchsweise geduldet – «nur ambulant, nicht stationär», wie es eine der Frauen ausdrückt. ● Polen Eine Biografie über Ryszard Kapuscinski stutzt den Dritt-Welt-Reporter auf Normalmass zurück Die Legenden einer Legende Artur Domoslawski: Ryszard Kapuscinski. Leben und Wahrheit eines «Jahrhundertreporters». Rotbuch, Berlin 2014. 688 Seiten, Fr. 44.90. Von Kathrin Meier-Rust Der «beste Reporter der Welt», ein «Herodot unserer Zeit» – der polnische Journalist Ryszard Kapuscinski (1932–2007) war dank seiner hochberühmten Bücher («Afrikanisches Fieber», «Shah-in-Sha» über den Iran, «Imperium» über den Zerfall der Sowjetunion, u.a.) schon zu Lebzeiten eine Legende. Die Biografie, die drei Jahre nach seinem Tod erschien, war deshalb in Polen eine Sensation. Denn Artur Domoslawski, selbst Journalist und ein bewundernder Schüler und Freund des Meisters, hatte, wie er schreibt, «viele Dinge über Kapuscinskis 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014 Leben entdeckt, die ich lieber nicht gewusst hätte.» Nun liegt diese Biografie auch auf deutsch vor, ein äusserst lebendiges, aber mit knapp 700 Seiten für nichtpolenkundige Leser eher schwer zu bewältigendes Konvolut, das mit zahllosen direkten Zitaten vieler Weggefährten von «Kapu» gespickt ist. Domoslawski hat sowohl in Polen als auch an den Originalschauplätzen von Kapuscinskis Tätigkeit breit recherchiert, also in Indien, Afrika, Süd- und Mittelamerika, wo er als Korrespondent der polnischen Presseagentur arbeitete. In Polen erregten nebst den privaten Frauengeschichten vor allem Kapuscinskis Kontakte zum Geheimdienst die Gemüter, sie sind inzwischen unbestritten, aber als unwichtig erkannt. Für westliche «Kapu»-Bewunderer sind dagegen fünf mit dem Titel «Legenden» über- schriebene Kapitel von grösstem Interesse: Der Biograf weist dem Reporter hier zahlreiche blumige Ausschmückungen, Übertreibungen und biografische Unwahrheiten nach, die natürlich der eigenen Heroisierung ungemein dienlich waren. Für kritische Leser der literarisch-stilisierten, von Fakten und Analyse weitgehend freien Kapuscinski-Bücher bleibt die grosse Überraschung jedoch aus. Dass der immer liebenswürdige Meister, in Krieg und Armut aufgewachsen, den Armen dieser Welt in echtem Idealismus verpflichtet war, dass sein Fleiss enorm und seine journalistische Leistung aussergewöhnlich waren, dass er als überzeugter Kommunist nach 1989 ratlos in der ideellen Heimatlosigkeit strandete – dies alles gehört zum wahren Menschen, auf den diese Biografie die Legende zurückstutzt. ● China Von Maos mörderischem «Grossen Sprung» zu Dengs befreiendem Konsumwunder Siehättenunterschiedlicher nichtseinkönnen Frank Dikötter: Maos grosser Hunger. Massenmord und Menschenexperiment in China. Klett-Cotta, Stuttgart 2014. 526 Seiten, Fr. 39.90, E-Book 33.90. Felix Lee: Macht und Moderne. Chinas grosser Reformer Deng Xiaoping. Rotbuch, Berlin 2014. 287 S., Fr. 35.40. Zwischen 1958 und 1962 verwandelte sich China in eine Hölle auf Erden. Mao Zedong trieb das Land in den Wahnsinn des «Grossen Sprungs nach vorn», mit dem er in weniger als 15 Jahren die Industrienation Grossbritannien einholen wollte. Das Experiment endete mit der grössten Katastrophe der chinesischen Geschichte. Sie kostete mindestens 45 Millionen Menschen das Leben. Dieses Fazit zieht Frank Dikötter in seinem Buch «Maos grosser Hunger». In eine ganz andere Richtung führte Deng Xiaoping das Reich der Mitte. Mit dem grössten Wohlstandsgewinn, den es in der Menschheitsgeschichte gegeben hat, ist Dengs Name verbunden. Kein Staatsführer vor ihm hat innerhalb derart kurzer Zeit so viele Menschen aus der Armut befreit. So urteilt Felix Lee in seinem Buch «Macht und Moderne» über den grossen Reformer Deng Xiaoping. Dikötter schildert, warum Mao den Startschuss zum «Grossen Sprung nach vorn» gab und wie sich die Kampagne entwickelte. Dann beschreibt er das Ausmass der Zerstörungen in Landwirtschaft, Industrie, Handel, Wohnraum und Umwelt und geht der Frage nach, wie der grosse Plan der Führung durch die alltäglichen Überlebenstechniken der Bevölkerung verwandelt wurde, so dass etwas entstand, das niemand im Sinn gehabt hatte und kaum jemand verstand. Mit geschönten Produktionsziffern streuten subalterne Funktionäre vorgesetzten Stellen Sand in die Augen. Arbeiter in den Städten stahlen, drückten sich um die Arbeit oder sabotierten die Befehlswirtschaft, während die Landbevölkerung eine Vielzahl von Selbstschutzmechanismen entwickelte, sei es, dass Bauern das Getreide noch auf dem Feld assen, sei es, dass sie Getreidelager plünderten, Parteibüros in Brand setzten, Güterzüge überfielen oder gelegentlich sogar zu den Waffen griffen, um sich gegen das Regime zu erheben. Eine Doktrin, zwei Politiker Schliesslich zeigt Dikötter anhand von Hunderten oft grauenhaften Fallbeispielen, wie Kinder, Frauen und alte Menschen ums Überleben kämpften und wie die Menschen starben: keineswegs immer nur infolge Hungers, sondern auch durch Unfälle, Krankheit, Folter, Mord oder Selbstmord. Abschliessend berichtet der Autor über die von ihm aus- ULLSTEIN BILD Von Harro von Senger Mao Zedong (1893− 1976) und Deng Xiaoping (1904−1997) beim freundlichen Händeschütteln in den 1960er Jahren, als Deng noch ein braver Gefolgsmann Maos war. gewerteten mehr als 1000 Dokumente in chinesischen Archiven, die vor ihm kein westlicher Wissenschafter zu Gesicht bekommen hat. Wie einen Fächer entfaltet anderseits Felix Lee Deng Xiaopings Leben, von seiner Kindheit in einem kleinen Dorf in Sichuan über eine Werkstudentenzeit in Frankreich, einen kurzen Studienaufenthalt in Moskau, jahrzehntelange Organisationstätigkeit im Schosse der Kommunistischen Partei Chinas als treuer Gefolgsmann Mao Zedongs, und zwar auch während der Epoche des «Grossen Sprungs», bis zu seinem Sturz zu Beginn der «Kulturrevolution» (1966–76), seinem Wiederaufstieg 1973 und seinem erneuten Sturz 1975, seiner Rückkehr an die Macht 1977 und seiner bahnbrechenden Herrschaftszeit bis Anfang der 1990er Jahre als «Befreier Chinas von den Schrecken der Mao-Zeit.» Die beiden Autoren führen vor Augen, dass innerhalb eines halben Jahrhunderts zwei Politiker über das grösste Volk der Erde herrschten mit Ergebnissen, wie sie gegensätzlicher nicht sein konnten. Und zwar wirkten sie im Rahmen des stets gleich bleibenden, der Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei Chinas unterstehenden Einparteienstaates! Wie lässt sich dieses Paradoxon erklären? Aus Dikötters Buch erfährt man, dass der «Grosse Sprung» als Vorstufe zu einem kommunistischen Schlaraffenland mit Luxusgütern wie Glastüren und Goldfischbecken angesehen wurde und China an die Spitze der entwickelten Nationen katapultieren sollte. Deng, wie Mao bis zum Schluss Anhänger eines autoritären Staatsverständnisses, hielt an dem Ziel, entwickelte Länder einzuholen und letztlich eine klassenlose, soziale Gesellschaft aufzubauen, fest. Aber er wählte, offensichtlich klug geworden durch den seinerzeit von ihm rücksichtslos mitgetragenen «Grossen Sprung nach vorn», einen langsameren Weg, ohne die unermesslichen Kollateralschäden, die Mao in Kauf genommen hatte. Das Land sollte nicht durch allzu ruckartige Veränderungen in Mitleidenschaft gezogen werden. Wenig Tiefgang Dikötters Publikation stellt noch den schauderhaftesten westlichen Horrorfilm in den Schatten. Aber nicht alle seine Darlegungen überzeugen. So schreibt er, der mögliche Tod von Milliarden Menschen in einem Atomkrieg sei Mao offenbar gleichgültig gewesen, um im selben Atemzug Maos Aussage als nicht ernst gemeint hinzustellen, denn Mao habe lediglich geblufft. Maos Ausspruch «Wir lassen besser die Hälfte der Menschen sterben, damit die andere Hälfte genug zu essen hat» soll dann wieder ernst genommen werden. Zweimal erwähnt Dikötter die Chinesische Akademie für Sozialwissenschaften, die es aber in der fraglichen Epoche gar nicht gab. Erst in den 1970er Jahren wurde sie, so Felix Lee, auf Betreiben Deng Xiaopings errichtet. Lees Buch ist flüssig geschrieben, bleibt aber, was die seit 1949 unverändert geltenden sinomarxistischen methodischen Vorgehensweisen der Führerpersonen betrifft, genauso an der Oberfläche wie das Werk Dikötters. ● Harro von Senger ist em. Professor für Sinologie an der Uni Freiburg i. Br. 27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Asien Der Historiker Perry Anderson kritisiert Gandhis Vermächtnis Indienleidetanseinen chronischenProblemen Perry Anderson: Die indische Ideologie. Berenberg, Berlin 2014. 192 Seiten, Fr. 32.90. Indien hatte in den letzten Jahren eine gute Presse im Ausland. Nach den überfälligen Wirtschaftsreformen von 1991 schlug das jahrzehntelange Lamento über diese «Area of Darkness» (der Titel von V. S. Naipauls erstem Indien-Buch) in wachsende Wertschätzung um. Beim Jahrtausendwechsel betrat die IT-Industrie die internationale Bühne und Indien wurde zum Star. Der trottende Elefant hatte plötzlich Flügel. Die Finanzkrise hat ihm die Flügel wieder gestutzt. Mit der Halbierung des raschen Wachstums verdoppelt sich die Kritik. Auch die Wissenschaft setzt sich erneut mit den andauernd miserablen Sozialindikatoren des Landes auseinander. Dazu gehört das Indien-Traktat des amerikanischen Historikers Perry Anderson. Sein Buch begnügt sich allerdings nicht mit der bekannten Auslegeordnung von Indiens chronischen Problemen. Es setzt zu einer Fundamentalkritik seiner nationalen Ideologie an. Anderson findet sie im überparteilichen Konsens der indischen Eliten, die Indien als Erfolgsmodell der postkolonialen Welt sehen – lebendige Demokratie, religionsübergreifende säkulare Praxis, territoriale Stabilität. Dem ist nicht so, räsoniert Anderson. Indiens Demokratie verfüge nur über eine Input-Legitimität (Wahlen, Parlamente, Gerichte). Die entscheidenden Output-Kriterien dagegen – sozialer Schutz, Wohlstand für alle, Menschenrechte – verpasse es bei weitem. Im Gegensatz zu China, behauptet Anderson boshaft: Dessen OutputLegitimität kann sich demokratische Inputs schenken. Hinduismus schöngeredet Dasselbe gilt für die beiden anderen Pfeiler der nationalen Ideologie. Der vielgerühmte Säkularismus sei ein schlecht kaschierter «Majoritarismus» der HinduMehrheit. Indiens religiöse Toleranz besteht den strengen Test seiner europäischen Definition nicht («Der Staat ist a-religiös»). Das Land begnügt sich mit dem faulen Kompromiss eines Staats in toleranter Äquidistanz zu allen Religionen, was dem angeblich toleranten Hinduismus einen weiteren Startvorteil gibt. Auch die territoriale Einheit ist für Anderson Wunschdenken. Er geisselt die Kaschmirpolitik des indischen Staats als längste militärische Besetzung weltweit, ohne Rücksicht auf die Gefühle der Bewohner oder auf internationale Verpflichtungen. Im Nordosten dasselbe: Die Stammesstaaten wären längst frei, 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014 MARCO BULGARELLI / LUZ / FOTOGLORIA Von Bernhard Imhasly Indien zwischen IT-Boom, säkularem Staat und miserablen Sozialindikatoren: Wanderarbeiter in Bangalore. wenn Delhi dem Prinzip der Selbstbestimmung nachleben würde. Für Anderson ist dies nicht eine Mängelliste. Es sind im Gegenteil inakzeptable Geburtsfehler und damit die logische Folge von Prozessen, die bereits in der Freiheitsbewegung angelegt waren: Gandhis Hinduismus war nicht das Modell einer Religion, die andere Religionen schützt und sich deshalb als nationales Gefäss anbot. Die Trennung des Landes und die Gründung Pakistans strafte diesen Anspruch Lügen; und der kaschmirische Irredentismus zeigt bis heute, dass sich die Muslime im säkularen Indien nicht aufgehoben fühlen. Dasselbe gilt für die soziale Philosophie des Hinduismus. Gandhi mochte diesen noch so schönreden, seine Auseinandersetzung mit dem Dalit-Führer B. S. Ambedkar zeigt, dass er an der Kastenordnung festhielt. Als Folge davon ist die Kastendiskriminierung noch heute endemisch. Der Brahmanismus des aristokratischen Nehru setzte sich in schlimmster Ausprägung fort, als Institutionalisierung einer dynastischen Herrschaft hinter einer «demokratischen» Kongresspartei. Andersons Buch ist eine Polemik, brillant, scharfzüngig und demaskierend, nicht zuletzt an die Adresse der indischen Intelligenzija. Aber in seinem revisionistischen Furor wird der scharfe Blick zunehmend einäugig. Das betrifft nicht nur kleinliche Angriffe ad personam, wenn er sich etwa über Gandhis sexuelle Obsessionen lustig macht oder Nehru einen seichten Schreibstil vorwirft. Schwerer wiegt, dass er zum Beweis seiner Thesen historische Verläufe auf den Kopf stellt. Etwa im Falle der Anfänge des Kaschmirkonfliktes: Die HinduMentalität der Kongressregierung habe durch das Anlegen von Munitionslagern in Srinagar die pakistanischen Freischärler im Oktober 1947 zum Einmarsch ins Kaschmirtal provoziert. Das Gegenteil ist richtig: Der Einfall der Lashkars löste in Delhi Panik aus und führte zu dessen militärischem Eingreifen, gerade weil das Kaschmirtal völlig ungeschützt dalag. Zum Nachdenken anregend Auch Andersons Vorwurf, die Intelligenzija habe die Gründungsmythen des Staats nie hinterfragt, ist unfair. Durch das ganze Buch hindurch zitiert er zur Untermauerung seiner Kritik Studien indischer Fachkollegen. Am Schluss wirft er sie als Mitläufer ebenfalls auf den Scheiterhaufen. Zuzugeben, dass in Indien eine selbstkritische, angriffige und freie öffentliche Meinung herrscht, hätte sein Argument eines undemokratischen Staats geschwächt. Andersons polemische Grundhaltung macht ihn unfähig, die Komplexität dieser Gesellschaft auch nur annähernd wiederzugeben. Dass Gandhi seine hinduistischen Überzeugungen in seine Politik einfliessen liess, war nicht nur das Resultat seiner Spiritualität. Es war auch politische Strategie. Denn ohne Hindu-Symbolik und das Festhalten an einer reformierten Kastenordnung hätte er dieses tief religiöse Volk nicht hinter sich geschart. Ein Buch, das zum Nachdenken anregt – und zum Widerspruch. ● Musik Der innovative Giacomo Meyerbeer (1791–1864) war der grosse Unbekannte unter den Opernkomponisten ErgenossRossinisGastfreundschaft Von Corinne Holtz Er ist der grosse Unbekannte unter den wirkungsmächtigen Opernkomponisten: Giacomo Meyerbeer, der sich diesen Künstlernamen in jungen Jahren zugelegt hat, eigentlich Jakob Liebmann Meyer Beer heisst und 1791 als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Berlin zur Welt kommt. Meyerbeer geniesst die frühe Förderung bester Lehrer, gibt mit neun Jahren das erste öffentliche Konzert und erregt mit seinem «vortrefflichen Klavierspiel» die Bewunderung des Rezensenten. Gleichzeitig wird er als «Judenknabe» apostrophiert und erfährt ähnliche Verunglimpfung wie etwas später Felix Mendelssohn. Dieser wird in einem Brief des Komponisten Carl Friedrich Zelter an Goethe als «Judensohn» bezeichnet, dessen Vater mit «bedeutender Aufopferung» seine Söhne nicht «beschneiden» liess. Auch in Berlin, einem Zentrum der Aufklärung, betrachtet man es als Wunder, «wenn aus einem Judensohn ein Künstler würde». Das unheilvolle Gemisch aus Bewunderung und Abwertung wird Giacomo Meyerbeer ein Leben lang begegnen. Richard Wagner verehrte ihn zunächst als «kleinen Gott dieser Erde» und versuchte über die Protektion Meyerbeers in seinem Sehnsuchtsort Paris Fuss zu fassen. Das sollte ihm jedoch nicht gelingen. Im Gegenzug begann er Meyerbeers Einfluss auf sein Werk zu leugnen und inszenierte seine Reformschriften als antisemiti- schen Feldzug gegen «untergeschobene Parasiten». So liest man in einem Brief an den Wagner-Verehrer und Schriftsteller Edouard Schuré unbescheiden vom Unglück, «Heine und Goethe, Meyerbeer – und – vielleicht – mich in einen Topf zu werfen». Sabine Henze-Döhring und Sieghart Döhring zeichnen in ihrer Biografie ein differenziertes Bild der Lebensverhältnisse und verstehen es, ihre Quellen in die Zeitgeschichte des 19. Jahrhunderts einzubetten. Besonders verdienstvoll ist die Sorgfalt, die sie der Darstellung des Werks entge ge n b r i nge n . Denn Meyerbeer kommt zu sel- Giacomo Meyerbeer, dessen Opern heute nur noch selten gespielt werden, nach einer Lithografie aus dem 19. Jahrhundert. BIANCHETTI / LEEMAGE Sabine Henze-Döhring, Sieghart Döhring: Giacomo Meyerbeer. Der Meister der Grand Opéra. C. H. Beck, München 2014. 272 Seiten, Fr. 34.90. ten auf den Spielplan, und der Innovationsgehalt seines musikalischen Ideentheaters ist wenig bekannt. Mit den Opern «Robert le Diable», «Les Huguenots» und «Le Prophète» hatte Meyerbeer im Dreischritt ein neues Feld bestellt. Ausgehend von Rossini erschloss der Komponist zukunftweisende Formen der Musikdramaturgie. Bisher schilderte Musik die Gefühle von Figuren in ihrem Gegeneinander, während sie bei Meyerbeer nur noch die Situation zeigt, an der sie gemeinsam teilhaben. Allein die Musik gestaltet das Verrinnen der Zeit und den Verlauf eines Konflikts – in «Robert le Diable» etwa dann, wenn Robert das Testament seiner Mutter zu lesen beginnt, das Blatt fallen lässt und Alice mit dem Rezitieren fortfährt. Musik wird hier zur Funktion – so auch in der blasphemischen Nonnenprozession, die den Sensationserfolg dieser Oper begründet hat und im grandios verfremdeten Übergang zum Schlussbild. Dort sollen laut Meyerbeer zwei Harfen «aus den Kulissen» rauschen, während man unversehens in die Kathedrale von Palermo versetzt wird. Meyerbeer war aber auch Mensch, macht die Darstellung deutlich. Er genoss die Aufmerksamkeit der angesagten Pariser Salons – insbesondere Rossinis Gastfreundschaft, der ihn und seine Familie mit der legendären Pasta verwöhnte. Meyerbeer überzeugte durch «Esprit und Sprachwitz» und war ein gewiefter Netzwerker. Gleichzeitig bezeichnete er sich als Schwarzseher und litt ein Leben lang an Versagensangst. Das Ringen um Wertschätzung könnte die treibende Kraft seines Strebens als Künstler gewesen sein. Dass solche Fragen offen bleiben, zeugt vom Gespür der Autoren für das Genre Biografie. ● Landschaftspflege Geschichte und Bedeutung der japanischen Zen-Gärten Wo Mönche meditieren Yoko Kawaguchi: Japanische Zen-Gärten. Wege zur Kontemplation. DVA, München 2014. 208 Seiten, Fr. 74.90. Von Sarah Fasolin Wenn das Fremde fasziniert, aber nicht ganz verstanden wird, entstehen Klischees. So ist es auch mit der japanischen Gartengestaltung, die in Europa zwar nur eine marginale Bedeutung in der Gartenarchitektur hat, jedoch mangels Kenntnissen oft laienhaft umgesetzt wird: etwas Kies, ein paar Steinblöcke. Mit dem bebilderten Buch «Japanische Zen-Gärten» bietet die japanische Gartenexpertin Yoko Kawaguchi ihrer Leserschaft einen tiefen Einblick in die Geschichte, Entstehung und Bedeutung der Tempelgärten des Zen-Buddhismus, einer der Hauptströmungen des Buddhismus. In einem ersten Teil rollt sie die Geschichte der japanischen Zen-Tempel und ihrer Gärten auf und porträtiert ein paar besondere, öffentlich zugängliche Gärten in Japan. Dabei wird die Autorin als ausgewiesene Expertin spürbar, wenn sie die zum Teil 600 Jahre alte Geschichten der Gärten beschreibt und deren Entwicklung mit jahrhundertealten Tuschezeichnungen erklärt. Sie setzt allerdings auch ein gewisses Vorwissen der japanischen Kultur im Allgemeinen und der Gartenkultur im Speziellen voraus. Kawaguchi verflicht die Lebensläufe und das Erbe bedeutender Gartengestalter in Japan miteinander und vergisst dabei manchmal, einige Begriffe einzuführen. Das Glossar hilft weiter, deckt aber für den Durchschnittsle- ser nicht alles ab. Auch die Einbettung in den Gesamtkontext erschliesst sich erst mit fortschreitender Lektüre. Für Gartenkultur-Interessierte lohnt es sich jedoch ohne Zweifel, dran zu bleiben und so langsam in die komplexe Gedankenwelt einzutauchen, die den Zen-Gärten zu Grunde liegt. Am Ende wird man mit einem neuen Blick auf die Zen-Gärten belohnt, die der Fotograf Alex Ramsay für das Buch gekonnt ins Bild gerückt hat. Die Gärten sind jetzt mehr als nur Kiesflächen, Steine, Moos, Kirschbäume und Fächerahorne. Man erkennt den trockenen Wasserfall, sieht die Dreier-Anordnung der Steine, die Buddha und zwei Begleiter darstellen. Entdeckt die mit Steinen dargestellte Schildkröte und den Kranich, die als Symbol für Glück und ein langes Leben stehen. ● 27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Sterben Ein deutscher Reporter schildert seine Begegnungen mit dem Tod – auf Kriegsschauplätzen sowie in der eigenen Familie MahnmaldeseigenenVersagens Bartholomäus Grill: Um uns die Toten. Meine Begegnungen mit dem Sterben. Siedler, München 2014. 219 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 19.90. Bartholomäus Grill ist dem Tod im Verlauf seines Reporterlebens in vielen Gestalten begegnet. An ihn gewöhnt hat er sich nie. Aber er versucht, ganz im Sinne Michel de Montaignes, sich mit dem Gedanken an ihn und die eigene Endlichkeit vertraut zu machen. Er umkreist ihn, er schildert ihn, er sucht in der Erinnerung nach einschneidenden Konfrontationen mit ihm. Daraus ist eine Art Todesbiografie entstanden, die im geschlossenen Kosmos einer katholischen Kindheit in Oberbayern beginnt und auf den Killing Fields des afrikanischen Kontinents endet. Herzstück des Buches aber ist die Auseinandersetzung mit dem Tod des Bruders, der vor 10 Jahren in Zürich bei Ludwig Minelli und seiner Sterbehilfeorganisation «Dignitas» Erlösung von seinem Krebsleiden gefunden hatte. Mit dem 2005 in der «Zeit» erschienenen Bericht über Urban Grills Reise zu den Sterbehelfern von Zürich hatte der Autor in Deutschland nicht nur eine heftige Debatte ausgelöst, sondern war für den Text auch mit dem renommierten HenriNannen-Preis ausgezeichnet worden. Nun erzählt er die Geschichte noch einmal und macht deutlich, wie sehr diese Erfahrung sein eigenes Verhältnis zum Tod geprägt hat. «Versuch einer sehr subjektiv gefärbten Phänomenologie des Todes» nennt Grill die Texte, die um die Geschichte des Bruders wie um einen unsichtbaren Dreh- und Angelpunkt herum angeord- RAINER UNKEL / VARIO IMAGES Von Klara Obermüller Kriegsberichterstatter Bartholomäus Grill möchte einer Sterbenden in Ruanda 1994 (siehe Bild) ihre Geschichte zurückgeben. net sind. Am Anfang steht der Tod des Grossvaters, da war der Autor vier Jahre alt, am Ende derjenige der Mutter, wenige Jahre nachdem ihr Sohn Urban aus dem Leben geschieden war. Dazwischen liegen Todeserfahrungen wie der frühe Hinschied einer schwerstbehinderten Schwester oder das einsame Sterben des Vaters. Und ab Mitte der achtziger Jahre schliesslich war es die berufliche Tätigkeit, die dem Autor den Tod zum ständigen Begleiter werden liess. Bartholomäus Grill war in Rumänien, als Ceauşescu und seine Frau hingerichtet wurden. Er hat in Südafrika das Ende des Apartheid-Regimes erlebt. Er ist in Uganda den ersten Aids-Toten begegnet. Und er kam nach Ruanda, unmittelbar nach- dem das grosse Morden 800 000 Tutsi das Leben gekostet hatte. Die journalistische Arbeit hat ihn nicht abgestumpft, im Gegenteil. So einfühlsam undgenau er diebarocke Totenkultur im bayerischen Bergbauerndorf beschreibt, so nüchtern und ehrlich stellt er sich seiner Tätigkeit als Kriegsberichterstatter, die, das weiss er, ohne ein gerüttelt Mass an Voyeurismus und Zynismus nicht auskommt. Es wundert deshalb nicht, dass Grill hart mit sich und seinen Berufskollegen ins Gericht geht. Sie haben zugeschaut und haben berichtet, sie haben erklärt und angeklagt. Aber haben sie auch geholfen, wo Hilfe möglich gewesen wäre? Die Antwort lautet klar nein, und es ist dieses Bewusstsein von Schuld, das sich wie ein dunkler Grundton durch die Texte des Buches zieht. Als Journalist funktionieren, als Mensch versagen – auf diese Formel bringt der Autor das Verhalten der Berichterstatter in Krisengebieten. Und er nimmt sich von der Anklage nicht aus, wenn er sich an eine Mutter und ihr Kind unweit von Goma erinnert, der er und sein Fotograf das Letzte nehmen, was sie hat: ihre Geschichte, ihr Bild. Die sterbende Frau und das verstörte Kind aber lassen sie am Strassenrand liegen und fahren weiter. Das Foto ist, neben anderen Erinnerungsbildern, im Buch wiedergegeben: als ein Zeichen des Gedenkens, aber auch als ein Mahnmal des eigenen Versagens. Gesagt wird es zwar nirgends, aber es ist denkbar, dass das ganze Buch letztlich aus dem Bedürfnis heraus entstanden ist, den Toten schreibend etwas von dem zurückzugeben, was man ihnen im Leben schuldig geblieben ist. Zumindest bezieht es aus diesem Bewusstsein seinen Ernst und seine erschütternde Wirkung. ● Prognosen Voraussagen zur demografischen Entwicklung bis zum Ende des 23. Jahrhunderts Schrumpfende Weltbevölkerung Reiner Klingholz: Sklaven des Wachstums. Die Geschichte einer Befreiung. Campus, Frankfurt a. M. 2014. 348 Seiten, Fr. 37.90, E-Book 26.–. Von Reinhard Meier Drei grosse Thesen über die Zukunft der Menschheit entwickelt der Direktor des Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung in diesem anregenden Sachbuch. Alle drei laufen langfristig auf eine Absage an den von Apokalyptikern immer wieder prophezeiten Untergang unserer Spezies hinaus. Das ist erfreulich, doch der Autor Reiner Klingholz warnt gleichzeitig, dass der Weg zum Ziel echter Nachhaltigkeit unzweifelhaft durch schwere Krisen führen werde. 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014 Ausserdem sind nicht alle drei Thesen gleichermassen überzeugend. Am plausibelsten von den Fakten her ist die Botschaft, dass die Weltbevölkerung von heute 7,2 Milliarden Menschen zwar bis zur Mitte dieses Jahrhunderts auf 9,6 Milliarden ansteigen werde. Dann aber beginne ein Schrumpfungsprozess, durch den sich die globale Bevölkerungszahl bis zum Jahr 2300 wahrscheinlich bei 4 bis 6 Milliarden einpendeln werde. Entscheidend für diese Entwicklung sind die auch in den Entwicklungsländern deutlich sinkenden Kinderzahlen pro Frau. Zweite These: Wir stehen – vor allem in Europa und Japan – bereits an der «Zeitenwende zum Postwachstum». Das heisst, die Menschheit geht einer Zukunft ohne wirtschaftliches Wachstum entgegen. Das ist gut so, weil die natürlichen Ressourcen der Erde ja nicht endlos ohne nachhaltige Erneuerung ausgebeutet werden können. Echte Nachhaltigkeit aber kommt laut der Argumentation des Autors nur durch Verzicht auf weiteres Wachstum zustande. Die dritte Botschaft lautet: Es ist illusionär, auf einen grossen «Masterplan» zu hoffen, der die Menschheit aus der Sackgasse von Überbevölkerung, permanentem Finanzwachstum und Konsumwahn führen werde. Man müsse akzeptieren, «dass uns keine Revolutionen weiterhelfen, sondern dass nur der evolutionäre Weg der vielen kleinen Schritte zum Ziel führt». Das alles sind, wohlgemerkt, informierte Prognosen – keinesfalls endgültige Wahrheiten. ● Philosophie ETH-Dozent Michael Hampe sieht im Erzählen eine andere Form des Denkens SchweigenkannzumschärfstenMittel derVerweigerungwerden Michael Hampe: Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. Suhrkamp, Berlin 2014. 400 Seiten, Fr. 36.90. Von Kirsten Voigt Der philosophisch interessierte Laie mag auf den verwegenen Gedanken verfallen, es sei in Zeiten einer in der freien Welt verbrieften Meinungsfreiheit gerade den Profi-Denkern auch das Recht der Denk- und Gedankenfreiheit eingeräumt. Michael Hampe, Professor für Philosophie an der ETH Zürich, ein Insider, weiss es besser: Gerade dieser Freiheit frönen universitäre Philosophen heute eher selten, denn die Zugehörigkeit zu einer philosophischen Schule fungiert als unverzichtbares Eintrittsbillett in den akademischen Betrieb. Wer sich nicht einer Denkmode anschliesst, sondern individuell an und mit Begriffen experimentiert, gilt als «dissidenter Sprecher». Damit erzieht die Universität doktrinär behauptende statt zum eigenständigen Denken verführende Philosophen, genau jene Spezies, gegen die Hampe in seinem subtilen und erfrischend disziplinkritischen Buch argumentiert. Dissidentes Sprechen scheint dem Autor nämlich die wesentliche Bedingung für kreatives Handeln, aus dem gelingendes Leben resultieren kann. Über ihre Möglichkeiten erfahren Menschen Wesentliches nicht nur durch Innenschau, sondern durch selbstbestimmte Handlungen, ein Wirksamwerden in sozialen Gemeinschaften. Subjektivität definiert Michael Hampe vor allem über den Zeichengebrauch des Individuums innerhalb eines Verbunds von Zeichenverwendern. Nur wer neue Begriffe und Sprachformen entwickelt, eröffnet sich damit die Perspektive auf Lebensalternativen. Der Literatur kommt dabei eine heilsame Schlüsselfunktion zu. Sie führt am exemplarischen Einzelnen vor, wie Entscheidungen getroffen werden, was Liebe, Wahrheit, Freiheit, Selbstüberwindung, Glück oder Todesangst bedeuten können. Sie entfaltet Innenwelten von Individuen und Gegenwelten dazu, Fiktionen des Gewordenseins und Werdens. Sie dient der Weitergabe von historischer Erfahrung, beobachtet das Nachdenken des Subjekts über sich selbst und die Resonanz anderer Subjekte darauf. Das am ausführlichsten betrachtete Beispiel für Hampes Lob des Erzählens als Manifestation des Denkens ist John Maxwell Coetzees Roman «Elizabeth Costello». Das Werk des Literaturnobelpreisträgers 2003 stellt nicht nur das fiktive Schreiben als Prozess der Selbstreflexion und Operation mit verschiedensten Perspektiven dar, sondern diskutiert anschaulich auch eine Reihe ethischer Fragen. Hampe steht mit seiner Argumentation für eine Erziehung zum Selbstdenken unter anderem auf den Schultern von ihm zitierter Vorgänger wie Friedrich Nietzsche, Alfred North Whitehead, John Dewey, Richard Rorty, Hans Joas oder Ian Hacking. Die postmoderne Feststellung, es gäbe keine «grossen Erzählungen» mehr, lehnt er ab. Narrative sterben nicht aus, sie wechseln lediglich die Disziplin. Die heute dominante Grosserzählung liefert die Spieltheorie: «Der Mensch dieser Erzählungen muss sich immer und überall gegen die anderen Menschen behaupten. Auf die grossen Erzählungen vom Menschen als Ebenbild eines Schöpfers und als Vernunftwesen ist die vom Menschen als Markt- teilnehmer gefolgt.» In dieser Erzählung werden Freunde zum Netzwerk, wird das Individuum zur Ressource, der Lebensweg zur Karriere und das Dasein zum Wettkampf, in dem es in erster Linie um Resultate gehe. Schliesslich plädiert Hampe nicht nur für das Erzählen, das sokratische Gespräch, den Zeichengebrauch, sondern auch für das Gegenteil: das Schweigen. Es kann auch Mittel einer scharfen Kritik, der Verweigerung werden. Dass Michael Hampe die eigene Stimme für dieses ermunternde und plausible Plädoyer für ein intellektuell schöpferischeres Sprechen und Schreiben, für Literatur als Erkenntnismittel erhoben hat, darf als ein echter Glücksfall betrachtet werden. ● Erfinderfamilie Piccard Pioniere ohne Grenzen Was für eine Forscherdynastie! Drei Generationen, drei Berufe, drei Weltrekorde. Grossvater Auguste Piccard (1884–1962) hob im Mai 1931 zum weltweit ersten Flug in die Stratosphäre ab (im Bild die Druckkabine nach der Landung in den Öztaler Alpen). Später entwickelte der Physiker den Bathyskaph, ein U-Boot neuen Typs, mit dem er 1953 zusammen mit seinem Sohn 3150 Meter in die Meerestiefe tauchte. Dieser – der Ozeanograf Jacques (1922–2008) – trieb die Unterwasserforschung voran, bis er 10 916 Meter unter Meer im Marianengraben (1960) schwebte. Der dritte Piccard, Enkel Bertrand (geb. 1958), Psychiater und Fluglehrer von Beruf, umkreiste 1999 mit Brian Jones als erster Mensch die Erde im Ballon. 2015 schliesslich will er mit «Solarimpuls» ohne einen Tropfen Brennstoff um die Erde fliegen. Kühnheit, Pioniergeist, Abenteuerlust kennzeichnen die Piccards, die wie keine zweite Schweizer Familie ihre Visionen in die Tat umsetzten. Davon erzählt der reich bebilderte Band von Susanne Dieminger und Roland Jeanneret mit grosser Begeisterung. Urs Rauber Susanne Dieminger, Roland Jeanneret: Piccard. Pioniere ohne Grenzen. Weltbild, Olten 2014. 200 S., Fr. 36.90. 27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Biografie Noch heute verehrt, markierte Rachel Carson den Beginn der weltweiten Umweltbewegung Zündfunke einer Revolution Dieter Steiner: Rachel Carson. Pionierin der Ökologiebewegung. Eine Biografie. Oekom, München 2014. 364 Seiten, Fr. 37.90, E-Book 23.90. Von Martin Amrein Ihren Bewunderern gilt sie als einflussreichste Biologin seit Charles Darwin. Für eine Massenmörderin halten sie dagegen ihre schärfsten Kritiker. Die amerikanische Zoologin Rachel Carson spaltet die Gemüter. Grund dafür ist das Buch «Der stumme Frühling», das sie 1962 veröffentlichte. Darin warnte Carson vor den Gefahren von Pestiziden für Umwelt, Tier und Mensch. Das Werk, das in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde, setzte eine ökologische Revolution in Gang, die um den gesamten Erdball ging. Wegen der Diskussionen, die der Bestseller auslöste, wurde das Insektengift DDT vielerorts verboten. Genau das werfen Carsons Gegner ihr bis heute vor. Damit sei der Kampf mittels DDT gegen die Malaria übertragende Anophelesmücke zum Erliegen gekommen. Carson habe Millionen von Menschenleben auf dem Gewissen. «Blühender Unsinn», meint ihr Biograf Dieter Steiner. Das Malariakontrollprogramm sei ins Stocken geraten, weil die Mücken Resistenzen gegen das Insektizid bildeten. Bis zu seiner Emeritierung war Steiner Professor für Geografie und Humanökologie an der ETH Zürich. Vor kurzem hat er die erste deutschsprachige Carson-Biografie vorgelegt. Rachel Carson hatte in ihrem Leben immer wieder mit Widerständen zu kämpfen. Ihr Studium absolvierte sie trotz finanzieller Probleme. Noch dazu in den Naturwissenschaften, einem für Frauen damals schwierigen Feld. Danach arbeitete sie bei der US-Fischereibehörde und machte sich daneben als Wissenschaftsautorin einen Namen. Carson hatte drei Bücher über das Meeresleben veröffentlicht, bevor sie in «Der stumme Frühling» die Befunde einer vierjährigen Recherche präsentierte. Die unmittelbaren Wellen der Begeisterung und der Kritik, die das Buch auslöste, erlebte sie noch, die langfristigen Auswirkungen aber nicht mehr. Am 14. April 1964 starb Rachel Carson an den Folgen einer Krebserkrankung. Nun, 50 Jahre später, zeichnet Dieter Steiner das Leben von Carson sorgfältig nach. Dabei stützt er sich auf bereits zuvor in englischer Sprache erschienene Biografien. In einem ausführlichen Epilog führt er aus, wie aktuell Carsons Anliegen heute noch sind. Kritik an ihrer Person verschweigt Steiner nicht, in seinem einfühlsam geschriebenen Werk gibt er sich aber klar als einer ihrer Verehrer zu erkennen. ● Das amerikanische Buch John Wayne – Der Mensch hinter der Ikone Das amerikanische Buchgeschäft setzt auf grosse Bücher über grosse Persönlichkeiten. Aber nicht immer sind die zahlreichen Memoiren und Biografien auf dem Markt die Lektüre wert oder erzielen die erhofften grossen Umsätze. In John Wayne. The Life and Legend (Simon & Schuster, 658 Seiten) geht diese Formel glänzend auf. Der Filmexperte Scott Eyman findet mit seinem reich bebilderten Wälzer breite Beachtung. Als Rezensenten bieten die Medien Kenner wie den Autor und Regisseur Peter Bogdanovich auf. Der lobt Eyman in der «New York Times» für die unterhaltsame Aufbereitung einer enormen Fülle an Informationen über seinen Protagonisten und die amerikanische Filmindustrie. Doch diese Wahrnehmung reflektiert die Legende John Wayne. Eymans grösste Leistung liegt darin, dass er diese als Lebenswerk von Marion Robert Morrison beschreibt, der 1930 auf Rat des Regisseurs Raoul Walsh den Künstlernamen John Wayne annahm. 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014 GETTY IMAGES Wayne selbst war in vieler Hinsicht ein grosser Mann. Kaum ein Darsteller hat das amerikanische Kino und das Bild seiner Nation weltweit in so hohem Masse dominiert wie John Wayne. Der Hüne von 1,90 Metern wirkte in fünf Jahrzehnten an rund 160 Filmen mit und garantierte von 1949 bis 1974 volle Kinosäle. In den USA rangiert er auch 35 Jahre nach seinem Tod unter den beliebtesten Filmstars. 1907 in Iowa geboren, bleibt Wayne für seine Nation und den Rest der Welt ein Symbol Amerikas – und das im positiven wie negativen Sinn. Der Konservative gilt mal als grobschlächtiger Gewaltmensch, mal als unerschütterlicher Verteidiger von Recht und Ordnung. Aus dieser Gebrochenheit erklärt der Autor das Festhalten Waynes an starren, konservativen Prinzipien, das ihn bereits im Zweiten Weltkrieg zu einem überzeugten Gegner mutmasslicher und tatsächlicher Kommunisten in Hollywood werden liess. In seinen Rollen spielte der Literaturkenner und talentierte Schachspieler denn auch am liebsten starke, prinzipientreue Charaktere. Diese verteidigen zwar das Gesetz gegen Chaos und Bösewichte. Dennoch stehen Waynes Figuren in Klassikern wie «The Searchers» («Der Schwarze Falke») oder «The Man Who Shot Liberty Valance» ausserhalb der von ihnen geschützten Gemeinschaften. Dass Wayne in diesen Rollen so mühelos überzeugt, führt Eyman auf die Lernbereitschaft seines Protagonisten zurück. Als Wayne 1939 in «Stagecoach» («Ringo») endlich der Durchbruch gelang, hatte er seine Schauspielkunst auf eine ebenso schlichte wie effektive Mimik und Körpersprache reduziert, die er bis am Ende seiner Karriere kaum mehr verändern musste. John Wayne in «Rio Bravo» von Howard Hawks, 1959. Autor Scott Eyman (unten). Der hatte damals bereits ein halbes Jahrzehnt als Bühnenarbeiter und Kleindarsteller in Hollywood hinter sich, meist im Dienst des Regisseurs John Ford (1894–1973). Als Autor einer vielgelobten Ford-Biografie stellt Eyman das komplexe und merkwürdige Verhältnis der beiden Männer als VaterSohn-Beziehung dar, in der Wayne noch als Weltstar die Beleidigungen Fords wortlos hinnahm. Da sein eigener Vater zwar liebevoll, aber als Apotheker und Kleinunternehmer ein jämmerlicher Versager war, suchte Wayne die Nähe dominierender Männer, so Eyman. Entfaltet Eyman die Legende Wayne so als komplexes Konstrukt, zeigt er den Mann dahinter als sympathische Figur. Trotz Affären, etwa mit Marlene Dietrich, Frauen gegenüber eher schüchtern, pflegte Wayne neben Whiskey und Zigaretten – bis zu sechs Schachteln täglich – keine der in Hollywood üblichen Laster. Als Mitgründer der Produktionsgesellschaft Batjac war er ein integrer und fairer Geschäftsmann. So macht diese Biografie Lust auf den Schauspieler Wayne und sein grosses Œuvre – speziell dann, wenn die üppige Fülle an Fakten und Einsichten über den Mann und die Legende den Leser zu erschöpfen droht. Von Andreas Mink ● Agenda Indische Miniaturen Zauber des Akkuraten Agenda Mai 2014 Basel Mittwoch, 7. Mai, 19.30 Uhr Stefan Bachmann: Die Seltsamen. Lesung, Fr. 15.–. Kulturhaus Bider & Tanner, Aeschenvorstadt 2. Tel. 061 206 99 96. RAINER WOLFSBERGER / SAMMLUNG DANIELLE PORRET Dienstag, 13. Mai, 19 Uhr Martin Walker: Reiner Wein. Lesung, Fr. 15.–. Thalia, Freie Strasse 32. Reservation: Tel. 061 264 26 55. CHRISTOPH RUCKSTUHL Dienstag, 13. Mai, 20 Uhr Piet Klocke: Kann ich hier mal eine Sache zu Ende!? Lesung. Theater Fauteuil, Spalenberg 12. Reservation: Tel. 061 261 26 10. Bern Montag, 5. Mai, 19.30 Uhr Christina Frosio: Noch ist nicht Herbst. Lesung und Buchvernissage. Buchhandlung Sinwel, Lorrainestrasse 10. Reservation: Tel. 031 332 52 05. einem Katalog, der die Exponate in bester Bildqualität zeigt. Das Spektrum der Themen reicht von der Tigerjagd bis zu Vishnu auf einer Lotusblume, von der Abendtoilette einer noblen Dame über Prozessionen bis zu Fischen und Vögeln. Herrlich ist die Farbenpracht, verblüffend die Exaktheit der Zeichnung. Manfred Papst A Secret Garden. Indian Paintings from the Porret Collection. Scheidegger & Spiess, Zürich 2014. 216 Seiten, Fr. 49.90. Bestseller April 2014 Belletristik Sachbuch 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Martin Suter: Allmen und die verschwundene Maria. Diogenes. 224 Seiten, Fr. 27.90. Alex Capus: Mein Nachbar Urs. Hanser. 128 Seiten, Fr. 19.90. Lukas Bärfuss: Koala. Wallstein. 184 Seiten, Fr. 28.90. Frank Schätzing: Breaking News. Kiepenheuer & Witsch. 976 Seiten, Fr. 38.90. Jonas Jonasson: Die Analphabetin, die rechnen konnte. Carl′s Books. 416 Seiten, Fr. 29.90. Urs Widmer: Reise an den Rand des Universums. Diogenes. 352 Seiten, Fr. 32.90. John Grisham: Die Erbin. Heyne. 704 Seiten, Fr. 36.90. Simon Beckett: Der Hof. Wunderlich. 464 Seiten, Fr. 29.90. Graeme Simsion: Das Rosie-Projekt. Fischer Krüger. 352 Seiten, Fr. 27.50. Stefan Bachmann: Die Seltsamen. Diogenes. 368 Seiten, Fr. 25.90. Wolfgang Koydl: Die Besserkönner. Orell Füssli. 224 Seiten, Fr. 19.90. Rhonda Byrne: The Secret – Das Praxisbuch für jeden Tag. Arkana. 384 Seiten, Fr. 27.90. Giulia Enders: Darm mit Charme. Ullstein. 288 Seiten, Fr. 27.90. Michelle Halbheer: Platzspitzbaby. Wörterseh. 208 Seiten, Fr. 39.90. Roger Schawinski: Wer bin ich? Kein & Aber. 415 Seiten, Fr. 39.90. Sarah Fasolin: Gartenreiseführer Schweiz. Callwey. 416 Seiten, Fr. 29.90. Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 26. Aufl. Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 39.90. Ulrich Kühne-Hellmessen: WM 2014 – Brasilien, wir kommen! Weltbild. 128 Seiten, Fr. 27.90. Guido Maria Kretschmer: Anziehungskraft. Edel. 240 Seiten, Fr. 27.90. Wolfgang Prosinger: In Rente. Rowohlt. 240 Seiten, Fr. 21.–. Erhebung Media Control® AG im Auftrag des SBVV; 15.4.2014. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Mittwoch, 21. Mai, 19.30 Uhr Urs Mannhart: Bergsteigen im Flachland. Lesung. Kaffee Bar Wartsaal, Lorrainestrasse 15. Reservation: Tel. 031 331 02 28. Zürich Mittwoch, 7. Mai, 19.30 Uhr Ilma Rakusa: Einsamkeit mit rollendem ‹r›. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62. Info: Tel. 044 254 50 00. Freitag, 9. Mai, 20 Uhr Amélie Nothomb: Blaubart. Lesung. Fr. 28.–. Kaufleuten, Pelikanplatz 1. Tel. 044 225 33 77. Samstag, 10. Mai, 14 Uhr Sibylle Baumann: Die Sprache der Welt. Musikalische Begleitung: Rahel Schweizer, Harfe. Familienanlass (ab 5 Jahren), Fr. 12.–. Palmenhaus, Alter Botanischer Garten, Pelikanstrasse 40. Reservation: Tel. 077 457 45 30. Dienstag, 20. Mai, 19.30 Uhr Margriet de Moor: Mélodie d′amour. Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten (s. oben). MARIA NEEFJES Der nackte Asket ist in tiefen Schlaf versunken. Er lässt sich nicht stören vom Prinzen, der ihm die Aufwartung macht. Das berückende, vermutlich im späten 18. Jahrhundert in Jaipur entstandene Bild, das nur 21 auf 31 Zentimeter misst, gehört zur berühmten Porret Collection, einer wunderbaren Sammlung indischer Miniaturen aus dem 13. bis 19. Jahrhundert. Derzeit sind die Bilder im Zürcher Museum Rietberg zu sehen; bis zum 29. Juni dauert die Ausstellung. Sie wird begleitet von Samstag, 10. Mai, 18.30 Uhr Daniela Schenk: Brennesseljahre. Buchvernissage und Lesung. Stauffacher Buchhandlungen, Neuengasse 25/37. Reservation: Tel. 031 313 63 63. Donnerstag, 22. Mai, 19.30 Uhr Marie NDiaye: Ladivine. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62. Info: Tel. 044 254 50 00. Bücher am Sonntag Nr.5 erscheint am 25.5.2014 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Damit Ihre Neugierde gestillt wird: Wir unterstützen gute Literatur. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyNLC0MAYA9e-6NQ8AAAA=</wm> <wm>10CFXKIQ7DQAwEwBf5tOuzHV8Mo7CooAo_EhX3_6hqWMCwOY7yhtu2v879XQTMRYmRvXx40yUqVRtsKRhDQVtpcEbPRxdwREef_yIwYUyqmJjPoWlMbd_r8wMqkXArdAAAAA==</wm> Mehr unter www.zkb.ch/sponsoring Mit einer Karte der Zürcher Kantonalbank erhalten Sie eine Reduktion von 10.– CHF für alle «Kaufleuten Literatur»-Veranstaltungen.