Shakespeare DasRätselum dengrossen Dramatiker 12

Transcrição

Shakespeare DasRätselum dengrossen Dramatiker 12
Nr. 4 | 27. April 2014
NZZ am Sonntag
Shakespeare
Das Rätsel um
den grossen
Dramatiker
12
Liebe &Musik
Margriet de
Moor erzählt
von Amouren
7
Verena Stefan
Mein
Grossvater in
der Waldau
10
Aussenpolitik
Paul Widmer
über Schweizer
Diplomatie
18
Bücher
am Sonntag
Mystiker aller Zeiten
betonen, dass sich ihre
Erkenntnisse nicht in
Worte fassen lassen, und
füllen so Bibliotheken.
<wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyNDUzNgMAvnWmmg8AAAA=</wm>
Aus «Vierzig Wege zur Erleuchtung», NZZ am Sonntag
<wm>10CFXKqw4CQRBE0S_qSVU_Z2lJ1m0QBD-GoPl_xYLjJted4-gY-H3db4_93gQ8RBlp2bHF0MqeqgNeDWcp6Beenab45wXc0mDrawQurEUKITaXzRzv5-sDIsW4e3IAAAA=</wm>
Mystiker heissen sie alle. Die einen suchen Gott,
die andern das Nichts, die einen den Rausch,
die andern die Askese. Doch eins verbindet sie:
die Sehnsucht nach dem Absoluten.
Von Manfred Papst
10 Ausgaben für nur Fr. 25.–
SMS mit Keyword «NZZ26»,
Namen und Adresse an
Nr. 880 (20 Rp./SMS)
Lesen
Sie
weiter
Der Artikel ist gratis!
nzz.as/2826
Inhalt
Shakespeare oder
Wie es
euch gefällt
William
Shakespeare
(Seite 12).
Illustration von
André Carrilho
Der Wälzer ist 9,5 Zentimeter dick, zählt 1100 Seiten und wiegt 1,5 Kilo.
Erworben habe ich ihn als Jugendlicher vor knapp 50 Jahren in einem
Londoner Buchladen. «The Complete Works of William Shakespeare», eine
Ausgabe zum 400. Geburtstag, machte Lust, das eine oder andere Stück in
der Originalsprache zu lesen. Verlorene Liebesmüh! Wenn ich heute den
vergilbten Band in die Hand nehme, packt mich erneut das Verlangen, in
die Dramen um Gewalt, Liebe und Kampf einzutauchen. Menschliche
Laster und Leidenschaften in allen Ausprägungen – was ihr wollt. Sie
mögen den englischen Dramatiker nicht? Finden gar: Viel Lärm um nichts?
Dann lesen Sie den Essay von Manfred Koch. Er zeigt, was am Rätsel
Shakespeare noch heute fasziniert (Seite 12). Die ganze Welt ist eine Bühne –
und jeder spielt dabei in vielen Rollen.
Von W. S.s riesigem Einfallsreichtum schimmert immer wieder ein Stück
bei unserem Mitarbeiter Charles Lewinsky durch. Beispiel gefällig? Seine
Kolumne über die suchtkranken Autoren (S. 15). Daran hätte das Publikum
im Londoner Globe Theatre sicherlich Spass gehabt.
Viele von uns verfolgt der alte William mit seinen Bildern und Szenen ja bis
in die Sprache und Redewendungen. Oder beim Versuch, in einen Text wie
diesen mindestens ein halbes Dutzend seiner Stücktitel und Zitate
einzubauen. Ob’s gelungen ist, mögen die Shakespeare-Kenner unter
Ihnen beurteilen. Ende gut, alles gut. Urs Rauber
Belletristik
Paul Auster: Winterjournal
Daniel Pennac: Der Körper meines Lebens
Von Simone von Büren
6 Jürg Schubiger: Nicht schwindelfrei
Von Martin Zingg
Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling
Von Charles Linsmayer
7 Margriet de Moor: Mélodie d’amour
Von Judith Kuckart
8 Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote
Buchstabe
Von Stefana Sabin
9 Hans-Ulrich Treichel: Frühe Störung
Von Jürg Scheuzger
Catherine Leutenegger: Kodak City
Von Gerhard Mack
10 Verena Stefan: Die Befragung der Zeit
Von Sandra Leis
11 E-Krimi des Monats
Peter Zeindler: Die weisse Madonna
Von Christine Brand
Kurzkritiken Belletristik
11 Michael Herzig: Frauen hassen
Von Regula Freuler
Hjalmar Bergman: Skandal in Wadköping
Von Manfred Papst
Durs Grünbein: Cyrano oder Die Rückkehr vom
Mond
Von Manfred Papst
Martina Clavadetscher: Sammler
Von Regula Freuler
Essay
12 Auf der Suche nach Shakespeare
William Shakespeare ist biografisch kaum
zu fassen. Manfred Koch nähert sich dem
grossen Dramatiker, der vor 450 Jahren
geboren wurde
ISOLDE OHLBAUM / LAIF
4
Die Berner Autorin Verena Stefan hat die Geschichte ihres
Grossvaters literarisch aufgearbeitet (S. 10).
Kolumne
15 Charles Lewinsky
Das Zitat von Jon Fosse
Kurzkritiken Sachbuch
15 Jean-Michel Wissmer: Heidi
Von Kathrin Meier-Rust
Friedhof Forum Zürich: Das Eigene
Von Urs Rauber
Ioannis Zelepos: Kleine Geschichte Griechenlands
Von Geneviève Lüscher
Pamela Pabst, Shirley M. Seul: Ich sehe das, was
ihr nicht seht
Von Kathrin Meier-Rust
Sachbuch
16 George Soros im Gespräch mit Gregor Peter
Schmitz: Wetten auf Europa
Roman Herzog: Europa neu erfinden
Von Joachim Güntner
18 Paul Widmer: Diplomatie
Von Michael Ambühl
19 Michael Jürgs: Sklavenmarkt Europa
Von Berthold Merkle
Yvette Estermann: Erfrischend anders
Von Urs Rauber
20 Annerose Sieck: Weiberwirtschaften
Von Geneviève Lüscher
Artur Domoslawski: Ryszard Kapuscinski
Von Kathrin Meier-Rust
21 Frank Dikötter: Maos grosser Hunger
Felix Lee: Macht und Moderne
Von Harro von Senger
22 Perry Anderson: Die indische Ideologie
Von Bernhard Imhasly
23 SabineHenze-Döhring,SieghartDöhring:
GiacomoMeyerbeer
Von Corinne Holtz
Yoko Kawaguchi: Japanische Zen-Gärten
Sarah Fasolin
24 Bartholomäus Grill: Um uns die Toten
Von Klara Obermüller
Reiner Klingholz: Sklaven des Wachstums
Von Reinhard Meier
25 Michael Hampe: Die Lehren der Philosophie
Von Kirsten Voigt
Susanne Dieminger, Roland Jeanneret: Piccard
Von Urs Rauber
26 Dieter Steiner: Rachel Carson
Von Martin Amrein
Das amerikanische Buch
Scott Eyman: John Wayne. The Life and Legend
Von Andreas Mink
Agenda
27 A Secret Garden. Indian Paintings from the
Porret Collection
Von Manfred Papst
Bestseller April 2014
Belletristik und Sachbuch
Agenda Mai 2014
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura., Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller,
Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG
Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected]
27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Romane Daniel Pennac schreibt über die Empfindungen und Veränderungen
seines eigenen Leibes
«Daswarmein
Körper,
abernichtich»
Paul Auster: Winterjournal. Aus dem
Englischen von Werner Schmitz.
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2013.
256 Seiten, Fr. 31.90, E-Book 21.–.
Daniel Pennac: Der Körper meines Lebens.
Aus dem Französischen von Eveline
Passet. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014.
448 Seiten, Fr. 32.90, E-Book 24.–.
Von Simone von Büren
In seinem Essay «L’Adieu au corps»
(Métailié 1999) argumentiert der französische Soziologe und Anthropologe
David Le Breton, der Körper werde zunehmend als Entwurf behandelt, den
man nach Belieben umgestalten könne.
Und der Autor Daniel Pennac schreibt in
seinem neuen Roman, der Körper werde
durch die Verfahren der modernen Medizin umgekehrt proportional zu seiner
Zurschaustellung zum Verschwinden gebracht. Der Körper als zu perfektionierendes Objekt der Schönheitschirurgie
also, als manipulierbares Instrument der
Identitätsgestaltung, als endlos sezierter
Gegenstand der modernen Medizin, als
frei wählbares Accessoire der OnlineSelbstdarstellung.
Im Gegensatz zu diesen Phänomenen
stehen zwei neue literarische Werke, die
den Körper in seiner Sinnlichkeit und
Verletzlichkeit ins Zentrum stellen. Bereits viel besprochen wurde Paul Austers
Memoiren «Winterjournal», ein fragmentiertes Selbstgespräch, in dem der
64-jährige Autor zu ergründen versucht,
«wie das für dich war, in diesem Körper
zu leben – vom ersten Tag, an den du
dich erinnern kannst, bis heute». Auster
betrachtet sich und seinen Körper in verschiedenen Räumen, Lebensphasen und
Zuständen; versehrt, panisch, erregt,
rauchend, alternd. Er gibt uns Inventu4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014
ren von Narben und Verletzungen, Listen
von Geschlechtskrankheiten und Lieblingsgerichten und einen Katalog aller
Wohnungen, in denen er gelebt hat.
Austers «Memoir», dessen psychologisches Gegenstück «Report from the Interior» soeben auf Englisch erschienen ist,
passt zur Selbst-Mythologisierung des
New Yorker Autors in insgesamt sechs
Memoiren und den autofiktiven Vexierspielen in seinen Romanen. Leider ruht
sich Paul Auster auf diesem Mythos zu
sehr aus.
Vieles in «Winterjournal» wirkt inhaltlich und formal unausgegoren. Viele der
erwähnten Körpererfahrungen sind nur
Anlass für Anekdoten, bleiben austauschbar und in der blossen Auflistung
allgemein: «Niesen und lachen, gähnen
und weinen, rülpsen und husten, dich
am Ohr kratzen, dir die Augen reiben, die
Nase putzen, dich räuspern, an den Lippen knabbern, mit der Zunge an den unteren Schneidezähne entlangstreichen,
frösteln, furzen.»
Vom Krimi zum Tagebuch
Wie man all diese körperlichen Erfahrungen nicht nur inventarisieren, sondern
ergründen, sinnlich beschreiben und zutiefst nachvollziehbar machen kann,
zeigt Daniel Pennac in seinem neuen
Roman «Der Körper meines Lebens». Der
mit seiner Krimireihe um Benjamin
Malaussène bekannt gewordene Autor
erzählt darin das Leben eines Mannes als
die Geschichte seines Körpers. Vorbemerkungen etablieren den Text als postum publiziertes Journal eines 1924 geborenen, bekannten, im Roman jedoch
anonym bleibenden Franzosen. Dieser
eröffnet das Journal 1936 als schwächlicher Zwölfjähriger mit dem Vorsatz, nie
mehr Angst zu haben, und führt es konsequent, wenn auch mit mehrjährigen
Lücken, weiter bis kurz vor seinem Tod
im Alter von 87 Jahren.
Während Auster bilanzierend zurückblickt, schreibt Pennacs Protagonist in
der Gegenwart des jeweiligen Alters.
Dabei geht er konsequent vom Körper
aus – von seinem eigenen und dem anderer Menschen. «Der Blickwinkel vom
Körper her ist ein ganz anderer», erklärt
er seiner Tochter, wie um Auslassungen
und Gewichtungen zu entschuldigen.
Tatsächlich stellt das Journal eine ungewöhnliche Autobiografie dar. Das Datum,
das neben dem jeweiligen Alter vor
jedem Eintrag steht, verortet die individuelle Biografie zwar in der Geschichte.
Aber man erfährt kaum etwas über den
Zweiten Weltkrieg oder die 68er in Paris
und noch weniger über Ausbildung,
Beruf oder Einstellungen des Journalschreibers. Am ehesten ergibt sich ein
Bild von seinen Beziehungen zu den
Menschen, aus deren Körper er hervorging, mit deren Körper er sich vereinigte,
deren Körper er hervorbrachte: die gefühlskalte Mutter, der «immer weniger
werdende» depressive Vater, die kraftstrotzende Bedienstete Violette, Frau,
Kinder, Enkel und Urenkel.
Die schiere Vielfalt von Erfahrungen
und Empfindungen, die das Journal festhält, ist imposant: Es geht um Mandelentzündung, Onanieren, Angespucktwerden und die Erinnerung an die väterliche Hand auf dem Kopf. Um die Phänomene des Niesens und Gähnens, um das
Vergnügen des Einschlafens und Rasierens, um den bestialischen Gestank von
perforierten Nasennebenhöhlen, eine
schmerzhafte Polypen-Extraktion und
das «spontane Zubruchgehen» von Zähnen, Nägeln und Oberschenkelknochen.
Minuziös hält der Verfasser fest, wie er
absichtlich in Ohnmacht fällt, sich beim
Einschlafen beobachtet und beim ersten
STEPHEN SMITH / STONE / GETTY IMAGES
Der Körper
«als Sack voller
Überraschungen»: Der
französische Autor
Daniel Pennac liefert
ein fiktives Tagebuch
der besondern Art.
Mal Sex versagt. Er beschreibt die Überraschung der ersten Ejakulation ebenso
minuziös wie den eingebildeten Lauchfaden zwischen den Zähnen. Er denkt
nach über Schmerz, das Versiegen von
Begierde und die Sehnsucht nach der
physischen Gegenwart seiner Toten.
Pennacs Text ist gleichzeitig spezifischer und universeller als jener Austers.
In der aufmerksamen Wahrnehmung des
Körpers «als Sack voller Überraschungen
und Generator von Ausscheidungen» eröffnet sich dem Leser etwas AllgemeinMenschliches. Als älterer Mann beobachtet der Journalschreiber, wie eine Tennisspielerin im Jardin de Luxembourg
verstohlen «den Geruch unter ihrer Achselhöhle aufpickt», und erlebt dabei eine
«dieser wunderbaren Empathiesekunden, die uns zu Angehörigen ein und derselben Gattung machen». Dieselbe tröstliche Erfahrung des Verbundenseins
durch die gemeinsame Kondition der
Körperlichkeit
ermöglicht
Pennacs
Roman, vom ersten panischen Eintrag
bis zu seinem erwartungsgemäss bitteren Ende.
Man kann sich den 450 Seiten
Körpernotizen über Jahreszahlen, Alter
oder das Schlagwortverzeichnis mit Einträgen wie «Katheter», «Fiasko, sexuelles» oder «Anfall von Kindheit» nähern.
Man kann sie aber auch chronologisch
lesen, was beeindruckend die Kontinuität des Ichs bei sich veränderndem Körper veranschaulicht, die Kontinuität zwischen dem Kindheits-Ich, das auch im
80-Jährigen noch hervorbricht, und dem
Greisen-Ich, das sein Alter in dem alternden Körper seiner Kinder erkennt.
Zutiefst fremd
Die vielen humorvollen Passagen – etwa
Violettes Methode der «akustischen Anästhesie», die den Jungen durch plötzliches Schreien vom Schmerz ablenkt,
oder das «Entjungferungs-Gänsespiel»,
das die Teenager entwickeln – täuschen
nicht über eine grundlegende Not hinweg: Die schmerzliche Distanz zwischen
Geist und Körper, die das Journal zu
überbrücken versucht und die es durch
den strengen Fokus auf das Körperliche
gleichzeitig aufrechterhält. Dass dem
Journalschreiber sein eigener Körper
«aufs innigste fremd» ist, zeigt sich unter
anderem in seiner Angst vor Spiegeln, in
denen er sich stets mit Befremden betrachtet: «Das war mein Körper, aber
nicht ich. Ich sagte: Du bist ich? Du, das
bin ich? Ich, das bist du? Das sind wir?»
Da klingt Paul Austers Zweitperson-Erzählperspektive an, die Bemühung um
einen Dialog zwischen Ich und Du, Ich
und Körper.
Es ist diese Distanz dem Körperlichen
gegenüber, die die bewusste Annäherung in der Form eines Journals erst erfordert. Diese Annäherung lässt in beiden Büchern immer dann nach, wenn
der Körper funktioniert, und sie intensiviert sich, wenn physische Abläufe gestört sind, bei extremem Schmerz, intensiver Lust und den bei beiden Autoren
zentralen Angstzuständen. In den Momenten, die Pennacs Journalschreiber
«Überraschungen» nennt, den Momenten, in denen das Ich aufhört, den Körper
zu analysieren und zu instrumentalisieren, und kurz, plötzlich, wie in der frühesten Kindheit, nur Körper ist. ●
27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Roman Sensible Erzählung über einen Mann, der sich
unmerklich selbst abhandenkommt
Jürg Schubiger: Nicht schwindelfrei.
Haymon, Innsbruck 2014. 112 Seiten,
Fr. 26.90, E-Book 11.90.
Von Martin Zingg
Wie es wirklich um ihn steht, kann Paul
nicht sagen, er weiss es nicht. Unabweisbar ist jedoch die Vermutung, dass
mit ihm irgendetwas nicht stimmt: «Er
sei krank, hiess es, oder er sei krank gewesen. Ihm selbst war aber gar nicht so.
Für den Vorgang, den die bekümmerten
Menschen um ihn Genesung nannten,
hatte er kein genaues Wort. Er sagte Besinnung dazu oder Auffrischung, Aufforstung.»
Paul ist, wie sich allmählich herausstellt, aus seinem bisherigen Leben
herausgekippt. Er geht nicht mehr zur
Arbeit, er kann gar nicht, irgendetwas ist
dazwischengekommen. Er tappt durch
seinen Alltag, den er ohne Hilfe seiner
Frau Marion wohl kaum bewältigen
könnte, und muss erleben, wie sein Gedächtnis ihn immer wieder im Stich lässt.
Dafür erinnert er sich sehr plötzlich und
überraschend an einiges, was er unmöglich so genau wissen kann, wie es ihm
nun mit einem Mal vor Augen steht.
In seinem Kopf hat sich etwas verschoben – wir erfahren nicht, was. Paul
weiss es ebenso wenig, und manchmal
weiss er auch nicht mehr so genau, wie
man sich benimmt. Das kann ihn dann
durchaus charmant machen, für andere
jedenfalls, für Aussenstehende, ob er
davon etwas merkt, bleibt allerdings
offen. Er sieht die Welt in nur ihm er-
kennbaren Zusammenhängen. Immerhin wird er, der vieles und viele vergisst,
seinerseits nicht vergessen. Sein Bruder
Theo taucht gelegentlich bei ihm auf,
auch sein Berufskollege Steff – und ganz
allmählich ergibt sich aus vielen Facetten eine Vorstellung von dem Leben, das
Paul einmal geführt haben muss und aus
dem er nun sachte und unaufhaltsam in
ein anderes Leben gerutscht ist.
Von diesem anderen Leben erzählt
Jürg Schubigers jüngster Roman «Nicht
schwindelfrei». Schubiger ist ein Virtuose der kleinen Verschiebung, des fast unmerklichen Übergangs, das hat er schon
in seinen Romanen «Haller und Helen»
und «Kleine Liebe» auf wunderbare
Weise vorgeführt. In seinem neuen Buch
schickt er seinen Protagonisten Paul von
Matt auf eine prekäre Reise ins Ungewisse. Was ihn dabei erwartet, kann Paul
auch darum nicht wissen, weil sich sein
biografisches Gepäck buchstäblich aufgelöst hat. Er hat kein Erinnerungsvermögen mehr: Ihm steht nun alles offen,
alles ist denkbar – und nichts davon wäre
zwingend.
Paul unternimmt ausgiebige Spaziergänge in der freien Natur. Und immer
wieder besucht er das Kunstmuseum der
Stadt, wo er irgendwann eine Teilzeitanstellung als Aufseher finden wird. Was er
in den Museumsräumen sieht, fasziniert
ihn, weil die «Jahrhunderte aufbewahrt»
werden: «Vergangenes war hier betretbar.» Zu seinen Lieblingsstücken zählen
ein Bild von Robert Zünd, «Eichenwald»,
und das «Bildnis eines jungen Mannes»
von Hans Memling. Diese Bilder werden,
wenn er sie betrachtet, lebendig, sie stos-
ALAMY
WennsichimKopf
etwasverschiebt
Im Museum stösst
der derangierte
Protagonist von
Jürg Schubigers
neuem Roman auf
Erinnerungen.
sen kleine Geschichten an, die von Erinnerungen kaum zu unterscheiden sind:
«Erinnerungen kamen so mühelos von
irgendwoher, wie sie einen wieder verliessen.» Dabei erweist sich das Museum
als verlässlicher, stabiler Ort. Das holländische Haus mit dem Rosenspalier – ein
anderes Bild, das er mag – ist jederzeit
dort anzutreffen, wo es hingehört.
Mit «Nicht schwindelfrei» ist Jürg
Schubiger ein höchst einnehmendes
Werk gelungen. Erzählt wird das Geschehen in einer Sprache, die geschmeidig
und gespannt bleibt und bis zuletzt alles
elegant in Schwebe hält. Entscheidend
ist der Kunstgriff des Erzählers: Er hält
seinen Protagonisten frei von psychologischen Erklärungen, er lässt ihn scheinbar voraussetzungslos agieren und
schafft so Raum für unzählige kleine
Überraschungen. Zum grossen Lesevergnügen trägt damit auch all das bei, was
dieser Roman kunstvoll verschweigt. ●
Roman Gertrud Leutenegger legt einen sinnlich-farbenfrohen Frühlingstext vor
Erinnerungen an eine Schwyzer Kindheit
Gertrud Leutenegger: Panischer Frühling.
Suhrkamp, Berlin 2014. 218 Seiten,
Fr. 31.90, E-Book 21.–.
Von Charles Linsmayer
«Allem fern sein, um allem nah zu sein.
Und beides, Ferne und Nähe, noch lange
nicht durchdringend genug.» Die Worte
hätten auch in «Vorabend» stehen können, Gertrud Leuteneggers erstem Buch,
in dem sie 1975 in nächtlichen Wanderungen die Nähe Zürichs mit der Ferne
ihrer andern Lebensschauplätze in Beziehung setzte und vorschützte: «Mein
Thema ist, dass ich keines habe.» Eines,
wenn nicht das zentrale Thema ihres
Schreibens war von je her das Erzählen
als solches: das sich gegenseitige InsBild-Setzen, wie es die Verliebten in «Ni6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014
nive» oder in «Komm ins Schiff» tun. Und
davon ist auch der neue Roman Leuteneggers wieder geprägt, in dem sich im
Zeichen eines panischen, durch den isländischen Aschenregen erhitzten Frühlings eine Erzählerin aufmacht, um in
nächtlichen Gängen die Nähe der Stadt
London mit der Ferne einer Geschichtenwelt zu verbinden, die den eigenen Erinnerungen an die Schwyzer Kindheit und
an das Waldzimmer im Sommerhaus
eines priesterlichen Onkels die Erzählungen eines jungen Londoner Zeitungsverkäufers gegenüberstellt.
Ob erfunden oder nicht, avanciert dieser Jonathan, dessen eine Gesichtshälfte
grässlich entstellt ist, mit seinen Geschichten aus Newlyn und Penzance, die
dank den Erinnerungen seiner Grossmutter weit vor seine Zeit zurückreichen
und auch die Bombennächte des Zweiten
Weltkriegs evozieren, so unabdingbar
zum Mitfabulierer, dass es heisst: «Solange wir redeten, ertranken wir nicht.»
Kaum je hat Gertrud Leutenegger so
sinnlich-farbenfroh erzählt wie in diesem Londoner Frühlingsrausch mit dem
blauen Schaum der Glockenblumen unweit der pulsierenden Weltstadt. Wunderbar, wie das Schwyzer Sommerhaus
allmählich mit dem Haus von Jonathans
Grossmutter zum Doppelhaus der Erinnerung zusammenfliesst und wie die Begegnung zwischen den ungleichen Partnern bei aller Vitalität doch zu einer jener
Parabeln im Banne von Liebe und Tod
mutiert, wie Gertrud Leutenegger sie
immer wieder erzählt hat und wie sie am
Ende im weissen Fahrrad, das Jonathan
zurücklässt, ebenso ihr finales Symbol
findet wie seinerzeit «Komm ins Schiff»
im weissen Totenschiff. ●
Roman Die Niederländerin Margriet de Moor verwebt auf musikalische Art
vier Liebesgeschichten
AmouröseVerstrickungen
Margriet de Moor: Mélodie d’amour.
Aus dem Niederländischen von Helga
van Beuningen. Hanser, München 2014.
384 Seiten, Fr. 30.90, E-Book 24.90.
«Mélodie d’amour», der neue Roman der
niederländischen Schriftstellerin Margriet de Moor, die einmal Klavier und Gesang, später auch Kunstgeschichte und
Archäologie studiert hat, erzählt von der
Liebe. Besser, von Lieben, die gross sind,
aber nicht grösser als der Tod. Das hat
etwas Ernüchterndes, das hat etwas Erlösendes. Das hat seine eigene Grösse.
Die vier Geschichten sind auf musikalische Art miteinander verwoben. Motive
kehren wieder, ergänzen, widersprechen
einander und überraschen den Leser.
In der ersten verzeiht Atie ihrem Mann
Gustaaf die Beziehung zur Untermieterin
Marina nicht, auch wenn die beiden
Frauen selber miteinander befreundet
sind. Aber Freundschaft ist die zerbrechlichste Form von Liebe, sagt Margriet de
Moor. Atie wird krank. Gustaaf zieht mit
Marina aus, hat neben seinen vier Söhnen ein fünftes Kind mit ihr und weiss
doch, dass er noch immer Atie liebt, so
wie sie ihn. Denn wie sonst hätte es dazu
kommen können, dass die schwerkranke
Atie ihren Gustaaf, den immer Treulosen
und immer Hilfsbereiten, als er sie auf
dem Weg zur Toilette auf den Rücken
nimmt, wie ein Raubtier in den Nacken
beisst, wie eine Beute reisst. Der Anfall
von Wahnsinn erleichtert Atie so sehr,
dass sie, Gustaaf noch immer im blutenden Nacken sitzend, nicht bis zum Klo
wartet, bis sie Wasser lässt.
Fragile Freundschaft
Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand anderer als Margriet de Moor diese
Szene so anmutig direkt, so intim und
diskret zugleich hätte beschreiben können. Als Atie nach langer schwerer
Krankheit stirbt, tragen ihre vier Söhne,
unter ihnen der jüngste, Luuk, an einem
Dienstag, dem 10. November 1970, den
Sarg mit der Mutter in die Amsterdamer
Regennacht hinaus, damit Gustaaf von
seiner Liebe Abschied nehmen kann.
Denn betreten darf er Aties Haus nicht
mehr, und das Verbot gilt über den Tod
hinaus. Gustaaf ist mit dem Fahrrad und
mit allen seinen Erinnerungen gekommen. Als der Regen aufhört, weiss er,
dass Liebe sich nicht herunterdrehen
lässt wie Gas auf Sparflamme.
Die nächste Geschichte handelt von
Luuk, dem jüngsten Sohn von Atie und
Gustaaf. Verheiratet mit Myrte auf ewig,
lernt er in einem Café Cindy kennen, die
ihn vom ersten Blick an liebt, bis die Vernunft verbrennt. Cindy, dreiundvierzig,
die Lehrerin, die sich bald als eine Stalkerin in dieser Affäre entpuppt, wächst am
Anfang der Beziehung mit dem grossen,
schwerfälligen Mann, den ich mir wie
ALLARD DE WITTE / HOLLANDSE HOOGTE / IMAGO
Von Judith Kuckart
Die Schriftstellerin
Margriet de Moor hat
früher Musik studiert.
Dieses Wissen flicht
sie in ihren neuen
Roman ein. Hier am
Klavier, zu Hause in
Haarlem (NL) 2007.
einen grossen, arglosen, sanftfarbenen
Hund vorstelle, über sich hinaus. Sie
wird witzig, erfindungsreich, inszeniert
zufällige Begegnungen mit Luuk. Es ist
Winter 1987 in Amsterdam. Luuk geht
auf eine Geschäftsreise und ruft Cindy
nicht wie versprochen an. Ab da beginnt
die Deformation Cindys, der sie selber
erschrocken zuschaut. Am Ende untröstlich geworden, beisst sie nicht zu wie
Atie, sondern wird anders zur Furie. An
einem klaren Tag will Cindy mit einem
Babyrevolver in einem Bus auf Luuk und
seine Neue geschossen und wenigstens
das Herz getroffen haben.
Von Eifersucht geplagt
In der dritten Geschichte steht die Neue
von Luuk, Roselynde, im Zentrum. Es
ist eine Affäre voller Harmonie, denn
Roselynde, die einmal ihren Bruder liebte, hat mit jener ersten Leidenschaft das
Schlimmste hinter sich. Sie ist am 15. November 1942 bei Nymwegen geboren, als
ein liebes Kind. Dann hat sie sich als Dämonin entpuppt. An einem Junimorgen
1957 hat sie bei den Wäldern südlich von
Nymwegen ein anderes Mädchen, das ihr
selber ein wenig, dem Bruder Rogier aber
so ganz das Herz stahl, im Spiel unter den
Zug getrieben. Der Bruder verwindet das
Unglück nicht. So hat Roselynde mit
ihrer Eifersucht auch den geliebten Bruder in den Tod getrieben.
Seit jenem Tag im Juni des Jahres 1957
wartet er nur noch auf die Erlaubnis zu
sterben. Bis es so weit ist, liest er manisch,
meist bei offnem Fenster und manchmal
mit der Schwester neben sich im Bett.
Rosealynde erzählt Luuk im Juni 1992
diese Geschichte von Liebe und Schuld,
damit die Erinnerungslast verschwindet,
verschwindet wie eine Faust, wenn die
Hand sich öffnet. Am Ende ihres Geständnisses taucht auch die Szene mit
Cindy im Bus wieder auf. Aber anders.
Eine Frau, die Roselynde nicht kennt,
kramt in der Handtasche und schaut
dabei Luuk und sie an, als wolle sie die
beiden etwas fragen. Dann verdreht die
Frau die Augen, bricht zusammen. «Du
trägst schöne Schuhe», sagt sie zu Roselynde, als sie nach der Ohnmacht an
Luuks hilfsbereitem wie treulosem Arm
an der nächsten Station aussteigt.
Schliesslich Geschichte Nummer vier:
Luuk hat eine zauberhafte Mutter, mindestens zwei Geliebte und eine Ehefrau
Myrte, die ihren freundlichen Blick nicht
gern auf die Augen eines anderen Menschen fokussiert. Myrte weiss von Luuks
Affären, aber schläft nicht ungern allein.
Denn sie hat lange vor Luuk den Vater
ihrer Reiterfreundin so leidenschaftlich
geliebt, dass alles, was danach kommt,
nur noch Beziehung sein kann. Jetzt sind
die ehemaligen Freundinnen fast um ein
halbes Jahrhundert älter, reisen durch
nördliches Licht in eine Landschaft mit
schönen Pferden hinein. Die Momente
der Erinnerung flechten sich geschmeidig und mit gekonnter Rhythmik in dieses Roadmovie ein. Myrte, mit einem
Glas Bier oder Wein in der Hand, hat
längst begriffen, dass man Geheimnisse
akzeptieren muss. Auch jenes letzte,
grösste, den Tod. «Das Wie, meine Lieben, ist meist sehr viel relevanter als das
Warum. Es ist auch menschlicher», sagt
Margriet de Moor. ●
27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Klassiker Der erste grosse Roman der nordamerikanischen Literatur: Nathaniel Hawthornes
«Der scharlachrote Buchstabe» in neuer Übersetzung
LabyrinthdesElends
Von Stefana Sabin
Immer wieder hat Nathaniel Hawthorne
in Novellen und Erzählungen puritanische Strenge und instinkthafte Lebenslust einander gegenübergestellt und eine
effektvolle psychologische Spannung
aufgebaut, indem er den inneren Konflikt zwischen Selbstgerechtigkeit und
Selbstzweifel zum zentralen Handlungsmoment machte – so auch in jenem
Roman, seinem ersten, der 1850 erschien
und ihn fast sofort zum amerikanischen
Klassiker machte: «Der scharlachrote
Buchstabe».
Darin erzählt Hawthorne die Geschichte von Hester Prynne, die während
der langen Abwesenheit ihres Mannes
ein uneheliches Kind bekommt, von der
puritanischen Gemeinde als Ehebrecherin öffentlich erniedrigt und dazu verurteilt wird, an ihrem Kleid sichtbar einen
roten Buchstaben A (für «adulteress» –
Ehebrecherin) als Zeichen der Schande
zu tragen. Am Pranger denkt Hester über
ihr Leben nach: «Zuletzt erschien wieder», heisst es, «der raue Marktplatz der
Puritanersiedlung mit den versammelten Städtern, die ihre harten Blicke auf
Hester Prynne richteten – ja, auf sie –, die
auf dem Gerüst des Prangers stand, ein
Kind im Arm und den Buchstaben A auf
der Brust, scharlachrot, mit goldenem
Faden phantasievoll bestickt. Konnte das
wahr sein? ... Ja! – dies waren ihre Wirklichkeiten.»
Am Pranger der Puritaner
Anders als der Vater ihres Kindes, Arthur
Dimmesdale, der von Selbstzweifeln und
Schuldgefühlen gepeinigt wird und
schliesslich daran verzweifelt, und auch
anders als ihr zurückgekehrter Mann
Roger Chillingworth, der sich von Zorn
und Rache leiten lässt, erträgt Hester
ihre Strafe mit Würde und findet die innere Kraft zu einem Neuanfang. Aber als
sich ein Weg «aus dem Labyrinth ihres
Elends zu öffnen schien», als sie mit
Dimmesdale und ihrer Tochter nach Europa fahren könnte, durchkreuzt Chillingworth ihre Pläne.
Wie im antiken Drama zeigt sich «das
finstere, grimmige Gesicht des unausweichlichen Schicksals» in dieser Geschichte von Sünde, Schuld und Strafe.
Hawthorne zeichnet das Bild der streng
puritanischen Gemeinschaft im Boston
der Mitte des 17. Jahrhunderts, und in
Hesters Versuch, ihr Selbstbild mit der
ihr aufoktroyierten allegorischen Identität zu versöhnen, deckt er einen psychosozialen Kampf auf, der über die puritanische Epoche hinaus die amerikanische
Mentalität geprägt hat und auch über das
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014
Der amerikanische
Roman «Der
scharlachrote
Buchstabe» in der
jüngsten Verfilmung
von 1995 mit
Demi Moore in der
Hauptrolle.
IMPRESS
Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote
Buchstabe. Aus dem Englischen übersetzt
und kommentiert von Jürgen Brôcan.
Hanser, München 2014. 480 Seiten,
Fr. 39.90, E-Book 29.90.
Lokale hinaus eine zeitlose, allgemeingesellschaftliche Auseinandersetzung reflektiert.
Denn Hester verstösst gegen eine soziale Regel, nicht gegen ein göttliches
Gesetz, und ihre Geschichte handelt von
der Beziehung zur Gemeinschaft, nicht
von der Beziehung zu Gott – es ist die Geschichte einer Sozialisation, die nicht als
öffentliche Anpassung, sondern als innere, ja verinnerlichte Selbsterkenntnis
zu verstehen ist. So legte Hawthorne die
puritanische Selbstgerechtigkeit als psychologischen Absolutismus bloss, und in
der Figur Hesters, die als Ehebrecherin
ausgegrenzt wird und sich der sozialen
Repression fügt, ohne sich selbst – ohne
ihr Selbst – aufzugeben, entwarf er die
erste authentische Heldin in der amerikanischen Literatur.
Dass diese Heldin auf eine historische
Gestalt zurückzugehen schien, verlieh
ihrer Geschichte eine realistische Dimension über ihre fiktionale Plausibilität hinaus. Und das war Nathaniel Hawthornes
grossartiger Erzähltrick: Hesters Geschichte als Quellenfiktion vorzugeben
und zugleich die Fiktionsleistung offenzulegen. Was er erzähle, erklärte er im
Vorwort, sei «nur Authentizität des Umrisses». Diese Authentizität des Umrisses
erlaubte ihm, die fiktive Wirklichkeit allegorisch zu verfremden und dramatisch
zu übersteigern, ohne den realistischen
Rahmen zu sprengen. Und indem er das
Geschehen mit unheimlichen und mysteriösen Ereignissen anreicherte, wies er
auf eine verborgene Realität hinter der
Realität hin.
Hawthornes Roman war – trotz manch
empörter Kritik – ein Bestseller und
wurde schon ein Jahr nach seinem Erscheinen unter dem Titel «Der Scharlachbuchstabe» ins Deutsche übersetzt. In
regelmässigen Abständen folgten Neuübersetzungen. Nun hat Jürgen Brôcan
den amerikanischen Klassiker neu übertragen. Er hat manche Ungenauigkeiten
voriger Übersetzungen – vor allem in
Bezug auf historische Details – beseitigt
und für die Strenge und sublimierte Bildhaftigkeit des Originals immer wieder
Entsprechungen gefunden.
Seelische Abgründe
Aber die letzte Zeile des Romans, die die
Inschrift auf Hesters Grab wiedergibt, ist
Brôcan völlig misslungen. «On a field,
sable, the letter A, gules» heisst es im Original. «Auf schwarzem Feld ein roter
Buchstabe» heisst es in der Übersetzung
von Richard Mummendey, die Manesse
gerade neu verlegt hat. Wenn Brôcan
«Auf sablem Feld der Buchstabe A, in
gueules» übersetzt, macht er aus einem
schwer verständlichen englischen einen
unverständlichen deutschen Satz. Und
auch die Gattungsbezeichnung «Eine
Fantasie», die Brôcan gewählt hat, missdeutet Hawthornes «A Romance». Denn
Hawthornes Roman ist keine träumerische Liebesgeschichte, sondern ein psychologischer Schauerroman, der einen
Blick in die Abgründe der Seele tut. ●
Roman Hans-Ulrich Treichel erzählt von einem arbeitsscheuen Reisejournalisten und dessen
frühkindlicher Traumatisierung
MutterundSohnfindennie
dierichtigeDistanzzueinander
Hans-Ulrich Treichel: Frühe Störung.
Suhrkamp, Berlin 2014. 189 Seiten,
Fr. 28.90, E-Book 18.–.
Von Jürg Scheuzger
Der etwa 45-jährige Franz, der triste
Protagonist in Hans-Ulrich Treichels
neuestem Roman «Frühe Störung», hört
in seinem Kopf andauernd den Kehrreim
«Mutter Mutter Mutter», und nachdem er
sich davon hat heilen lassen durch eine
mehrjährige Psychoanalyse, hört er den
stets wiederholten schrillen Ruf der Mutter, «Franz!», fast wie einen Tinnitus,
auch über den Krebstod der Mutter hinaus. So hat sie den Knaben vor Jahrzehnten in einer grossen Charlottenburger
Wohnung zu oft gerufen.
Der 1952 geborene Hans-Ulrich Treichel hat mit dem Roman «Der Verlorene»
1998 berechtigtes Aufsehen erregt. Aus
der Sicht eines Knaben wird dort vom
Schicksal einer Familie erzählt, die auf
der Flucht aus dem Osten 1944/45 einen
kleinen Sohn verliert und ihn (vielleicht)
erst findet, als es zu spät ist. Mit
«Menschenflug» schrieb Treichel 2005
eine Fortsetzung zum «Verlorenen», die
sehr kontrovers beurteilt wurde.
Dem Thema der gestörten Familienbindungen bei begüterten westdeutschen Bürgern ist der Autor im neuesten
Werk treu geblieben. Franz ist ein arbeitsscheuer akademischer Reisejournalist, dessen schlichtes Lebenswerk ein
Reiseführer über den Darss ist, eine touristisch gut erschlossene Ostsee-Halbinsel. Dass er den Reiseführer wiederholt
überarbeiten darf, betrachtet er als Lebensaufgabe. Er muss nur wenig arbeiten, denn er erbt die grosse Wohnung der
Mutter, die er lohnend vermieten kann.
Franz ist nicht nur ein Minimalist, er
ist ein Langweiler. In konsequent durchgehaltener Rollenprosa erzählt er – wem
eigentlich? – mit vielen faden Details von
seinem faden Leben. Dabei gelingen
Treichel humoristische Glanzstücke, so
die Beschreibung eines softpornografischen Reisemagazins über Indien, das
in der DDR veröffentlicht wurde, oder
der gescheiterte Datscha-Besuch bei
einer brandenburgischen Bildungsministerin. Komisch mag man auch die
Schilderung von Franz’ Reise nach Kalkutta (auf der Flucht vor der finalen
Krankheit der Mutter) finden: Franz verbringt Tage im Zimmer und Park seines
Hotels, um sich nicht zu viel Indien zumuten zu müssen. Dennoch: Ein langweiliger Mensch bleibt langweilig, auch
wenn ein wortgewandter Autor ihm die
Sprache leiht.
Hans-Ulrich Treichel konstruiert eine
lebenslange Double-Bind-Beziehung
von zwei Menschen, welche die richtige
Distanz zueinander nicht finden in
einem Hin und Her von Nähe und grösstmöglicher Entfernung.
Der seine Probleme reflektierende
Sohn evoziert für dieses Paradox von
Nähe und Ferne die Ur- und Schlüsselszene, die wiederholte gemeinsame «Mittagsruhe» von Mutter und Kind in einem
Bett: «[…] ich fühlte mich wie die Maus in
der Falle neben dem atmenden Leib der
Mutter, die […], während sie einschlief,
immer näher an mich heranrückte und
mich mit ihrem Bauch und ihren Schenkeln berührte. Ich rückte daraufhin bis an
den äussersten Rand des Bettes, doch die
schlafende Mutter rückte mir nach und
drückte sich an mich. In ihrem Nachthemd, das so dünn war, dass ich es gar
nicht spürte. Ich spürte nur die Wärme
darunter, die Körperwärme der Mutter,
[…] oder zumindest den feuchten
Schweissfilm auf ihrer Haut, denn meine
Mutter schwitzte, während sie schlief.»
Diese intensive Urszene einer lebenslangen Traumatisierung variiert Franz mehrmals, und sie wird durch die Wiederholung noch schrecklicher.
Der Autor kommentiert nichts in diesem Roman; es spricht ausschliesslich
Franz. Dennoch darf man annehmen,
dass Treichel der im Übrigen blass gezeichneten Mutter die Schuld gibt an der
Lebensunfähigkeit und der reflektierten
Gefühlskälte des Sohnes. Dieser beendet
seinen Lebensroman niederschmetternd
lakonisch: «Ich bin ein altes Kind, das
sich vor seiner toten Mutter fürchtet.» ●
Kodak Ein Konzern verliert den Anschluss
Die Schaufenster der Geschäfte sind zugenagelt, die
Fenster darüber dunkel. Hier hat sich das Leben so verflüchtigt wie die Farbe an den Häusern. Warum hier
einer noch eine Parkuhr füttert, bleibt sein Geheimnis.
Die State Street in Rochester ist die Adresse von Kodak.
Die Firma, die das Fotografieren mit dem Rollfilm zum
Massenvergnügen gemacht hat, wurde hier 1881 von
George Eastman gegründet. Anfang 2012 musste sie die
Bilanz deponieren, weil sie den Anschluss an die digitale
Fotografie verschlafen hatte, obwohl die erste elektronische Kamera in ihren eigenen Labors entwickelt
wurde. Der Niedergang des Weltkonzerns stürzte auch
die Stadt in die Krise, die von seinem Wohlergehen
lebte: Rochester im Bundesstaat New York war eine typische Company Town, wie man sie sonst eher aus den
Stahl- und Autostädten des Nordens der USA kennt. Detroit wurde dort zum Inbegriff einer sterbenden Stadt.
Zigtausende verloren ihre Jobs. Catherine Leutenegger
hat seit 2007 immer wieder in Rochester fotografiert
und den Verfall dokumentiert. Ohne Larmoyanz, nüchtern und präzise erzählen ihre stillen Bilder von einer
Veränderung, die zum Wirtschaftsprozess gehört. Der
steile Abstieg ist auf den Bildern der zwischen Lausanne
und New York pendelnden Fotografin einfach der zweite
Teil der Erfolgsgeschichte. Diese Unaufgeregtheit
macht die Reportage so zwingend wie berührend.
Urs Stahel, A. D. Coleman und Jörg Bader steuern erhellende Texte bei. Gerhard Mack
Catherine Leutenegger: Kodak City. Kehrer, Heidelberg
2014. 160 Seiten, 98 Farbabbildungen, Fr. 49.90.
27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Roman Verena Stefan schaut in ihrem
dokumentarischen Roman zurück
Demalten
Dorfarztwird
derProzess
gemacht
Von Sandra Leis
«Ich bin so göttlich froh! Wenn zehn
Ärzte mich untersuchen täten, würde
keiner mehr etwas finden», frohlockt die
Serviertochter Beatrice Tanner im
«Kreuz». Und setzt damit ein Gerücht in
Umlauf, das für sie und Dr. Julius Brunner zum Verhängnis wird. Man schreibt
das Jahr 1949, auf Abtreibung steht Gefängnis. In Oberfelden, einem fiktiven
Dorf im Kanton Bern, wird so lange getuschelt und getratscht, bis der Landjäger vor der Tür steht und den Arzt abführt. Weil der 74-Jährige schwer herzkrank ist, kommt er nicht in Untersuchungshaft, sondern in die Heil- und
Pflegeanstalt Waldau.
Ein Psychiater untersucht Brunners
Zurechnungsfähigkeit und unterzieht
ihn einem Assoziationstest. Abschliessend hält er fest: «Auch heute ist die
Rückfallgefahr erheblich. Die beiden
Fälle aus dem Jahr 1949 beweisen, dass
der Angeschuldigte, trotzdem er zeitweise bettlägrig war, auf seine kriminelle
Tätigkeit nicht verzichten konnte. […]
Wir müssen deshalb die Verwahrung
vorschlagen.» Davon sieht das Gericht ab
– Julius Brunner wird auf Bewährung
verurteilt und kann seine letzten Lebensmonate zu Hause verbringen.
Autobiografisch grundiert
Festgehalten und zu einem dokumentarischen Roman geformt hat diese Lebensgeschichte die Enkelin des Dorfarztes, die Berner Autorin Verena Stefan.
International berühmt wurde sie 1975
mit ihrem Erstling: «Häutungen» traf den
Nerv der Zeit und wurde zum Kultbuch
der deutschen Frauenbewegung. 1993,
fünf Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, erschien «Es ist reich gewesen. Bericht
vom Sterben meiner Mutter». Und 2007
veröffentlichte Stefan, die in Montreal
lebt und an Krebs erkrankt war, den
Roman «Fremdschläfer». Hier verschränkt sie in einer persönlichen und
poetischen Weise die beiden Grunderfahrungen Krankheit und Immigration.
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014
In die Irrenanstalt
Waldau bei Bern
wurde der Grossvater
der Autorin Verena
Stefan eingeliefert,
weil er der gewerbsmässigen Abtreibung
angeklagt war
(Aufnahme um 1944).
PHOTOPRESS / KEYSTONE
Verena Stefan: Die Befragung der Zeit.
Nagel & Kimche, Zürich 2014. 224 Seiten,
Fr. 27.90, E-Book 21.90.
Ihre Bücher haben alle einen Bezug
zur eigenen Biografie. Ein wichtiges politisches Anliegen ist ihr seit vielen Jahren
das Recht auf Abtreibung: 1972 erschien
das von ihr mit herausgegebene «Frauenhandbuch Nr. 1» über Abtreibung und
Verhütung; auch für die Abschaffung des
Abtreibungsparagraphen 218 in Deutschland machte sie sich stark.
Weder Held noch Bösewicht
In ihrem jüngsten Roman, «Die Befragung der Zeit», erzählt die heute 66-jährige Stefan nun, wie es war, als der eigene
Grossvater der gewerbsmässigen Abtreibung angeklagt wurde. Sie lebte mit ihm
unter einem Dach und war noch keine
zwei Jahre alt, als er in die Waldau eingeliefert wurde. Persönliche Erinnerungen
an den Sommer 1949 hat sie also keine.
Ihr Wissen schöpft sie aus einer 800-seitigen Akte, die im Staatsarchiv des Kantons Bern aufbewahrt ist. Hier sind die
Abtreibungsprozesse des Grossvaters
und die Verhöre der Frauen fein säuberlich dokumentiert. Weiter hatte die Autorin Einsicht in seine Krankengeschichte; erhalten geblieben sind auch einige
seiner Briefe und die Tagebücher ihrer
Mutter.
Verena Stefan verwebt kursiv gedruckte Originalzitate mit frei erfundenen Schilderungen zu einem Sittengemälde des ländlichen Bern in der Mitte
des 20. Jahrhunderts. Das ist oft berührend und erschütternd, manchmal aber
auch etwas behäbig und langatmig. Zum
einen liegt es an den wechselnden Perspektiven – immer wieder fragt man sich,
wer eigentlich spricht. Oft ist es die auktoriale Erzählstimme, dann ist es eine
der Figuren, deren Gedanken uns mit
dem Stilmittel der erlebten Rede näher
gebracht werden sollen. Zum anderen
liegt es daran, dass Verena Stefan zu viel
will: «Die Befragung der Zeit» ist ein Abtreibungs-, Psychiatrie-, Familien- und
Eheroman, eine Arztbiografie und eine
Grossvater-Enkelin-Geschichte. Gerade
letztere wird immer wieder heraufbeschworen und behauptet, aber kaum je
erzählt.
Im Kern, und für den lohnt sich die
Lektüre dieses Buches, geht es um den
Dorfarzt Julius Brunner. Verena Stefan
zeichnet ihn als widersprüchliche Persönlichkeit: Sie stilisiert ihn weder zum
Helden und Vorkämpfer der Abtreibungsbefürworter, noch macht sie aus
ihm einen Bösewicht, der die Notlage
von jungen schwangeren Frauen schamlos ausnutzte. Er leistete saubere Arbeit
und liess sich dafür ordentlich bezahlen:
Für eine «Auskratzung» verlangte er 120
bis 150 Franken, während er für eine
Konsultation nicht mehr als 12 Franken
bekam.
Verena Stefan hat Zahlen und Fakten
recherchiert, gleichzeitig will sie den
Menschen ein Gesicht geben. Das gelingt
nicht immer gleich gut – eindringlich
aber porträtiert sie das Ehepaar Julius
und Lina Brunner. Wir erfahren, welche
Lebensträume beide haben, warum es
auf der Hochzeitsreise zum ersten heftigen Streit kommt und was das Paar auseinandertreibt: Der erste Sohn – nach
zwei Töchtern – stirbt wenige Stunden
nach der Geburt, beim zweiten erleidet
Lina eine Fehlgeburt, weil sie im achten
Monat Fenster putzt und stürzt. Das
kann er ihr nicht verzeihen. Julius, der
anderen Frauen Kinder wegmacht, darf
die eigenen Buben nicht lebendig haben.
In ihrem Andenken an die Grosseltern
schreibt Verena Stefan: «Er hätte gern ein
anderes Leben mit Lina gehabt, ein fröhlicheres. […] Er schafft Abhilfe. Nur Lina
hat er nicht helfen können.» Eine Lebensbilanz, die nachdenklich stimmt. ●
E-Krimi des Monats
Spion im Ruhestand
Kurzkritiken Belletristik
TANJA DEMARMELS / EX-PRESS
Peter Zeindler: Die weisse Madonna.
Reinhardt, Basel 2014. 288 Seiten,
Fr. 35.90, E-Book 25.–.
Sembritzki steht vor dem Spiegel und
betrachtet den alten Mann, der ihm entgegenblickt: sein «eigenes Ich, dieses
rätselhafte Individuum, dem er immer
wieder verwundert begegnete, das still
vor sich hin alterte und bei dem er,
wenn er es beim Rasieren anschaute,
immer wieder schmerzlich die Symptome dieses Prozesses registrierte: Zuerst
einmal, wenn er dieses Gesicht betrachtete, sich dann aber auch die skurrilen
Eigenheiten dieses Mannes im Spiegel
in Erinnerung rief, die ihn immer mehr
besetzten.» Er denkt dabei an die Anzeichen von Geiz, an seine Gereiztheit –
und konstatiert erstaunt, was für ein
übellauniger alter Kauz er geworden ist.
Sembritzki ist ein Spion im Ruhestand, der partout weiterhin Spion sein
will und sich schwer damit tut, dass
sein Leben plötzlich perspektivenlos
wirkt. Und: Sembritzki ist der Protagonist in einem facettenreichen Agentenroman des Schweizer Schriftstellers
Peter Zeindler. Sein neuester Krimi ist
pünktlich zu seinem achtzigsten Geburtstag erschienen. Und so fragt man
sich unwillkürlich, ob der Autor nicht
auch ein wenig von sich selber schreibt,
wenn er mit kritischem, ja fast
schmerzerfülltem Blick das Altwerden
betrachtet.
Doch dann erhält Sembritzki einen
anonymen Telefonanruf. Und als er
sich mit dem Mann, der ihm etwas zu
sagen hat, bei der Teufelsbrücke treffen
will, kommt er zu spät: Der Mann ist
tot. Dafür begegnet Sembritzki kurz
darauf in der Klosterkirche von Einsiedeln einer geheimnisvollen Deutschen
– in die er sich auf den ersten Blick
schwärmerisch verliebt. Im Bewusstsein, dass die Liebe bei ihm meist verfliegt, bevor sie richtig ankommt.
Der in Bern wohnhafte Sembritzki
macht sich auf nach Deutschland,
woher der tote Informant stammt. Und
fortan liefert der Roman alles, was eine
Agentenstory braucht: eine Verschwörung im rechtsextremen Milieu mit
Bezug auf die reale Terrorzelle rund um
Beate Zschäpe, mehrere Anschläge auf
Sembritzki – mit einem Motorrad, mit
vergiftetem Sekt – und, jawohl, auch
eine Sexszene des alternden Agenten mit einer Gefährtin in BondManier. Sembritzki ist überrascht, dass dies noch funktioniert. Trotz zahlreicher philosophischer Abschweifungen
Sembritzkis, der sich immer
wieder auf Paracelsus
beruft, bleibt die
Handlung spannend.
Womit sowohl der
Autor als auch sein
Spion beweisen,
dass sie für ihr Metier noch lange
nicht zu alt sind.
Von Christine
Brand ●
Michael Herzig: Frauen hassen. Thriller.
Grafit, Dortmund 2014. 347 Seiten,
Fr. 29.90, E-Book 21.90.
Hjalmar Bergman: Skandal in Wadköping.
Manesse, Zürich 2014. 444 Seiten,
Fr. 33.90, E-Book 23.90.
Als «Bullenoper» kündigte der Berner
Wahlzürcher Michael Herzig in einem Videoclip den vierten Fall um Stadtpolizistin Johanna di Napoli an. Auf den ersten
beiden Fällen stand «Kriminalroman»,
auf den nächsten «Thriller». Aber «Bullenoper» passt noch besser, weil es die
Steigerung des Autors im Hard-boiledStil ausdrückt. «Frauen hassen» ist steinhartgesotten (und der bemüht doppeldeutige Titel das Einzige, was es auszusetzen gibt): mit einer Rockerbande, korrupten Polizisten, schmierigen Teppichetagen-Typen, der Brutalität und seiner
coolen Protagonistin mit dem weichen
Kern. Die Erzählstruktur ist anspruchsvoller als im Genre üblich, da der Autor
Perspektiven, Schauplätze und Zeitebenen wechselt – was ihm mühelos gelingt. Michael Herzig weiss, wovon er
schreibt: Er war fast 16 Jahre bei der Stadt
Zürich angestellt, am längsten im Bereich Sucht und Drogen.
Dieser
spannende
psychologische
Roman gehört zu den Klassikern der
schwedischen Literatur. Er stammt aus
der Feder von Hjalmar Bergman (1883–
1931) und erzählt von zwei höchst unterschiedlichen Männern: einem neureichen Grobian und einem feinsinnigen,
alteingesessenen Amtsgerichtsrat. Die
beiden lieben sich nicht. Just am Tag, als
ihre Söhne das Abitur ablegen sollen – es
ist der 6. Juni 2013 –, brechen dramatische Konflikte auf. Heikle Affären kommen ans Licht, ein uneheliches Kind, ein
vertuschter Bankrott. Bergman erzählt
die Geschichte als Sommerroman mit raschen, witzigen Dialogen und treffenden
Schilderungen skurriler Charaktere.
Vierzig Jahre lang war dieses unverwüstliche Werk auf Deutsch nicht mehr lieferbar. Nun liegt es endlich wieder vor,
übersetzt von Günter Dallmann, in schöner Ausstattung und versehen mit einem
klugen Nachwort von Peter Urban-Halle.
Durs Grünbein: Cyrano oder Die Rückkehr
vom Mond. Suhrkamp, Berlin 2014.
151 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 21.-.
Martina Clavadetscher: Sammler.
Erzählung. Martin Wallimann,
Alpnach 2014. 141 Seiten, Fr. 25.90.
Der 1962 geborene Lyriker und Essayist
Durs Grünbein gilt als Poeta doctus
schlechthin. In seinem neuen Gedichtband beweist er seinen Rang aufs Neue.
«Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond»
besteht aus ungereimten Terzinen, welche die menschliche Entdeckung des
Mondes und die Neuentdeckung der
Erde vom Mond aus behandeln. Nicht
das Betreten eines unbelebten Himmelskörpers im Jahr 1969 ist für Grünbein die
grosse Tat der Apollo-Mission, sondern
das neue Bild unseres blauen Planeten,
das wir seither haben. Bildungsgesättigt,
sprachmächtig und musikalisch sind
Grünbeins Verse. Der Dichter überblendet die Raumfahrt des 20. Jahrhunderts
mit Cyrano de Bergeracs imaginärer
Reise zum Mond im Jahr 1657. Im blitzgescheiten Essay «Lyrische Libration»,
der den Zyklus ergänzt, erläutert er dessen Hintergründe und Entstehung.
Die 34-jährige Martina Clavadetscher ist
vielseitig präsent: als Hausautorin am
Luzerner Theater, wo im März ihr Jugendstück «My Only Friend, the End» uraufgeführt wurde, als Kolumnistin fürs
Radio, Spielfilm-Drehbuchautorin, und
nun debütiert sie mit «Sammler» auch als
Prosaschriftstellerin. Hauptfigur ist die
junge Kulturredaktorin Sofia, die unter
Depressionen und Neurosen leidet und
beim Antiquariatsbesuch in einen Kriminalfall verwickelt wird. Clavadetscher
packt zu viel in diesen schmalen Band:
zu viele Themen, zu viele Adjektive. Die
Plausibilität bleibt dabei auf der Strecke,
und das ausgerechnet bei so wichtigen
Aspekten wie der Charakterzeichnung
und dem Krimi-Plot. So verhält sich Sofia
als Journalistin unprofessionell distanzlos; und woher der Täter weiss, wer die
junge Frau (also Sofia) ist, die auf seine
Spur gerät, bleibt ungeklärt.
Regula Freuler
Manfred Papst
Manfred Papst
Regula Freuler
27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Essay
Am 23. April jährte sich – höchstwahrscheinlich – der 450. Geburtstag des bedeutendsten Dramatikers
der Weltliteratur. Sein grossartiges Werk wird immer noch weitherum gespielt. Manfred Koch über die
wenig bekannte Person hinter dem Dichter
AufderSuche
nachShakespeare
Shakespeare war wirklich Shakespeare! Seit
mehr als 150 Jahren kursieren Gerüchte, der
Schauspieler William Shakespeare aus dem
Städtchen Stratford-upon-Avon könne nicht der
Verfasser jener 38 Stücke sein, die unter seinem
Namen veröffentlicht wurden. Was man von
ihm weiss, ist wenig und deutet nicht auf ein
Genie. Bezeugt ist seine Taufe am 26. April 1564
(da die Taufe damals gewöhnlich am dritten Tag
nach der Geburt erfolgte, schloss man auf den
23. April als Geburtstag; fast unheimlich mutet
dann die Tatsache an, dass Shakespeare am
23. April 1616 starb). Urkunden belegen seine
Heirat mit einer gewissen Anne Hathaway, die
Geburt dreier Kinder, einige Immobilienkäufe
sowie Geldgeschäfte, die er anscheinend sehr
profitorientiert betrieb.
Er war Teilhaber des Londoner Theaters, an
dem er spielte, zog sich in seinen letzten Lebensjahren aber nach Stratford zurück. Am Ende
steht sein Testament mit der berühmt gewordenen Verfügung, er vermache seiner Frau sein
«zweitbestes Bett» (mehr nicht). Es gibt keine
Shakespeare-Briefe, keine Tagebücher, keine
Schilderungen seiner Persönlichkeit durch Zeit-
William Shakespeare
38 Theaterstücke und 154 Sonette sind überliefert von William Shakespeare (1564–1616), der
gemeinhin als bedeutendster Dramatiker der
Weltliteratur gilt. Seine so üppigen wie bühnenwirksamen Werke werden bis heute häufig gespielt. Für die deutsche Literatur war die
berühmte Schlegel/Tieck-Übersetzung, die ab
1797 erschien, stilbildend. In jüngerer Zeit fanden die Übertragungen von Erich Fried (1921–
1988) starke Beachtung. Zum 450. Geburtstag
des Dichters sind zahlreiche Neueditionen und
Monografien erschienen; hervorgehoben sei hier
die so pointierte wie gründliche Gesamtdarstellung von Hans-Dieter Gelfert: William Shakespeare in seiner Zeit. C. H. Beck, München 2014.
471 Seiten, Fr. 36.90, E-Book 27.–.
Auf den Leib geschriebene Rollen
Führend in der Gunst der Hobbydetektive, die
den «wahren Shakespeare» aufgespürt haben
wollen, ist Edward de Vere, der 17. Earl of Oxford. Von dem sind immerhin einige respektable
Gedichte überliefert, die aber stilistisch so wenig
mit Shakespeare gemein haben, dass man geradezu von einer multiplen Persönlichkeit ausgehen müsste. Ausserdem starb auch er zu früh
(1604), um Stücke wie «König Lear» oder «Ein
Wintermärchen» geschrieben haben zu können.
Warum also so viel Lärm um nichts, warum die
verlorne Liebesmüh bei der Suche nach dem
mysteriösen Ghostwriter? Eine einleuchtende
Antwort gibt der Berliner Anglist Hans-Dieter
Gelfert in einer neuen, souveränen Gesamtdarstellung Shakespeares und seiner Zeit. Es ist
«das weit verbreitete Interesse an Verschwörungstheorien», das manche dazu treibt, Shakespeares Werk vor allem deshalb faszinierend zu
finden, weil sie glauben, dass es nicht von ihm
stammt.
Dabei ist es viel plausibler, Shakespeares
Meisterschaft damit zu erklären (jedenfalls zum
Teil), dass er Schauspieler war. Wären Schillers
Dramen, fragt Gelfert frech, nicht um einiges le-
bendiger, wenn Schiller auch Schauspieler gewesen wäre? Shakespeare schrieb seinen Mitspielern die Rollen förmlich auf den Leib, er erarbeitetedieStückemitihnenimProbengespräch
auf der Bühne. Und er schrieb aus dem eigenen,
agierenden Leib heraus, seine Sprache ist erfüllt
von szenischer Bewegung. Dieser Dramatiker
wusste, was es heisst, vor bis zu 3000 Zuschau-
Das weit verbreitete Interesse
an Verschwörungstheorien
treibt manche dazu zu
glauben, Shakespeares Werk
stamme nicht von ihm.
ern auf einer Rampenbühne ohne Kulissen eine
erdichtete Welt entstehen zu lassen. Die Illusion
musste allein durch die Körper und die eindringliche Sprache der Akteure erzeugt werden. Das
Publikum im Londoner Globe Theatre, Shakespeares wichtigster Spielstätte, war extrem gemischt: Im Parkett, um die Bühne herum, standen die Angehörigen der Unterschicht, in den
überdachten Galerien sassen die bessergestellten Bürger, aus den Logen grüsste der Adel.
Von derb bis poetisch
Shakespeare beherrschte alle Sprachregister, die
es für die Befriedigung dieser bunten Menge
brauchte, vom volkstümlich Derben bis hin zur
feinsten poetischen Rhetorik. Die Vitalität der
ländlichen Feste mit ihren Fress- und Saufgelagen, der rituellen Bärenhatz, den Narrentänzen
und den obszönen Laientheateraufführungen
um Robin Hood und die lüsterne Maid Marion –
das war ihm aus seiner Kindheit in der Provinz
vertraut. Aus diesen Erfahrungen entstand eine
Figur wie Falstaff, der unvergessliche Held des
Bauchs in Shakespeares Werk, der den Mitspielern Gelegenheit gibt, ihn mit immer neuen
Schimpfnamen einzudecken: Falstaff, der
«Fleischberg», der «Bierschlingel», der «Pferderückenbrecher», oder der «vollgestopfte
▲
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014
genossen. Und dieser blasse, ungreifbare Mann,
so fragte man, soll ein Werk geschaffen haben,
das an Einfallsreichtum und Sprachmächtigkeit
seinesgleichen sucht? Ein Provinzler, der nie
eine Universität von innen sah, soll jene enorme
Bildung besessen haben, die man den Dramen
entnehmen kann? Ausgeschlossen, meinen die
sogenannten Anti-Stratfordianer bis auf den
heutigen Tag und präsentieren munter Gegenkandidaten. Annähernd 60 sind es im Lauf der
Jahre geworden, darunter Prominente wie der
Philosoph Francis Bacon, die Königin Elizabeth I.
sowie Shakespeares Hauptkonkurrent im damaligen Theaterbetrieb, Christopher Marlowe, der
wortgewaltige Autor des ersten grossen «Faust»Dramas (der war nur leider schon tot, als Shakespeares wichtigste Stücke entstanden, weshalb
man Urkunden über sein Ableben für eine listige
Fälschung erklärte und ihn incognito im italienischen Exil weiterleben liess).
ANDREAS HUB / LAIF
ULLSTEIN BILD
Touristen im Globe Theatre in London, einer
Rekonstruktion aus dem Jahr 1997 (oben).
«Othello» in einer Aufführung in Berlin, im Haus der
Berliner Festspiele, am 7.5.2005 (rechts).
Kupferstich mit dem angeblich authentischen Porträt
William Shakespeares aus dem Jahr 1623 (unten).
27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Essay
creation sonnets» erklären, in denen das Ich
ganz unverhohlen den angesprochenen Jüngling zum Verkehr mit Frauen ermuntert: «Wo ist
die, deren ungepflügter Schoss / Nicht gern gepflügt sein will im Ehebett?» Er soll auf Masturbation verzichten («Treibst, Schöner, du nur mit
dir selbst Verkehr») und das «Gut», das die Natur
ihm gab, gefälligst «weitergeben». Shakespeare
trennt ganz rational die adlige Erbfolgepolitik
von der Gefühlswelt des Erzeugers. Der Frau
den Samen, ihm, dem Sprecher der Gedichte,
die Liebe. Wie körperlich die sein kann, bleibt
offen. Ein Gedicht plädiert für eine rein platonische Beziehung: der Penis («prick») sei «ein
Ding, das keinen Wert besitzt für mich. / Gab sie
(die Natur) das Ding dir, Frauen zu entzücken, /
Schenk mir die Liebe; sie magst du beglücken.»
Dem steht die glühende Sinnlichkeit gegenüber,
mit der anderswo beschrieben wird, «wie mich
dein Blick entzündet».
MAURITIUS IMAGES
Gesellschaftliche Spiele
Über William Shakespeares Leben ist wenig bekannt. Gesichert scheint sein Geburtshaus (Bild) in Stratford-upon-Avon
in der Grafschaft Warwickshire (UK).
▲
Kaldaunensack», der «gebratene Krönungsochse mit dem Pudding im Bauch». Oder zärtlicher, wie ihn seine Lieblingshure Doll Tearsheet
(von A. W. Schlegel kongenial mit «Dortchen
Lakenreisser» übersetzt) nennt, nämlich: «Du
verwettertes, kleines, zuckergebackenes Weihnachtsschweinchen.»
Doch auch die hohe literarische Sprache lernte Shakespeare schon in Stratford kennen, wo er
höchstwahrscheinlich die Lateinschule besuchte und seinem Lieblingsdichter Ovid begegnete.
Unvergleichlich schön sind in Shakespeares Stücken die vielen Liebeswerbungen und Liebeserklärungen, oft durchwirkt mit einer Fülle mythologischer Anspielungen. Ein Beispiel ist im
«Sommernachtstraum» Hermias Versprechen,
mit dem geliebten Mann, den ihr Vater ihr verwehrt, in den Ardenner Wald zu fliehen:
Mein Lysander!
Ich schwör’ es dir bei Amors stärkstem
Bogen,
Bei seinem besten goldgespitzten Pfeil,
Und bei der Unschuld von Cytherens
Tauben;
Bei dem, was Seelen knüpft, in Lieb’ und
Glauben;
Bei jenem Feu’r, wo Dido einst verbrannt,
Als der Trojaner falsch sich ihr entwandt;
Bei jedem Schwur, den Männer je gebrochen,
Mehr an der Zahl, als Frauen je gesprochen:
Du findest sicher morgen mitternacht
Mich an dem Platz, wo wir es ausgemacht.
Vermutlich hat keiner der Zuschauer im Parkett verstanden, was hier im einzelnen gemeint
ist. Vom Zauber dieser Verse waren aber gewiss
auch die kleinen Handwerker und Ladengehilfen
hingerissen, vielleicht mehr noch als die Lords
in den Logen, die erst einmal in ihrem Bildungswissen kramten.
Wahnsinn der Liebe
Shakespeares Texte kreisen um zwei grosse Themen: Die Sinnverwirrungen, ja der Wahnsinn
der Liebe und der Kampf um politische Macht.
Weil die Sprache der Liebe in seinen Dramen
und Gedichten eine so ungeheure Intensität aufweist, war man verständlicherweise begierig zu
wissen, wie es sich mit «Shakespeare in Love»
wirklich verhielt.
Doch der Privatmann William Shakespeare
wollte offenbar nichts von sich preisgeben, er
zog es vor, im Verborgenen zu leben. Kann man
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014
den Texten etwas über sein Inneres entnehmen?
Verräterischer als die Dramen erscheinen Shakespeares Sonette, denn hier spricht ein Ich, das so
heftig liebt und hasst, dass der Leser gar nicht
anders kann, als persönliche Erfahrung zu unterstellen. Wer sich einliest in die Sonette, gerät
indessen in ein neuerliches Verwirrspiel. 126 der
insgesamt 154 Gedichte sind an einen jungen,
schönen Mann gerichtet, dem das Ich in unüberhörbar homoerotischen Tönen huldigt, 25 an
eine dunkelhaarige Frau («dark lady»), die äusserst attraktiv, aber sexuell unersättlich und
deshalb treulos ist.
In zwei der Dark-Lady-Sonette spielt Shakespeare mit seinem Vornamen: «Will» bedeutet
im Englischen neben «Wille» auch «sexuelles
Verlangen» und – ganz konkret – das Geschlechtsorgan. Ein Vers wie «Will will fulfill the
treasure of thy love» (Will will dir füllen deinen
Liebesschatz) ist demnach ein so kunstvolles
wie unanständiges Wortspiel. Die dunkle Dame
Die Frage, ob Shakespeare
homo-, hetero- oder bisexuell
war, lässt sich mangels
biografischer Zeugnisse nicht
beantworten. Zum Glück.
besitzt seinen «Will», in seiner Hörigkeit sie zugleich verabscheuend bittet er sie, «Will» freizugeben und bemerkt doch machtlos, wie in ihrer
Nähe «Will schwillt». Heerscharen von Biografen suchten in zeitgenössischen Dokumenten
nach schwarzhaarigen Frauen in Shakespeares
Bekanntenkreis, auch eine schwarze Kurtisane
namens Lucy Negro wurde in Betracht gezogen.
Überzeugende Beweise gibt es für keine der
Kandidatinnen.
Noch seltsamer mutet die Liebeswerbung um
den jungen Mann an, auch wenn hier ein plausibler Vorschlag für dessen Identifizierung vorliegt: Henry Wriothesley, der dritte Earl of
Southampton. Denkbar ist, dass Shakespeare
von der Adelsfamilie den Auftrag erhielt, den
heiratsunwilligen Sohn poetisch von der Notwendigkeit einer Eheschliessung zu überzeugen, um den Fortbestand der Dynastie zu sichern. Das würde die 17 sogenannten «pro-
Die Frage, ob Shakespeare – nach heutigen Kategorien – homo-, hetero- oder bisexuell war, lässt
sich mangels biografischer Zeugnisse nicht beantworten. Zum Glück, möchte man sagen,
denn die Suche nach Festlegungen führt in die
Irre! Der Reiz seiner Stücke, speziell der Komödien, liegt ja gerade im wunderbaren Schillern
der Liebe zwischen allen möglichen Formen
menschlichen Einander-Ersehnens. Zwar sind
die Paare am Ende immer Mann und Frau, aber
zuvor, in den turbulenten Verkleidungsszenen,
sind es eben doch sehr häufig zwei Männer, die
sich näherkommen.
In «Was ihr wollt» erobert Viola als Page
Cesario das Herz des Herzogs, Rosalinde in «Wie
es euch gefällt» probt gar, verkleidet als Jüngling
Ganymed, mit dem in sie verliebten Orlando,
wie er kunstvoll um Rosalinde werben soll. Bedenkt man, dass die Frauenrollen im damaligen
Theater von jungen Männern gespielt wurden,
kann man sich vorstellen, welch flirrende Atmosphäre von geschlechtlicher Vieldeutigkeit solche Liebesszenen umgab.
Die Komödien enden mit Hochzeiten, in den
Tragödien treten von Beginn an verheiratete
Paare auf, die meistens schrecklich sind. Othello
erwürgt seine Frau im Eifersuchtswahn, Macbeth wird zum Meuchelmörder unter dem Einfluss seiner Gemahlin, die ihn an Grausamkeit
noch übertrifft. «Gross möcht’st du sein», belehrt sie ihn, «bist ohne Ehrgeiz nicht, doch fehlt
die Bosheit, die ihn begleiten muss.» Hamlets
Vater wird, unter Mithilfe seiner Ehefrau, vom
eigenen Bruder umgebracht; hernach vermählen sich die Übeltäter und gründen ein Beilager,
dessen Schandhaftigkeit der junge Hamlet drastisch anprangert: «Im Schweiss und Brodem
eines eklen Betts, / Gebrüht in Fäulnis, buhlend
und sich paarend.»
Ihren Zauber entfaltet die Liebe bei Shakespeare in Fluchträumen wie dem Ardenner
Wald, fern von der Macht und von ehelichen Besitzverhältnissen. Dort können die Liebenden
einander phantasievoll umschwärmen. Sie sind
sich ihrer Gefühle keineswegs sicher, wissen
mitunter gar nicht mehr, wer sie eigentlich sind,
aber das Happy End ist garantiert. Shakespeares
grosse Kunst hat wohl auch damit zu tun, dass er
selbst die Unsicherheit über seine erotische
Identität nie verlor. Das verlieh ihm den skeptischen Blick auf jene gefestigten Menschen, die
glauben, selbstbestimmt ihren Weg durchs
Leben zu gehen, und nicht merken, dass sie
doch immer nur die Rollen spielen, die die Gesellschaft ihnen vorgibt:
Die ganze Welt ist eine Bühne
und Mann und Frau sind darauf nur wie
Spieler.
Sie haben ihren Auftritt, ihren Abgang,
und jeder spielt dabei in vielen Rollen. l
Kolumne
LUKAS MAEDER
Charles LewinskysZitatenlese
Der Autor Charles
Lewinsky arbeitet in
den verschiedensten
Sparten. Sein letztes
Buch «Schweizen.
Vierundzwanzig
Zukünfte» ist im
Verlag Nagel & Kimche
erschienen.
So wie man nach den
verschiedensten Dingen
süchtig werden kann, sei
es Briefmarkensammeln
oder Glücksspiel oder
Heroin, kann man auch
nach dem Schreiben
süchtig werden.
Kurzkritiken Sachbuch
Jean-Michel Wissmer: Heidi. Ein Schweizer
Mythos erobert die Welt. Schwabe, Basel
2014. 166 S., Fr. 19.90 (auch als E-Book).
Friedhof Forum Zürich (Hrsg.): Das Eigene.
65 Personen zum eigenen Tod. Präsidialdept. Zürich, 2014. Unpaginiert, Fr. 18.–.
Die Romandie liebt das Heidi über alles –
weiss aber offenbar wenig über seine
Herkunft. Jean-Michel Wissmer, Literaturwissenschafter und Autor in Genf,
will diesem Unwissen abhelfen und trägt
dafür alles zusammen, was es über Heidi
zu vermelden gibt: vom geografischen
Schauplatz des Heidilands bis zu Biografie und Werk von Johanna Spyri, von den
Umwandlungen, Fortsetzungen und Adaptionen der Geschichte – darunter ein
knappes Dutzend Kinoversionen – bis
zur japanischen Heidimania. Dazu wird
Spyris Heidi-Geschichte kritisch-deutend nacherzählt, unter Einbezug der
stark religiös-pietistischen Komponente,
die heute meist ausgeblendet wird. Für
Deutschschweizer gerät Wissmers Begeisterung etwas wortreich, doch seine
kenntnisreiche Hommage an den erfolgreichsten aller Schweizer Mythen bleibt
mitreissend.
65 Persönlichkeiten setzten sich auf
Aufforderung des Stadtzürcher Bevölkerungsamtes künstlerisch mit dem eigenen Tod, der Gestaltung des Grabmals
und der Vorstellung auseinander, wie sie
nach dem Ableben in Erinnerung bleiben
wollen. Die in der Ausstellung «Verschieden bis zuletzt» (2012/13) gezeigten Spuren des gelebten Lebens werden nun in
Buchform präsentiert. Die Beiträge von
Prominenten wie Gottfried Honegger,
Doris Fiala, Corine Mauch oder Iso Camartin und von Normalsterblichen kommen meist originell, heiter, manchmal
auch bemühend daher. Denn der Tod ist
zwar gesellschaftlich kein Tabu, aber
immer noch eine der grössten individuellen Herausforderungen. Dass das
Büchlein der Vergänglichkeit gewidmet
ist, zeigt sich nach zweimaligem Durchblättern, wenn die ersten der schlecht gebundenen Seiten herausfallen.
Ioannis Zelepos: Kleine Geschichte
Griechenlands. C. H. Beck, München 2014.
240 Seiten, Fr. 19.90, E-Book 12.–.
Pamela Pabst, Shirley M. Seul: Ich sehe das,
was ihr nicht seht. Hanser, Berlin 2014.
215 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 19.90.
Wer hat nicht schon verständnislos den
Kopf geschüttelt, wenn die Rede auf
Griechenland gekommen ist. Es fällt
schwer, dieses Land zwischen Orient
und Okzident zu verstehen, wenn selbst
die Griechen sich nicht darüber einig
sind, ob sie nun zu Europa gehören oder
nicht. Erschwerend für das Verständnis
wirkt sich auch aus, dass die moderne,
aber kaum bekannte Geschichte Griechenlands kompliziert ist. Der Staat ist
jung, er löste sich erst im Unabhängigkeitskrieg 1821 aus dem Osmanischen
Reich. Es folgten die Balkankriege, die
traumatische «Kleinasiatische Katastrophe», der Bürgerkrieg von 1941 bis 1949,
die Militärdiktatur und schliesslich der
EU-Beitritt. Ioannis Zelepos, Neogräzist
an der Universität München, ist ein Kenner der neugriechischen Geschichte.
Sein Buch bietet all denen einen anschaulich geschriebenen Einstieg, für die Hellas
mehr bedeutet als Urlaub am Meer.
Die Autobiografie der ersten blinden
Strafverteidigerin in Deutschland, verfasst mit Hilfe einer Ghostwriterin, ist ein
einziges Lese- und Erkenntnisvergnügen.
Pamela Pabst, geboren 1978, war als
Frühgeborene erblindet. Wie sie dank
einsatzfreudiger Eltern, grosser Intelligenz und ungeheurem Fleiss die normale Schule, dann Gymnasium und JuraStudium meistert, erzählt sie mit grosser
Frische. Erzählt von ihrer frühen Liebe
zur juristischen Sprache und zu AnwaltTV-Serien («Liebling Kreuzberg»), von
Vorleseangst, hochempfindlichen Fingerkuppen und dem richtigen Gebrauch
des Blindenstocks, erklärt, wie man mit
Hilfe von menschlichen Vorlesern und
Computern ein Staatsexamen besteht
und als Anwältin arbeitet. Sie vermisse
das Sehen nicht, weil sie es nicht kenne
– schreibt Pabst. Dank ihrem überaus
lebens- und arbeitsfreudigen Buch beginnt man dies tatsächlich zu glauben.
Jon Fosse
Einer nach dem andern schlurften sie
herein. Als Erster, seiner Zeit wie immer
voraus, erschien der avantgardistische
Lyriker. Er wäre gern ganz aussen gesessen, denn nur am Rand der Gesellschaft
sah er seinen Platz, doch die Stühle
standen im Kreis. Vor ihnen waren die
Anonymen Alkoholiker dran gewesen.
Als Nächster kam der Essayist, die
Hände tief in den Taschen seines
Samtjacketts vergraben. In der letzten
Nacht hatte er einen Rückfall gehabt,
und die Spuren des Kugelschreibers hatten sich nicht ganz entfernen lassen.
Die Lyrikerin hatte ein Buch mitgebracht (kein eigenes natürlich, das war
in dieser Runde nicht erlaubt) und las
noch im Gehen zum zehnten Mal denselben Abschnitt. Seit sie das Schreiben
aufgegeben hatte, konnte sie sich einfach nicht mehr konzentrieren.
Der Romancier kam, der Epiker und
auch der Mann, der so stolz darauf war,
dass seine Literatur nirgendwo einzuordnen war. (Die Literatur, die er früher
mal geschrieben hatte, selbstverständlich, denn inzwischen war er clean. Die
meiste Zeit clean.)
Die Luft im Versammlungsraum des
Gemeinschaftszentrums war stickig,
und das verblichene Theaterplakat an
der Wand warb für eine Inszenierung,
die schon lang nicht mehr auf dem
Spielplan stand. Der Kaffee aus der ausgeleierten Filtermaschine schmeckte
nach Löschpapier. Löschpapier, mit dem
jemand die Tinte einer Kurzgeschichte
getrocknet hatte, eines Essays, eines
Einakters, eines…
Nein, an solche Sachen durften sie
nicht einmal denken. Der Kaffee
schmeckte, wie abgestandener Kaffee
eben schmeckt, basta. Metaphern, das
wusste jeder von ihnen, waren der erste
Schritt zum Rückfall.
Der Versammlungsleiter war ein ehemaliger Krimiautor. Seit sieben Jahren
hatte er kein Wort mehr geschrieben,
und sie bewunderten ihn alle sehr dafür.
Nicht jeder hatte die Stärke, den Entzug
von der Sucht so konsequent durchzuhalten. «Wer möchte als erster etwas
sagen?», fragte der Versammlungsleiter.
Der Essayist erhob sich mit blassem,
schuldbewusstem Gesicht. Ganz langsam zog er die rechte Hand aus der Tasche und spreizte die Finger, so dass die
andern die Kugelschreiberflecken nicht
übersehen konnten.
Ein Raunen ging durch den Raum.
Nein, kein Raunen. Ein Stöhnen. «Mein
Name ist Wilhelm», sagte
der Essayist. Seine Stimme zitterte. «Mein Name
ist Wilhelm, und ich bin
Schriftsteller.»
Kathrin Meier-Rust
Geneviève Lüscher
Urs Rauber
Kathrin Meier-Rust
27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch
Europäische Union Der Milliardär George Soros und der frühere deutsche Bundespräsident
Roman Herzog wollen die EU verbessern – auf sehr unterschiedliche Weise
Therapienfürein
starkesEuropa
George Soros im Gespräch mit Gregor Peter
Schmitz: Wetten auf Europa. Warum
Deutschland den Euro retten muss, um
sich selbst zu retten. DVA,
München 2014. 192 Seiten, Fr. 29.90,
E-Book 19.90.
Roman Herzog: Europa neu erfinden. Vom
Überstaat zur Bürgerdemokratie. Siedler,
München 2014. 155 Seiten, Fr. 27.90,
E-Book 17.90.
Von Joachim Güntner
Ein Fest europäischer Einheit steht nicht
zu erwarten, wenn die Bürger der EU
vom 22. bis 25. Mai ein neues Europaparlament wählen. Gut möglich, dass ein
Drittel der Sitze an Parteien geht, denen
die Auflösung der Europäischen Union
lieber wäre als ihr Ausbau. Seit den letzten Wahlen vor fünf Jahren hat die Finanz- und Währungskrise die Gräben
zwischen EU-Ländern mit halbwegs soliden und denen mit maroden Haushalten
vertieft. Für die nun zum Sparen verdonnerten Griechen etwa ist Deutschland
ein Zuchtmeister, der weniger helfen
denn strafen will. Die hart ins Sozialsystem schneidende Austeritätspolitik und
der Zusammenbruch vieler Firmen
haben dort grausame Folgen gezeitigt:
Die Selbstmordrate ist gestiegen, die
Zahl schwerer Depressionen ebenfalls,
dafür sank das Geburtsgewicht der Neugeborenen, und es gibt wegen der
schlechten Vorsorge mehr Totgeburten.
Soros will Eurobonds
Um aber in einer globalisierten Welt zu
bestehen, muss Europa stark sein. Es
muss die Ursachen seiner Krise erfassen
und ausräumen. Diese Überzeugung bestimmt den Milliardär, Spekulanten und
Philanthropen George Soros ebenso wie
den ehemaligen deutschen Bundespräsidenten und Verfassungsrichter Roman
Herzog. Wo es allerdings konkret wird,
bei der Problemdiagnose und bei den Lösungsvorschlägen, gehen beider Auffassungen wiederholt auseinander.
Gregor Peter Schmitz, Korrespondent
des «Spiegels» in Brüssel, hat mit George
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014
Soros ein längeres Gespräch geführt, das
nun, angereichert durch immer wieder
eingeschobene Hintergrundberichte des
Journalisten, als Buch unter dem Titel
«Wetten auf Europa» erschienen ist. Der
Untertitel weist die Richtung an: «Warum
Deutschland den Euro retten muss, um
sich selbst zu retten». Die Alternative,
dass Deutschland aussteigt und zur
D-Mark zurückkehrt, wird zwar erwogen, aber mit ernsten Warnungen versehen: Die Folge, meint Soros, würde eine
stark aufgewertete D-Mark sein. Deutsche Waren würden für ausländische Abnehmer teurer, und die Handelsüberschüsse im Export, denen Deutschland
seinen Wohlstand verdankt, hätten ein
Ende. Auch würde die Produktion noch
mehr ins billige Ausland verlagert.
Die Schuld an der ruinösen Finanzkrise geben Schmitz und Soros nicht den
Spekulanten, sondern den «Strukturfehlern» der Währungsreform. So sei es «die
verhängnisvollste Schwäche der Währungsunion», dass die Mitgliedsstaaten
nicht mehr selber Banknoten drucken
könnten, sondern sich Geld in ihrer eigenen Währung von der Europäischen Zentralbank leihen müssten. Bedürftige
ständen so wie Drittweltstaaten da und
hätten viel schneller einen Staatsbankrott zu gewärtigen. Über die Folgen, die
es für die Gemeinschaft hätte, würden
einzelne Mitglieder zur Bekämpfung
ihres Haushaltsdefizits auf Teufel komm
heraus Euros drucken, verlieren die Autoren kein Wort.
Soros plädiert entschieden für eine
Vergemeinschaftung der Schulden über
Eurobonds. Anders als deutsche Bürger
glaubten, sei ihr Land keineswegs der
grossmütige Geber, sondern habe «als
grösster Profiteur einer stabilen Eurozone am meisten von deren Auflösung zu
befürchten». Schmitz stützt diese Argumentation, rechnet vor, dass die Deutschen sogar von der Krise profitierten,
weil sie sich nun besonders günstig Geld
leihen konnten und weniger für den
Schuldendienst ausgeben mussten. Nach
Schätzungen des Instituts für Weltwirtschaft habe Deutschland an der Krise
hundert Milliarden Euro verdient.
Der Leser erfährt, und das ist reizvoll,
in dem Gesprächsband einiges über den
Privatmann George Soros: über seine
Kindheit als Jude in Ungarn, über die
antisemitische Verfolgung, das Leben im
Untergrund und den bewunderten Vater,
der die eigene und auch andere Familien
mit gefälschten Papieren schützte, nachdem die Nazis im März 1944 Budapest
besetzt hatten. Amüsant, dass Soros eigentlich Philosoph werden wollte. Für
ihn ist die Europäische Union – nicht die
USA – «das ideale Modell einer offenen
und freien Gesellschaft». Er bemängelt,
dass die Währungsunion ohne politische
Union vollzogen wurde. Seine Botschaft
ist eindeutig: Die EU braucht mehr innere Grosszügigkeit und Solidarität, am
Euro muss festgehalten werden, und am
Ende der europäischen Einigung sollte
ein Staatenbund mit einem volksnahen
Parlament, eigenen Ministerien und
einer Regierung stehen.
Herzog gegen Regelungswut
Roman Herzog, der «Europa neu erfinden» will, liest sich um einiges zurückhaltender. Der Überstaat, zu welchem
Politiker und Bürokraten in Brüssel die
EU entwickelten, müsse einer Bürgerdemokratie weichen. Sein Buch beginnt
mit einer Darstellung des institutionellen Aufbaus der EU – hier hat der Text die
nüchterne Qualität eines Lehrbuchs. Wie
sind die Befugnisse zwischen Europäischem Rat, Ministerrat, Europäischer
Kommission und Europäischem Parlament verteilt? Deutlich macht Herzog die
Schwäche des europäischen Parlaments,
das weder selbst Gesetze initiieren noch
den Präsidenten der EU-Kommission
oder deren Mitglieder vorschlagen kann,
sondern dem nur übrig bleibt, in Abstimmungen das Schlusswort zu sprechen,
also Vorschläge abzulehnen oder anzunehmen. Die EU, bilanziert Herzog seine
Institutionen-Analyse, biete «ein Bild,
das viel mehr einer konstitutionellen
Wahlmonarchie ähnelt als dem einer
parlamentarischen Demokratie».
Zum Demokratie-Defizit gehört, dass
Brüssel dem Prinzip der Subsidiarität,
obwohl es vertraglich verankert ist, zu
IMAGO
wenig huldigt. Einmischung in Belange
der Mitgliedsstaaten sind gang und gäbe.
Die politisch-bürokratische Regelungswut, von Herzog als «Normenhypertrophie» bezeichnet, hat den aquis communautaire, die Gesamtheit aller Vorschriften und Verträge in der EU, auf
über sechzigtausend Druckseiten anschwellen lassen. Beabsichtigt war dabei
eine Angleichung der Rechtsverhältnisse, doch das Resultat ist für Bürger und
Unternehmer undurchsichtig. Roman
Herzog verlangt hier nach energischem
Rückbau.
Zwei Unterschiede zur Position von
George Soros fallen besonders ins Auge.
Roman Herzog hält es lieber mit einer
Politik des Sparens statt mit einer Vergemeinschaftung der Schulden. Verschwender sollten bestraft werden, allerdings nicht mit Geldbussen, die ja ihr
ökonomisches Desaster noch verschlimmern, sondern etwa mit dem Entzug von
Stimmrechten.
Und anders als Soros verlangt Herzog
nicht danach, die EU stärker politisch zu
vereinigen. Dazu fehle es an Homogenität der Teilnehmer. Vielmehr überlegt er
ein Zwei-Schichten-Modell: Dann gäbe
es einerseits die Staaten, welche dieselben Wertüberzeugungen teilen, darum
eng zusammenarbeiten können und –
Herzog gebraucht diesen Ausdruck nicht,
aber wir verstehen ihn so – gleichsam ein
auch politisch vereinigtes Kerneuropa
bilden. Daneben aber den weiten Kreis
europäischer Staaten, für welche die EU
bloss ein Wirtschaftsverbund ist. Einer
Aufnahme zum Beispiel der Türkei in die
Wirtschaftsgemeinschaft stände dann
nichts entgegen, mag das islamische
Land auch politisch noch nicht in Europa
angekommen sein.
Von den beiden Büchern hat der frühere deutsche Bundespräsident Herzog
den trockeneren und dennoch originelleren Text vorgelegt; George Soros ist eher
etwas für EU-Enthusiasten. ●
Wohin geht der
Weg: Auflösung
oder Ausbau der
EU? Die Wahlen
zum Europäischen
Parlament am 25. Mai
2014 werden darüber
Aufschluss geben.
Im Bild das
österreichische
Parlament in Wien.
Über 35‘000 bÜcher
aus zweiter hand!
Grösster Onlineshop für gebrauchte
Bücher der Schweiz
<wm>10CAsNsjY0MDAx1TUysDA0NwYA3aPlRA8AAAA=</wm>
<wm>10CFXKIQ7DQAxE0RN5NeO113EMq7CooApfEgX3_qhtWKX_2dv38ob7x_Y8tlcRMBfFwujl6Y1gMXuzkQVDKGgrUoNM-J8XMEdHnz8j-BYTKTrEbGpke5_XB9zZTjlyAAAA</wm>
Kontakt
Sara Grob, Betriebsleiterin
071 393 41 71
071 393 41 72
[email protected]
Tel.
Fax
Email
http://facebook.com/buchplanet.ch
http://blog.buchplanet.ch
Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam
www.tosam.ch
27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Schweiz Botschafter Paul Widmer hat ein Handbuch zur Diplomatie geschrieben – ein Standardwerk,
auch wenn es Calmy-Reys ambitiöse Aussenpolitik skeptisch beurteilt
«Nichtda,umKaffeezuservieren»
Paul Widmer: Diplomatie. Ein Handbuch.
NZZ Libro, Zürich 2014. 496 Seiten,
Fr. 64.90.
Von Michael Ambühl
ALESSANDRO DELLA VALLE / KEYSTONE
«Zu allen Zeiten gab es Situationen, in
denen Völker das Bedürfnis hatten, ihre
Probleme nicht mit Krieg, sondern mit
Verhandlungen zu lösen. Dazu bedarf es
des Gesprächs.» Oder eben der Diplomatie. Wer sich für diese interessiert, der
liegt mit dem neuen Buch «Diplomatie»
von Paul Widmer genau richtig.
Es trägt seinen Untertitel «Ein Handbuch» zu Recht. Das rund 500 Seiten zählende Werk bietet in der Tat eine umfassende und systematische Darstellung
des weiten Feldes der Diplomatie. Den
Begriffsbestimmungen folgt eine ausführliche Beschreibung der Geschichte.
Zudem sind die Regeln der Diplomatie
sowie deren Formen und Funktionen
zentrale Themen. Abgerundet wird das
Handbuch durch ein Glossar der diplomatischen Sprache. Wer sich allerdings
einen verstaubt daherkommenden Ringordner vorstellt, täuscht sich. Das Buch
ist ansprechend geschrieben und enthält
zahlreiche Anekdoten – ein wahrer Fundus für Redenschreiber in Aussenministerien. Es ist informativ und wohltuend
systematisch. Widmer hat keinen weiteren Beitrag zur ohnehin schon reichen
Memoirenliteratur geliefert.
Die Darstellungen Widmers berücksichtigen die vorhandene internationale
Literatur, erfolgen aber aus einem
Schweizer Blickwinkel. Allerdings werden überall Querbezüge zu diplomatischen Diensten anderer Länder gemacht,
insbesondere zum Auswärtigen Amt von
Deutschland. Dass sich das Kapitel über
Theorien, welche die Sonderbehandlung
von Diplomaten begründen. Schon früh
bereitete es den Normalbürgern Mühe,
den Verstoss gegen das Gleichbehandlungsgebot zu verstehen. Die heute gängigste Begründung geht auf den Schweizer Völkerrechtler Emer de Vattel (1717–
67) zurück. Sie argumentiert mit der Notwendigkeit der ungestörten Amtsausübung des diplomatischen Personals und
hat ihre Berechtigung insbesondere in
schwierigen Staaten. Um Abgrenzungsprobleme zu vermeiden, gelten die Regeln auch in den problemlosen Ländern.
Obwohl Diplomaten weltweit gehalten
sind, die Gesetze des Empfangsstaates
zu respektieren, sind Verstösse insbesondere gegen Verkehrsregeln an der Tagesordnung. Zudem ist die Zahlungsmoral schlecht: Nur gerade 7 Prozent der
Parkbussen werden beglichen.
Es liegt nahe, dass sich Widmer in seinem Handbuch auch eingehend mit der
Person des Diplomaten resp. der Diplomatin beschäftigt. Die Aufzählung der
charakterlichen und beruflichen Eigenschaften sowie der amtlichen Funktionen ist ausführlich. Widmer scheut sich,
zu Recht, auch nicht vor einer Wertung,
diese fällt manchmal gar positiv aus.
die Geschichte der Diplomatie auf den
westlichen Kulturkreis beschränkt, erscheint angesichts der sonst grossen
Fülle von Informationen über die globale
Diplomatie als lässliche Sünde.
Ist Diplomatie nötig?
Der Autor befasst sich einleitend mit der
Frage, ob es die Diplomatie überhaupt
noch brauche, wo doch die Übermittlungstechnologie so vieles revolutioniert
habe. Interessanterweise scheint diese
Infragestellung eine lange Tradition zu
haben. So hat bereits Hugo Grotius, der
Begründer des Völkerrechts, Anfang des
17. Jahrhunderts befunden, man solle die
Diplomatie am besten gleich wieder abschaffen. Und Lord Palmerston, bedeutender britischer Staatsmann, meinte
nach der Einführung der Telegraphie:
«My God, this is the end of diplomacy.»
Widmer ist überzeugt, dass man sich um
die Zukunft der Diplomatie keine Sorgen
machen müsse, denn unabhängig von
Theorien und Technologien, werde die
Diplomatie weiterbestehen.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ging es
bei der Schweizer Diplomatie weniger
um die Frage des Weiterbestehens als
schlicht um das Bestehen. Ein Aussenministerium gab es bis 1848 gar nicht. Auch
dem jungen Bundesstaat waren die Beziehungen zum Ausland nicht sehr wichtig: Das Aussenministerium – das Politische Departement, wie es damals hiess –
leitete jeweils der Bundespräsident, sein
Beamtenpersonal bestand aus einem Sekretär. Erst 1857 ernannte der Bundesrat
einen professionellen Gesandten und
schickte ihn nach Paris. Bald darauf eröffnete die Schweiz auch Gesandtschaften in Wien, Rom und Berlin.
Widmer erläutert im Abschnitt über
die Vorrechte und Immunitäten die
Gute Dienste und Mediation
Bundespräsident
Didier Burkhalter am
Neujahrsempfang
im Bundeshaus am
15. Januar 2014:
Der ghanesische
Botschafter Sammie
Pesky Eddico stellt
ihm Diplomatinnen
seiner Botschaft vor.
Im letzten der 15 Kapitel kommt der
Autor auf einen in der Öffentlichkeit besser bekannten Aspekt der Diplomatie zu
sprechen, die sogenannte Drittstaatendiplomatie. Neben den begrifflichen Klärungen – gute Dienst im engeren Sinne
(ohne Beteiligung des Drittstaates an den
Verhandlungen) und Mediation (mit
einer aktiven Rolle des Dritten) – werden
auch verschiedene diesbezügliche Aktionen der Schweiz dargestellt. Hier glaubt
man die politische Haltung des Autors
herauszuspüren, der einer ambitiöseren
Aussenpolitik gegenüber skeptisch ist.
Dass Schweizer Aussenpolitiker oft mehr
machen möchten, als nur Hotelierdienste
anbieten, stösst bei ihm nicht auf viel
Verständnis. «On n′est pas là pour servir
le café», pflegte die frühere EDA-Chefin,
Bundesrätin Micheline Calmy-Rey, zu
sagen. Für Widmer aber ist Mediation
weniger ein Geschäft für Klein- als für
Grossstaaten. Dem widersprechend
haben aus Sicht des Rezensenten die
Grossen allerdings oft Eigeninteressen,
die eine glaubwürdige Vermittlung erschweren. Diesen Makel hat die neutrale
Schweiz nicht – einen Trumpf, den sie
aus Sicht ausländischer Beobachter
durchaus noch vermehrt ausspielen
könnte. Eine aktive Friedens(-Vermittlungs-)Politik ist dem Ansehen der
Schweiz sehr zuträglich – gerade auch
vor dem Hintergrund, dass unser Land
nur allzu oft als wenig solidarisch wahrgenommen wird. ●
Michael Ambühl ist Professor für
Konfliktmanagement an der ETH
Zürich. Zuvor war er Staatssekretär im
Eidgenössischen Finanzdepartement.
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014
Schwarzmarkt Nach wie vor gibt es Menschenhandel in Europa
Michael Jürgs: Sklavenmarkt Europa. Das
Milliardengeschäft mit der Ware Mensch.
C. Bertelsmann, München 2014.
352 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 19.90.
Von Berthold Merkle
Die schrecklichen Bilder über die menschenverachtenden Lebensbedingungen
der asiatischen Bauarbeiter an den WMStadien in Katar haben alle schockiert.
Doch dieses Elend ist mitten unter uns,
zeigt Michael Jürgs in seinem neuen
Buch «Sklavenmarkt Europa».
Der renommierte deutsche Journalist,
ehemals «Stern»-Chefredaktor, ist fassungslos angesichts des wirtschaftlichen
Ausmasses dieser schmutzigen Branche.
15 Milliarden Euro im Jahr setzen die kriminellen Organisationen damit um. Der
68-Jährige ist ein alter Hase des Journalismus, doch fällt es ihm beim Beschreiben der Zustände und Geschäftspraktiken schwer, die Contenance zu wahren.
«Begehrteste Ware im internationalen
Menschenhandel ist die Ware Frau»,
schreibt Jürgs. Auf dem Sexmarkt würden 58 Prozent der Umsätze erzielt, 36
Prozent durch Zwangsarbeit und Dienstbotenausbeutung und immerhin noch
1,5 Prozent mit zu Bettlern «abgerichteten» Kindern.
Der Autor verwendet bewusst die
Sprache von Finanzanalysten. «Darf man
das?», fragt er und hat so seine Zweifel.
Aber mit der scheinbar unbeteiligten
Sehweise kann er das ganze widerwärtige Gebilde in seiner perversen Logik
sezieren. Sexuelle Ausbeutung sei ein sicherer Wachstumsmarkt, heisst es da.
Denn: «Jedes Jahr wachsen ihm neue
Kunden nach, jedes Jahr erlangt eine
neue Ware Marktreife.» Durch das grosse
Angebot sinken die Preise, so dass sich
die Freier für 25 Euro in den Laufhäusern
bedienen lassen können. Michael Jürgs
weiss, dass diese Bezeichnungen zynisch
sind. Doch sieht er darin für sich eine
Vorsichtsmassnahme: der «Zynismus
schützt mitunter vor Verzweiflung».
Gelegenheit dazu hat er mehr als
genug auf seiner Reise durchs Reich der
Finsternis zwischen den Lieferantenländern im Osten Europas und den Abnehmern im Westen. Er ist bei Strategietagungen von Europol und bei FrontexEinsätzen dabei. Dort hört er unglaubliche Geschichten. Von jungen Mädchen
beispielsweise («blonde Moldawierinnen
sind ein Exportschlager»), die direkt am
Flughafen versteigert werden, um fortan
ihren Kaufpreis in Bordellen abzuarbeiten. Dass ihnen dies nie gelingt, ist für
den Verfasser nur ein weiteres perfides
Indiz für die gigantische Geldmaschine
der kriminellen Organisationen.
Die Menschenhändler haben bei kurzen Transportwegen und offenen Grenzen besonders profitable Bedingungen.
Dank des riesigen ökonomischen Ungleichgewichts in Europa treffen die Versprechungen für ein besseres Leben bei
armen Familien im Osten auf offene
Ohren, so dass sie ihre Töchter auch
«freiwillig» den «Arbeitsvermittlern»
mitgeben. Den Widerstand am Zielort
brechen dann «Violent Specialists», die
ALESSANDRO DELLA BELLA / KEYSTONE
EineSchandedes
21.Jahrhunderts
Mögliche Opfer von Menschenhandel:
Prostituierte am Zürcher Sihlquai (April 2010).
ihr brutales Handwerk in den Uniformen
der ehemaligen Diktaturen gelernt haben
und nach dem Ende des Ostblocks nicht
lange nach neuen Tätigkeitsbereichen
suchen mussten.
Makabrer Höhepunkt ist das Organgeschäft auf dem Sinai. Jürgs dachte erst
an eine Spielart der legendären Wandermärchen. Doch er kennt Zeugen, die
die ausgeschlachteten Körper gesehen
haben. Was die Zwangsprostituierten in
den Rotlichtvierteln im übertragenen
Sinne sind, wird hier wortwörtlich vermarktet: Frischfleisch. Jürgs nennt Menschenhandel in jeder Form eine Schande
und fordert beim Kampf gegen die Sklavenhändler den gleichen Einsatz wie
gegen den Terrorismus. Einen ersten
Schritt dazu hat er mit seinem engagierten Buch getan: Diese unglaublichen Geschichten rütteln wach – so fest, dass es
richtig weh tut. ●
Politik Yvette Estermann schildert ihren Weg von der Migrantin zur SVP-Nationalrätin in Luzern
Musterschweizerin aus der Slowakei
Yvette Estermann: Erfrischend anders.
Mein Leben. Orell Füssli, Zürich 2014.
224 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 21.–.
Von Urs Rauber
Wäre die Ärztin Yvette Estermann nicht
Politikerin, würde sie wohl als Musterschweizerin wahrgenommen: eine harmonische Persönlichkeit, charakterfest,
hilfsbereit, traditionsbewusst und grün
angehaucht. Doch Estermann sagt auch:
«Ich bevorzuge die direkte Sprache und
nenne die Dinge etwas unschweizerisch
meist beim Namen.» Wenn eine solche
Person die Masseneinwanderung und
den Sozialhilfemissbrauch anprangert,
goutieren das ihre Kontrahentinnen
schlecht. Obwohl sie als Frau und Ausländerin eine Karriere hingelegt hat, auf
die eine linke Partei stolz wäre, hätte sie
die Exponentin in ihren Reihen.
Geboren 1967 im slowakischen Bratislava, wächst Yvette in einer gläubigen
Familie auf, wird als eifrige Schülerin
Klassenbeste, erlebt, wie im morschen
Sozialismus der 80er Jahre «die Arbeitsmoral und die Motivation der Menschen
im Keller» sind. 1993 promoviert sie zur
Ärztin und kommt der Liebe wegen in die
Schweiz. Hier eröffnet sie in Luzern eine
Praxis für klassische Homöopathie und
Naturmedizin. 1999 erhält sie das
Schweizer Bürgerrecht, tritt der SVP bei
und rutscht bald als erste Ersatzfrau in
den Luzerner Grossrat. Im Oktober 2007
wählen sie die Luzerner Stimmberechtigten mit Glanz in den Nationalrat.
Estermanns Kampf für Freiheit und
Unabhängigkeit, für Eigenverantwortung, Sicherheit und einen gesunden Patriotismus wurzeln in ihrer sozialistischen Prägung. Im Kantonsparlament
setzt sie sich dafür ein, dass in den Schulen die Landeshymne gelehrt wird, was
bei der Jugend erstaunlicherweise gut
ankommt. Klare Worte wählt sie auch,
wenn es um die «linkslastige» Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft geht,
die seit Jahren versuche, «das Rütli politisch zu instrumentalisieren, indem nur
ihr genehme Gruppen am Bundesfeiertag das Rütli betreten dürfen». Die äusserlich sanft auftretende SVP-Politikerin
kämpft gegen Frauenquoten ebenso wie
gegen gentechnisch veränderte Pflanzen. Eher skurril muten ihr (erfolgloser)
Kampf für die Abschaffung der Sommerzeit und ihre esoterisch-philosophischen
Auffassungen zu Glück, Meditation und
persönlicher Balance an.
Innerhalb der SVP aber zählt Estermann nicht zu den Hardlinern, sondern
plädiert für mehr Kompromiss- und Kooperationsbereitschaft gegenüber anderen sozialen Kräften. Stolz verweist sie
auf ihr Pflichtbewusstsein als Volksvertreterin: Gemäss Internet-Plattform «Politnetz» habe sie am wenigsten gefehlt im
Parlament, und als eine der ganz Wenigen übe sie keine anderen Mandate aus.
«Erfrischend anders»: So sieht sie sich im
kurzweilig geschriebenen Selbstporträt
– durchaus zu Recht. ●
27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Gesellschaft Immer mehr Frauen fragen sich, wie sie im Alter leben wollen; Selbstbestimmung und
Gemeinschaft stehen dabei im Zentrum
WohnengegendieAlterseinsamkeit
Annerose Sieck: Weiberwirtschaften.
Gemeinschaftlich wohnen und leben
auch im Alter. Ueberreuter, Wien 2014.
223 Seiten, Fr. 29.90.
Die Gesellschaft altert. 2060 wird jeder
dritte Mensch 65 Jahre oder älter sein,
und es werden sich darunter deutlich
mehr Frauen als Männer befinden. Die
wenigsten werden den Lebensabend in
einer luxuriösen Residenz mit diskreter
Pflegeabteilung verbringen können.
Viele Alleinstehende – gleichzeitig oft Alleinerziehende – haben in ihrem Arbeitsleben nur wenig auf die hohe Kante legen
können, ihnen winkt die Altersarmut.
Anderen steht nach dem Ableben des
Partners ein zu gross gewordenes Haus,
eine zu weitläufige Wohnung zur Verfügung, in der sie vereinsamen.
Gegen diese wenig rosigen Aussichten
fangen viele Frauen an, Massnahmen zu
ergreifen. Die «Oma-Option», die Kaffeefahrt und der Seniorinnen-Stammtisch
sind ihnen zu wenig. Sie wollen ihr Leben
auch im Alter aktiv gestalten und begeben sich auf die Suche nach neuen Wohnformen, gehören sie doch einer Generation an, für die das Wort «Wohngemeinschaft» kein Fremdwort ist.
Seit einigen Jahren entstehen, nicht
nur in Deutschland, Österreich und der
Schweiz, alternative Wohnprojekte für
Frauen im Rentenalter. Die deutsche Historikerin und Journalistin Annerose
Sieck (geboren 1958) hat sich einige
davon angesehen, hat die Bewohnerinnen nach ihren Beweggründen, ihren Erfahrungen, Ängsten und Sorgen befragt
und sie selber erzählen lassen. Viel Posi-
INGRID FARAG
Von Geneviève Lüscher
tives und wenig Negatives ist dabei zusammengekommen. Für ihre Recherchen reiste Sieck unter anderem nach
München, Hamburg, Stuttgart sowie
nach Wien, leider hat es für die Schweiz,
aus welchen Gründen auch immer, nicht
gereicht. Dennoch dürften die Schlussfolgerungen und Denkanstösse auch
hierzulande auf viel weibliches Interesse
stossen.
«Frauen sind eher bereit als Männer,
sich auf alternative Wohn- und Lebensformen einzulassen», schreibt Sieck. Und
das nicht erst im Alter. So hat sie festgestellt, dass sich Frauen schon mit 40 oder
50 Jahren Gedanken über neue Wohnformen machen und diese auch ausprobieren. Schon seit den 1990er Jahren entstehen Vereine und Genossenschaften, die
«Wohnraum von Frauen für Frauen» organisieren. Die Pionierinnen wollten
Nicht nur ältere
Frauen finden sich zu
Wohngemeinschaften
zusammen: Projekt
KalYpso in Wien.
weder im Altenghetto noch mit ihren
Kindern unter einem Dach leben und
auch nicht in eine «normale» WG einziehen. Sie wollten eigenständig leben, aber
nicht allein. Jede sollte in der Hausgemeinschaft eine eigene Wohnung haben.
Heute gibt es in Deutschland über 250
Wohnprojekte dieser Art, noch häufiger
finden sie sich in Skandinavien und den
Niederlanden.
Im Gespräch mit den Bewohnerinnen
stellte sich heraus, dass allen Beteiligten
klar sein muss, dass ein solches Wohnprojekt kein Familienersatz sein kann,
dass die eigenen sozialen Netzwerke und
Aussenbeziehungen, auch mit Männern,
wichtig sind. Selbständigkeit ist unabdingbar; Pflegeleistungen können die
Mitbewohnerinnen keine erbringen; in
solchen Fällen bleibe auch hier nur die
Klinik. Die Frauen sollten bestimmte
charakterliche Eigenschaften mitbringen
wie soziale Kompetenz, Toleranz, Konfliktfähigkeit, Interesse an Anderen,
Neugier und die Bereitschaft zu lernen.
Denn das gute Funktionieren der Gemeinschaften müsse in jedem Fall und
immer wieder erarbeitet werden, es sei
nicht gottgegeben, das Experiment
könne auch scheitern; nicht immer würden die hohen Erwartungen erfüllt. Fast
überall bereite das Austarieren der Bedürfnisse nach Nähe und Abgrenzung,
die sehr individuell ausgeprägt seien, die
grössten Schwierigkeiten.
Männer als Mitbewohner seien in diesen Frauenwohnprojekten kein Thema.
Nicht explizit ausgeschlossen, gälten sie
aufgrund ihres dominanten Verhaltens
in den meisten WG als Störfaktor und
seien nur besuchsweise geduldet – «nur
ambulant, nicht stationär», wie es eine
der Frauen ausdrückt. ●
Polen Eine Biografie über Ryszard Kapuscinski stutzt den Dritt-Welt-Reporter auf Normalmass zurück
Die Legenden einer Legende
Artur Domoslawski: Ryszard Kapuscinski.
Leben und Wahrheit eines «Jahrhundertreporters». Rotbuch, Berlin 2014.
688 Seiten, Fr. 44.90.
Von Kathrin Meier-Rust
Der «beste Reporter der Welt», ein «Herodot unserer Zeit» – der polnische Journalist Ryszard Kapuscinski (1932–2007) war
dank seiner hochberühmten Bücher
(«Afrikanisches Fieber», «Shah-in-Sha»
über den Iran, «Imperium» über den Zerfall der Sowjetunion, u.a.) schon zu Lebzeiten eine Legende. Die Biografie, die
drei Jahre nach seinem Tod erschien, war
deshalb in Polen eine Sensation. Denn
Artur Domoslawski, selbst Journalist
und ein bewundernder Schüler und
Freund des Meisters, hatte, wie er
schreibt, «viele Dinge über Kapuscinskis
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014
Leben entdeckt, die ich lieber nicht gewusst hätte.»
Nun liegt diese Biografie auch auf
deutsch vor, ein äusserst lebendiges,
aber mit knapp 700 Seiten für nichtpolenkundige Leser eher schwer zu bewältigendes Konvolut, das mit zahllosen
direkten Zitaten vieler Weggefährten von
«Kapu» gespickt ist. Domoslawski hat sowohl in Polen als auch an den Originalschauplätzen von Kapuscinskis Tätigkeit
breit recherchiert, also in Indien, Afrika,
Süd- und Mittelamerika, wo er als Korrespondent der polnischen Presseagentur
arbeitete.
In Polen erregten nebst den privaten
Frauengeschichten vor allem Kapuscinskis Kontakte zum Geheimdienst die Gemüter, sie sind inzwischen unbestritten,
aber als unwichtig erkannt. Für westliche «Kapu»-Bewunderer sind dagegen
fünf mit dem Titel «Legenden» über-
schriebene Kapitel von grösstem Interesse: Der Biograf weist dem Reporter hier
zahlreiche blumige Ausschmückungen,
Übertreibungen und biografische Unwahrheiten nach, die natürlich der eigenen Heroisierung ungemein dienlich
waren. Für kritische Leser der literarisch-stilisierten, von Fakten und Analyse weitgehend freien Kapuscinski-Bücher bleibt die grosse Überraschung jedoch aus.
Dass der immer liebenswürdige Meister, in Krieg und Armut aufgewachsen,
den Armen dieser Welt in echtem Idealismus verpflichtet war, dass sein Fleiss
enorm und seine journalistische Leistung aussergewöhnlich waren, dass er
als überzeugter Kommunist nach 1989
ratlos in der ideellen Heimatlosigkeit
strandete – dies alles gehört zum wahren
Menschen, auf den diese Biografie die
Legende zurückstutzt. ●
China Von Maos mörderischem «Grossen Sprung» zu Dengs befreiendem Konsumwunder
Siehättenunterschiedlicher
nichtseinkönnen
Frank Dikötter: Maos grosser Hunger.
Massenmord und Menschenexperiment
in China. Klett-Cotta, Stuttgart 2014.
526 Seiten, Fr. 39.90, E-Book 33.90.
Felix Lee: Macht und Moderne. Chinas
grosser Reformer Deng Xiaoping.
Rotbuch, Berlin 2014. 287 S., Fr. 35.40.
Zwischen 1958 und 1962 verwandelte
sich China in eine Hölle auf Erden. Mao
Zedong trieb das Land in den Wahnsinn
des «Grossen Sprungs nach vorn», mit
dem er in weniger als 15 Jahren die Industrienation Grossbritannien einholen
wollte. Das Experiment endete mit der
grössten Katastrophe der chinesischen
Geschichte. Sie kostete mindestens
45 Millionen Menschen das Leben. Dieses Fazit zieht Frank Dikötter in seinem
Buch «Maos grosser Hunger». In eine
ganz andere Richtung führte Deng Xiaoping das Reich der Mitte. Mit dem grössten Wohlstandsgewinn, den es in der
Menschheitsgeschichte gegeben hat, ist
Dengs Name verbunden. Kein Staatsführer vor ihm hat innerhalb derart kurzer
Zeit so viele Menschen aus der Armut befreit. So urteilt Felix Lee in seinem Buch
«Macht und Moderne» über den grossen
Reformer Deng Xiaoping.
Dikötter schildert, warum Mao den
Startschuss zum «Grossen Sprung nach
vorn» gab und wie sich die Kampagne
entwickelte. Dann beschreibt er das Ausmass der Zerstörungen in Landwirtschaft, Industrie, Handel, Wohnraum
und Umwelt und geht der Frage nach,
wie der grosse Plan der Führung durch
die alltäglichen Überlebenstechniken
der Bevölkerung verwandelt wurde, so
dass etwas entstand, das niemand im
Sinn gehabt hatte und kaum jemand verstand. Mit geschönten Produktionsziffern streuten subalterne Funktionäre
vorgesetzten Stellen Sand in die Augen.
Arbeiter in den Städten stahlen, drückten sich um die Arbeit oder sabotierten
die Befehlswirtschaft, während die
Landbevölkerung eine Vielzahl von
Selbstschutzmechanismen entwickelte,
sei es, dass Bauern das Getreide noch auf
dem Feld assen, sei es, dass sie Getreidelager plünderten, Parteibüros in Brand
setzten, Güterzüge überfielen oder gelegentlich sogar zu den Waffen griffen, um
sich gegen das Regime zu erheben.
Eine Doktrin, zwei Politiker
Schliesslich zeigt Dikötter anhand von
Hunderten oft grauenhaften Fallbeispielen, wie Kinder, Frauen und alte Menschen ums Überleben kämpften und wie
die Menschen starben: keineswegs
immer nur infolge Hungers, sondern
auch durch Unfälle, Krankheit, Folter,
Mord oder Selbstmord. Abschliessend
berichtet der Autor über die von ihm aus-
ULLSTEIN BILD
Von Harro von Senger
Mao Zedong (1893−
1976) und Deng
Xiaoping (1904−1997)
beim freundlichen
Händeschütteln in
den 1960er Jahren, als
Deng noch ein braver
Gefolgsmann Maos
war.
gewerteten mehr als 1000 Dokumente in
chinesischen Archiven, die vor ihm kein
westlicher Wissenschafter zu Gesicht bekommen hat.
Wie einen Fächer entfaltet anderseits
Felix Lee Deng Xiaopings Leben, von seiner Kindheit in einem kleinen Dorf in Sichuan über eine Werkstudentenzeit in
Frankreich, einen kurzen Studienaufenthalt in Moskau, jahrzehntelange Organisationstätigkeit im Schosse der Kommunistischen Partei Chinas als treuer Gefolgsmann Mao Zedongs, und zwar auch
während der Epoche des «Grossen
Sprungs», bis zu seinem Sturz zu Beginn
der «Kulturrevolution» (1966–76), seinem Wiederaufstieg 1973 und seinem erneuten Sturz 1975, seiner Rückkehr an
die Macht 1977 und seiner bahnbrechenden Herrschaftszeit bis Anfang der
1990er Jahre als «Befreier Chinas von
den Schrecken der Mao-Zeit.»
Die beiden Autoren führen vor Augen,
dass innerhalb eines halben Jahrhunderts zwei Politiker über das grösste Volk
der Erde herrschten mit Ergebnissen, wie
sie gegensätzlicher nicht sein konnten.
Und zwar wirkten sie im Rahmen des
stets gleich bleibenden, der Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei Chinas unterstehenden Einparteienstaates!
Wie lässt sich dieses Paradoxon erklären?
Aus Dikötters Buch erfährt man, dass
der «Grosse Sprung» als Vorstufe zu
einem kommunistischen Schlaraffenland mit Luxusgütern wie Glastüren und
Goldfischbecken angesehen wurde und
China an die Spitze der entwickelten Nationen katapultieren sollte. Deng, wie
Mao bis zum Schluss Anhänger eines autoritären Staatsverständnisses, hielt an
dem Ziel, entwickelte Länder einzuholen
und letztlich eine klassenlose, soziale
Gesellschaft aufzubauen, fest. Aber er
wählte, offensichtlich klug geworden
durch den seinerzeit von ihm rücksichtslos mitgetragenen «Grossen Sprung nach
vorn», einen langsameren Weg, ohne die
unermesslichen Kollateralschäden, die
Mao in Kauf genommen hatte. Das Land
sollte nicht durch allzu ruckartige Veränderungen in Mitleidenschaft gezogen
werden.
Wenig Tiefgang
Dikötters Publikation stellt noch den
schauderhaftesten westlichen Horrorfilm in den Schatten. Aber nicht alle
seine Darlegungen überzeugen. So
schreibt er, der mögliche Tod von Milliarden Menschen in einem Atomkrieg sei
Mao offenbar gleichgültig gewesen, um
im selben Atemzug Maos Aussage als
nicht ernst gemeint hinzustellen, denn
Mao habe lediglich geblufft. Maos Ausspruch «Wir lassen besser die Hälfte der
Menschen sterben, damit die andere
Hälfte genug zu essen hat» soll dann wieder ernst genommen werden. Zweimal
erwähnt Dikötter die Chinesische Akademie für Sozialwissenschaften, die es aber
in der fraglichen Epoche gar nicht gab.
Erst in den 1970er Jahren wurde sie, so
Felix Lee, auf Betreiben Deng Xiaopings
errichtet. Lees Buch ist flüssig geschrieben, bleibt aber, was die seit 1949 unverändert geltenden sinomarxistischen
methodischen Vorgehensweisen der
Führerpersonen betrifft, genauso an der
Oberfläche wie das Werk Dikötters. ●
Harro von Senger ist em. Professor für
Sinologie an der Uni Freiburg i. Br.
27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Asien Der Historiker Perry Anderson kritisiert Gandhis Vermächtnis
Indienleidetanseinen
chronischenProblemen
Perry Anderson: Die indische Ideologie.
Berenberg, Berlin 2014. 192 Seiten,
Fr. 32.90.
Indien hatte in den letzten Jahren eine
gute Presse im Ausland. Nach den überfälligen Wirtschaftsreformen von 1991
schlug das jahrzehntelange Lamento
über diese «Area of Darkness» (der Titel
von V. S. Naipauls erstem Indien-Buch)
in wachsende Wertschätzung um. Beim
Jahrtausendwechsel betrat die IT-Industrie die internationale Bühne und Indien
wurde zum Star. Der trottende Elefant
hatte plötzlich Flügel.
Die Finanzkrise hat ihm die Flügel
wieder gestutzt. Mit der Halbierung des
raschen Wachstums verdoppelt sich die
Kritik. Auch die Wissenschaft setzt sich
erneut mit den andauernd miserablen
Sozialindikatoren des Landes auseinander. Dazu gehört das Indien-Traktat des
amerikanischen Historikers Perry Anderson. Sein Buch begnügt sich allerdings
nicht mit der bekannten Auslegeordnung
von Indiens chronischen Problemen. Es
setzt zu einer Fundamentalkritik seiner
nationalen Ideologie an.
Anderson findet sie im überparteilichen Konsens der indischen Eliten, die
Indien als Erfolgsmodell der postkolonialen Welt sehen – lebendige Demokratie, religionsübergreifende säkulare Praxis, territoriale Stabilität. Dem ist nicht
so, räsoniert Anderson. Indiens Demokratie verfüge nur über eine Input-Legitimität (Wahlen, Parlamente, Gerichte).
Die entscheidenden Output-Kriterien
dagegen – sozialer Schutz, Wohlstand für
alle, Menschenrechte – verpasse es bei
weitem. Im Gegensatz zu China, behauptet Anderson boshaft: Dessen OutputLegitimität kann sich demokratische Inputs schenken.
Hinduismus schöngeredet
Dasselbe gilt für die beiden anderen Pfeiler der nationalen Ideologie. Der vielgerühmte Säkularismus sei ein schlecht
kaschierter «Majoritarismus» der HinduMehrheit. Indiens religiöse Toleranz besteht den strengen Test seiner europäischen Definition nicht («Der Staat ist
a-religiös»). Das Land begnügt sich mit
dem faulen Kompromiss eines Staats in
toleranter Äquidistanz zu allen Religionen, was dem angeblich toleranten Hinduismus einen weiteren Startvorteil gibt.
Auch die territoriale Einheit ist für Anderson Wunschdenken. Er geisselt die
Kaschmirpolitik des indischen Staats als
längste militärische Besetzung weltweit,
ohne Rücksicht auf die Gefühle der Bewohner oder auf internationale Verpflichtungen. Im Nordosten dasselbe:
Die Stammesstaaten wären längst frei,
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014
MARCO BULGARELLI / LUZ / FOTOGLORIA
Von Bernhard Imhasly
Indien zwischen
IT-Boom, säkularem
Staat und miserablen
Sozialindikatoren:
Wanderarbeiter in
Bangalore.
wenn Delhi dem Prinzip der Selbstbestimmung nachleben würde.
Für Anderson ist dies nicht eine Mängelliste. Es sind im Gegenteil inakzeptable Geburtsfehler und damit die logische
Folge von Prozessen, die bereits in der
Freiheitsbewegung angelegt waren: Gandhis Hinduismus war nicht das Modell
einer Religion, die andere Religionen
schützt und sich deshalb als nationales
Gefäss anbot. Die Trennung des Landes
und die Gründung Pakistans strafte diesen Anspruch Lügen; und der kaschmirische Irredentismus zeigt bis heute, dass
sich die Muslime im säkularen Indien
nicht aufgehoben fühlen.
Dasselbe gilt für die soziale Philosophie des Hinduismus. Gandhi mochte
diesen noch so schönreden, seine Auseinandersetzung mit dem Dalit-Führer
B. S. Ambedkar zeigt, dass er an der
Kastenordnung festhielt. Als Folge davon
ist die Kastendiskriminierung noch
heute endemisch. Der Brahmanismus
des aristokratischen Nehru setzte sich in
schlimmster Ausprägung fort, als Institutionalisierung einer dynastischen Herrschaft hinter einer «demokratischen»
Kongresspartei.
Andersons Buch ist eine Polemik, brillant, scharfzüngig und demaskierend,
nicht zuletzt an die Adresse der indischen Intelligenzija. Aber in seinem revisionistischen Furor wird der scharfe
Blick zunehmend einäugig. Das betrifft
nicht nur kleinliche Angriffe ad personam, wenn er sich etwa über Gandhis
sexuelle Obsessionen lustig macht oder
Nehru einen seichten Schreibstil vorwirft.
Schwerer wiegt, dass er zum Beweis
seiner Thesen historische Verläufe auf
den Kopf stellt. Etwa im Falle der Anfänge des Kaschmirkonfliktes: Die HinduMentalität der Kongressregierung habe
durch das Anlegen von Munitionslagern
in Srinagar die pakistanischen Freischärler im Oktober 1947 zum Einmarsch ins
Kaschmirtal provoziert. Das Gegenteil ist
richtig: Der Einfall der Lashkars löste in
Delhi Panik aus und führte zu dessen militärischem Eingreifen, gerade weil das
Kaschmirtal völlig ungeschützt dalag.
Zum Nachdenken anregend
Auch Andersons Vorwurf, die Intelligenzija habe die Gründungsmythen
des Staats nie hinterfragt, ist unfair.
Durch das ganze Buch hindurch zitiert er
zur Untermauerung seiner Kritik Studien
indischer Fachkollegen. Am Schluss
wirft er sie als Mitläufer ebenfalls auf den
Scheiterhaufen. Zuzugeben, dass in Indien eine selbstkritische, angriffige und
freie öffentliche Meinung herrscht, hätte
sein Argument eines undemokratischen
Staats geschwächt. Andersons polemische Grundhaltung macht ihn unfähig,
die Komplexität dieser Gesellschaft auch
nur annähernd wiederzugeben. Dass
Gandhi seine hinduistischen Überzeugungen in seine Politik einfliessen liess,
war nicht nur das Resultat seiner Spiritualität. Es war auch politische Strategie.
Denn ohne Hindu-Symbolik und das
Festhalten
an
einer
reformierten
Kastenordnung hätte er dieses tief religiöse Volk nicht hinter sich geschart.
Ein Buch, das zum Nachdenken anregt
– und zum Widerspruch. ●
Musik Der innovative Giacomo Meyerbeer (1791–1864) war der grosse Unbekannte unter den
Opernkomponisten
ErgenossRossinisGastfreundschaft
Von Corinne Holtz
Er ist der grosse Unbekannte unter den
wirkungsmächtigen Opernkomponisten:
Giacomo Meyerbeer, der sich diesen
Künstlernamen in jungen Jahren zugelegt hat, eigentlich Jakob Liebmann
Meyer Beer heisst und 1791 als Sohn einer
jüdischen Kaufmannsfamilie in Berlin
zur Welt kommt.
Meyerbeer geniesst die frühe Förderung bester Lehrer, gibt mit neun Jahren
das erste öffentliche Konzert und erregt
mit seinem «vortrefflichen Klavierspiel»
die Bewunderung des Rezensenten.
Gleichzeitig wird er als «Judenknabe»
apostrophiert und erfährt ähnliche Verunglimpfung wie etwas später Felix
Mendelssohn. Dieser wird in einem Brief
des Komponisten Carl Friedrich Zelter an
Goethe als «Judensohn» bezeichnet, dessen Vater mit «bedeutender Aufopferung» seine Söhne nicht «beschneiden»
liess. Auch in Berlin, einem Zentrum der
Aufklärung, betrachtet man es als Wunder, «wenn aus einem Judensohn ein
Künstler würde».
Das unheilvolle Gemisch aus Bewunderung und Abwertung wird Giacomo
Meyerbeer ein Leben lang begegnen. Richard Wagner verehrte ihn zunächst als
«kleinen Gott dieser Erde» und versuchte
über die Protektion Meyerbeers in seinem Sehnsuchtsort Paris Fuss zu fassen.
Das sollte ihm jedoch nicht gelingen. Im
Gegenzug begann er Meyerbeers Einfluss
auf sein Werk zu leugnen und inszenierte
seine Reformschriften als antisemiti-
schen Feldzug gegen «untergeschobene
Parasiten». So liest man in einem Brief an
den Wagner-Verehrer und Schriftsteller
Edouard Schuré unbescheiden vom Unglück, «Heine und Goethe, Meyerbeer –
und – vielleicht – mich in einen Topf zu
werfen».
Sabine Henze-Döhring und Sieghart
Döhring zeichnen in ihrer Biografie ein
differenziertes Bild der Lebensverhältnisse und verstehen es, ihre Quellen in
die Zeitgeschichte des
19.
Jahrhunderts
einzubetten. Besonders
verdienstvoll ist die
Sorgfalt, die sie
der Darstellung
des Werks entge ge n b r i nge n .
Denn Meyerbeer
kommt zu sel-
Giacomo Meyerbeer,
dessen Opern heute
nur noch selten
gespielt werden, nach
einer Lithografie aus
dem 19. Jahrhundert.
BIANCHETTI / LEEMAGE
Sabine Henze-Döhring, Sieghart Döhring:
Giacomo Meyerbeer. Der Meister der
Grand Opéra. C. H. Beck, München 2014.
272 Seiten, Fr. 34.90.
ten auf den Spielplan, und der Innovationsgehalt seines musikalischen Ideentheaters ist wenig bekannt. Mit den
Opern «Robert le Diable», «Les
Huguenots» und «Le Prophète» hatte
Meyerbeer im Dreischritt ein neues Feld
bestellt.
Ausgehend von Rossini erschloss der
Komponist zukunftweisende Formen
der Musikdramaturgie. Bisher schilderte
Musik die Gefühle von Figuren in ihrem
Gegeneinander, während sie bei Meyerbeer nur noch die Situation zeigt, an der
sie gemeinsam teilhaben. Allein die
Musik gestaltet das Verrinnen der Zeit
und den Verlauf eines Konflikts – in «Robert le Diable» etwa dann, wenn Robert
das Testament seiner Mutter zu lesen beginnt, das Blatt fallen lässt und Alice mit
dem Rezitieren fortfährt. Musik wird hier
zur Funktion – so auch in der blasphemischen Nonnenprozession, die den Sensationserfolg dieser Oper begründet hat
und im grandios verfremdeten Übergang
zum Schlussbild. Dort sollen laut Meyerbeer zwei Harfen «aus den Kulissen» rauschen, während man unversehens in die
Kathedrale von Palermo versetzt wird.
Meyerbeer war aber auch Mensch,
macht die Darstellung deutlich. Er genoss die Aufmerksamkeit der angesagten
Pariser Salons – insbesondere Rossinis
Gastfreundschaft, der ihn und seine Familie mit der legendären Pasta verwöhnte. Meyerbeer überzeugte durch «Esprit
und Sprachwitz» und war ein gewiefter
Netzwerker. Gleichzeitig bezeichnete er
sich als Schwarzseher und litt ein Leben
lang an Versagensangst.
Das Ringen um Wertschätzung könnte
die treibende Kraft seines Strebens als
Künstler gewesen sein. Dass solche Fragen offen bleiben, zeugt vom Gespür der
Autoren für das Genre Biografie. ●
Landschaftspflege Geschichte und Bedeutung der japanischen Zen-Gärten
Wo Mönche meditieren
Yoko Kawaguchi: Japanische Zen-Gärten.
Wege zur Kontemplation. DVA,
München 2014. 208 Seiten, Fr. 74.90.
Von Sarah Fasolin
Wenn das Fremde fasziniert, aber nicht
ganz verstanden wird, entstehen Klischees. So ist es auch mit der japanischen
Gartengestaltung, die in Europa zwar nur
eine marginale Bedeutung in der Gartenarchitektur hat, jedoch mangels Kenntnissen oft laienhaft umgesetzt wird:
etwas Kies, ein paar Steinblöcke.
Mit dem bebilderten Buch «Japanische Zen-Gärten» bietet die japanische
Gartenexpertin Yoko Kawaguchi ihrer
Leserschaft einen tiefen Einblick in die
Geschichte, Entstehung und Bedeutung
der Tempelgärten des Zen-Buddhismus,
einer der Hauptströmungen des Buddhismus.
In einem ersten Teil rollt sie die Geschichte der japanischen Zen-Tempel
und ihrer Gärten auf und porträtiert ein
paar besondere, öffentlich zugängliche
Gärten in Japan. Dabei wird die Autorin
als ausgewiesene Expertin spürbar,
wenn sie die zum Teil 600 Jahre alte Geschichten der Gärten beschreibt und
deren Entwicklung mit jahrhundertealten Tuschezeichnungen erklärt.
Sie setzt allerdings auch ein gewisses
Vorwissen der japanischen Kultur im Allgemeinen und der Gartenkultur im Speziellen voraus. Kawaguchi verflicht die
Lebensläufe und das Erbe bedeutender
Gartengestalter in Japan miteinander
und vergisst dabei manchmal, einige Begriffe einzuführen. Das Glossar hilft weiter, deckt aber für den Durchschnittsle-
ser nicht alles ab. Auch die Einbettung in
den Gesamtkontext erschliesst sich erst
mit fortschreitender Lektüre. Für Gartenkultur-Interessierte lohnt es sich jedoch ohne Zweifel, dran zu bleiben und
so langsam in die komplexe Gedankenwelt einzutauchen, die den Zen-Gärten
zu Grunde liegt.
Am Ende wird man mit einem neuen
Blick auf die Zen-Gärten belohnt, die der
Fotograf Alex Ramsay für das Buch gekonnt ins Bild gerückt hat. Die Gärten
sind jetzt mehr als nur Kiesflächen, Steine, Moos, Kirschbäume und Fächerahorne. Man erkennt den trockenen Wasserfall, sieht die Dreier-Anordnung der Steine, die Buddha und zwei Begleiter darstellen. Entdeckt die mit Steinen dargestellte Schildkröte und den Kranich, die
als Symbol für Glück und ein langes
Leben stehen. ●
27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Sterben Ein deutscher Reporter schildert seine Begegnungen mit dem Tod – auf Kriegsschauplätzen
sowie in der eigenen Familie
MahnmaldeseigenenVersagens
Bartholomäus Grill: Um uns die Toten.
Meine Begegnungen mit dem Sterben.
Siedler, München 2014. 219 Seiten,
Fr. 29.90, E-Book 19.90.
Bartholomäus Grill ist dem Tod im Verlauf seines Reporterlebens in vielen Gestalten begegnet. An ihn gewöhnt hat er
sich nie. Aber er versucht, ganz im Sinne
Michel de Montaignes, sich mit dem Gedanken an ihn und die eigene Endlichkeit vertraut zu machen. Er umkreist ihn,
er schildert ihn, er sucht in der Erinnerung nach einschneidenden Konfrontationen mit ihm. Daraus ist eine Art
Todesbiografie entstanden, die im geschlossenen Kosmos einer katholischen
Kindheit in Oberbayern beginnt und auf
den Killing Fields des afrikanischen Kontinents endet.
Herzstück des Buches aber ist die Auseinandersetzung mit dem Tod des Bruders, der vor 10 Jahren in Zürich bei Ludwig Minelli und seiner Sterbehilfeorganisation «Dignitas» Erlösung von seinem
Krebsleiden gefunden hatte. Mit dem
2005 in der «Zeit» erschienenen Bericht
über Urban Grills Reise zu den Sterbehelfern von Zürich hatte der Autor in
Deutschland nicht nur eine heftige Debatte ausgelöst, sondern war für den
Text auch mit dem renommierten HenriNannen-Preis ausgezeichnet worden.
Nun erzählt er die Geschichte noch einmal und macht deutlich, wie sehr diese
Erfahrung sein eigenes Verhältnis zum
Tod geprägt hat.
«Versuch einer sehr subjektiv gefärbten Phänomenologie des Todes» nennt
Grill die Texte, die um die Geschichte des
Bruders wie um einen unsichtbaren
Dreh- und Angelpunkt herum angeord-
RAINER UNKEL / VARIO IMAGES
Von Klara Obermüller
Kriegsberichterstatter Bartholomäus Grill möchte einer Sterbenden in
Ruanda 1994 (siehe Bild) ihre Geschichte zurückgeben.
net sind. Am Anfang steht der Tod des
Grossvaters, da war der Autor vier Jahre
alt, am Ende derjenige der Mutter, wenige Jahre nachdem ihr Sohn Urban aus
dem Leben geschieden war. Dazwischen
liegen Todeserfahrungen wie der frühe
Hinschied einer schwerstbehinderten
Schwester oder das einsame Sterben des
Vaters. Und ab Mitte der achtziger Jahre
schliesslich war es die berufliche Tätigkeit, die dem Autor den Tod zum ständigen Begleiter werden liess. Bartholomäus Grill war in Rumänien, als
Ceauşescu und seine Frau hingerichtet
wurden. Er hat in Südafrika das Ende des
Apartheid-Regimes erlebt. Er ist in Uganda den ersten Aids-Toten begegnet. Und
er kam nach Ruanda, unmittelbar nach-
dem das grosse Morden 800 000 Tutsi
das Leben gekostet hatte.
Die journalistische Arbeit hat ihn nicht
abgestumpft, im Gegenteil. So einfühlsam undgenau er diebarocke Totenkultur
im bayerischen Bergbauerndorf beschreibt, so nüchtern und ehrlich stellt er
sich seiner Tätigkeit als Kriegsberichterstatter, die, das weiss er, ohne ein gerüttelt Mass an Voyeurismus und Zynismus nicht auskommt. Es wundert deshalb nicht, dass Grill hart mit sich und
seinen Berufskollegen ins Gericht geht.
Sie haben zugeschaut und haben berichtet, sie haben erklärt und angeklagt. Aber
haben sie auch geholfen, wo Hilfe möglich gewesen wäre?
Die Antwort lautet klar nein, und es ist
dieses Bewusstsein von Schuld, das sich
wie ein dunkler Grundton durch die
Texte des Buches zieht. Als Journalist
funktionieren, als Mensch versagen – auf
diese Formel bringt der Autor das Verhalten der Berichterstatter in Krisengebieten. Und er nimmt sich von der Anklage
nicht aus, wenn er sich an eine Mutter
und ihr Kind unweit von Goma erinnert,
der er und sein Fotograf das Letzte nehmen, was sie hat: ihre Geschichte, ihr
Bild. Die sterbende Frau und das verstörte Kind aber lassen sie am Strassenrand
liegen und fahren weiter.
Das Foto ist, neben anderen Erinnerungsbildern, im Buch wiedergegeben:
als ein Zeichen des Gedenkens, aber auch
als ein Mahnmal des eigenen Versagens.
Gesagt wird es zwar nirgends, aber es
ist denkbar, dass das ganze Buch letztlich
aus dem Bedürfnis heraus entstanden
ist, den Toten schreibend etwas von
dem zurückzugeben, was man ihnen im
Leben schuldig geblieben ist.
Zumindest bezieht es aus diesem Bewusstsein seinen Ernst und seine erschütternde Wirkung. ●
Prognosen Voraussagen zur demografischen Entwicklung bis zum Ende des 23. Jahrhunderts
Schrumpfende Weltbevölkerung
Reiner Klingholz: Sklaven des Wachstums.
Die Geschichte einer Befreiung. Campus,
Frankfurt a. M. 2014. 348 Seiten,
Fr. 37.90, E-Book 26.–.
Von Reinhard Meier
Drei grosse Thesen über die Zukunft der
Menschheit entwickelt der Direktor des
Berliner Instituts für Bevölkerung und
Entwicklung in diesem anregenden
Sachbuch. Alle drei laufen langfristig auf
eine Absage an den von Apokalyptikern
immer wieder prophezeiten Untergang
unserer Spezies hinaus. Das ist erfreulich, doch der Autor Reiner Klingholz
warnt gleichzeitig, dass der Weg zum
Ziel echter Nachhaltigkeit unzweifelhaft
durch schwere Krisen führen werde.
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014
Ausserdem sind nicht alle drei Thesen
gleichermassen überzeugend.
Am plausibelsten von den Fakten her
ist die Botschaft, dass die Weltbevölkerung von heute 7,2 Milliarden Menschen
zwar bis zur Mitte dieses Jahrhunderts
auf 9,6 Milliarden ansteigen werde. Dann
aber beginne ein Schrumpfungsprozess,
durch den sich die globale Bevölkerungszahl bis zum Jahr 2300 wahrscheinlich
bei 4 bis 6 Milliarden einpendeln werde.
Entscheidend für diese Entwicklung sind
die auch in den Entwicklungsländern
deutlich sinkenden Kinderzahlen pro
Frau.
Zweite These: Wir stehen – vor allem
in Europa und Japan – bereits an der
«Zeitenwende zum Postwachstum». Das
heisst, die Menschheit geht einer Zukunft ohne wirtschaftliches Wachstum
entgegen. Das ist gut so, weil die natürlichen Ressourcen der Erde ja nicht endlos
ohne nachhaltige Erneuerung ausgebeutet werden können. Echte Nachhaltigkeit
aber kommt laut der Argumentation des
Autors nur durch Verzicht auf weiteres
Wachstum zustande.
Die dritte Botschaft lautet: Es ist illusionär, auf einen grossen «Masterplan»
zu hoffen, der die Menschheit aus der
Sackgasse von Überbevölkerung, permanentem Finanzwachstum und Konsumwahn führen werde.
Man müsse akzeptieren, «dass uns
keine Revolutionen weiterhelfen, sondern dass nur der evolutionäre Weg der
vielen kleinen Schritte zum Ziel führt».
Das alles sind, wohlgemerkt, informierte
Prognosen – keinesfalls endgültige Wahrheiten. ●
Philosophie ETH-Dozent Michael Hampe sieht im Erzählen eine andere Form des Denkens
SchweigenkannzumschärfstenMittel
derVerweigerungwerden
Michael Hampe: Die Lehren der Philosophie.
Eine Kritik. Suhrkamp, Berlin 2014.
400 Seiten, Fr. 36.90.
Von Kirsten Voigt
Der philosophisch interessierte Laie mag
auf den verwegenen Gedanken verfallen, es sei in Zeiten einer in der freien
Welt verbrieften Meinungsfreiheit gerade den Profi-Denkern auch das Recht
der Denk- und Gedankenfreiheit eingeräumt. Michael Hampe, Professor für
Philosophie an der ETH Zürich, ein Insider, weiss es besser: Gerade dieser Freiheit frönen universitäre Philosophen
heute eher selten, denn die Zugehörigkeit zu einer philosophischen Schule
fungiert als unverzichtbares Eintrittsbillett in den akademischen Betrieb. Wer
sich nicht einer Denkmode anschliesst,
sondern individuell an und mit Begriffen
experimentiert, gilt als «dissidenter
Sprecher».
Damit erzieht die Universität doktrinär behauptende statt zum eigenständigen Denken verführende Philosophen,
genau jene Spezies, gegen die Hampe in
seinem subtilen und erfrischend disziplinkritischen Buch argumentiert.
Dissidentes Sprechen scheint dem
Autor nämlich die wesentliche Bedingung für kreatives Handeln, aus dem gelingendes Leben resultieren kann. Über
ihre Möglichkeiten erfahren Menschen
Wesentliches nicht nur durch Innenschau, sondern durch selbstbestimmte
Handlungen, ein Wirksamwerden in
sozialen Gemeinschaften. Subjektivität
definiert Michael Hampe vor allem über
den Zeichengebrauch des Individuums
innerhalb eines Verbunds von Zeichenverwendern. Nur wer neue Begriffe und
Sprachformen entwickelt, eröffnet sich
damit die Perspektive auf Lebensalternativen.
Der Literatur kommt dabei eine heilsame Schlüsselfunktion zu. Sie führt am
exemplarischen Einzelnen vor, wie Entscheidungen getroffen werden, was
Liebe, Wahrheit, Freiheit, Selbstüberwindung, Glück oder Todesangst bedeuten können. Sie entfaltet Innenwelten
von Individuen und Gegenwelten dazu,
Fiktionen des Gewordenseins und Werdens. Sie dient der Weitergabe von historischer Erfahrung, beobachtet das Nachdenken des Subjekts über sich selbst und
die Resonanz anderer Subjekte darauf.
Das am ausführlichsten betrachtete
Beispiel für Hampes Lob des Erzählens
als Manifestation des Denkens ist John
Maxwell Coetzees Roman «Elizabeth
Costello». Das Werk des Literaturnobelpreisträgers 2003 stellt nicht nur das fiktive Schreiben als Prozess der Selbstreflexion und Operation mit verschiedensten Perspektiven dar, sondern diskutiert anschaulich auch eine Reihe ethischer Fragen.
Hampe steht mit seiner Argumentation für eine Erziehung zum Selbstdenken unter anderem auf den Schultern
von ihm zitierter Vorgänger wie Friedrich Nietzsche, Alfred North Whitehead,
John Dewey, Richard Rorty, Hans Joas
oder Ian Hacking. Die postmoderne Feststellung, es gäbe keine «grossen Erzählungen» mehr, lehnt er ab. Narrative sterben nicht aus, sie wechseln lediglich die
Disziplin. Die heute dominante Grosserzählung liefert die Spieltheorie: «Der
Mensch dieser Erzählungen muss sich
immer und überall gegen die anderen
Menschen behaupten. Auf die grossen
Erzählungen vom Menschen als Ebenbild eines Schöpfers und als Vernunftwesen ist die vom Menschen als Markt-
teilnehmer gefolgt.» In dieser Erzählung
werden Freunde zum Netzwerk, wird
das Individuum zur Ressource, der Lebensweg zur Karriere und das Dasein
zum Wettkampf, in dem es in erster Linie
um Resultate gehe.
Schliesslich plädiert Hampe nicht nur
für das Erzählen, das sokratische Gespräch, den Zeichengebrauch, sondern
auch für das Gegenteil: das Schweigen.
Es kann auch Mittel einer scharfen Kritik,
der Verweigerung werden. Dass Michael
Hampe die eigene Stimme für dieses ermunternde und plausible Plädoyer für
ein intellektuell schöpferischeres Sprechen und Schreiben, für Literatur als Erkenntnismittel erhoben hat, darf als ein
echter Glücksfall betrachtet werden. ●
Erfinderfamilie Piccard Pioniere ohne Grenzen
Was für eine Forscherdynastie! Drei Generationen, drei
Berufe, drei Weltrekorde. Grossvater Auguste Piccard
(1884–1962) hob im Mai 1931 zum weltweit ersten Flug in
die Stratosphäre ab (im Bild die Druckkabine nach der
Landung in den Öztaler Alpen). Später entwickelte der
Physiker den Bathyskaph, ein U-Boot neuen Typs, mit
dem er 1953 zusammen mit seinem Sohn 3150 Meter in
die Meerestiefe tauchte. Dieser – der Ozeanograf
Jacques (1922–2008) – trieb die Unterwasserforschung
voran, bis er 10 916 Meter unter Meer im Marianengraben (1960) schwebte. Der dritte Piccard, Enkel Bertrand
(geb. 1958), Psychiater und Fluglehrer von Beruf, umkreiste 1999 mit Brian Jones als erster Mensch die Erde
im Ballon. 2015 schliesslich will er mit «Solarimpuls»
ohne einen Tropfen Brennstoff um die Erde fliegen.
Kühnheit, Pioniergeist, Abenteuerlust kennzeichnen
die Piccards, die wie keine zweite Schweizer Familie ihre
Visionen in die Tat umsetzten. Davon erzählt der reich
bebilderte Band von Susanne Dieminger und Roland
Jeanneret mit grosser Begeisterung. Urs Rauber
Susanne Dieminger, Roland Jeanneret: Piccard. Pioniere
ohne Grenzen. Weltbild, Olten 2014. 200 S., Fr. 36.90.
27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Biografie Noch heute verehrt, markierte Rachel Carson den Beginn der weltweiten Umweltbewegung
Zündfunke einer Revolution
Dieter Steiner: Rachel Carson. Pionierin
der Ökologiebewegung. Eine Biografie.
Oekom, München 2014. 364 Seiten,
Fr. 37.90, E-Book 23.90.
Von Martin Amrein
Ihren Bewunderern gilt sie als einflussreichste Biologin seit Charles Darwin.
Für eine Massenmörderin halten sie dagegen ihre schärfsten Kritiker. Die amerikanische Zoologin Rachel Carson spaltet
die Gemüter. Grund dafür ist das Buch
«Der stumme Frühling», das sie 1962 veröffentlichte. Darin warnte Carson vor
den Gefahren von Pestiziden für Umwelt, Tier und Mensch.
Das Werk, das in mehr als 20 Sprachen
übersetzt wurde, setzte eine ökologische
Revolution in Gang, die um den gesamten Erdball ging. Wegen der Diskussionen, die der Bestseller auslöste, wurde
das Insektengift DDT vielerorts verboten. Genau das werfen Carsons Gegner
ihr bis heute vor. Damit sei der Kampf
mittels DDT gegen die Malaria übertragende Anophelesmücke zum Erliegen
gekommen. Carson habe Millionen von
Menschenleben auf dem Gewissen.
«Blühender Unsinn», meint ihr Biograf
Dieter Steiner. Das Malariakontrollprogramm sei ins Stocken geraten, weil die
Mücken Resistenzen gegen das Insektizid bildeten. Bis zu seiner Emeritierung
war Steiner Professor für Geografie und
Humanökologie an der ETH Zürich. Vor
kurzem hat er die erste deutschsprachige
Carson-Biografie vorgelegt.
Rachel Carson hatte in ihrem Leben
immer wieder mit Widerständen zu
kämpfen. Ihr Studium absolvierte sie
trotz finanzieller Probleme. Noch dazu in
den Naturwissenschaften, einem für
Frauen damals schwierigen Feld. Danach
arbeitete sie bei der US-Fischereibehörde
und machte sich daneben als Wissenschaftsautorin einen Namen. Carson
hatte drei Bücher über das Meeresleben
veröffentlicht, bevor sie in «Der stumme
Frühling» die Befunde einer vierjährigen
Recherche präsentierte. Die unmittelbaren Wellen der Begeisterung und der Kritik, die das Buch auslöste, erlebte sie
noch, die langfristigen Auswirkungen
aber nicht mehr. Am 14. April 1964 starb
Rachel Carson an den Folgen einer Krebserkrankung.
Nun, 50 Jahre später, zeichnet Dieter
Steiner das Leben von Carson sorgfältig
nach. Dabei stützt er sich auf bereits
zuvor in englischer Sprache erschienene
Biografien. In einem ausführlichen Epilog führt er aus, wie aktuell Carsons Anliegen heute noch sind. Kritik an ihrer
Person verschweigt Steiner nicht, in seinem einfühlsam geschriebenen Werk
gibt er sich aber klar als einer ihrer Verehrer zu erkennen. ●
Das amerikanische Buch John Wayne – Der Mensch hinter der Ikone
Das amerikanische Buchgeschäft setzt
auf grosse Bücher über grosse Persönlichkeiten. Aber nicht immer sind die
zahlreichen Memoiren und Biografien
auf dem Markt die Lektüre wert oder
erzielen die erhofften grossen Umsätze. In John Wayne. The Life and
Legend (Simon & Schuster, 658 Seiten)
geht diese Formel glänzend auf. Der
Filmexperte Scott Eyman findet mit
seinem reich bebilderten Wälzer breite
Beachtung. Als Rezensenten bieten die
Medien Kenner wie den Autor und Regisseur Peter Bogdanovich auf. Der lobt
Eyman in der «New York Times» für die
unterhaltsame Aufbereitung einer
enormen Fülle an Informationen über
seinen Protagonisten und die amerikanische Filmindustrie.
Doch diese Wahrnehmung reflektiert
die Legende John Wayne. Eymans
grösste Leistung liegt darin, dass er
diese als Lebenswerk von Marion Robert Morrison beschreibt, der 1930 auf
Rat des Regisseurs Raoul Walsh den
Künstlernamen John Wayne annahm.
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. April 2014
GETTY IMAGES
Wayne selbst war in vieler Hinsicht ein
grosser Mann. Kaum ein Darsteller hat
das amerikanische Kino und das Bild
seiner Nation weltweit in so hohem
Masse dominiert wie John Wayne. Der
Hüne von 1,90 Metern wirkte in fünf
Jahrzehnten an rund 160 Filmen mit
und garantierte von 1949 bis 1974 volle
Kinosäle. In den USA rangiert er auch
35 Jahre nach seinem Tod unter den
beliebtesten Filmstars. 1907 in Iowa
geboren, bleibt Wayne für seine Nation
und den Rest der Welt ein Symbol
Amerikas – und das im positiven wie
negativen Sinn. Der Konservative gilt
mal als grobschlächtiger Gewaltmensch, mal als unerschütterlicher
Verteidiger von Recht und Ordnung.
Aus dieser Gebrochenheit erklärt der
Autor das Festhalten Waynes an starren, konservativen Prinzipien, das ihn
bereits im Zweiten Weltkrieg zu einem
überzeugten Gegner mutmasslicher
und tatsächlicher Kommunisten in
Hollywood werden liess. In seinen Rollen spielte der Literaturkenner und talentierte Schachspieler denn auch am
liebsten starke, prinzipientreue Charaktere. Diese verteidigen zwar das
Gesetz gegen Chaos und Bösewichte.
Dennoch stehen Waynes Figuren in
Klassikern wie «The Searchers» («Der
Schwarze Falke») oder «The Man Who
Shot Liberty Valance» ausserhalb der
von ihnen geschützten Gemeinschaften. Dass Wayne in diesen Rollen so
mühelos überzeugt, führt Eyman auf
die Lernbereitschaft seines Protagonisten zurück. Als Wayne 1939 in «Stagecoach» («Ringo») endlich der Durchbruch gelang, hatte er seine Schauspielkunst auf eine ebenso schlichte
wie effektive Mimik und Körpersprache reduziert, die er bis am Ende seiner
Karriere kaum mehr verändern musste.
John Wayne in «Rio
Bravo» von Howard
Hawks, 1959.
Autor Scott Eyman
(unten).
Der hatte damals bereits ein halbes
Jahrzehnt als Bühnenarbeiter und
Kleindarsteller in Hollywood hinter
sich, meist im Dienst des Regisseurs
John Ford (1894–1973). Als Autor einer
vielgelobten Ford-Biografie stellt
Eyman das komplexe und merkwürdige
Verhältnis der beiden Männer als VaterSohn-Beziehung dar, in der Wayne noch
als Weltstar die Beleidigungen Fords
wortlos hinnahm. Da sein eigener Vater
zwar liebevoll, aber als Apotheker und
Kleinunternehmer ein jämmerlicher
Versager war, suchte Wayne die Nähe
dominierender Männer, so Eyman.
Entfaltet Eyman die Legende Wayne so
als komplexes Konstrukt, zeigt er den
Mann dahinter als sympathische Figur.
Trotz Affären, etwa mit Marlene Dietrich, Frauen gegenüber eher schüchtern, pflegte Wayne neben Whiskey
und Zigaretten – bis zu sechs Schachteln täglich – keine der in Hollywood
üblichen Laster. Als Mitgründer der
Produktionsgesellschaft Batjac war er
ein integrer und fairer Geschäftsmann.
So macht diese Biografie Lust auf den
Schauspieler Wayne und sein grosses
Œuvre – speziell dann, wenn die üppige Fülle an Fakten und Einsichten
über den Mann und die Legende den
Leser zu erschöpfen droht.
Von Andreas Mink ●
Agenda
Indische Miniaturen Zauber des Akkuraten
Agenda Mai 2014
Basel
Mittwoch, 7. Mai, 19.30 Uhr
Stefan Bachmann: Die Seltsamen. Lesung,
Fr. 15.–. Kulturhaus Bider & Tanner,
Aeschenvorstadt 2. Tel. 061 206 99 96.
RAINER WOLFSBERGER / SAMMLUNG DANIELLE PORRET
Dienstag, 13. Mai, 19 Uhr
Martin Walker: Reiner
Wein. Lesung, Fr. 15.–.
Thalia, Freie Strasse 32.
Reservation:
Tel. 061 264 26 55.
CHRISTOPH RUCKSTUHL
Dienstag, 13. Mai, 20 Uhr
Piet Klocke: Kann ich hier mal eine
Sache zu Ende!? Lesung. Theater
Fauteuil, Spalenberg 12.
Reservation: Tel. 061 261 26 10.
Bern
Montag, 5. Mai, 19.30 Uhr
Christina Frosio: Noch ist nicht Herbst.
Lesung und Buchvernissage. Buchhandlung Sinwel, Lorrainestrasse 10.
Reservation: Tel. 031 332 52 05.
einem Katalog, der die Exponate in bester Bildqualität
zeigt. Das Spektrum der Themen reicht von der Tigerjagd bis zu Vishnu auf einer Lotusblume, von der Abendtoilette einer noblen Dame über Prozessionen bis zu
Fischen und Vögeln. Herrlich ist die Farbenpracht, verblüffend die Exaktheit der Zeichnung. Manfred Papst
A Secret Garden. Indian Paintings from the Porret
Collection. Scheidegger & Spiess, Zürich 2014.
216 Seiten, Fr. 49.90.
Bestseller April 2014
Belletristik
Sachbuch
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Martin Suter: Allmen und die verschwundene
Maria. Diogenes. 224 Seiten, Fr. 27.90.
Alex Capus: Mein Nachbar Urs.
Hanser. 128 Seiten, Fr. 19.90.
Lukas Bärfuss: Koala.
Wallstein. 184 Seiten, Fr. 28.90.
Frank Schätzing: Breaking News.
Kiepenheuer & Witsch. 976 Seiten, Fr. 38.90.
Jonas Jonasson: Die Analphabetin, die rechnen
konnte. Carl′s Books. 416 Seiten, Fr. 29.90.
Urs Widmer: Reise an den Rand des Universums.
Diogenes. 352 Seiten, Fr. 32.90.
John Grisham: Die Erbin.
Heyne. 704 Seiten, Fr. 36.90.
Simon Beckett: Der Hof.
Wunderlich. 464 Seiten, Fr. 29.90.
Graeme Simsion: Das Rosie-Projekt.
Fischer Krüger. 352 Seiten, Fr. 27.50.
Stefan Bachmann: Die Seltsamen.
Diogenes. 368 Seiten, Fr. 25.90.
Wolfgang Koydl: Die Besserkönner.
Orell Füssli. 224 Seiten, Fr. 19.90.
Rhonda Byrne: The Secret – Das Praxisbuch für
jeden Tag. Arkana. 384 Seiten, Fr. 27.90.
Giulia Enders: Darm mit Charme.
Ullstein. 288 Seiten, Fr. 27.90.
Michelle Halbheer: Platzspitzbaby.
Wörterseh. 208 Seiten, Fr. 39.90.
Roger Schawinski: Wer bin ich?
Kein & Aber. 415 Seiten, Fr. 39.90.
Sarah Fasolin: Gartenreiseführer Schweiz.
Callwey. 416 Seiten, Fr. 29.90.
Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 26. Aufl.
Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 39.90.
Ulrich Kühne-Hellmessen: WM 2014 – Brasilien,
wir kommen! Weltbild. 128 Seiten, Fr. 27.90.
Guido Maria Kretschmer: Anziehungskraft.
Edel. 240 Seiten, Fr. 27.90.
Wolfgang Prosinger: In Rente.
Rowohlt. 240 Seiten, Fr. 21.–.
Erhebung Media Control® AG im Auftrag des SBVV; 15.4.2014. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Mittwoch, 21. Mai, 19.30 Uhr
Urs Mannhart: Bergsteigen im Flachland.
Lesung. Kaffee Bar Wartsaal, Lorrainestrasse 15. Reservation: Tel. 031 331 02 28.
Zürich
Mittwoch, 7. Mai, 19.30 Uhr
Ilma Rakusa: Einsamkeit mit rollendem
‹r›. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro.
Literaturhaus, Limmatquai 62.
Info: Tel. 044 254 50 00.
Freitag, 9. Mai, 20 Uhr
Amélie Nothomb: Blaubart. Lesung.
Fr. 28.–. Kaufleuten, Pelikanplatz 1.
Tel. 044 225 33 77.
Samstag, 10. Mai, 14 Uhr
Sibylle Baumann: Die Sprache der Welt.
Musikalische Begleitung: Rahel Schweizer, Harfe. Familienanlass (ab 5 Jahren),
Fr. 12.–. Palmenhaus, Alter Botanischer
Garten, Pelikanstrasse 40.
Reservation: Tel. 077 457 45 30.
Dienstag, 20. Mai, 19.30 Uhr
Margriet de Moor:
Mélodie d′amour.
Lesung, Fr. 25.–.
Kaufleuten (s. oben).
MARIA NEEFJES
Der nackte Asket ist in tiefen Schlaf versunken. Er lässt
sich nicht stören vom Prinzen, der ihm die Aufwartung
macht. Das berückende, vermutlich im späten 18. Jahrhundert in Jaipur entstandene Bild, das nur 21 auf 31
Zentimeter misst, gehört zur berühmten Porret Collection, einer wunderbaren Sammlung indischer Miniaturen aus dem 13. bis 19. Jahrhundert. Derzeit sind die
Bilder im Zürcher Museum Rietberg zu sehen; bis zum
29. Juni dauert die Ausstellung. Sie wird begleitet von
Samstag, 10. Mai, 18.30 Uhr
Daniela Schenk: Brennesseljahre. Buchvernissage und Lesung. Stauffacher
Buchhandlungen, Neuengasse 25/37.
Reservation: Tel. 031 313 63 63.
Donnerstag, 22. Mai, 19.30 Uhr
Marie NDiaye: Ladivine. Lesung, Fr. 18.–
inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62. Info: Tel. 044 254 50 00.
Bücher am Sonntag Nr.5
erscheint am 25.5.2014
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind
– solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ,
Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich.
27. April 2014 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
Damit Ihre Neugierde gestillt
wird: Wir unterstützen
gute Literatur.
<wm>10CAsNsjY0MDAx1TUyNLC0MAYA9e-6NQ8AAAA=</wm>
<wm>10CFXKIQ7DQAwEwBf5tOuzHV8Mo7CooAo_EhX3_6hqWMCwOY7yhtu2v879XQTMRYmRvXx40yUqVRtsKRhDQVtpcEbPRxdwREef_yIwYUyqmJjPoWlMbd_r8wMqkXArdAAAAA==</wm>
Mehr unter www.zkb.ch/sponsoring
Mit einer Karte der Zürcher Kantonalbank
erhalten Sie eine Reduktion von 10.– CHF
für alle «Kaufleuten Literatur»-Veranstaltungen.