Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung
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Nr. 4 | 24. April 2016 NZZ am Sonntag Kissinger Zwei Biografien, zwei konträre Meinungen 16 Abschied Das bleibende Werk von Lars Gustafsson 4 Es geht weiter Nach der 1001. Nacht ist noch nicht Schluss 12 Odyssee Homers Epen faszinieren bis heute 22 Bücher am Sonntag N Z Z- LI B RO.C H Lies Biografien und entdecke Menschen NEU NEU D Dieser sorgfältig h hergestellte Kunstband g gewährt einen f faszinierenden Blick in d sorgsam gehütete das R Reich von Gertrud D Dübi-Müller ( (1888–1980), Fotografin, S Sammlerin, Freundin u und Förderin von K Künstlern der Moderne. D Die Biografie von C Conrad Gessner erzählt L Leben und Wirken des ‹ ‹Leonardo da Vinci› der S Schweiz: Eines U Universalgelehrten, d dem die Naturwissens schaften wegweisende E Erkenntnisse v verdanken. M Monique Barbier-Mueller, C Cäsar Menz, G Gertrud Dübi-Müller 1 S., 118 Abb., 176 F 58.–* / € 58.– Fr. ISBN 978-3-03810-139-0 U B. Leu, Urs C Conrad Gessner ( (1516–1565) 4 S., 70 Abb., 456 F Fr. 48.–* / € 48.– ISBN 978-3-03810-153-6 NEU NEU L Leidenschaftlich ssammelte der glühende Patriot P und Secondo historische h Trouvaillen, Kunstwerke K und S Schlösser. Als Baulöwe v veränderte er seine H Heimat Winterthur; war g gewiefter Geschäftsm mann, Idealist und c charmanter Patron in e einem. M Miguel Garcia, B Bruno Stefanini 1 S., 32 Abb., 160 F 32.–* / € 32.– Fr. ISBN 978-3-03810-146-8 A Auch als E-Book erhältlich NZZ Libro, Buchverlag Neue Zürcher Zeitung Postfach, CH-8021 Zürich. Telefon +41 44 258 15 05, Fax +41 44 258 13 99, [email protected]. * Unverbindliche Preisempfehlung. Erhältlich auch in jeder Buchhandlung und im NZZ-Shop, Falkenstr. / Ecke Schillerstr., Zürich G Generationen von H Hörerinnen und Hörern e erinnern sich noch h heute an ihre Sendungen S und ihre S Stimme. Die Biografie ü über die Radiopionierin T Trudi Weder-Greiner ist e Stück Medien- und ein S Sozialgeschichte der S Schweiz. T Thomas Feitknecht, D Pionierin am Mikrofon Die 1 S., 24 Abb., 144 Fr. 38.–* / € 38.– F ISBN 978-3-03810-107-9 Inhalt Der Mensch, das erzählende Tier Henry Kissinger (Seite 16). Illustration von André Carrilho Die Geschichte hat also ein Ende. Und ein glückliches dazu. Dass wir heute mit dieser frohen Botschaft aufwarten können, ist reiner Zufall – das gute Ende war schon seit 500 Jahren da, steckte aber in einer falsch beschrifteten Archivschachtel. Frisch entstaubt liegt es jetzt zum Lesen bereit und entführt uns in eine zauberhafte Welt: Eine jüngst entdeckte arabische Handschrift von «Tausendundeine Nacht» beschreibt das Glück, das Scheherazade nach 1000 durcherzählten Nächten erfährt. Das Märchen, dem Alfred Messerli ab S. 12 einen Essay widmet, zeigt auf exemplarische Weise, welch existentielle Kraft einer guten Geschichte eignet. Gefesselt von ihren Fabeln, kann der König die Erzählerin nicht töten; die Spannung, die sie generiert, hält Scheherazade am Leben – und nicht nur sie: Solange der Mensch erzählt, lebt er, und solange er lebt, erzählt er. Manche Erzählungen vermögen freilich selbst den Tod zu überwinden. So wird es mit den Geschichten von Lars Gustafsson (S. 4) sein, und so war es mit Homers Epen (S. 22). Über all die Jahrhunderte bleibt die Geschichte indes niemals fest. Einiges, wie das Flüchtlingselend, scheint sich zwar zu wiederholen (S. 21). Tatsächlich aber sind Erzählungen immer neu, und zwar auch dann, wenn sie sich auf scheinbar Altbekannte(s) konzentrieren – sei es Henry Kissinger (S. 16) oder Wilhelm Tell (S. 19). Die Geschichte geht also weiter. Wir erzählen im Mai wieder davon. Einstweilen wünschen wir nun aber anregende Lektüre. Claudia Mäder Belletristik Kurzkritiken Sachbuch 4 15 Reinhard Krüger: Der Stinkefinger Von Simone Karpf Léon Werth: 33 Tage Von Kathrin Meier-Rust Katharina Kakar: Frauen in Indien Von Kathrin Meier-Rust Boris Schumatsky: Der neue Untertan Von Claudia Mäder Kurzkritiken Belletristik 11 Jean-Philippe Toussaint: Fussball Von Claudia Mäder Franziska Gerstenberg: So lange her, schon gar nicht mehr wahr Von Manfred Papst Julia Deck: Winterdreieck Von Manfred Papst Benjamin Black: Tod im Sommer Von Gundula Ludwig Essay 12 Das letzte Kapitel von «Tausendundeine Nacht» Alfred Messerli schreibt über das glückliche Ende des Märchenklassikers Kolumne 15 Charles Lewinsky Das Zitat von Arthur Schopenhauer Sachbuch 16 Niall Ferguson: Kissinger. Der Idealist, 1923–1968 Greg Grandin: Kissingers langer Schatten Von Reinhard Meier 18 Thilo Sarrazin: Wunschdenken Von Beat Kappeler 19 Deborah Feldman: Unorthodox Von Silke Mertins Michael Blatter, Valentin Groebner: Wilhelm Tell, Import-Export Von Claudia Mäder 20 Christoph Drösser: Total berechenbar? Christian Rudder: Inside Big Data. Unsere Daten zeigen, wer wir wirklich sind Von Leonid Leiva Bernhard Viel: Der Honigsammler Von Kathrin Meier-Rust 21 Gaziel: Nach Saloniki und Serbien. Eine Reise in den Ersten Weltkrieg Von Janika Gelinek 22 John Freely: Zurück nach Ithaka Von André Behr 23 Martin Bossenbroek: Tod am Kap Von Urs Bitterli Jens Mühling: Schwarze Erde Von Lukas Mäder 24 Georg Kreis (Hrsg.): Reformbedürftige Volksinitiative Von René Roca Gerhard Paul: Das visuelle Zeitalter Von Claudia Mäder ALEXANDER JAMES Lars Gustafsson: Doktor Wassers Rezept Von Manfred Papst 6 Roland Schimmelpfennig: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts Von Judith Kuckart 7 Ben Lerner: 22:04 Von Martin Zingg 8 Lisa Owens: Abwesenheitsnotiz Von Sandra Leis 9 Antje Rávic Strubel: In den Wäldern des menschlichen Herzens Von Stefana Sabin Henri Lartigue: Das Leben ist bunt Von Gerhard Mack 10 J. Paul Henderson: Letzter Bus nach Coffeeville Von Simone von Büren 11 Alberto Nessi: Miló Von Charles Linsmayer Lisa Owens (S. 8) gilt als eine der interessantesten jungen Stimmen der englischen Literatur. 25 Wolfgang Koydl: Die Bessermacher. Die Schweiz kann’s einfach besser Von Urs Rauber 26 Elisabeth Mixa et al. (Hrsg.): Un-Wohl-Gefühle Von Walter Hollstein Das amerikanische Buch Douglas Brinkley: Rightful Heritage: Franklin D. Roosevelt and the Land of America Von Andreas Mink Agenda 27 Franz Xaver Winterhalter: Maler im Auftrag Ihrer Majestät Von Manfred Papst Bestseller April 2016 Belletristik und Sachbuch Agenda Mai 2016 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Claudia Mäder (cmd., Leitung), Simone Karpf (ska.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Björn Vondras (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Raffaela Breda (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected] 24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Roman Der am 3. April 2016 verstorbene schwedische Autor Lars Gustafsson spielt in seinem letzten Werk nochmals alle seine Qualitäten aus: Heiterkeit, Virtuosität und Melancholie DieGabedes genuinenErzählens Lars Gustafsson: Doktor Wassers Rezept. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Hanser, München 2016. 144 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 14.40. Von Manfred Papst Wie Giuseppe Verdi mit seinem «Falstaff» hat sich der grosse schwedische Autor Lars Gustafsson mit einem Werk von sublimer Heiterkeit von der Welt verabschiedet. «Doktor Wassers Rezept» ist ein verschmitzter erotischer Roman über einen Hochstapler, in dem der Autor hintersinnig mit seiner eigenen Biografie spielt. Sein Protagonist, Doktor Wasser, ist scheinbar mit sich und der Welt zufrieden: Er ist achtzig Jahre alt, saturiert und verbringt seine Tage mit der Teilnahme an Preisausschreiben in allen möglichen Zeitschriften. Am laufenden Band gewinnt er Kaffeemaschinen, Kreuzfahrten, Wellnesswochenenden in Nobelhotels. Aber er löst seine Guthaben nie ein. Es geht ihm einzig ums Spielen. «Ich bin ein Gewinner», sagt er von sich. Und er erinnert sich mäandrierend an sein Leben. An verflossene Geliebte, die er sich in verstörend intensiven Bildern vergegenwärtigt. Früh schon ist er ein Verführer und Schwindler: Als junger Mann entdeckt er die verweste Leiche eines ostdeutschen Motorradfahrers in einer Böschung. Er nimmt die Papiere des Verunglückten an sich und legt sich eine neue Identität zu. Er ist nun nicht mehr der Bursche, der in einer Werkstatt für Autoreifen in der schwedischen Pampa arbeitet oder sich mit den richtigen Bolzen für defekte 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016 Bootsmotoren beschäftigt, sondern ein junger aufstrebender Arzt. Natürlich ist er schlau genug, um sich nicht in fehleranfälligen Disziplinen wie der Chirurgie zu verdingen. Er verlegt sich auf die Schlafforschung. Da kann er kaum etwas falsch machen, und da macht er denn auch prompt Karriere. Überschuss an Phantasie Doktor Wasser erzählt seine unglaubliche Geschichte mit Verve und Witz. Glücklich gehen wir ihm auf den Leim. Ob seine erotischen Abenteuer alle so stattgefunden haben, wie er es uns weismachen will, beispielsweise, wenn er von der glasklaren Flüssigkeit berichtet, die in reicher Fülle aus einem erigierten Nippel in seinen saugenden Mund dringt, mögen wir bisweilen bezweifeln. Doch wenn er von Schrauben und in ihren minimal voneinander abweichenden Windungen spricht, dann wissen wir: Da schöpft einer aus dem Vollen. In «Doktor Wassers Rezept» begegnen wir noch einmal all dem, was wir seit Jahren an Lars Gustafssons Werk lieben. Er ist ein intellektueller Autor, gewiss. Aber er spielt sich nicht als solcher auf. Er will und muss sich nichts beweisen. Er schreibt mit Herzblut und doch federleicht. Seine Liebe gilt den Aussenseitern, den schrägen, lebensuntüchtigen und doch liebenswerten Existenzen, wie etwa «Nachmittag eines Fliesenlegers» zeigt, einer der schönsten Schelmenromane unserer neueren Literatur. Lars Gustafsson war ein neugieriger Mensch von hellem Verstand. 1936 wurde er in Mittelschweden geboren. Er schlug eine akademische Laufbahn ein. In Uppsala sowie in Oxford studierte er Literatur, Philosophie und Soziologie. Bevor er als freischaffender Erzähler, Lyriker und Essayist in Erscheinung trat, war er zehn Jahre lang Chefredaktor der angesehenen Literaturzeitschrift «Bonniers Litterära Magasin». Zeit seines Lebens reiste er viel. In den frühen 1970ern lebte er zwei Jahre in Berlin, von 1983 bis 2006 war er Professor in Austin, Texas. Er war ein weltläufiger, gebildeter Mann – und ein gläubiger, nach seiner Heirat mit Alexandra Chasnoff (der zweiten seiner drei Ehefrauen) im Jahr 1982 zum Judentum konvertierter Mensch. Martin Buber bedeutete ihm viel. Zeit seines Lebens war Gustafsson ein vielseitiger Autor. Virtuos spielte er auf allen Klaviaturen. Er schrieb berührende Gedichte und blitzgescheite Essays, hintergründige Erzählungen und schwebende – meist kurze – Romane. Im deutschen Sprachraum könnte man ihn in seiner serenen Energie am ehesten mit Hans Magnus Enzensberger vergleichen, der einige seiner frühen Werke übersetzt hat, bevor sie in die guten Hände von Verena Reichel gerieten. Dem deutschen poeta doctus hatte er jedoch die Gabe des genuinen Erzählens voraus. Das Lehrhafte, das Enzensberger – in der Tradition Lessings – bei allem Esprit stets eignet, ist Gustafsson ganz fremd. Er ist kein Didaktiker, sondern, so bewusst er seine Texte auch konstruiert, ein Mensch, bei dem stets ein Überschuss an Phantasie und narrativer Potenz die Sätze bestimmt. Besonders deutlich zu sehen ist das in seinem fünfteiligen, 1972 bis 1978 entstandenen Romanzyklus «Risse in der Mauer». Wenn wir Lars Gustafssons zahlreiche Bücher wieder hervornehmen, sehen wir uns auf so heitere wie hintergründige Weise mit unserer eigenen Geschichte konfrontiert. Wir begegnen dem Geist der Revolte der 1968er und der kurz darauf folgenden neuen Innerlichkeit, dem Traum von einer besseren Gesellschaft und dem Kampf mit unseren sexuellen Neurosen. Die neuen Technologien begegnen uns ebenso wie der Aufstand gegen sie. Diesem leichtfüssigen Autor sind die Ideen von Stanislaw Lem so wenig fremd wie die Ängste von Günther Anders. Natürlich hätte er den Nobelpreis bekommen müssen. Dass er ihn nicht erhielt, hat – wie bei seinem amerikanischen Kollegen Philip Roth – ausserliterarische, von den Zwängen und Taktiken der Jury bestimmte Gründe. Er hat es sich nicht verdriessen lassen: Denn er war ein souveräner Geist, der immer wieder mit neuen Büchern überraschte, beispielsweise mit dem autobiografisch geprägten Werk «Frau Sorgedahls schöne weisse Arme» (2008), einer einzigartigen Zusammenführung von Geist und Eros, aber auch mit der verspielten kleinen Enzyklopädie «Alles, was man braucht», die er mit seiner dritten Frau Agneta Blomqvist verfasste. LARS GUSTAFSSON / LAIF Schwereloser Fabulierer Mit viel Herzblut und doch federleicht erzählte Lars Gustafsson seine unvergleichlichen Geschichten. Das Schweden unserer Dezennien hat etliche bedeutende Autoren hervorgebracht, die glücklicherweise auch verlässlich ins Deutsche übersetzt wurden und unsere Literatur enorm bereichert haben – denken wir nur an den schwerblütigen Per Olov Enquist und an den enigmatischen Tomas Tranströmer. Im Kreis seiner eminenten Kollegen war Lars Gustafsson der Aufklärer und Leichtfuss, der schwerelose Fabulierer. Er hat uns immer trefflich unterhalten, und er hat uns nie enttäuscht. «Ich bin ein Gewinner. Ich bin gerade achtzig geworden»: So lauten die ersten Sätze von «Doktor Wassers Rezept», dem Roman, der nun zu Lars Gustafssons Vermächtnis geworden ist. Der Autor ist nicht ganz achtzig geworden; sechs Wochen fehlten ihm noch zu seinem runden Geburtstag, als er starb. Wir trauern um ihn. Er fehlt uns. Zumal er auch in seinem letzten Buch nochmals jene Ironie und melancholisch grundierte Leichtigkeit bewiesen hat, die wir so an ihm lieben. Die Gründlichkeit im Detail, die Musikalität der Sprache. Kein anderer hätte uns entflammen können für Bolzen eines Bootsmotors, deren Bohrung um den Bruchteil eines Millimeters von der Norm abweicht, weil die britischen und die kontinentalen Masse nicht identisch sind. Wenn Gustafsson uns solche Geschichten erzählt, hängen wir an seinen Lippen wie selige Kinder an jenen ihrer Märchenonkel. Der sublime Intellektuelle und genuine Fabulierer mit den hellen, wachen Augen, in denen sich die ganze Welt spiegelte, hat uns verlassen. Sein Schreibtisch ist leer. Doch seine wunderbaren Bücher begleiten uns weiter. Und unser Nobelpreis gilt ihm. ● 24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Roman Der erfolgreiche deutsche Dramatiker Roland Schimmelpfennig hat erstmals einen Roman geschrieben. Er spielt im heutigen Berlin und treibt seine Protagonisten in die Wildnis AufderSuchenachdemWolf begegnetderMenschsichselbst Von Judith Kuckart Wäre dieser Roman ein Theaterstück, würde man folgende Eckdaten anführen: In den wichtigen Rollen: der Schnee, die Liebe, Alkohol, der Tod, viele, viele Menschen und die Stadt Berlin, oft dort, wo sie ausfranst. In weiteren Rollen sieht man stillgelegte Bahnhöfe, Baustellen, Kneipen, Galerien, Ateliers, traurige Wohnungen von Reichen und Armen. Und der Plot? Ein Gewehr und ein Wolf initiieren Handlungen, die sonst so nicht stattgefunden hätten. Diese beiden sprachlosen Hauptdarsteller stossen bei eisigen Aussentemperaturen hitzige Flucht– und Suchbewegungen von Menschen an. Roland Schimmelpfennig (geboren 1968) kommt vom Theater und hat jetzt seinen ersten Roman geschrieben. Doch hat es bereits Stücke von ihm gegeben, die auf dem Weg zur Prosa waren. «Vorher/Nachher» zum Beispiel ist 2003 in der Regie von Jürgen Gosch am Deutschen Schauspielhaus Hamburg uraufgeführt worden. Sein kurzer Roman «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts» ist also das Debüt eines erfahrenen Handwerkers. Schimmelpfennig geht als Theatermann anders mit der Zeit von Lesern um. Ökonomischer. Die Höhepunkte sind gut gesetzt. Ein Toter liegt im Schnee unter einem Hochstand. Zwei Kinder, kurz darauf mit dem Gewehr des Toten im Gepäck, erfrieren auf der Flucht vor ihrem trostlosen Alltag fast auf einem Güterzug. Ein Bier wird in einer trüben Bahnhofgaststätte gezapft, auf den Tresen gestellt, und der, der es 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016 bestellte, ein trockener Alkoholiker, weiss, wenn er jetzt trinkt, wird er untergehen. Wenige Buchseiten später wird er aus einer Kneipe geworfen und fällt dem Jungen, der fast erfroren wäre, vor die Füsse. Der Junge sagt «Papa!». Tomasz aus Warschau, der ohne seine Freundin Agnieszka nicht leben kann, sichtet als erster gleich zu Beginn des Romans den Wolf, 80 Kilometer vor Berlin, und macht ein Foto. Agnieszka verkauft es an die Presse. Der Pächter eines Spätkaufs im Prenzlauer Berg macht sich GETTY IMAGES Roland Schimmelpfennig: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 256 S., Fr. 28.90, E-Book 21.–. Zwischen Stadt und Wald bewegen sich die Figuren in Schimmelpfennigs Roman. daraufhin auf die Jagd nach dem Wolf und merkt in der Begegnung mit dem Tier, wie jämmerlich er plötzlich vor sich selber dasteht. Es geht in diesem temporeichen Roman um Suche und Flucht, um die Zugespitztheit zufälliger Begegnungen und die bittere Schärfe von Wiederbegegnungen. Mancher, der auf dem Weg zu einem Menschen den Wolf getroffen hat, redet von dem Tier, als hätte er Gott gesehen. Oder sich selbst – zum ersten Mal. Die Vorgänge sind knapp skizziert. Das hat – bis auf einige schwerfällige Rückblenden – eine schöne poetische Sachlichkeit. Einige Kapitel bestehen, wie ein Theaterstück, aus Dialogen. Doch obwohl gesprochen wird, bleibt der Eindruck, dass die Leute mehr miteinander schweigen, als dass sie reden. Das Ungesagte wird später, in seinen Konsequenzen, erst sichtbar. Der Roman von Schimmelpfennig ist auch ein Berlin-Roman. Solche gab es schon viele. Alfred Döblin, Bodo Morshäuser und Thomas Hettche fallen einem ein. Aber die Art, in der Schreibende jetzt diese Stadt erzählen, hat sich geändert. Sie ist kein Ort im Herzen des Kalten Kriegs mehr. Nicht nur der Geruch nach Kohleöfen ist weitgehend verschwunden, sondern auch das Unfertige, Improvisierte, das, was diese Stadt lange wie einen Abenteuerspielplatz für Erwachsene aussehen liess. Westberlin ist nicht mehr Freaktown. Ostberlin ist nicht mehr graue Hauptstadt der DDR. Ganz Berlin glänzt glatt wie sein Hauptstadtbahnhof. Kaum eine Baulücke steht noch offen. Was gilt noch, was nicht? Die Stadt verdichtet sich, wird teuer und eng. Auch dies setzt Schimmelpfennig unaufdringlich und unkommentiert mit seinem gut gemachten und trotzdem rauen Plot in Szene. Ja, der Wolf ist hungrig, und all die Menschen, die ihm begegnen, auch. Es ist ein Hunger nach Sinn. ● Roman Mit «22:04» legt der New Yorker Autor Ben Lerner einen subtilen und bisweilen enorm lustigen Roman vor, der sich auf dem schmalen Grat zwischen Fakt und Fiktion bewegt WasdieKunstvomLebentrennt Ben Lerner: 22:04. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt, Reinbek 2016. 314 Seiten, Fr. 25.90. Ben Lerner: Abschied von Atocha. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2015. 256 Seiten, Fr. 13.90. Von Martin Zingg Es ist genau 22:04 h, als am 12. November 1955 der Blitz in die Rathausuhr von Hill Valley einschlägt – und das ermöglicht im Filmklassiker «Zurück in die Zukunft» eine folgenreiche Zeitreise ins Jahr 1985. Dieser entscheidende, alles verändernde Moment hat es Ben angetan, dem Ich-Erzähler in Ben Lerners Roman «22:04», und auch in diesem Roman, wie im Film, drängen sich die verschiedensten Zeiten und Welten überraschend eng aneinander. Um die dünne und sehr durchlässige Demarkationslinie zwischen «echt» und «falsch», zwischen «jetzt» und «früher» geht es in Ben Lerners grossartigem Roman immer wieder. Um die Differenz zwischen Fiktion und Nichtfiktion, zwischen Kunst und Leben. Väter und Samenspender Ben ist Autor, er schreibt Gedichte und Essays, gelegentlich auch Katalogtexte, und vor allem hat er einen ersten Roman publiziert, der sehr erfolgreich war – genau wie Ben Lerner, der Autor des nun auf Deutsch vorliegenden Romans «22:04». Auch Ben Lerner, Jahrgang 1979, lebt in Brooklyn, auch er hat einen stark beachteten Erstling veröffentlicht («Abschied von Atocha», inzwischen als Taschenbuch greifbar). Die beiden, der Autor und sein Erzähler, haben einiges gemeinsam. Beide leiden beispielsweise an einer Krankheit, die sie permanent in Schach hält, nämlich am Marfan-Syndrom. Wegen einer Instabilität des Bindegewebes des Körpers befürchten sie das plötzliche Zerreissen der Aorta. Und auch Ben hat 2012 eine Erzählung im Magazin «The New Yorker» publiziert, die grosse Beachtung gefunden hat. Ein Verlag offeriert ihm, dem fiktiven Ben, nun einen überaus üppigen Vorschuss für einen Roman, den er aus dieser Erzählung entwickeln soll. Seine Agentin rät ihm regelmässig, wie er vorgehen soll: Vor allem müsste er sich endlich an die Arbeit machen, denn Ben hat eine Deadline, und die rückt immer näher. Zugleich aber wird New York von einem schweren Sturm bedroht, der Bürgermeister organisiert erste Rettungsmassnahmen, die Menschen legen noch schnell Vorräte an und stürzen in die Supermärkte. Auch Ben tut das, zusammen mit seiner «besten Freundin» Alex, die er aus gemeinsamen College-Tagen kennt. Die beiden werden das Unheil entspannt In Ben Lerners Roman zieht ein Sturm über New York auf, doch der Held des Buchs hat derweil noch ganz andere Probleme. überstehen, und Ben könnte sich bald wieder dem Schreiben zuwenden. Doch Alex möchte dringend ein Kind von ihm, allerdings nur auf Umwegen, ohne mit ihm zu schlafen. Mit Ben will sie nicht zusammenleben, und sie weiss auch nicht genau, ob sie in ihm einen möglichen Vater sehen kann oder bloss einen Samenspender. Aber ein Kind will sie auf jeden Fall, und die Passagen, in denen Ben in einer Klinik wiederholt versucht, eine brauchbare, unverschmutzte Samenspende abzugeben, sind von umwerfender Komik. Schräg und subtil zugleich ist in diesem Roman vieles. Lerner schickt seinen Ich-Erzähler wie eine Sonde in unterschiedlichste Realitäten. Seine Freundin Alena etwa führt ihn in die New Yorker Kunstwelt: Sie hat ein «Institut für Kunstwerke mit Totalschaden» gegründet und versammelt darin Werke, die von einer Versicherungsgesellschaft für «wertlos» erklärt worden sind, weil sie «vom Status der Kunst in den Zustand blosser Objekthaftigkeit zurückgestuft, aus dem Verkehr gezogen, vom Markt genommen» worden sind. Kunst ist unter anderem auch Verhandlungssache. Im Roman geht es oft um Erinnerungen und um Identität. Um Zuschreibungen, um den bisweilen verzweifelten Versuch, Klarheit zu schaffen in einer Welt, die keine festen Konturen kennt. Einmal begegnet der Protagonist einer jungen Frau, Noor, die ihm erzählt, wie sie nach dem Tod ihres Vaters erfahren hat, dass dieser gar nicht ihr biologischer Vater gewesen ist – und sie, in der Folge, auch nicht eine «halbe» Libanesin. Sie hat aus familiären Gründen Arabistik studiert und den Kontakt mit der Beiruter Familie ihres vermeintlichen Vaters gepflegt, das Stipendium in Kairo hat sie nun aber nicht angetreten. Sie muss erst noch einiges klären. Wie Kunst ist auch Identität bisweilen eine Verhandlungssache, und das wird in dieser beiläufigen Passage auf eindrückliche Weise erzählt. Formale Vielfalt Ben Lerner kann auf eine ungemein elegante und zugleich unterhaltsame Weise Situationen beschreiben, in denen sich wie von alleine auch ein Lebensgefühl zu erkennen gibt. Interessant ist «22:04» zudem wegen seiner formalen Vielfalt. Lerner baut Gedichte in seine Erzählung ein, er lässt seinen Protagonisten essayistische Anmerkungen einflechten, macht kühne Sprünge wider alle Chronologie und vergisst trotzdem nichts. Und so schauen wir Ben zu, wie er durch seine Brooklyner Tage schlendert, wie er Menschen trifft, sich gelegentlich verliert – und am Ende diesen Roman präsentiert, dessen Entstehung wir mitverfolgen konnten. Einen Roman als Protokoll seiner Entstehung zu erzählen, ist nichts Neues, zugegeben. Hier aber ist der Versuch auf wunderbare Weise gelungen. Und Nikolaus Stingl hat ihm in seiner deutschen Fassung eine präzise Frische und Geschmeidigkeit gegeben. ● 24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Die junge Britin Lisa Owens erzählt in ihrem virtuosen Debüt, wie es ist, wenn jemand freiwillig den Job kündigt und nach seiner Berufung sucht VomVersuch,ausdem Hamsterradauszubrechen delt sich die Selbstzweiflerin in eine rabiate Fussgängerin. Zu Hochform läuft die scharfzüngige Beobachterin in den Dialogen auf: Ob Partygeplänkel, unnötiger Streit mit Luke oder ätzende Fragen der Mutter – Claire spiesst alles auf und zeichnet gleichzeitig stimmige Porträts. Dabei bleibt sie aber selber auch immer Teil der Satire und hält uns einen Spiegel vor, der abgründiger ist, als uns lieb sein kann. Lisa Owens: Abwesenheitsnotiz. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Karen Witthuhn. Piper, München/ Berlin 2016. 288 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 16.–. Von Sandra Leis Während ehemalige Klassenkameradinnen bereits als Apothekerinnen arbeiten und zwei kleine Kinder haben, tritt Claire Flannery an Ort. Sie ist seit sieben Jahren mit demselben Mann zusammen, doch Heirat und Familiengründung schieben die beiden vor sich her. Das wäre nicht weiter schlimm, würde Claire mit Ende zwanzig beruflich durchstarten. Dem ist aber nicht so: Nach ein paar Gelegenheitsjobs und einer Anstellung im Bereich der «kreativen Kommunikation» entscheidet sie sich für den Ausstieg: «Ich glaube fest daran, dass jeder eine Bestimmung hat.» Claires Erfinderin, die Autorin Lisa Owens, hat diese Bestimmung offenbar gefunden: 1985 geboren und in Glasgow und Hertfordshire aufgewachsen, lebt sie in London und hat sechs Jahre lang für Literaturagenturen und Verlage gearbeitet. Doch eines Tages hatte sie genug, setzte sich an ihren ersten eigenen Roman und gilt heute als eine der interessantesten jungen Stimmen Englands. Zu Recht, denn Thema und Tonfall zeugen von einer eigenständigen literarischen Qualität. «Not Working» ist ein amüsanter und gleichzeitig zutiefst ehrlicher Roman über das Leben ohne Job und hat in der Verlagsszene bereits ein Jahr vor der Veröffentlichung für Entzücken gesorgt. Fast zeitgleich mit dem englischen Original erscheint dieses Debüt nun in neun Übersetzungen. 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016 PHOTONONSTOP / LOOK-FOTO Vorsätze verpuffen Als Claire noch einen Job hatte, stellte sie sich oft vor, was sie alles tun würde, wenn sie nicht mehr arbeiten müsste: Sie könnte jeden Tag ins Fitnessstudio gehen, endlich den «Ulysses» fertig lesen, die Mechanismen der Wirtschaft kapieren oder die moderne Kunst. Doch diese Vorsätze verpuffen allesamt. Statt dessen trinkt Claire mehr Alkohol, als ihr gut tut, sie lässt die Wohnung verdrecken und sieht all ihre Schwächen wie unter einem Vergrösserungsglas. Ihr Freund Luke und auch ihr Vater geben zwar Gegensteuer und unterstützen sie liebevoll, doch der grosse Rest ihres Umfelds reagiert zunehmend gereizt auf ihre freiwillige Auszeit. Freunde und Familie sprechen von «Luxus» oder erklären in strengem Ton, dass in dieser Gesellschaft jeder seine Aufgaben wahr- Unkraut als Leitmotiv Pause vom Arbeitsleben: Owens Hauptfigur kommt bei einer Auszeit ins Grübeln. nehmen müsse. Und Claire selbst konstatiert nach einer Weile: «Wenn ich ehrlich bin, komme ich mir die meiste Zeit nutzlos vor: Es ist erschreckend, wie rasant und steil der Abstieg vom produktivenMenschenzureinerRaumverschwendung vonstatten ging.» Auf der Suche nach einer sinnstiftenden Arbeit gerät Claire in eine veritable Krise, und die Autorin Lisa Owens bringt das Kunststück fertig, leichtfüssig und zugleich tiefsinnig darüber zu schreiben. In kurzen Kapiteln berichtet die Ich-Erzählerin über ihr Leben und den Alltag in London. Unter der Überschrift «Zebrastreifen» beispielsweise notiert sie einen einzigen Satz: «Du musst mich nicht über die Strasse winken; das Gesetz sagt, du sollst anhalten, und ich muss dir dafür nicht danken.» In solchen Passagen verwan- Claire und ihr Freund Luke sind zwei Menschen, die viel verbindet und auch einiges trennt. Sie sagt zu ihm, einem talentierten Hirnchirurgen: «Du gehst einer Arbeit nach, die du liebst und die praktischerweise auch noch eine der wichtigsten Arbeiten ist, die man machen kann. Wie soll ich da jemals mithalten?» Luke antwortet, Lisa brauche nicht mitzuhalten, schliesslich hätten sie eine Beziehung und seien ein Team. Das ist nett gemeint, hilft ihr aber nicht weiter. Denn Claire sucht nach ihrer Bestimmung, hat aber nicht die leiseste Ahnung, wohin die Reise gehen soll. Das ist schwer auszuhalten. Und bleibt so bis zum Ende dieses wunderbar schrägen Romans. Erst auf der allerletzten Seite, im Epilog, wird klar, dass Claire wieder einem Beruf nachgeht. Welchem, bleibt offen – vermutlich ist sie Schriftstellerin. Claire steht früh auf, geht vor der Arbeit laufen und notiert: «Ich laufe (…), und in jeder Strasse explodieren (…) leuchtend violette Buddleja-Sträusse und tanzen im Wind: Gruppen von Fans, die meinen Weg säumen und mich anfeuern.» Die Buddleja zieht sich leitmotivisch durch den Roman «Abwesenheitsnotiz». Auf der ersten Seite, das Kapitel ist mit «Mauerblümchen» überschrieben, redet ein wildfremder Mann auf Claire ein und will ihr weismachen, dass sie die Buddleja an ihrer Fassade unbedingt entfernen müsse. Ein solches Unkraut könne das ganze Haus zerstören, ist der Mann überzeugt. In der Tat: Die Buddleja ist entweder ein gemeines und zerstörerisches Unkraut oder aber ein blühender Gartenstrauch, der Menschen erfreut und für Schmetterlinge ein Glücksfall ist. Ähnlich verhält es sich mit der Arbeit: Sie kann vernichten oder beglücken, und manchmal ist sie einfach nur ein notwendiges Übel. Zum Beispiel dann, wenn plötzlich das Geld knapp wird. Das erlebt auch Claire und kehrt für ein paar Wochen zurück in ihren alten Job. Ein Dauerzustand kann und darf daraus aber nicht werden. Zum Glück, denn sonst wäre dieser Roman wohl nie geschrieben worden. ● Roman In ihrem neuen Episodenroman entwirft Antje Rávic Strubel einen Reigen aus verschiedenen Liebesgeschichten und stellt die Grenze zwischen den Geschlechtern in Frage Nichtsistfestgelegt Antje Rávic Strubel: In den Wäldern des menschlichen Herzens. S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 272 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 21.–. Von Stefana Sabin Die Geschichten heissen «Der weisse Felsen», «Im Delta», «Sonnenbucht» oder «Nachtwache am See» und spielen jenseits der Städte in den kalifornischen Bergen, an skandinavischen Seen oder auf einer Nordseeinsel unter meist extremen klimatischen Bedingungen. Denn die Landschaft und das Wetter spielen gewissermassen mit, wenn Leidenschaften und Begierden zu Taten werden: «Über den Bergen hatte sich die Wolkendecke aufgelöst, und dort sah Helen hin, und Faye, die ihren Blick bemerkte, drehte sich ebenfalls um. Sie standen dicht beieinander und sahen den Schnee auf den Gipfeln.» Faye und Helen und die anderen Figuren – Sara, Ute, Emily, René – suchen nach Beziehungen jenseits herkömmlicher Paarschemata. So gibt René auf einem ärztlichen Anamnesebogen unter Unverträglichkeit «Schlimme Heterophobie» an. zum anderen und von einem Land ins andere, sondern auch von einer Geschichte in die andere hinüberwechseln, durchkreuzen sich diese Geschichten und ergeben ein narratives Ganzes, das geschickt komponiert ist. Diese Komposition entspricht der titelgebenden Gattungsbezeichnung als «Episodenroman» insofern, als sie aus mehreren leicht aus dem Gesamtzusammenhang lösbaren Geschichten besteht. Die verschiedenen Handlungsfäden in Strubels Roman folgen den Figuren über Jahre hinweg auf ihren Partnerinnenwechseln und ergeben eine Art Beziehungsreigen, der sich in der allerletz- ten Episode schliesst. Da taucht Katja, die in der ersten Episode eine Trennung vollzieht, als Katt wieder auf, der gerade eine neue Beziehung eingeht. Jenseits der Kartografie Wie schon in ihren früheren Romanen beschreibt Antje Rávic Strubel besondere Beziehungskonstellationen und stellt als Figuren eine Reihe von Frauen vor, die sich «die uferlose Tiefe jenseits der Kartografie» erschliessen wollen, wie eine von ihnen sagt, und damit nicht nur auf eine geografische, sondern auch auf eine geschlechtliche Festlegung hindeutet. ● Henri Lartigue Fotograf der Leichtigkeit Erotischer Roman Die Geschichten, die von der Beziehungssuche dieser verschiedenen Figuren erzählen, sind weniger Liebes- als vielmehr Verführungsgeschichten, die um Lust und ihre Erfüllung kreisen und in eine Sexszene münden. «Durch die Buchten fiel zitterndes Licht über das Wasser am Ufer, und eine Hand lag auf ihrem Bauch. Eine leichte Berührung unter der Bikinihose. Ein Frösteln der Haut. Es war nicht ihre Hand.» Wie in herkömmlichen Konstellationen übernimmt eine Figur die Initiative und setzt dabei das Einverständnis der anderen voraus. Immer wieder wird ein sexuelles Erwachen vorgeführt, das den vorherigen Lebensentwurf entschieden verändert, und es wird eine untergründige Sehnsucht beschrieben, die sich in einer sexuellen Handlung entlädt. Vielleicht auch deshalb haftet den Liebesszenen eine weiche Gewalt an, die eine stilistische Gratwanderung zum Softporno der Unterhaltungsliteratur ist: «René fing ihre Hände ab. Sie hielt die Handgelenke fest, drückte sie gegen die Wand, und Emily hatte den fremden Körper in ganzer Länge an ihrer nackten Haut.» Tatsächlich lässt sich der neue Roman von Antje Rávic Strubel, dessen Titel auf Ernest Hemingways «Über den Fluss und in die Wälder» und zugleich an Carson McCullers’ «Das Herz ist ein einsamer Jäger» verweist, als erotischer Roman bezeichnen, insofern als das Verlangen und seine Erfüllung im Mittelpunkt der jeweiligen Episodenhandlung stehen und deren Spannung ausmachen. Aber da die Figuren nicht nur von einem Kontinent Der Vorhang hat ein lebhaftes Muster, das Licht wirft durch die Jalousien Streifen. In dem Geflacker löst sich die junge Frau fast auf. Man versteht sofort, dass der Fotograf den Impressionismus liebte, und glaubt ihm, wenn er sagte: «Ich war schon immer Maler. Folglich sehe ich alles mit meinen Maleraugen.» Malerei will zumeist Farbe. Mit der hat Henri Lartigue (1894–1986) bereits vor dem Ersten Weltkrieg experimentiert, als die Gebrüder Lumière Autochromplatten entwickelten, die sich belichten liessen. Doch die Technik war zu langsam für Bewegungen und die Ausrüstung schwer. Ab 1927 wandte er sich ganz der Schwarz-Weiss-Fotografie zu. Für diese wurde der Sohn aus grossbürgerlichem Haus bekannt und als der französischste unter den französischen Fotografen gefeiert, nachdem ihm das Museum of Modern Art in New York 1963 eine Ausstellung gewidmet hatte. Damals war er 69 Jahre alt und hatte bereits wieder Farbfilm verwendet. Gezeigt wurde diese Seite seines Werks jedoch selten. Der Band versammelt eine Auswahl seiner schönsten Farbbilder. Gerhard Mack Henri Lartigue: Das Leben ist bunt. Schirmer/Mosel, München 2016. 168 S., 100 Farbabb., Fr. 37.90. 24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Der Brite J. Paul Henderson kann sich nicht entscheiden, ob er ein schräges Roadmovie entwerfen oder ein gelehrtes Buch über die amerikanische Geschichte verfassen will ImTourbusvonPaulMcCartney J. Paul Henderson: Letzter Bus nach Coffeeville. Aus dem Englischen von Jenny Merling. Diogenes, Zürich 2016. 520 Seiten, Fr. 33.90, E-Book 27.–. Von Simone von Büren In der ersten und letzten Szene von J. Paul Hendersons Debütroman «Letzter Bus nach Coffeeville» sitzt die Hauptfigur Doc auf einer Veranda und fragt sich, ob die Vögel falsch singen. Am Anfang trinkt er Kaffee, befiehlt den Vögeln, die Schnäbel zu halten, und schlägt die Zeit tot. Am Ende trinkt er Bourbon, findet, die Vögel sängen wunderschön, und bringt sich dann um. In der Zwischenzeit passiert nicht viel. Denn Doc ist ein fürchterlicher Langweiler: Er wurde Arzt, weil ihm nichts Besseres in den Sinn kam; er fand «die einzige Erfüllung im Entfernen von Ohrenschmalz» und würde vom Leben nur Zigaretten und Whiskey vermissen. Die einzige tiefgreifende Entscheidung trifft Doc, als er seiner Freundin Nancy als Student verspricht, sie umzubringen, sollte der in ihrer Familie vererbte Alzheimer ihre Persönlichkeit zu verändern beginnen. Gut fünfzig Jahre später ist Nancys mentaler Zustand verwirrt genug, dass das Versprechen eingelöst wird. Der 72-jährige Doc entführt sie also mit Hilfe einiger Kumpel aus der geschlossenen Abteilung eines Pflegeheims in Maryland und fährt sie in einem ehemaligen Tourbus von Paul McCartney auf die Farm in Mississippi, auf der sie sterben will. Seriöse Materialsammlung Die Reise wäre so langweilig wie Doc und die in klischierter Verwirrung versunkene Nancy, sässen im Bus nicht noch Docs Patensohn Jack, ein desillusionierter Wetteransager in einer Midlife Crisis; der Waisenjunge Eric, der die Toten in der Bibel zählt (er kommt auf 2 571 109) und seine Cousine sucht, die sich in Ten10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016 J. Paul Henderson schickt eine bunt gemischte Aussenseitertruppe auf eine Reise über die Holperstrassen der USA. nessee als Stripperin durchschlägt. Und der Afroamerikaner Bob, der Doc und Nancy schon als junge Bürgerrechtsaktivisten in einem Bus durch die USA gefahren hat und der seither unter anderem Rebell, Auftragsmörder der Regierung, Dokumentenfälscher und Künstler war. Wie es sich für ein amerikanisches Roadmovie – und ein solches will «Letzter Bus nach Coffeeville» offensichtlich sein – gehört, geraten die Ausreisser wiederholt in Konflikt mit dem Gesetz, schlittern Schotterpisten herunter und verfrachten betäubte Gegenspieler in LKW. Spannend wird es dabei kaum. Dafür ist der Erzähler zu sehr damit beschäftigt, gleichzeitig irgendwelche Banalitäten zu klären und Meilensteine der amerikanischen Geschichte zu vermitteln, so dass sich der Text auch in der von Henderson gekürzten Fassung, die der deutschen Übersetzung zugrunde liegt, auf langen Strecken wie eine seriös redigierte Materialsammlung liest. Teilweise lässt sich dies durch die schiere Stoffmenge erklären, die der 68-jährige Engländer verarbeitet: neben der autobiografischen Erfahrung mit seiner alzheimerkranken Mutter auch sein Amerikanistikstudium und seine Dissertation über Darlington Hoopes, den letzten sozialistischen Präsidentschaftskandidaten der USA. Henderson schlägt den Bogen von den Aufständen der Minenarbeiter West Virginias in den 1920er-Jahren über die Abschaffung der Rassentrennung an staatlichen Schulen 1954 und die Militärinterventionen im Kongo und in Vietnam zur Registrierung schwarzer Wähler in Mississippi in den 1960er-Jahren. Auch an kulturgeschichtlichen Referenzen fehlt es nicht: Erics Cousine arbeitet im Elvis Theme Park «Graceland», Doc sieht aus wie der Grossvater in der Fernsehserie «The Waltons», Nancy heiratet den Vizepräsidenten der Hershey-Schokoladenfabrik. Das ist alles durchaus interessant. Und dass die Reise mit einer vergessenden Figur zu kollektiver Erinnerung Anlass gibt, besticht ebenso, wie dass Nancys Demenz längst überholte gesellschaftliche Zustände unvermittelt in die Gegenwart einbrechen lässt. Aber Henderson gelingt es nicht, das wissenschaftlich Angeeignete literarisch zu formen. Seine Figuren bleiben trotz einschneidender Erfahrungen Charakterskizzen ohne Entwicklung und wirken wie niedliche Kunststoffkopien der harten und heruntergekommenen Typen in Texten von E. L. Doctorow oder Willy Vlautin. Mit zynischer Stimme Und sie klingen noch jämmerlicher in banalen Dialogen und plumpen Äusserungen im Stil von «Der strenge Calvinismus seiner Jugend beschränkte sich zwar mittlerweile auf das Tragen von CalvinKlein-Unterwäsche». Wobei man oft nicht weiss, ob solche Bemerkungen der Figur oder dem Erzähler in der dritten Person zuzuschreiben sind. Überhaupt fragt man sich immer wieder, wer da erzählt. Wem gehört diese immer gleich zynische Stimme, die doch keine eigene Identität entwickelt? Wer ist zuständig für die Pseudowitze, die sprachlichen Unzulänglichkeiten und die vermischten Metaphern: «Ihr Geist war von Flechten und Moos überzogen wie ein alter Grabstein, und die Tür zu ihrem Gedächtnis war nur noch einen Spaltbreit offen. (...) Der Nebel in ihrem Kopf riss jedoch immer mal wieder auf.» Einzelne Episoden in Bobs Vergangenheit sind in ihrer Absurdität dann doch unterhaltsam. Etwa als Bob Che Guevara und Fidel Castro darüber streiten hört, wer den dichteren Bart habe. Überhaupt gewinnt man den Eindruck, dass es Henderson eigentlich um Bob geht, dessen Biografie er eng verwebt mit den brisanten gesellschaftspolitischen Entwicklungen in der jüngeren amerikanischen Geschichte. Und auch als Leser hält man sich an den widerspenstigen Identitätenwechsler, nicht zuletzt, weil er vom Leben ganz sicher mehr vermissen würde als Zigaretten und Bourbon. ● Erzählungen Der Tessiner Alberto Nessi schreibt in leuchtender Sprache über Flüchtlinge, Deserteure und Bauern im Mendrisiotto Unter kleinen Leuten Kurzkritiken Belletristik Jean-Philippe Toussaint: Fussball. D. von Joachim Unseld. FVA, 2016. 128 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 14.90. Franziska Gerstenberg: So lange her, schon gar nicht mehr wahr. Schöffling, 2016. 240 S., Fr. 28.90, E-Book 17.90. Aus Belgien kommt auch Gutes. Freunde der Kulinarik mögen an Bier denken, jene der Kultur an Jean-Philippe Toussaint. Der 58-Jährige schreibt Romane, macht Filme – und begibt sich gelegentlich auch in Fussballstadien. Mit der ihm eigenen Liebe zum Detail und zur Lakonie berichtet er hier über WM-Spiele von Japan bis Brasilien. Den letzteren wollte er sich entziehen und sich ganz aufs Schreiben konzentrieren, doch konnte er der Magie des Moments nicht widerstehen und verfolgte die Partien bald auf jenem Bildschirm, der sonst den Fortschritt seiner Bücher anzeigt. Die Vereinigung der beiden Sphären ist das Programm des Texts, denn wenn Toussaint über Fussball schreibt, ist auch Literarisches im Spiel: Gefühle aus der Kindheit, der Umgang mit Erinnerungen oder das Verrinnen der Zeit, das beim fiebernden Verfolgen eines Matchs kurz stoppt. Ganz wie beim Lesen eines guten Buchs. Franziska Gerstenbergs Königsdisziplin ist die Erzählung. Mit den Sammlungen «Wie viel Vögel» (2004) und «Solche Geschenke» (2007) ist die 1979 in Dresden geborene Autorin, die am Literaturinstitut Leipzig studiert hat, bekannt geworden. 2012 folgte der Roman «Spiel mit ihr». Nun kehrt die Schriftstellerin wieder zu dem zurück, was sie am besten kann: zur lakonischen Geschichte, die vieles offen lässt, aber durch atmosphärische Dichte besticht. Auch in ihren acht neuen Erzählungen berichtet sie vom Einbruch des Unheimlichen in den Alltag, von oft nur kleinen Ereignissen, welche dem Leben ihrer Figuren eine neue Wendung geben. Wieso macht Sonja ihrem Garagisten aus heiterem Himmel einen Heiratsantrag? Und wieso behauptet eine Stalkerin, sie habe ein Kind von Margas Mann? Wir dürfen uns bei Franziska Gerstenbergs Geschichten unseren Teil denken, und das ist gut so. Alberto Nessi: Miló. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Limmat, Zürich 2016. 232 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 29.90. Von Charles Linsmayer Als 1984 mit «Terra matta» im LimmatVerlag der Prosaerstling des 1940 geborenen Tessiner Lyrikers und Gymnasiallehrers Alberto Nessi erschien, erkannte Alice Vollenweider dessen Figuren im Gegensatz zu jenen von Giovanni Orelli, Piero Bianconi und Plinio Martini «einen fröhlichen Eigensinn, eine vitale Hartnäckigkeit und eine Lust an der Auflehnung» zu. Eigenschaften, die sich 30 Jahre später im wiederum vom LimmatVerlag auf Deutsch publizierten Erzählband «Miló» wiederfinden. Insbesondere auch in der Figur des Partisanen Emile Lexert in der Titelgeschichte. Einer Erzählung, die nicht nur das Schicksal des in Lausanne aufgewachsenen, in rebellischer Allüre zum Kämpfer gegen Mussolini gewordenen und kurz vor Kriegsende gefallenen Sohnes einer Zigarrenarbeiterin nachvollziehbar macht, sondern auch die Epoche des italienischen Faschismus in gleissendes Licht taucht. Vom dokumentarischen Realismus der erwähnten Vorbilder ist der Text wie auch die andern siebzehn des Bandes allerdings weit entfernt. Da steigern rhapsodische Gedichte die Dramatik des Geschehens, während aus lyrischen Bildern Magie entsteht. Wenn Milós Mutter wie eine gegen den Wind kämpfende Möwe dem Genfersee entlang eilt, wenn Mädchen «lächeln wie das Wasser im Wald» oder Miló im Gefängnis sich vorstellt, mit einem Eindecker Savoyen zu überfliegen und seine Mutter auf blühende Weidenröschen abzusetzen. Die meisten Geschichten spielen unter Flüchtlingen und Emigranten, Deserteuren, aber auch alten Bauern oder kleinen Dieben im Mendrisiotto, dem Grenzgebiet zu Italien. Und ihre stupende Authentizität steigert sich weiter, wenn eigene Erinnerungen dazukommen. Etwa jene an den früh verstorbenen Vater in «Forever». Ein Fussballfan, der in der Zeitung Nachrufe schrieb und Nessi etwas Zentrales vermittelt haben muss: «Ich glaube, dass der Wunsch zu schreiben aus dem Tod erwächst. Aus dem Bewusstsein des Endes aller Dinge.» So dass es dem Sohn vorkommt, als sähe der Vater, «schon ins Jenseits ausgewandert, wo alles klarer wird», ihn hier «sein Werk des Chronisten weiterführen». ● Claudia Mäder Manfred Papst Julia Deck: Winterdreieck. D. von Antje Peter. Wagenbach, 2016. 144 S., Fr. 26.90, E-Book 16.90. Benjamin Black: Tod im Sommer. D. von Andrea O’Brien. Kiepenheuer & Witsch, 2016. 270 S., Fr. 21.90, E-Book 14.90. Eine junge Frau schmeisst ihren Job als Verkäuferin für Haushaltsgeräte in Le Havre hin und bedroht ihren Chef, der ihr den Urlaub verwehrt, mit einem Mixer. Was wie ein Slapstick beginnt, entpuppt sich als raffiniertes literarisches Spiel in der Tradition des Nouveau Roman. Julia Deck, 1974 in Paris geboren, entwirft in ihrem zweiten Roman nach dem vielbeachteten Debüt «Viviane Élisabeth Fauville» eine raffinierte Dreiecksgeschichte. Ihre Protagonistin, die sich nach einer Filmfigur von Eric Rohmer Bérénice Beaurivage nennt und beschliesst, Schriftstellerin zu werden, beginnt eine Affäre mit einem Mann, dem sie immer unheimlicher wird. Ist sie verrückt, hat sie ihr Gedächtnis verloren? Gibt es sie nur in der Fiktion? Es wird uns schwindlig bei der Lektüre, wir wissen nicht mehr, was wir glauben dürfen, doch lassen wir uns das sehr gern gefallen. Wenn der grosse irische Autor John Banville Kriminalromane schreibt, nennt er sich Benjamin Black. Acht Bücher hat er allein schon dem Gerichtsmediziner Quirke gewidmet, der zusammen mit Inspektor Hackett ermittelt. «Tod im Sommer» spielt im Dublin der 1950er-Jahre. Der steinreiche Zeitungsverleger Richard Jewell wird tot aufgefunden. War es Mord oder Selbstmord? Die Ermittler halten es für unmöglich, dass jemand sich mit einer Schrotflinte erschiesst und die Waffe danach noch in den Händen hält. Sie gehen von Mord aus und stossen auf eine Fährte: das Waisenhaus St. Christopher’s, in dem Quirke aufgewachsen ist und das Jewell als Gönner unterstützte. Aber waren seine Interessen wirklich nur die eines Wohltäters, oder hatte er mit den Knaben Böses vor? Banville alias Black schreibt einmal mehr spannend, souverän und routiniert. Manfred Papst Gundula Ludwig 24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Essay Ein uraltes Manuskript führt zu einem guten Ende: Unlängst wurde ein neuer Schluss von «Tausendundeine Nacht» aufgefunden – er beschreibt das Glück, das auf die letzte Nacht folgt. Und ein Blick ins Märchen zeigt die Macht, die das Erzählen über unser Leben hat. Von Alfred Messerli Mit1001Geschichten gegen denTod Ganz neu ist dieses glückliche Ende der Geschichte nicht: Der frisch vorliegende Schluss von «Tausendundeine Nacht» basiert auf einem Manuskript, das sich in der Raşit-Efendi-Bibliothek in Kayseri befindet und 1949 durch den Orientalisten Hellmut Ritter (1892–1971) erstmals beschrieben wurde. Ritter liess damals einen Mikrofilm der Handschrift anfertigen, der aber weitgehend unbeachtet blieb. Erst als dieser Mikrofilm vor einigen Jahren digitalisiert und ins Netz gestellt wurde, erwachte das Interesse der Wissenschaft, und auch dasjenige der Übersetzerin und Arabistin Claudia Ott. Es stellte sich heraus, dass es sich bei der Kayseri-Handschrift um ein Fragment handelt, das die Erzählungen der 880. bis zur 1001. Nacht enthielt. Diese Nächte sind zwar auch aus anderen Handschriften bekannt. Das Besondere der vorliegenden Fassung ist aber ihr ausführlicher Schluss: Während dieser gewöhnlich knapp auf Scheherezades Schwangerschaft und Geburt verweist, wird hier auf zwanzig Seiten das Glück, das auf die 1000. Nacht folgt, ausgekostet. Die als Stichwortgeberin assistierende Schwester Schahrasads (so heisst sie hier) findet in diesem Schluss ebenso ihre Würdigung wie die prächtige Doppelhochzeit, der Brautschmuck und die Gewänder. Dieser Schluss der Rahmenerzählung ist selten überliefert, und wenn man die letzten 120 Nächte auch aus anderen Fassungen kennt, ist die Kayseri-Handschrift der bei Das Ende der Nächte Das Manuskript aus Kayseri, einer Millionenstadt in Zentralanatolien, lag bis zu seiner Entdeckung etliche Zeit in einem falsch beschrifteten Schuber und ist von Claudia Ott nun erstmals in Übersetzung zugänglich gemacht worden. Es enthält die letzten 120 Nächte des Zyklus sowie das ausführliche Ende der Rahmenerzählung, über das bis anhin kaum etwas bekannt war. Claudia Ott: Tausendundeine Nacht. Das glückliche Ende. C.H. Beck, München 2016. 428 Seiten, Fr. 30.90, E-Book 22.–. Lesestoff für Erwachsene Die einzelnen Erzählungen und Märchen sind in eine Rahmenerzählung eingebunden. Nachdem seine Frau ihn mit einem schwarzen Sklaven betrogen hat, nimmt König Schehrijar von Samarkand am ganzen weiblichen Geschlecht Rache. Jeden Tag heiratet er eine Frau und lässt sie nach der Hochzeitsnacht hinrichten. Erst der klugen Tochter des königlichen Wesirs, Scheherezade, gelingt es, den König durch ihre Erzählungen so zu fesseln, dass er am Ende auf seine Rachepläne verzichtet. Wenn auch viele Erzählungen mehrere Nächte dauern, so kommen auch kurze Geschichten vor, ja Kürzestgeschichten, von denen mehrere auf eine Nacht gehen. Die Textsorten reichen dabei von Novel-lenmärchen und Exempla über Schwänke und Tierfabeln bis zu Anekdoten und Witzen. Das kommt einem bei der ersten Lektüre vertraut vor. Aus den «Kinder- und Hausmärchen» von Jacob und Wilhelm Grimm kennen wir etwa Tiermärchen wie das «Lumpengesindel» oder die «Bremer Stadtmusikanten». Gegenüber ihren arabischen Vorfahren nehmen sich diese allerdings wie die armen bäuri- Die tierischen Helden in «Tausendundeine Nacht» sind mit dem Koran vertraut, den sie zur Richtschnur ihres Handelns erheben oder heuchlerisch missbrauchen. schen Verwandten aus. Die tierischen Helden im «Glücklichen Ende» in «Tausendundeine Nacht» sind mit dem Koran vertraut, den sie zur Richtschnur ihres Handelns erheben oder heuchlerisch missbrauchen. Gebete haben auch in der Tierwelt ihre Geltung, ebenso rituelle Waschungen. Es eignet ihnen etwas Urbanes; die Tiere wissen zu sprechen, sie denken nach und verfügen über eine differenzierte Psychologie, auch wenn sie sich dann als abgefeimte Bösewichte herausstellen sollten. Überhaupt – da der Name der Grimms schon gefallen ist – «Das glückliche Ende» ist definitiv Literatur für Erwachsene. Wenn auch mitunter Metaphern aus dem Bereich des Handwerks den Geschlechtsakt spielerisch und verrätselnd umschreiben, so überwiegt doch die schlichte Feststellung des Sachverhaltes mitunter auch die drastischste Inszenierung. Fuchs und Bär im Weinberg Formal zeichnet sich der Text durch eine starke Verschachtelung aus. Sie ist das Gliederungsprinzip, das in seinen Wucherungen und Wurzelbildungen das vernünftige Mass mitunter übersteigt. So lässt Schahrasad den Wesir des Königs Schadbachts auftreten, der, ebenso wie sie, während dreissig Nächten um sein Leben erzählen muss. Die verschachtelten Geschichten reflektieren die Rahmengeschichten und umgekehrt. In der Erzählung «Fuchs und Bär im Weinberg» (888. bis 890. Nacht) nimmt der Fuchs Rache am tyrannischen Partner. Als der Bär, aus der Grube heraus, den Fuchs bittet, ihn zu befreien, antwortet dieser mit einer weiteren ▲ 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016 weitem älteste Textzeuge und geht wohl auf die Zeit um 1500 zurück. Die Textgeschichte von «Tausendundeine Nacht» an sich ist schon abenteuerlich genug. Einen Grundbestand von über 300 Geschichten indischen Ursprungs lieferte die persische Märchenanthologie «Tausend Abenteuergeschichten», die im 10. Jahrhundert, aber wahrscheinlich schon früher, ins Arabische übertragen wurde. Im Jahr 1000 waren die «Tausend Nächte» dann zum ersten Mal vollständig vorhanden. Bis ins 16. Jahrhundert wurde diese Sammlung ständig erweitert und neu angeordnet. Durch die französische Übersetzung (1704 bis 1717) des Orientalisten Antoine Galland (1646–1715) wurde die Geschichtensammlung in Europa bekannt, und eine beispiellose Erfolgsgeschichte setzte ein. Aber auch die Gallandsche Übersetzung ist nur ein Fragment; sie umfasst drei von vielleicht insgesamt zwölf Bänden und bricht mit der 282. Nacht ab. INTERFOTO Ihre fesselnde Erzählkunst bewahrt die kluge Scheherezade (hier in einer Illustration von Edmund Dulac) vor der Hinrichtung. 24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Essay Tiergeschichte: «Für mich ist das, was du sagst und tust, dasselbe wie bei dem Falken, der sich einmal mit einem Rebhuhn unterhielt.» Und natürlich will der neugierig gewordene Bär trotz seiner hoffnungslosen Lage wissen, was denn die beiden miteinander geredet haben. Die Handlung wird so durch eine Erzählung unterbrochen. Durch diese Unterbrechung wird einerseits Spannung – die Unterbrechung ist ja dasjenige Prinzip, das Schahrasad am Leben hält – aufgebaut. Noch im abgebrühtesten Western kriegt der Bösewicht nicht sogleich die verdiente Kugel, sondern es wird ihm zugestanden, seine Version zu erzählen. Eine Geschichte vermag also den Tod hinauszuzögern. Und weil wir so erpicht auf Geschichten sind, entwischen uns am Ende noch die Bösewichte. Eine Situation beziehungsweise den Charakter des Bären narrativ zu entwickeln, so wie es der Fuchs im genannten Beispiel tut, zeigt darüber hinaus auf eindrückliche Weise die Leistungsfähigkeit von Geschichten. Der Homo narrans versteht die Welt nur in und durch Geschichten und kann sie anderen nur in und durch Geschichten erklären. Denn wir denken in Geschichten. Uns an diese unsere Grenzen und Möglichkeiten zu erinnern, ist nicht das kleinste Verdienst der vorliegenden Sammlung. Bei Anbruch des Morgengrauens hört Schahrasad jeweils mit Erzählen auf. Dabei wird nicht immer eine Geschichte unterbrochen, sondern das Ende einer Geschichte fällt mitunter mit dem Ende der Nacht in eins. Immer aber wird eine spannendere und noch aufregendere und noch lustigere neue Geschichte für die kommende Nacht in Aussicht gestellt oder aber die Fortsetzung der unterbrochenen. An dem «glücklichen Ende» ist auch eine Ökonomie des Erzählens zu bewundern, ein haushälterischer Umgang mit den einmal gewählten Elementen und Motiven. Nichts ist zu viel, nichts zu wenig. Diese erzählerische Ökonomie zeigt sich auch als Wiederholung. In einem Streich in der 913. Nacht legt der Schelm Musabbid, eine Art arabischer Till Eulenspiegel – wenn auch ungleich sympathischer –, einen Dieb herein, der ihm seine Silberdirhams maust, und verhöhnt ihn am Ende. Der gleichen Geschichte, wenn auch etwas anders erzählt, begegnen wir in der 937. Nacht und der darauffolgenden. Das Personal ist ausgewechselt, statt Musabbid wird am Anfang ein Irrer bestohlen, und der Dieb ist hier ein Stadtstreicher. In beiden Fällen ist es aber die Gier nach einer noch umfangreicheren Beute, die beide Übeltäter zu Fall bringt. Auch Objekte und Dinge finden in den Erzählungen nur dort Erwähnung, wo sie notwendig und also funktional sind. Umso mehr vermag dann das kleine überraschende Detail zu fesseln, das mit seinem «effet de réel» (Roland Barthes) Tiefenschärfe schafft. In der Geschichte «Der Verliebte und sein Lehrer» (919. bis 922. Nacht) wird das Sklavenmädchen vom Verliebten und dem Kammerherrn über das Dach mittels eines Seiles befreit, an dessen einem Ende eine Pflugschare befestigt war. Nachdem sie das Seil nun verankert hatte, «schlang sie die Ärmel Der Homo narrans versteht die Welt nur in und durch Geschichten und kann sie anderen nur in und durch Geschichten erklären. Denn wir denken in Geschichten. 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016 BIBLIOTHEK / RAŞIT EFENDI, CLAUDIA OTT / KAYSERI 2015 Gesamtschau des Menschlichen Abbildung der Kayseri-Handschrift (oben), die in der türkischen Raşit-Efendi-Bibliothek (unten, um 1900) liegt. ihres Gewandes um ihre Handflächen und liess sich an dem Seil herab, bis sie bei ihnen angelangt war». Die «Welthaltigkeit» (Max Lüthi) dieser Geschichten und Märchen zeigt sich in ihrer anthropologischen Vollständigkeit, die jede Form von Intrige, Betrug, Eifersucht, Verrat, Hässlichkeit, aber auch Herzensgrösse und umfassende Liebe einschliesst. Das menschlich Denkbare wird hier narrativ verhandelt. Nur so ist erklärbar, dass diese Erzählungen aus der Zeit, als bei uns die Renaissance das Spätmittelalter abgelöst hatte, uns nachhaltig und bis heute zu fesseln vermögen. Man verfolgt mit Spannung etwa das Schicksal der Heiligen in «Die treue Frau des Mekkapilgers aus Nischapur» (939. bis 943. Nacht), die gesteinigt wird, weil der Bruder des abwesenden Mekkapilgers, der sie begehrt, aber hartnäckig abgewiesen wird, sie bei den «Leuten von der Moschee» verleumdet. Diese und andere böse Taten führen jeweils zur Erkrankung der Männer, die sie begehen. Um wieder zu gesunden, müssen sie ihre Taten der Heldin am Ende, nachdem sie Königin geworden ist, bekennen. Die Einsicht in das eigene Tun, das Sündenbekenntnis, eine gleichsam therapeutische Handlung, spiegelt die vorangehenden Erzählsequenzen und verweist einmal mehr auf den kunstvollen Bau dieser Geschichten. Und dann ist man plötzlich wieder in unsere Gegenwart versetzt. Eine Frau will von ihrer Nachbarin wissen, warum Frauen nur einen einzigen Mann heiraten dürfen und es ihnen nicht einmal erlaubt sei, einen Sklaven als Liebhaber zu halten, währenddem ein Mann vier Frauen heiraten dürfe und darüber hinaus so viele Konkubinen und Freudenmädchen nehmen könne, wie es ihm passe. «Das kommt», antwortet die Nachbarin, «weil alle Propheten, Heiligen, Kalifen und Kadis Männer waren», und die hätten sich die Gesetze so gemacht, wie es ihnen passt (911. Nacht). Dem Befremdlichen seinen Platz Claudia Ott führt den Leser sicher durch den Text. Ihre umsichtige Übersetzung ist genau und knapp. Das hat sowohl mit ihren Kenntnissen der arabischen Literatur und Kultur zu tun, als auch mit ihrem souveränen Umgang mit der deutschen Sprache. Das Fremde und Befremdliche lässt sie, wenn notwendig, an ihrem Platz stehen. Gegenüber dem «Trenner der Vereinten» und dem «Zerstörer der Genüsse» (das Ende von «Die Elster als Schicksalsvogel», 908. bis 909. Nacht) ist unser europäischer Tod geradezu ein gemütlicher Geselle. Sie bietet darüber hinaus ein einführendes Nachwort mit Abbildungen der Handschrift, ein Glossar und Erläuterungen zu Transkription und Aussprache arabischer Wörter. Die schöne Ausstattung durch den Verlag C. H. Beck erinnert uns wieder einmal daran, was Bücher sein können; man möchte das «glückliche Ende» in seiner Bibliothek, ob virtuell oder analog, nicht mehr missen. ● Alfred Messerli ist Professor für Populäre Kulturen an der Universität Zürich und dort u.a. auf Historische Erzählforschung spezialisiert. Kolumne Charles LewinskysZitatenlese Es wäre gut, Bücher zu kaufen, wenn man die Zeit, sie zu lesen, mitkaufen könnte. Kurzkritiken Sachbuch Reinhard Krüger: Der Stinkefinger. Kleine Geschichte einer wirkungsvollen Geste. Galiani, 2016. 176 Seiten, Fr. 22.90. Léon Werth: 33 Tage. Ein Bericht. S. Fischer, 2016. 206 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 21.–. Was haben Yanis Varoufakis, Stefan Effenberg und Johnny Cash gemeinsam? Alle drei erlangten mit einer bestimmten Geste mediale Aufmerksamkeit, provozierten gar kleinere bis grössere Skandale. Die Rede ist vom ausgestreckten Mittelfinger. Die Geschichte dieser Beleidigungsgeste skizziert der Semiotiker Reinhard Krüger in seinem Buch mit Anekdötchen von der Antike bis zur Neuzeit. Die obszöne Geste übt ohne Zweifel eine grosse Faszination auf Krüger aus – so schreibt er ausführlich über die kulturellen und geografischen Varianten der «phallischen Geste». Vielleicht ist der symbolische Verweis auf das männliche Geschlechtsteil auch der Grund, weshalb die Geste vorwiegend von Männern benutzt wird – zu diesem Schluss kommt, wer die Beispiele und Bilder im Buch studiert: Mit wenigen Ausnahmen finden sich darin männliche Zeitgenossen, die sich des «doigt d’honneur» bedienen. Auf der Flucht vor den vorrückenden deutschen Truppen fährt der französische Schriftsteller Léon Werth mit seiner Frau am 11. Juni 1940 im eigenen Auto aus Paris ab. Bald stecken sie im Stau eines gewaltigen Flüchtlingsstroms; statt wie geplant in acht Stunden werden sie ihr Ferienhaus im Jura erst nach 33 Tagen erreichen. Dort schreibt Werth seinen gedankenreichen «Bericht», neu aufgelegt erhält er heute eine merkwürdige Aktualität: Chaos auf den Strassen und kein Benzin, gestrandete Menschenmassen auf der Suche nach Essen und Unterkunft. Das neu aufgefundene, hier zum ersten Mal publizierte Vorwort des Freundes Antoine de Saint-Exupéry, der Léon Werth seinen Kleinen Prinzen widmen wird, bleibt allerdings reichlich verschwommen. Eine hochwillkommene Einordnung der Ereignisse und des Freundespaares bietet dagegen das ausgezeichnete Nachwort von Peter Stamm. Katharina Kakar: Frauen in Indien. Leben zw. Unterdrückung u. Widerstand. C.H. Beck, 2015. 231 S., Fr. 21.90, E-Book 13.–. Boris Schumatsky: Der neue Untertan. Populismus, Postmoderne, Putin. Residenz, 2016. 160 S., Fr. 27.90, E-Book 15.90. Zwei Millionen Mädchen und Frauen gehen in Indien jedes Jahr vorzeitig «verloren» – werden abgetrieben, schlecht ernährt und versorgt, brutal vergewaltigt, versklavt und ermordet. Trotz ausgezeichneten Gesetzen (die vorgeburtliche Bestimmung des Geschlechts etwa ist in Indien seit 1996 strikte verboten) hat sich die Schreckensstatistik seit 20 Jahren nicht verbessert – im Gegenteil. Die deutsche Anthropologin Katharina Kakar, die heute in Goa lebt, macht dafür nebst Kastenwesen und Armut vor allem eine in den Seelen tief verankerte, spezifisch indische Version des Patriarchats verantwortlich. Die hochidealisierte Mutterschaft und ein emotional überfordernder Mutter-Sohn-Kult hinterlässt Männer, die auf weibliche Macht mit Angst und Kontrollwahn reagieren. Ein überaus differenziertes Buch, das auch positiven Entwicklungen viel Raum gibt. «manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht velwechsern / werch ein illtum». So dichtete Ernst Jandl 1966, und 50 Jahre später widmet Boris Schumatsky diesem «illtum» ein Buch. Der aus Moskau gebürtige und in Berlin heimische Politologe beobachtete entsetzt, wie während der Ukraine-Krise an beiden Polen Verständnis für Putin aufkam – rechts genährt von einer Affinität zum Autoritarismus, links beflügelt von der Ablehnung des «neoliberalen Westens». Hüben wie drüben sieht Schumatsky die Bürger vor der Komplexität kapitulieren: Statt nach Fakten zu forschen, flöhen die Leute zusehends in die einfachen «Wahrheiten» der Populisten. Die Diagnose scheint wichtig, nur mangelt ihr die Analyse. Der Autor galoppiert vom Postmodernismus über die Sowjetunion bis zur Willkommenskultur und weckt so auch beim Leser den Wunsch nach Reduktion. LUKAS MAEDER Arthur Schopenhauer Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein neuster Roman «Andersen» ist im Verlag Nagel & Kimche erschienen. Goethes sämtliche Werke? Ja natürlich, haben wir vorrätig. Zum Lesen oder zum ins Regal stellen? Doch, das macht preislich einen grossen Unterschied. Zumindest, wenn Sie die Lesezeit gleich mitkaufen wollen. Bei so einem Klassiker geht das ganz schön ins Geld. Ach so, ein Matura-Geschenk für Ihren Göttibub! Da sind zehn Minuten Lesezeit für den ganzen Goethe mehr als genug. Er wird die Bücher sowieso bei E-Bay verhökern, und die Zeit braucht er nur, um die Gebrauchsanweisung für das Videogame zu studieren, das er sich von dem Geld kaufen wird. Was sollen es denn für Minuten sein? Nein, die sind nicht alle gleich. Den Goethe gibt es ja schliesslich auch nicht nur in einer Ausgabe. Wir haben ihn in Leder oder in Halbleinen oder als Taschenbuch. Ich zeig Ihnen gern mal unser Zeitsortiment. Hier zum Beispiel, ein echtes Schweizer Produkt: originale Schneider-Ammann-Sekunden. Sehr sparsam im Verbrauch. Wenn Sie die beim Lesen verwenden, kommt Ihnen jede Minute vor wie eine halbe Stunde. Oder hier, speziell für Klassikliebhaber, etwas ganz Exklusives: garantiert echte Altphilologen-Sekunden. Mit denen verstehen Sie plötzlich jedes griechische Zitat. Oder unser Sonderangebot zum Frühling: Jungmädchen-Sekunden. Ideal für Romane, in denen rosarote Einhörner die Hauptrolle spielen. Obwohl, dazu würde ich Ihnen nicht raten. Die sind alle von Fünfzehnjährigen gewonnen, und als Nebenwirkung kann sich leicht mal Akne einstellen. Dafür ist das hier etwas ganz Tolles! Vor allem bei Leuten sehr beliebt, die viel Eisenbahn fahren müssen: Legastheniker-Sekunden. Wenn Sie die verwenden, können Sie zum ersten Mal «20 Minuten» lesen und tatsächlich zwanzig Minuten dafür brauchen. Teuer? Kann ich nicht finden. Sie müssen bedenken, dass wir hier keine Billigsekunden verkaufen, wie das manche Discounter tun. Was den Kunden da manchmal für Schund angedreht wird, seit die Lesezeit-Preisbindung aufgehoben wurde! Massenware von dubiosen chinesischen Zwischenhändlern, und auf der Verpackung steht nicht einmal der Vorbesitzer vermerkt. Da kauft sich dann einer einen Band Heidegger und kriegt dazu Minuten geliefert, die sich höchstens für «Shades of Grey» eignen würden. Sie wollen es sich noch einmal überlegen? Gern. Aber brauchen Sie nicht zu viel Zeit dafür. Das kann ganz schön ins Geld gehen. Simone Karpf Kathrin Meier-Rust Kathrin Meier-Rust Claudia Mäder 24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Biografie Der britische Harvard-Professor Niall Ferguson legt den ersten Band einer monumentalen Kissinger-Biografie vor. Während er den deutschstämmigen Politiker darin zum Idealisten erklärt, stempelt ihn der US-Historiker Greg Grandin zum Verbrecher VonHeinzzuHenry. UndvomKantianer zumKriegstreiber? Niall Ferguson: Kissinger. Der Idealist, 1923–1968. Propyläen, Berlin 2016. 1120 Seiten, Fr. 63.90. Greg Grandin: Kissingers langer Schatten. Amerikas umstrittenster Staatsmann und sein Erbe. C.H. Beck, München 2016. 296 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 22.–. Von Reinhard Meier Friedrich Schillers Diktum über den Feldherren Wallenstein im Prolog seines gleichnamigen Schauspiels trifft wohl auf die meisten herausgehobenen Figuren der Historie zu: «Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.» Aber um wenige Politiker der Zeitgeschichte wogt der Meinungsstreit derart hartnäckig wie um den früheren amerikanischen Aussenminister und Sicherheitsberater Henry Kissinger. Das hat auch mit der immer noch staunenswerten geistigen Präsenz des 92-jährigen Altmeisters zu tun. Neben Aufsätzen und Auftritten zu aktuellen Fragen wartet er weiterhin alle paar Jahre mit dicken, sehr lesbaren Büchern etwa über China oder über die «Weltordnung» auf. Kissinger war unter den Präsidenten Nixon und Ford acht stürmische Jahre (1968–1976) lang die dominante Figur der amerikanischen Aussenpolitik. Allein seine eigenen Erinnerungen an diese Zeit umfassen gegen 4000 Buchseiten. Der Strom von zum Teil höchst kritischen Büchern über sein politisches Wirken, unter ihnen eine Reihe von Biografien, bricht bis heute nicht ab. Nun bringt der britische Historiker und Harvard-Professor Niall Ferguson eine neue Kissinger-Biografie auf den Markt. Sie ist über tausend Seiten stark – und das ist lediglich der erste von zwei 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016 geplanten Bänden. Der Anstoss zu dieser neuen Lebensbeschreibung kam von Kissinger selber. Er fragte den Autor an, ob er dieses Werk anpacken könne – nicht eben ein bescheidenes Anliegen angesichts der nur schwer noch überblickbaren Kissinger-Literatur. Ferguson lehnte zuerst ab, sagte dann aber doch zu, als ihm Kissinger von der Entdeckung von 165 Kisten angeblich verloren geglaubter Dokumente und persönlicher Schriften berichtete. Rückkehr in die Hölle Lohnt sich die Lektüre dieses Wälzers? Für den zeitgeschichtlich interessierten Leser ja – mit Vorbehalten. Ferguson hatte Zugang zu allen Dokumenten aus Kissingers gewaltigem persönlichen Archiv, und er führte, neben zahllosen Interviews mit anderen Personen, ausführliche Gespräche mit dem früheren Aussenminister. Aufschlussreich sind die Zitate aus Briefen des jungen Kissinger an seine jüdischen Eltern, die mit ihm und seinem jüngeren Bruder Walter 1938, wenige Monate vor der «Kristallnacht», aus dem bayerischen Fürth nach Amerika ausgewandert waren. Henry Kissinger, der damals noch Heinz hiess, war 15 Jahre alt, als die Familie in New York ankam. Sechs Jahre später, im Herbst 1944, kehrte er als amerikanischer Soldat nach Deutschland zurück. Er kam in der Ardennenschlacht zum Einsatz und wurde später mit Aufklärungs- und Ausbildungsaufgaben im besetzten Feindesland betraut. Kurz vor der Kapitulation stiess er in der Nähe von Hannover auf ein Konzentrationslager, das ein anderer US-Soldat angesichts von Leichenbergen und halb verhungerten Häftlingen als «Hölle auf Erden» beschrieb. Über diese grauenhaften Eindrücke schrieb Kissinger damals einen bewegenden zweiseitigen Text mit der Überschrift «The Eternal Jew» (Der ewige Jude). Er wird in Fergusons Biografie ungekürzt und ohne weitere Kommentierung abgedruckt. Im Armeedienst verlor Kissinger, wie er selber erklärte, zunehmend die Bindungen an den jüdisch-orthodoxen Glauben seiner Eltern. Natürlich gebe es ein starkes Gefühl der Identifikation mit dem jüdischen Volk und dem Glauben, in den er hineingeboren sei, schrieb er später zu diesem Thema. Aber das bedeute nicht zwangsläufig, «dass man ihn irgendwie praktiziert». Ein interessanter Aspekt ist Kissingers Beziehung zu seinem ebenfalls aus Deutschland emigrierten, 15 Jahre älteren Mentor Fritz Kraemer. Kraemer war ein hochgebildeter, vielsprachiger Intellektueller und historischer Gelehrter mit exzentrischen Neigungen – er trug immer ein Monokel. Henry Kissinger lernte ihn als jungen Soldaten kennen und war tief beeindruckt. Er hat Kraemer als den grössten Einfluss während seiner Bildungsjahre bezeichnet. Dieser bescheinigte ihm einmal, «ein musikalisches Gespür für Geschichte» zu haben. Als Kissinger bereits Aussenminister war, brach Kraemer aus Missbilligung über die Verhandlungen mit Nordvietnam jeden Kontakt zu seinem Lieblingsjünger ab. Kissinger hat bei Kraemers Begräbnis im Jahre 2003 dennoch eine versöhnliche Rede gehalten, in der er den Grund ihrer Entfremdung so beschrieb: «Für den Propheten kann es keine Differenz zwischen dem Konzept und seiner Umsetzung geben. Der Politiker muss das Notwendige aus dem Möglichen bauen.» Über den Bruch zwischen den beiden ungleichen Einwanderern wird man erst im zweiten Teil von Niall Fergusons Biografie Näheres erfahren. YALE UNIVERSITY Ferguson bezeichnet Kissinger in der Überschrift des ersten Bandes als «Idealisten». In einem Interview mit der Journalistin Oriana Fallaci hatte dieser – sicher nicht frei von Eitelkeit – 1972 erklärt, seine wichtigsten weltanschaulichen Inspiratoren seien Kant und Spinoza. In der Öffentlichkeit wird er allerdings viel eher mit dem durchtriebenen Ratgeber Machiavelli oder abgebrühten Praktikern wie Metternich oder Bismarck in Verbindung gebracht – was Kissinger für abwegig erklärt, obwohl er über die beiden letzteren Politiker respektvolle Studien publiziert hat. Die überlangen Erörterungen von Begriffen wie «Idealist», «Realist» oder «Opportunist» gehören nicht zu den Stärken dieser Biografie. Sie wirken ermüdend, weil solche Etikettierungen am Ende niemand eindeutig definieren kann und die Kriterien für deren Zuordnung höchst subjektiv bleiben. Robuster Ehrgeiz Spannender, weil mit realen Ereignissen und Menschen aus Fleisch und Blut verknüpft, sind die Schilderungen über Kissingers keineswegs mühelosen, aber dennoch steilen Aufstieg von den akademischen Anfängen als Harvard-Professor bis ins Zentrum der Macht in Washington. Schon von den demokratischen Präsidenten Kennedy und Johnson wurde der junge Historiker für gelegentliche Beratungsaufträge angeheuert. Ferguson berichtet, dass Kissinger einmal eine nicht weniger als elfseitige Tirade gegen Kennedys Sicherheitsberater McBundy an seinen im Weissen Haus höher angesiedelten Harvard-Kollegen Arthur M. Schlesinger schickte, weil seine Ratschläge angeblich nicht genügend gewürdigt würden. Das wirft ein scharfes Licht auf Kissingers Empfindlichkeiten ebenso wie auf seinen robusten Ehrgeiz. 1938 aus Deutschland geflohen, kam Kissinger 1944 – hier kurz vor der Schlacht im holländischen Eygelshoven – als amerikanischer Soldat nach Europa zurück. Ferguson setzt sich in der Einleitung mit den vielen, zum Teil namhaften Kritikern von Kissingers Politik im Kalten Krieg auseinander. Er argumentiert, dass diejenigen, die ihn als «Verbrecher» und «Massenmörder» qualifizierten (wie etwa im Falle der geheimen Bombardierungen in Kambodscha oder der wohlwollenden Haltung gegenüber lateinamerikanischen Diktatoren), genauer darlegen sollten, was denn im Kontext des Kalten Krieges mit der damals expansionistischen Sowjetmacht die Konsequenzen gewesen wären, wenn die USA in allen Konfliktherden eine vornehme Politik der Nichteinmischung betrieben hätten. Das soll nicht heissen, dass sich damit die Vorwürfe gegen Kis- singers Entscheidungen als politisch Handelnder pauschal entkräften liessen. Pauschale Urteile sind bei der Einschätzung vergangener Ereignisse und ihrer Akteure ohnehin selten überzeugend. Das zeigt auch das hier anzuzeigende jüngste Anti-Kissinger-Buch des amerikanischen Historikers Greg Grandin. Für ihn ist Kissinger eindeutig ein Verbrecher, und er macht ihn als geistigen Mentor verantwortlich für alle späteren militärischen Aktionen Washingtons, die allesamt des Teufels seien. Grandins Argumentation ist derart undifferenziert und ideologisch verkorkst, dass man dieses Buch beim besten Willen nicht als vertiefende Lektüre empfehlen kann. ● 24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Politik Thilo Sarrazin kritisiert viel und gern. In seinem neuen Buch will er nun zeigen, wie man die Dinge besser machen würde. Seine Rezepte gegen deutsche Illusionen sind überraschend deutsch WenndasWünschen nichtmehrhilft Thilo Sarrazin: Wunschdenken. Europa, Währung, Bildung, Einwanderung – warum Politik so häufig scheitert. DVA, München 2016 (erscheint am 25. April). 576 Seiten, Fr. 36.90, E-Book 23.90. In seiner neuen Kampfschrift nimmt sich Thilo Sarrazin das «Wunschdenken» vor, die «spezifisch deutsche Spielart utopischer Politik». Kurieren will er dieses Übel mit einer noch höheren Dosis an idealistischer Politik. Deutscher könnte dies alles gar nicht sein. Denn in dem Buch, das der Frage nachgeht, «warum Politik so häufig scheitert», fehlt jeder Blick auf andere westliche Länder, und Sarrazin operiert abseits der nun doch schon mit drei bis vier Nobelpreisen fundierten «ökonomischen Theorie der Politik», wie sie die angelsächsischen Länder nüchtern anwenden. Diese Sicht, auch Public Choice genannt, beleuchtet die Irrungen und Wirrungen der Politik als Spiel der Interessen aller beteiligten Personen, Parteien, Verbände, Behörden, als deren Maximierung von Ämtern, Amtsdauern, Um- und Zuteilungen zu Lasten des Staats, als normale Regung unter Menschen, unter Politikern. Sarrazins Diagnose eruiert demgegenüber vor allem schwere persönlich-moralische Mängel als Ursachen für politische Fehlleistungen. Es sind dies «Unwissenheit, Anmassung, Bedenkenlosigkeit, Opportunismus, Betrug und Selbstbetrug». Etwas weniger provokativ Wenn Sarrazins moralische Herangehensweise zweifelhaft ist, so hat er in der Sache selbst in vielem Recht. Was er an falschen Wegen in Merkels offenem Einwanderungstor, ihrer Euro-Politik, an Berliner Schulversagen, an einer aus der Hüfte geschossenen Energiewende ankreidet, ist bedenkenswert. Sarrazin will nach drei kritischen Büchern zu Einwanderung, Euro und «Tugend-Terror» nun zeigen, wie man es besser macht. Der positive Fingerzeig kommt aber erst nach 344 Seiten erneuter, oft vernichtender Kritik an der bundesdeutschen Politik. Zunächst geht Thilo Sarrazin Fragen der Aussen- und Währungspolitik an. Deutschland, befindet er, soll sich dort einbringen, wo Verbesserungen nötig sind. Seine Rolle in EU-Europa soll es dazu nutzen, sichere Grenzen anzustreben und ein strenges Asylrecht durchzusetzen. Bei Euro-Krisen brauche es keine neuen, rechtsbrechenden Hilfspakete und keine Geldvermehrung der Zentralbank, allenfalls, in zweiter Priorität, die volle Integration der Euro-Länder in einen Bundesstaat mit gemeinsamen Steuern und Schuldenkasse. 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016 IMAGO STOCK&PEOPLE Von Beat Kappeler Thilo Sarrazin lässt kein gutes Haar an Angela Merkels Politik. Die heikle Pflege des kulturellen Erbes und der deutschen Identität gegenüber schrankenloser Durchmischung mit Zuwanderern geht Sarrazin weniger provokativ an als in früheren Interviews, ein grosses Anliegen ist sie ihm aber weiterhin. Damals verrannte er sich mit unterschiedlichen Genen, diesmal sieht er nur «kognitive Unterschiede». Gerne zitiert er Schultests, um zu belegen, wie die besseren Resultate der bisherigen Einwohner mit den schlechteren Lese- und Mathewerten der Einwandererkinder zusammen den Bundesdurchschnitt drücken. Vermutlich ist das nicht falsch, aber das Gebrüll des «Tugend-Terrors» ist ihm wieder sicher. Die bessere Politik sieht Sarrazin in der richtigen Steuerung der Einwanderung, und zwar quantitativ wie qualitativ. Es fehlt an Vorschlägen Schliesslich wendet er sich logischerweise der besseren Bildung, dann der Geburtenfreude der Deutschen zu, und dabei insbesondere der Frage, wie man sie fördern könnte. Die Rezepte sind traditionell und in den meisten Ländern bisher nicht sehr hilfreich. Wie überall gehen die Förderungen und Aufforderungen an die Frauen, vergessen geht, dass in unseren Hochleistungsgesellschaften die jungen Väter ohne Schaden ihrerseits während der ersten schwierigen Kinderjahre etwas weniger arbeiten könnten. Dann müssten die Frauen nicht zwischen Mutterschaft und gleichem wirtschaftlichen Fortkommen wie die Männer wählen. Nach diesen Diagnosen und Rezepten aber entschwebt das Buch überraschend auf langen 100 Seiten in ein Nirwana guter Politik, als «Anhang» betitelt. Der ganze deutsche Bildungskanon durchzieht ihn, wie überhaupt das ganze Buch: Platon, Morus, Kant, Max Weber, Hegel, Marx. Doch wenn einer wie Sarrazin die falsche Politik wenden will, kann er nicht bloss Ermahnungen, Zitate und Definitionen abgeben, wie sie über diese 100 Seiten wabern. Es fehlen Vorschläge für andere Verfahren, für institutionelle Vorkehren. Ebendies drängt sich auf und ebendies bringt die angelsächsische Politologie des Public Choice hervor, wenn sie die Politik als Saldierung von Interessen, nicht von Wunschdenken nimmt. Dann kommt man auf Quoren, auf Abstimmungsverfahren, auf Checks-and-Balances aller Art. Mit solchen Verfahren wären die diktatorischen Entscheide von Regierungschefs wie in Berlin nicht möglich, welchen alle Abgeordneten bei Strafe der Ungnade und Behinderung bei nächsten Wahlen folgen müssen. Zwar setzt auch die von Sarrazin verlangte bessere Politik in der EU deutliche Korrekturen an den bisherigen Fehlläufen voraus. Aber wenn die Politik vor allem als moralisches Feld politisch Handelnder gesehen wird, dann kommt man gar nicht auf andere Verfahren. Thilo Sarrazin fordert stattdessen idealistischere Resultate. Geradezu verstörend wirkt gegenüber einem nüchternen Politikverständnis die von Sarrazin unterstrichene Rolle der Religion, anstelle derer es «keinen Ersatz für die stabilisierende Wirkung auf Gemeinschaften» gebe. Für einen, der den Islam beargwöhnt, ist das eine inkonsequente Haltung. Die westlichen Gesellschaften müssen republikanische Gleichheit durchsetzen, religionsblind sein. Sie brauchen Verfahren, nicht Ermahnungen! ● Autobiografie Mit dem Bericht über ihre Flucht aus einer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft gewährt die New Yorkerin Deborah Feldman Einblicke in eine abgeschottete Welt GottlosindieFreiheit Deborah Feldman: Unorthodox. Secession, Zürich 2016. 319 Seiten, Fr. 23.90, E-Book 19.90. Deborah Feldman ist ein Glücksfall für die Buchwelt. In ihrer autobiografischen Erzählung «Unorthodox» beschreibt sie ihr Leben in der abgeschotteten Welt der Satmarer Chassiden – den Strengsten der Strengen unter den frommen Juden in New York. Die junge Autorin ist zwar keineswegs die erste Aussteigerin. Rebellionen gegen ein Leben zwischen Angst und Strafe, Schläfenlocken und blickdichten Strümpfen gibt es seit Jahren. Doch Feldman ist die einzige, die das, was sich im Inneren dieser Gemeinde abspielt, so meisterhaft beschreibt, dass selbst diejenigen nicht mehr aufhören können zu lesen, die sich gar nicht für das Judentum, geschweige denn für Chassiden, interessieren. «Unorthodox» ist die Geschichte einer Befreiung, denn mit 23 Jahren entfloh Feldman dem gnadenlos restriktiven Sozialgefüge der Satmarer. Mit der Präzision einer Chirurgin stellt sie dar, wie es überhaupt gelingen kann, mitten in New York eine fundamentalistisch-religiöse Insel zu schaffen: nur mit extrem starker Abgrenzung zu allen anderen. Zwar definiert sich jede ethnisch-religiöse Gruppe durch Ausgrenzung; Speisetabus, Kleiderordnung, Sprache oder auch religiöse Gebote gehören zum Überlebensinstrumentarium ethnischer Identität. Doch die Satmarer haben all dies auf die Spitze getrieben. NEW YORK LIBRARY ARCHIVE Von Silke Mertins Das orthodoxe Milieu zeigt sich in Deborah Feldmans Buch als weltfremde Insel. Ihre Speisen sind derart koscher, dass sie sie nicht einmal mit anderen gläubigen Juden gemeinsam essen können. Die typischen schwarzen Anzüge und Hüte der Männer ebenso wie die Perücken und altmodischen Kleider der Frauen sorgen dafür, dass sie in der Welt draussen sofort auffallen, nicht dazugehören. Die Satmarer Chassiden sprechen ausschliesslich Jiddisch. Englisch gilt ihnen als unreine Sprache. In der Schule lernen die Kinder so gut wie nichts, womit sie ausserhalb ihrer Gemeinschaft überleben könnten. Alles, was nicht ins Bild passt – vom sexuellen Missbrauch über Homoerotik bis hin zum Mord –, wird unter den Teppich gekehrt. Gleichzeitig ist «Unorthodox» die berührende Geschichte eines kleinen Mädchens, das sich ungeliebt und verloren fühlt. Deborah Feldman glaubt, Gott habe vergessen, für sie einen Platz in der Welt zu schaffen. Der Vater ist debil, die Mutter verschwunden, sie lebt bei den Grosseltern. Sie ist eine Aussenseiterin, die sich nach mehr Zuwendung, Freiheit und vor allem mehr geistiger Anregung sehnt, als sie in den Gebetsbüchern findet. Heimlich schleicht sie sich in die verbotenen Stadtbüchereien und versteckt ihre Beute unter der Matratze. Als ihr Grossvater eine Ehe arrangiert, fügt sie sich zunächst. Siebzehnjährig wird sie mit einem jungen Mann verheiratet, den sie zwei Mal kurz gesehen hat. Erst unmittelbar vor ihrer Hochzeit begreift sie, was es eigentlich bedeutet, eine Ehe zu vollziehen. Zunächst bestreitet sie im «Heiratsvorbereitungskurs», überhaupt eine Vagina zu haben. Als Leser kann man nur genauso schockiert darüber sein wie sie selbst, so hautnah erlebt man ihre Nöte und Hoffnungen. Wie bei dieser Vorgeschichte eine Schriftstellerin herauskommen konnte, die so authentisch und offen selbst über ihre Sexualität schreibt, ist verblüffend. Ein noch grösseres Wunder ist, dass es ihr gelungen ist, mitsamt ihrem kleinen Sohn zu entfliehen. Doch nicht allein Feldmans Lebensgeschichte und die intimen Einblicke in eine fremde Welt machen «Unorthodox» einzigartig. Die heute 29-Jährige verbindet diese sehr jüdischen Erfahrungen mit den grossen Menschheitsthemen: Glaube, Liebe, Verrat und die Suche nach Freiheit. In den USA stürmte ihr Erstling 2012 sofort die Bestsellerliste der «New York Times» – völlig zu Recht. «Unorthodox» gehört zu den Autobiografien, die man gelesen haben muss. ● Geschichte Zwei Historiker gehen den weiten Wegen der berühmtesten Schweizer Mythenfigur nach Die vielen Gesichter des Wilhelm Tell Michael Blatter, Valentin Groebner: Wilhelm Tell, Import-Export. Ein Held unterwegs. Hier und Jetzt, Baden 2016. 150 Seiten, Fr. 31.90. Von Claudia Mäder Man kann sich ein gemütlicheres Büro als jenes von Michael Blatter vorstellen: Der Stadtarchivar von Sursee ordnet seine Akten heute in einem Raum, der einst als Folterkammer diente. 1653 erhoben sich die ländlichen Untertanen im Entlebuch gegen die Luzerner Obrigkeit. Um gegen höhere Abgaben und neue Gebühren zu protestieren, marschierten drei ihrer Mannen als «Tellen» auf, und die versammelten Aufständischen bekundeten ihren Unmut, indem sie ein «Tell-Lied» im Loop sangen. Wilhelm Tell, der bis anhin den feindlichen Habsburgern die Stirn gebo- ten hatte, als Verbündeter der Bauern im Kampf gegen das heimische Patriziat? Die Obrigkeit konnte mit dieser Neuinterpretation der Geschichte nichts anfangen, liess die Tellen köpfen und einen der aufmüpfigen Bauernführer im Rathaus von Sursee foltern. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Tell-Geschichte freilich schon diverse andere Aktualisierungen erlebt. Stadtarchviar Blatter und der in Luzern lehrende Historiker Valentin Groebner zeichnen ihre Verläufe im vorliegenden Büchlein nach. Ausgehend von der ersten schriftlichen Erwähnung des «thäll» im «Weissen Buch von Sarnen» (um 1470), blenden sie zurück zu nordischen und persischen Sagen, in denen das Apfelschuss-Motiv bereits im 12. Jahrhundert auftauchte. Sie schauen sich im Mittelalter um, wo etwa im «Hexenhammer» (1486) ein teuflisches Alter Ego des Tell auftritt, und sie blicken in die Neuzeit und zeigen den helvetischen Nationalhelden als Protagonisten der französischen Revolution – oder auch als Maskottchen palästinensischer Terroristen. Faszination und Langlebigkeit des Stoffs, das machen die Historiker deutlich, sind in der Figur angelegt: Tell ist Opfer (einer Obrigkeit) und Mörder (eines Vogts) zugleich – diese Ambivalenz sorgt für Spannung in der Story und eröffnet Erzählern verschiedener Zeiten immer neue Deutungsmöglichkeiten. Einige der hier vorgestellten Interpretationen dürften Tell-Fans bereits bekannt sein. Blatters und Groebners «Import-Export»-Geschichte, die die Leser en passant kundig und leichtfüssig in die Gepflogenheiten der (vormodernen) Geschichtsschreibung einführt, fügt solch einzelne Episoden aber zu einem bunten Panorama. Wenn «Tell» letztlich einfach «eine gute Geschichte» ist, wird deren Geschichte hier einfach gut erzählt. ● 24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Technologie Zwei Mathematiker veranschaulichen die Funktionsweisen von Algorithmen und die Bedeutung unserer rasant wachsenden Datenberge WerhatAngstvorComputer&Co.? Christoph Drösser: Total berechenbar? Wenn Algorithmen für uns entscheiden. Hanser, München 2016. 256 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 14.40. Christian Rudder: Inside Big Data. Unsere Daten zeigen, wer wir wirklich sind. Hanser, München 2016. 304 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 16.90. Von Leonid Leiva Seit Grosskonzerne wie Google und Facebook das Internet und somit grosse Bereiche unseres Lebens beherrschen, hat sich ihr Machtinstrument, der Algorithmus, einen schlechten Ruf eingehandelt. Algorithmen hätten unsere Welt im Griff und entschieden für uns, klagen zuweilen Vertreter aus Politik, Medien und Wirtschaft. Mit seinem Buch «Total berechenbar?» will der deutsche Wissenschaftsjournalist und studierte Mathematiker Christoph Drösser die Diskussion auf eine sachliche Ebene bringen. Algorithmen sind Handlungsanweisungen, die zur Lösung eines Problems eingesetzt werden. Sie bestehen aus einer definierten Abfolge von endlichen Schritten und produzieren zu jeder Eingabe eine oder mehrere Ausgaben. Als einfachstes Beispiel für einen Algorithmus wird oft ein Kochrezept angeführt. Drösser verspricht, Algorithmen zu entmystifizieren, ihnen den Schrecken zu nehmen. Und zumindest die didaktische Mission gelingt. Gleich zu Beginn zeigt der Autor, dass immer effizientere und schnellere Algorithmen in den letzten Jahrzehnten mehr zur starken Zunahme der Rechenleistung von Computern beigetragen haben als Verbesserungen aufseiten der Hardware: Ein Rechner aus den 1980ern würde mit einem modernen Algorithmus bestimmte Aufgaben schneller lösen als der neuste Computer mit einem 30 Jahre alten Algorithmus. Drösser erklärt in leicht verständlicher Sprache die Funktionsweise von im Alltag wichtigen Algorithmen. Wie die Ergebnisliste bei einer GoogleSuche zustande kommt, wie Singlebörsen den Suchenden Partner empfehlen, und wie auch die Wettervorhersage auf Algorithmen angewiesen ist. Auch brisante Themen wie die Verschlüsselung von Nachrichten veranschaulicht Drösser mit einfachen Analogien. Allerdings kann er den Leser nicht über die Tatsache der zunehmenden Überwachung hinwegtrösten. Viel mehr als die Ermahnung, die eigene Bequemlichkeit zu überwinden und den Nachrichtenverkehr konsequenter zu verschlüsseln, kann der Autor angesichts dieser Realität nicht bieten. Insgesamt ist Drössers Buch ein gelungenes Werk der Popularisierung, das für den Einstieg ins Thema taugt. Intelligent mit Algorithmen umzugehen, dürfte in unserer Zeit aber eine der grössten gesellschaftlichen Aufgaben bleiben, für die jeder Einzelne Verantwortung tragen sollte – nicht zuletzt die Schöpfer und Besitzer der Algorithmen selbst. Doch selbst die besten Algorithmen wären ohne Daten, aus denen sie nützliche Information extrahieren, wirkungslos. Und die liefern wir selbst mit jedem Mausklick. Die rasant wachsenden Datenmengen, die wir im Alltag produzieren, verraten viel über die menschliche Natur. Das beweist der US-amerikanische Autor Christian Rudder in seinem sehr lesenswerten Buch «Inside Big Data». Rudder ist ebenfalls Mathematiker und Betreiber einer Internet-partnerbörse. Deren Millionen Nutzer haben ihm inzwischen genügend Daten für eine soziologische Analyse anvertraut. Und die Ergebnisse lassen die wahren Vorlieben der Masse hinter mancher Maske hervortreten. Die Statistiken belegen unter anderem: Schwarze und Frauen über 40 haben es unter Christian Rudders Kunden besonders schwer. Das Buch ist aber mehr als ein Insiderbericht. Auch übergeordnete Themen wie das Recht der Nutzer an ihren Daten werden angesprochen. Und auch hier kann der Autor nicht alle Antworten liefern. Aber eins wird klar: Daten wie Algorithmen werden zunehmend zum Politikum werden, weil sie zu Synonymen für Macht geworden sind. ● Biografie Waldemar Bonsels, der Schöpfer der Biene Maja, war ein politischer Opportunist Der Bienenvater, der Hitler umschwirrte Bernhard Viel: Der Honigsammler. Waldemar Bonsels, Vater der Biene Maja. Eine Biografie. Matthes & Seitz, Berlin 2016. 445 Seiten, Fr. 34.90, E-Book 21.90. Von Kathrin Meier-Rust Frech schwirrt sie davon, eine kleine Rebellin – um dann als mutige Heldin ihr Volk aus höchster Gefahr zu erretten. Trotz ihrem manchmal etwas martialisch-wilhelminisch anmutenden Gesumme wird die Biene Maja auch nach über 100 Jahren weltweit in zahllosen Hör-, Film- und Buchfassungen von Kindern geliebt, während ihr Schöpfer Waldemar Bonsels meist nur dem Namen nach bekannt ist. Nun beleuchtet eine ausführliche Biografie Werdegang und Weltbild des einstigen Erfolgsautors. 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016 Geboren 1880, schmiss der Apotheker-Sohn aus Norddeutschland das Gymnasium; er fühlte sich zum Dichter berufen, wurde dann aber erstmal Kaufmann. Beides, Dichten und Geld verdienen, wird er ausgezeichnet zu verbinden wissen. 1902 gründet Bonsels einen Verlag und publiziert bald jährlich ein Buch – schwülstige Romane, tiefsinnige Reisebücher und «empfindsame Kriegsberichte». Geschmeidig passt er sich dem Zeitgeschmack ebenso an wie den politischen Umständen: Ohne je Parteimitglied zu werden, dient er sich 1933 Hitler mit einem antisemitischen Essay an, um sich 1945 flugs als verbotener Autor zu inszenieren. Die sorgfältige Klärung der Naziverbindungen dieses Mitläufers ist ein grosses Verdienst dieser Biografie. «Die Biene Maja», 1913 erstmals erschienen, wird über die Jahre zum inter- nationalen Bestseller, der Bonsels berühmt und reich macht. In seiner Villa am Starnberger See amüsiert sich der sanfte Dandy im crèmefarbenen Anzug – er hat inzwischen von drei Ehefrauen fünf Söhne – mit einer beständigen Abfolge von jungen Tänzerinnen, die offenbar seinem Charme erliegen. Handfeste Fakten zum Leben dieses «glühenden Anhänger seiner selbst» sind spärlich. Bernhard Viel begegnet diesem Manko geschickt mit grossen ZeitgeistPanoramen, die Weltbild und Rolle seines Protagonisten erhellen. Etwas gewöhnungsbedürftig sind romanhafte Szenen, die Bonsels Charakter illustrieren sollen. Doch das Fazit ist klar: Wäre da nicht diese Biene – weder der selbstverliebte Opportunist noch seine zahllosen pseudotiefsinnigen Werke wären der Erinnerung wert. ● Kriegsbericht 1915 reiste ein spanischer Journalist in die Kampf- und Krisengebiete auf dem Balkan. Sein Report könnte auch 100 Jahre später verfasst worden sein UnendlicherVerdruss überdieWelt Gaziel: Nach Saloniki und Serbien. Eine Reise in den Ersten Weltkrieg. Aus dem Spanischen von Matthias Strobel. Berenberg, Berlin 2016. 240 S., Fr. 34.90 Es mag nur schwer mit dem Habitus professioneller Literaturkritik vereinbar sein, doch ab Lektüre des 31. Kapitels rannen der Rezensentin die Tränen herunter. Und das nicht nur aufgrund Gaziels eindringlicher und packender Beschreibungskunst, sondern vor allem aufgrund des kaum auszuhaltenden Paradoxes, mit gezücktem Kritikerinnenbleistift in einem schön eingebundenen Buch über das Flüchtlingselend vor 100 Jahren an der griechischen Grenze zu lesen, während man Tag für Tag das gleiche Elend an der gleichen Grenze in den Nachrichten betrachten kann. Im Oktober 1915 erhält der spanische Journalist Gaziel, der mit Taufnamen Agustí Calvet heisst, in Paris von seiner Zeitung «La Vanguardia» ein Telegramm: «Reisen Sie in den Balkan, wann immer es Ihnen beliebt.» Unverzüglich macht Gaziel sich auf den Weg. Über Genua und Mailand reist er zunächst nach Patras und Athen, von dort aus nach Saloniki, und schliesslich über die serbische Grenze bis nach Monastir, das heutige mazedonische Bitola. Das wirkt, angesichts der brennenden Eile aktueller Kriegsberichterstattung, beinahe wie eine beschauliche Interrailtour. Und wirklich nimmt sich Gaziel immer wieder Zeit, um etwa den Dom von Mailand zu besichtigen – mit dem bemerkenswerten Hinweis, dafür Sorge tragen zu müssen, «dass der ständige Gedanke an den Krieg nicht unseren Instinkt für die reineren Realitäten trübt». Der Front entgegen Aus dieser Langsamkeit der Reise, die Europa vor den schrecklichen Erschütterungen des 20. Jahrhunderts noch einmal in seiner ganzen kultur- und völkerreichen Pracht erscheinen lässt, gewinnt Gaziels Kriegsbericht seine faszinierende Tiefenschärfe. Hier ist einer auf den Spuren der alten Grand Tour unterwegs, der seinen Homer zu zitieren weiss und angesichts des Mittelmeers angemessen in Kontemplation versinkt. Doch Gaziel lässt es nicht bei der Bewunderung der Alten Welt und einigen lustigen Reiseanekdoten mit Hotelbesitzern und Kofferträgern bewenden wie so viele kultivierte Reisebeschreiber vor ihm, sondern er stellt seine europäische Bildung, seine scharfe Beobachtungs- und rasche Auffassungsgabe in den Dienst der politischen Berichterstattung. ARCHIVE IMPERIAL WAR MUSEUM Von Janika Gelinek Im Ersten Weltkrieg flüchteten serbische Bauern durch das mazedonische Gebirge in Richtung Griechenland. In Griechenland, dem der Hauptteil seiner Reise und des Buches gewidmet ist, studiert Gaziel den Frontverlauf en miniature: im Machtkampf zwischen dem geschassten Ministerpräsidenten Venezilos, der England und Frankreich unterstützt, und dem germanophilen König Konstantin I., der die Mittelmächte favorisiert. Die Folge davon sind Revolutionsgerüchte und Aufruhr im griechischen Parlament, während im Hafen von Saloniki massenhaft Truppen anlanden, Waren eingelagert und Geschäfte getätigt werden. Mehrfach ertappt man sich bei dem Wunsch, die griechische Innenpolitik nun mal hinter sich zu lassen, um hinauszugelangen auf die echten Schlachtfelder, dorthin, wo vermeintlich die grosse Weltpolitik ihr Stelldichein gibt. Doch dieser kurzsichtige Impuls vergeht genauso schnell, wie man sich die gegenwärtige politische Lage ins Gedächtnis ruft, in der griechische Innenpolitik vor kurzem erst Anlass für eine europäische Zerreissprobe war. Immer wieder sorgt Gaziels Bericht dafür, dass man nicht dem Glauben anheimfällt, es mit abgeschlossenen historischen Sachverhalten zu tun zu haben, sondern dass man sich permanent gemeint fühlt. Am meisten dann, als er unter grössten Schwierigkeiten Saloniki verlässt und sich in Richtung Serbien aufmacht, wo die mit den Mittelmächten verbündeten Bulgaren ihre Schreckensherrschaft begonnen haben. Durch das eisige mazedonische Gebirge eilt Gaziel mit seinem dänischen Reisekumpan und einem verängstigten griechischen Chauffeur der Front entgegen, bis er im Schneetreiben nahe Florina an einen Gasthof gelangt, in den sich serbische Flüchtlinge gerettet haben. Wie menschlicher Abfall Als Reporter ist Gaziel erfreut: «Endlich sind wir auf das gestossen, was wir suchen! Wir werden die ersten Folgen der serbischen Katastrophe mit eigenen Augen sehen.» Als Mensch aber erschüttert ihn das Elend der Flüchtlinge zutiefst, und es ist unmöglich, nicht die Grenzzäune der Balkanroute vor sich zu sehen, wenn Gaziel schreibt: «Die Szenen, die wir erleben, rufen unsagbare Beklemmung hervor, grenzenloses Mitleid, tiefe Traurigkeit und unendlichen Verdruss über die Welt. Nichts, was ich bislang in diesem Krieg erlebt habe, hat mich so sehr erschüttert wie diese Schar von halbnackten, in Lumpen gekleideten Bauern, die aus ihrer Heimat gefegt wurden wie menschlicher Abfall. Welches Verbrechen haben diese Menschen begangen? Welchen unverzeihlichen Fehler? Welch schlimme Tat? Niemand, es sei denn, er ist ein wutzerfressener Heuchler, kann diese armen Seelen ernsthaft beschuldigen.» Es ist ein Glück, dass diese schön formulierende, leidenschaftliche und kluge Reporterstimme dank des Übersetzers Matthias Strobel und des kleinen Berenberg-Verlags nun erstmals auf Deutsch vorliegt. Man wünscht ihr noch viele weitere Übersetzungen, nicht nur in europäische Sprachen. ● 24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Epos Der Physiker John Freely hat sich zeitlebens mit den Werken Homers beschäftigt. Jetzt verbindet er die antiken Geschichten und seine eigenen Erfahrungen zu einer Liebeserklärung an den Dichter DieOdysseeistnochlange nichtzuEnde anderem Namen tatsächlich strategisch perfekt neben der Einfahrt zu den Dardanellen, die jeder Seefahrer passieren musste, der von der Ägäis via Marmarameer und Bosporus ins Schwarze Meer gelangen wollte? Freely zweifelt kaum daran, zumal ihm die Gegend bestens vertraut ist und er dort landschaftlich vieles bestätigt sieht, was in den Epen beschrieben wird. John Freely: Zurück nach Ithaka. Auf Odysseus’ Spuren durch das Mittelmeer. Philipp von Zabern, Mainz 2016. 391 Seiten, Fr. 39.90, E-Book 25.90. Von André Behr Der 90-jährige US-amerikanische Physiker John Freely hat über 40 Bücher zu Themen des Mittelmeerraums und der Türkei verfasst, wo er nach seinem Studium in Istanbul lehrte und wissenschaftshistorisch forscht. Bekannt wurde er ausserhalb von Fachkreisen aufgrund fundierter Städte- und Reiseführer sowie Büchern zu Platon, Aristoteles und Kopernikus, in denen er immer auch dem Wissenstransfer zwischen Abendland und Kleinasien nachspürte. Im neusten Buch über Homer kombiniert Freely nun Geschichte und Geschichten mit selbst Erlebtem. Schon als er sich 17-jährig zur US-Navy gemeldet hatte und nach Asien beordert wurde, lagen die «Ilias» und die «Odyssee» in seinem Reisegepäck. Ende des Zweiten Weltkriegs, erzählt er, habe er sich auf der Rückfahrt nach der Passage des Suezkanals an die Reling gestellt, um nichts zu verpassen, wenn sein Schiff entlang der nordafrikanischen Küste die Routen des Odysseus kreuzte. Prall voll Wissen Autorschaft ungeklärt Homers «Ilias» erzählt von der Belagerung der Stadt Troia durch die Achäer, die «Odyssee» von der abenteuerlichen Heimkehr des Helden Odysseus nach Ithaka, dessen List mit dem hölzernen Pferd den Sieg über Troia erst ermöglicht hatte. In beiden Versepen wird über 24 Gesänge erzählt, in beiden erstreckt sich der zeitliche Hintergrund des Geschehens über zehn Jahre. Die hochkomplexe Montage von interagierenden Göttern und Menschen, Mythen und Handlungen sowie die Vor- und Rückblenden machen das Lesen selber zum Abenteuer. Vorläufer dieser Epen dürften im vorchristlichen achten Jahrhundert in Kleinasien entstanden sein, erste Schriftfassungen zwischen 750 und 650 v. Chr., integrale Fassungen einiges später. Damals lebten auf dem Gebiet der heutigen Türkei und ihrer Grenzregionen bereits Griechen. Es war ein sprachlich und kulturell bunter geografischer Raum, durch den wichtige Handelswege führten und wo reger Austausch herrschte. Die von den Phönikiern adaptierte alphabetische Schrift begann sich erst zu etablieren, für Informationen und Unterhaltung sorgten Poeten und Sänger unterschiedlichster Couleur mit Versen und Liedern. 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016 Odysseus – hier auf einem Gemälde von J.H.W. Tischbein – inspiriert unsere Kultur bis heute. Detailanalysen der Antikenforscher legen nahe, dass die «Odyssee» einige Jahrzehnte nach der «Ilias» entstand, die Epen also mindestens zwei Autoren haben. Ob Homer einer davon war, oder ob dieser Dichter nur als Legende existierte, konnte bisher nicht geklärt werden. Einigkeit herrscht dagegen darüber, dass im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. mehrere Gelehrte der legendären Bibliothek von Alexandria Herausgeber der für uns massgeblichen Homer-Texte waren. Ebenso mehrdeutig wie die Entstehungsgeschichte der Homer-Epen ist deren Interpretation. John Freely zitiert deshalb bei seiner Rezeption längere Passagen des Werks und schiebt Erläuterungen dazwischen. Die berühmteste aller Homer-Diskussionen ist sicherlich die Frage um Troia, die seit den archäologischen Grabungen Schliemanns phasenweise zu hochgiftigen Streitereien führte. Lag Homers Troia unter diesem oder Er widmet dem Troia-Thema drei lange Kapitel und nimmt erst in der Mitte des Buchs den Faden der «Odyssee» neu auf, um mehr von den Spuren des Odysseus auf dessen Irrfahrten zu erzählen. Insofern ist die Titelei des Verlags verwirrend. Wer einen Touristenführer erwartet, in dem alle Stationen des Helden übersichtlich aufgelistet und geografisch dargestellt sind, wird enttäuscht sein. Freelys Buch ist eine Hommage an seine Jugendliebe Homer, der bis in unsere Zeit unzählige andere Dichter und Schriftsteller entzückte. Eine Liebeserklärung, die von mehr als 70 Jahren Forschen und Reisen beseelt und prall voll Wissen ist. Bei dieser Fülle wird jeder einiges finden, das ihm bleibt. So macht es beispielsweise schlicht Spass zu erfahren, dass die berühmten «geflügelten Worte» älterer Homer-Übersetzungen das Bild nicht treffend wiedergeben. Das Wort habe keine Flügel, sondern sei wie ein Pfeil mit Stabilisationsfedern. Das schreibt allerdings nicht Freely, sondern sein Übersetzer Jörg Fündling. Der Aachener Althistoriker und Autor von «Die Welt Homers» hat im Anhang geistreiche Anmerkungen eingebaut, die den fachlichen Horizont des Buchs erweitern. Ans Ende seines Homer-Werks setzt auch John Freely eine hübsche Anekdote. Mitte der 1960er-Jahre kam er im Urlaub auf der Insel Marmara mit einer «freundlichen Dame mittleren Alters» ins Gespräch, deren Mann einst jene amerikanische Schule in Istanbul besucht hatte, an der Freely damals unterrichtete. Als sich die Frau nach ihrem Gatten umschaute, unterhielt sich der «weisshaarige alte Herr mit Brille» gerade mit Freelys Nachwuchs, trat heran und stellte sich vor: «Mein Name ist Homer. Ich habe Ihren Kindern von Odysseus und vom Troianischen Krieg erzählt.» «Und so geht die Odyssee weiter», konstatiert John Freely. Wie wahr. Selbst wenn nichts davon faktisch stimmen würde, Homers Geschichten aus dem Quellgebiet unserer Kultur sind zu gut erzählt, um je ihre Inspirationskraft zu verlieren. ● Geschichte Zwischen 1899 und 1902 fochten in Südafrika die Kolonialmächte gegeneinander. Der Historiker Martin Bossenbroek zeigt, wie der Burenkrieg aufs 20. Jahrhundert vorauswies KapdesschaurigenKampfes Von Urs Bitterli Die Geschichte der europäischen Übersee-Expansion berichtet nicht nur von der Unterjochung und Ausbeutung fremder Kulturvölker; sie ist auch die Geschichte von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Kolonialmächten selbst. Einer der verlustreichsten dieser Konflikte war der Burenkrieg, in welchem die Engländer zwischen 1899 und 1902 gegen die Nachfahren der holländischen Pioniersiedler am Kap der Guten Hoffnung einen wenig rühmlichen Sieg erfochten. Die Buren waren in den Jahren 1836 und 1838 im «Grossen Treck» aus dem Küstenbereich ins nördliche und nordöstliche Hinterland eingedrungen und hatten, in der Hoffnung, ihre staatliche Eigenständigkeit und Mentalität zu bewahren, den Oranje-Freistaat und die Republik Transvaal gegründet. Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Nach der Jahrhundertmitte lockten Diamanten- und Goldfunde Massen von Kolonisten und Abenteurern ins Land, und England witterte die Möglichkeit, seine imperialistische Vision einer kolonialen Landverbindung von Kairo zum Kap zu verwirklichen. Der Krieg wurde unausweich- lich, und seine Opferbilanz war erschreckend: Über 20000 englische und gegen 6000 burische Soldaten fielen im Kampf, rund 30000 Zivilpersonen starben an Krankheiten und Hunger, und die Opfer unter den Schwarzafrikanern werden auf weit über 10000 geschätzt. Zur Geschichte des Burenkrieges gibt es eine reiche, um Ausgewogenheit des Urteils bemühte englischsprachige Fachliteratur. Nun hat Historiker Martin Bossenbroek eine Geschichte dieser Auseinandersetzung verfasst, welche die niederländische Perspektive verstärkt berücksichtigt. Der Autor wählt einen originellen Zugang zum Thema. Er stellt drei herausragende Akteure des Geschehens ins Zentrum: den niederländischen Diplomaten Willem Leyds, den burischen Kämpfer Deneys Reitz und jenen jugendlichen Draufgänger Winston Churchill, dessen spektakuläre Flucht aus burischer Gefangenschaft damals die Weltöf- HULTON ARCHIVE/GETTY IMAGES Martin Bossenbroek: Tod am Kap. Geschichte des Burenkriegs. C.H. Beck, München 2016. 624 Seiten, Fr. 42.90, E-Book 27.–. Winston Churchill, der als 25-Jähriger in burische Gefangenschaft geriet, ist eine von drei Hauptfiguren in Bossenbroeks Kriegsgeschichte. fentlichkeit beschäftigte. Von einer Figur zur anderen hinüberwechselnd, doch den Blick auf das Ganze nie verlierend, gelingt Bossenbroek eine hervorragende Gesamtdarstellung. Der Autor ist ein blendender, von seinem Übersetzer gewandt sekundierter Erzähler. Er setzt seine Quellen mit Sinn für die erhellende Nuance ein, und zwar besonders meisterhaft dort, wo es gilt, das Dickicht der machtpolitischen Interessen im Hintergrund der Kampfhandlungen zu durchdringen. Bossenbroek ist es gelungen, ein dem kollektiven Bewusstsein längst entschwundenes Geschehen, an dem sich die Triebkräfte und Visionen des europäischen Imperialismus beispielhaft aufzeigen lassen, in die Gegenwart des heutigen Lesers zurückzurufen. Der Burenkrieg wies, wie Bossenbroek zeigt, in mancher Hinsicht auf die Kriege des 20. Jahrhunderts voraus. Dies gilt etwa von der «Taktik der verbrannten Erde», mit der die Engländer auf den Guerillakrieg der Buren antworteten. Und es gilt von den Deportationen der ländlichen Zivilbevölkerung in Lager, die bei aller Rücksichtslosigkeit des Vorgehens mit den Konzentrationslagern der Nazis nicht gleichgestellt werden sollten. Ein in diesem Umfang neues Phänomen war auch der Einsatz der Propaganda. Die Meldungen der Kriegsberichterstatter lösten in Europa heftige Debatten aus, in denen sich die Frontlinien des Weltkrieges bereits abzeichneten. In Deutschland ergriff man vehement Partei für die Buren. Ähnlich reagierte man übrigens auch in der deutschsprachigen Schweiz, wobei sich die Touristikregionen mit Rücksicht auf ihre englischen Gäste freilich in vorsichtiger Zurückhaltung übten. ● Reisebericht Der Versuch, die Ukraine zu verstehen, führt Jens Mühling zu Wodka und Schweinefett Bei den Menschen hinter dem Konflikt Jens Mühling: Schwarze Erde. Eine Reise durch die Ukraine. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2016. 286 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 18.–. Von Lukas Mäder Ein nicht mehr ganz junger Mann, um die vierzig. Er kennt Osteuropa, spricht Russisch, hat lange in der Region gelebt. Und er möchte die Ukraine kennenlernen: das Land, das durch die Proteste auf dem Maidan, durch die Annexion der KrimHalbinsel und den Krieg im Osten auseinandergerissen wurde. Das Land, in dem Lenin plötzlich von den unzähligen Sockeln auf den Hauptplätzen der Städte gestürzt wurde, ein ukrainischer Nationalismus aufflammte und das einstige Brudervolk zum Todfeind wurde. Der nicht mehr ganz junge Mann ist der Journalist Jens Mühling, der vor rund einem Jahr zu seiner Reise aufgebrochen ist: von der EU-Aussengrenze zu Polen im Westen bis zu den Karpaten; von der Hauptstadt Kiew auf die russisch annektierte Krim, und über die Frontlinie in die Separatistengebiete bis an die Grenze zu Russland. Er durchquert das Land auf der Suche nach dem Riss, der es teilt und seine Menschen trennt. Die Begegnungen mit den Menschen machen das Buch denn auch aus: Wenn der Autor mit einem der wenigen gebliebenen Juden des einst so jüdischen Czernowitz zum Wodka die ukrainische Nationalspeise Salo – weisses Schweinefett – isst. Wenn er die Veteranen des Maidans in Kiew, die stundenlang den ukrainischen Nationaldichter Schewtschenko rezitieren, enttäuscht, weil er als Deut- scher kein Goethe-Gedicht auswendig kennt. Oder wenn er dem neuen, prorussischen Direktor des Naturschutzparks im Separatistengebiet klarmacht, dass sich westliche Investoren kaum für den alten Hotelbau an der Küste interessieren werden. Diese Begegnungen lassen den Geschichtenerzähler Mühling aufblühen, aber nicht nur als Beobachter. Der Autor ist mit seinen Vorurteilen, seinem Unwissen und seinen Sympathien Teil der Erzählung, was dem Text Tiefgang gibt: Meist flott geschrieben, berührend und lustig, regt das Buch auch zum Nachdenken an. Und wie dem Autor geht es am Ende auch dem Leser: Er hat den aktuellen Konflikt in der Ukraine, den Riss durch das Land, nicht ganz verstanden. Aber er hat Menschen kennengelernt, die damit leben. ● 24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Demokratie Diverse Politologen und Juristen machen Vorschläge zur Reform der Volksinitiative. Als mangelhaft erweist sich in ihrem Band indes vor allem die helvetische Diskussionskultur EinPolitinstrumentunter dereinseitigeingestelltenLupe Georg Kreis (Hrsg.): Reformbedürftige Volksinitiative. Verbesserungsvorschläge und Gegenargumente. NZZ Libro, Zürich 2016. 144 Seiten, Fr. 24.90, E-Book 14.90. Von René Roca «Verbesserungsvorschläge und Gegenargumente» – der Untertitel des Buches, das mit der Volksinitiative ein wichtiges Instrument unseres Politsystems unter die Lupe nimmt, suggeriert, dass der Leser Beiträge studieren kann, die das Pro und Contra von Reformmassnahmen zu Papier bringen. Dem ist aber nicht so. Die Auswahl der Autoren beschränkt sich praktisch ausschliesslich auf solche, die Verbesserungsvorschläge machen und die politisch eine klar linksliberale Ausrichtung vertreten. Die insgesamt acht Beiträge, überwiegend verfasst von Politologen und Juristen, wiederholen folglich allzu oft dieselben Argumente: Die meisten Autoren beklagen die Initiativenflut und beanstanden, dass immer mehr Volksinitiativen in einen «Konflikt» mit dem Völkerrecht oder den Menschenrechten geraten. Gegenargumente fehlen Die Lösung sieht man in der Hauptsache in einer Stärkung des Bundesgerichts oder allgemein der richterlichen Stellung. Mit dieser einseitigen Ausrichtung und dem weitgehenden Verzicht auf die Geschichte Einblicke in die Ära des Auges im Titel angekündigten «Gegenargumente» wird das Buch dem eigenen Anspruch, «eine Plattform für wichtige staatsrechtliche, politische, ökonomische und zeitgeschichtliche Fragen der Schweiz» zu sein, nicht gerecht. Auch der aktuelle historische Forschungsstand zum Thema fliesst zu wenig ein. Die direkte Demokratie auf Bundesebene war nur möglich nach jahrzehntelangen politischen Kämpfen in den einzelnen Kantonen. Dazu existieren mittlerweile einige Studien, die bei Reformvorhaben konsultiert werden sollten. So müsste man beispielsweise die positiven Erfahrungen vieler Kantone mit der Gesetzesinitiative mit einbeziehen und für die Bundesebene fruchtbar machen. Als Reformvorschlag taucht die Gesetzesinitiative bei Lukas Rühli auf, wird aber zu wenig historisch reflektiert. Auch im ersten Kapitel des Herausgebers, das die Anfänge der Volksinitiative auf Bundesebene beleuchten will, werden die historischen Wurzeln praktisch komplett ignoriert. Wer aber, wie Georg Kreis, punkto Gegenwartsanalyse von einem «fundamentalistischen» und «verabsolutierenden Umgang» mit der Volksinitiative spricht, darf den historischen Blickwinkel nicht ausser Acht lassen. Erstaunlich auch, dass Guisep Nay die neue Bundesverfassung von 1999 als «Nachführung» bezeichnet. Einige Probleme bei der Umsetzung von Volksinitiativen verdanken wir der neuen Bundesverfassung, in die undeklariert Begriffe wie «Völkerrecht» und «Verhältnismässigkeit» integriert wurden. Diese Fragestellung wäre durchaus einen Beitrag wert gewesen. Die ehemalige Ständerätin Christine Egerszegi gibt im Gegenzug einen guten Über- und Einblick in die parlamentarische Debatte und die Schwierigkeiten, die einer Reform der Volksrechte in den beiden Kammern begegnen. Mehr politische Bildung 1789, 1848, 1914 – diese Jahreszahlen mögen einem in den Sinn kommen, wenn man an die grossen Zäsuren der Moderne denkt. Aber 1839? Am 19. August dieses Jahres präsentierte Louis Daguerre in Paris das erste fotografische Verfahren und damit eine Erfindung, die die Wahrnehmung, und zuweilen auch die Läufe der Welt auf revolutionäre Weise verändern sollte. Erstaunt ob der Vernachlässigung der «Visualität» in der traditionellen Geschichtsschreibung, hat der in Flensburg lehrende Historiker Gerhard Paul der epochemachenden Kraft des Bildlichen ein imposantes Werk gewidmet. Es zeigt (durchaus auch mit Worten), wie Bilder seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in ver24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016 schiedener Gestalt – von der Fotografie über die Kinematografie bis zu TV und Internet – in alle Bereiche des Lebens drangen, dort etwa die Wissenschaften beeinflussten, die Politik prägten oder die Lesepraxis veränderten und letztlich einen ganz neuen Menschentypus hervorbrachten: Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert ist der schriftfixierte Gutenberg-Bürger einem «Visual Man» gewichen, der Bilder nicht nur gierig rezipiert, sondern je länger je mehr auch selber produziert – die Geschichte des visuellen Zeitalters ist noch lange nicht zu Ende geschrieben. Claudia Mäder Gerhard Paul: Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel. Wallstein, Göttingen 2016. 760 S., 949 Abb., Fr. 51.–. Fakt ist, die Schweiz besitzt ein einzigartiges politisches System der Mitsprache. Diesen Punkt arbeiten einzelne Autoren gut heraus, so etwa Andreas Gross. Das Volk, der Verfassungs- und Gesetzgeber, will frei bleiben. Reformen der direkten Demokratie müssen deshalb wohlbegründet sein, sonst findet sich in einer Abstimmung nie eine Mehrheit. Ein wichtiges Reformvorhaben wäre die Förderung der politischen Bildung an unseren Schulen. Gross erwähnt sie in seinem Beitrag als einziger. In mehreren Kantonen sind nun Jungparteien daran, das Fach wieder in den Lehrplänen zu verankern – mit Volksinitiativen! ● René Roca ist promovierter Historiker, Gymnasiallehrer und Leiter des Forschungsinstituts direkte Demokratie (www.fidd.ch) Porträt Der deutsche Journalist Wolfgang Koydl lobt die Schweiz als Vorbild für Europa DieEidgenossensindWeltmeister imBessermachen Wolfgang Koydl: Die Bessermacher. Die Schweiz kann’s einfach besser. Orell Füssli, Zürich 2016. 223 Seiten, Fr. 19.90, E-Book 15.90. Von Urs Rauber Wolfgang Koydl (64) bereiste jahrelang die Welt als Reporter, dpaKorrespondent (in Kairo und Moskau) und Reiseschriftsteller (rund ein Dutzend Bücher). Der Deutsche arbeitete für BBC und «Washington Post», war Auslandchef bei der Wiener Tageszeitung «Die Presse» und berichtete für die «Süddeutsche Zeitung» aus Istanbul, Washington, London und Zürich, bevor er sich 2011 in der Schweiz niederliess. Seit zwei Jahren schreibt der scharfsinnige Beobachter und elegante Stilist, der persönlich eher unscheinbar auftritt und eine liebenswürdige, geradezu unteutonische Bescheidenheit an den Tag legt, für Roger Köppels «Weltwoche». Mit diesem teilt er nicht unbedingt die politischen Auffassungen, wohl aber die Liebe zur Schweiz und deren Sonderfall. Weniger Prominente Ginge es nach Wolfgang Koydl, würde die Schweiz ihre Einzigartigkeit in Europa offensiver vertreten. Hazel Brugger (Poetry-Slammerin und Stand-up-Comedian). In diesen und einem Dutzend weiteren lustvoll zugespitzten Lebens- und Arbeitsgeschichten verdeutlicht Koydl, worin die Schweizer Kunst besteht, es «besser als andere» zu machen. Aktiv für die Werte werben PETER KLAUNZER / KEYSTONE Natürlich registriert man als Einheimischer gerne Lob aus berufenem ausländischem Mund. Dabei ist nicht alles, was Koydl in seinem aktuellsten Werk «Die Bessermacher» schildert, neu. Manches hat er in seinem fast gleichlautenden Buch «Die Besserkönner» bereits 2014 beschrieben: das ausgeklügelte Funktionieren des politischen Systems, den wirtschaftlichen Erfolg, die dafür verantwortlichen typisch helvetischen Werte und Eigenschaften. Wir haben das Buch damals als «Masterarbeit ohne Anmerkungsapparat» zum Sonderfall Schweiz vorgestellt. Ein Buch, dem Jean Ziegler wie Christoph Blocher gleichermassen Respekt zollten. Anders als im ersten Buch finden sich im neuen weniger Prominente unter den Porträtierten, dafür wunderbare Trouvaillen: Zum Beispiel der Tessiner Padrone Silvio Tarchini (Gründer der Fox Town Factory Stores, Mendrisio), die Anstandsdame Viviane Neri (Institut Villa Pierrefeu, Montreux), der Musiker, Töffmechaniker und Selfmade-Unternehmer Werner «Wieni» Keller (Discountkette Import Parfumerie) oder die «Schweizer Kodderschnauze» Immer wieder überrascht der Verfasser mit Erkenntnissen, die man – vielleicht unbewusst – auch hatte, aber nie so präzis auf den Punkt brachte wie der freundliche Nachbar aus Deutschland. «Ja, genau», ist man wiederholt versucht beizupflichten. Im Unterschied zu vielen selbstquälerischen Kritikerstimmen der Intellektuellenszene oder der schreibenden Zunft, die sich mit dem eigenen Land schwertun und auf das Finstere fokussieren (das es natürlich gibt), beschreibt Koydl die Schweiz in ihrer unspektakulären Normalität, ihrem Pragmatismus, ihrem steten Willen zur Integration und zum Ausgleich – Faktoren, die exakt das helvetische Erfolgsrezept ausmachen. Koydl lobt das «Dilettieren» in der Politik und das Milizprinzip ebenso wie die soziale Kontrolle in der Öffentlichkeit (so, wenn jemand einen Jugendlichen im Zug zurechtweist, der die Füsse auf das Sitzpolster legt). Solche Verhaltensweisen würden ohne autoritären Druck «zu einem erfreulicheren Zusammenleben» beitragen. Wolfgang Koydl hat sich inzwischen zu einem der besten Schweiz-Kenner entwickelt; er beobachtet die Regungen des Landes, ähnlich einem Peter von Matt oder Peter Bichsel, die das auf literarische Art tun. Was er über die Empfindung der Rätoromanen, über das Bemühen von Nationaltrainer Vladimir Petkovic, die Herzen der Schweizer Fussballfreunde zu erobern, oder über das 63 504 Kilometer lange Netz der Schweizer Wanderwege zu erzählen weiss, ist schlicht grossartig, weil es präzis den Mechanismus dieses Landes offen legt. Darüber hinaus deckt der Weitgereiste Besonderheiten auf, die man – würde er sie nicht mit Untersuchungen belegen – eher als blühende Phantasie abtäte: nämlich dass die Schweizer verglichen mit ihren Nachbarn ein unverschämtes Sexualleben pflegen. So bezeichnete das britische Boulevardblatt «The Sun» die Schweizerinnen und Schweizer nach einer Befragung von 35 000 Menschen aus 30 Ländern unlängst als «Sexweltmeister». Auch für ein einheimisches Publikum bietet das Buch eine Fülle erstaunlicher neuer Einsichten. Im Schlusskapitel dann legt Koydl seine Zurückhaltung ab und spricht uns ins Gewissen: Die USA seien als Vorbild ausgefallen, und die grossen europäischen Rezepte und Beglückungsvisionen trügen den Keim des Scheiterns in sich. Deshalb müsse die Schweiz ihre Einzigartigkeit in Europa offensiver vertreten. Sie sei «die einzige 100-prozentige Demokratie der Welt» und trage eine Verantwortung für das «Überleben der Herrschaft des Volkes als beste Regierungsform». Sie solle über ihren Schatten der Nichteinmischung springen, auch angesichts des in Gefahr geratenen Bilateralismus, indem sie für sich und ihre Werte werbe und aktiv die demokratischen Prinzipien propagiere. Der Boden für mehr Schweiz sei in Europa längst gelegt: für mehr Demokratie, das Milizsystem, den Föderalismus. Eine starke, selbstbewusste, selbstsichere Schweiz solle vorführen, «was sie am besten kann: Dinge besser zu machen». ● 24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Gesellschaft Eine Gruppe von Soziologen stellt fest, dass psychische Leiden zunehmen – und dies in einer Zeit, die eine nie dagewesene Vielfalt an Wellnessangeboten kennt Erschöpft statt erholt Wellness. Die Titel zu den Themen gesunder Ernährung, Fitness, Schlaf, Entspannung sind mittlerweile Legion. Selbiges gilt für die Zeugnisse dafür, wie krankmachend unser heutiger Lebensstil ist: das beschleunigte Tempo, die zunehmende Reizüberflutung durch die Medien, das Multitasking, die gewachsenen Anforderungen im Berufsleben. Der vorliegende Band demonstriert, wie diese «kontemporären gesellschaftlichen Bedingungen mit depressiver Erschöpfung in eins gehen». Einen interessanten Ansatz verfolgt Monica Greco, indem sie zeigt, welche Auswirkungen gesellschaftliche Anforderungen und Selbstbilder haben können. Kurz gefasst: Das neoliberale Subjekt wird als autonom, verantwortlich und selbstsicher dargestellt. Dieses Idealbild produziert dann geradezu das neurotische Subjekt, das sich ständig überfordert sieht, ängstlich und unsicher ist. Spannend in die- Elisabeth Mixa et al. (Hrsg.): Un-WohlGefühle. Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten. Transcript, Bielefeld 2016. 276 S., Fr. 39.90, E-Book 29.40. Von Walter Hollstein Wir leben in einem seltsamen Widerspruch. «Gegenwärtige westliche Gesellschaften sind von einem Paradoxon gekennzeichnet: Einem gesellschaftlichen Imperativ auf Wohlgefühle korrespondiert eine alarmierende Zunahme an psychischen Leidenszuständen.» Mit letzteren gemeint sind Depressionen, Angstzustände, Borderline und Burnout. Der vorliegende Band subsumiert das und anderes unter dem Begriff der «Unwohlgefühle». In erstaunlichem Gegensatz dazu steht der Boom der Ratgeberliteratur für die Bereiche Gesundheit und sem Kontext ist auch der Ansatz von Linda V. und Torsten Heinemann, die ZunahmevonBurnoutals«Siegerkrankheit» zu verstehen. In dieser Optik argumentiert auch Elisabeth Mixa: Hinter dem, was so einfach und schön als «WohlfühlVersprechen» daherkommt, macht sie eine sinistre Absicht aus: «Wellness bietet neue identitätsstiftende Mechanismen zur raschen und effektiven Wiederherstellung der Arbeitskraft, verstanden als Freizeitarbeit am Selbstdesign.» Im Gegensatz zu anderen Publikationen begnügt sich der Band aber nicht mit Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen, sondern thematisiert auch andere Faktoren, die den Leidensdiskurs unserer Epoche befördern, etwa die «Marktexpansionsdynamiken der Pharmaindustrie» oder die Eigeninteressen von Therapeuten. Insgesamt eine sehr anregende und zum produktiven Eigendenken animierende Lektüre. ● Das amerikanische Buch Franklin D. Roosevelts Liebe zum Schwarzwald Grosses Drama mit einem charismatischen Protagonisten bietet der Historiker Douglas Brinkley in Rightful Heritage: Franklin D. Roosevelt and the Land of America (HarperCollins, 744 Seiten). Anerkannt als Meister seines Fachs, knüpft der Professor der Rice University in Texas hier an seinen Bestseller «Wilderness Warrior» (2009) über Präsident Theodore Roosevelt (1885– 1919) als Naturschützer an. War TR der Vater der Nationalparks, hat FDR (1882– 1945) die Landschaft Amerikas geprägt wie kein Präsident vor oder nach ihm. Er stellte rund 200 Naturgebiete und historische Stätten unter permanenten Schutz. Während seiner Amtszeit pflanzten die 3,4 Millionen Mitglieder des von ihm gegründeten Civilian Conservation Corps (CCC) drei Milliarden Bäume. Doch die uniformierten «CCC Boys» legten auch 200000 Kilometer geteerter Strassen in schwer zugänglichen Regionen an. Zudem griff Roosevelt mit massiven Dammbauten zerstörerisch in Naturlandschaften ein. TR und FDR teilten eine elitäre Herkunft. Aber während der Grossonkel unberührte Wildnis permanent schützen wollte, brachte Roosevelt von zahlreichen Bildungsreisen eine Inspiration aus Deutschland mit: Sein Modell wurde der seit der Frühen Neuzeit sorgsam gepflegte, aber auch von Menschen genutzte Schwarzwald. Aufgewachsen in dem weitläufigen Familiensitz am Hudson, entwickelte Roosevelt schon als kleiner Junge eine Liebe zur Natur. Während er Kontakte zu führenden Naturschützern knüpfte, schrieb er als Teenager für Fachblätter der Vogelkunde. Und doch dachte und 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016 Douglas Brinkley (unten) zeigt, wie der Schwarzwald (oben) Roosevelts naturschützerische Konzepte prägte. agierte FDR stets wie ein Grossgrundbesitzer und Forstherr alter Schule. Im Amerika des «Gilded Age» war er damit ein Aussenseiter. Seit dem Bürgerkrieg hatten eine explodierende Bevölkerung und boomende Industrien zu einer rasanten Zerstörung gerade von Waldlandschaften geführt. Dieser kurzsichtigen Kahlschlagmentalität setzte Roosevelt eine Perspektive entgegen, auf die am besten der damals noch unbekannte Begriff «Nachhaltigkeit» zutrifft. Wie der Buchtitel sagt, sah er Amerikas Natur als «rechtmässiges Erbe» der gesamten Nation und ihrer Nachkommen. Brinkley leuchtet diese Seite Roosevelts erstmals tiefgehend aus. Er zeigt durchweg unterhaltsam, wie seine frühzeitig geformten Ideen Roosevelts gesamte Karriere als Landbesitzer und Politiker inspiriert haben. So erscheint das Gut Springwood rund um Roosevelts Herrensitz Hyde Park als Vorbild für sein Wirken als Staatssenator und Gouverneur von New York sowie als US-Präsident. Von 1933 an verband FDRs New Deal als historisch einzigartiges Paket staatlicher Massnahmen den Kampf gegen die Weltwirtschaftskrise mit Naturschutz. Initiativen wie das CCC beschäftigten im Rahmen der Works Progress Administration (WPA) insgesamt 8,5 Millionen Arbeitslose. Bei Kriegsende sah FDR in Wiederaufforstung und Bewahrung der Umwelt gar ein Rezept für die Schaffung von Frieden und Wohlstand rund um den Globus. Auch die zentrale Tragödie im Leben Roosevelts geht direkt auf seinen Enthusiasmus in Sachen «Conservation» zurück: 1921 zog sich FDR beim Baden in einem von ihm initiierten Park nördlich von New York City Polio zu. Brinkleys Bewunderung für Roosevelt spricht aus jeder Seite. Aber der Historiker zeigt ihn nicht nur als unermüdlichen Netzwerker und Antreiber, sondern auch als geschmeidigen Politiker. So nahm Roosevelt Rücksicht auf die damalige Basis seiner Partei unter weissen Südstaatlern und hielt beim CCC und bei anderen Agenturen auf Rassentrennung. Daneben lässt Brinkley Kritiker zu Wort kommen, die bei Roosevelts Massenorganisationen Vergleiche mit den totalitären Regimen in der Sowjetunion und Deutschland anstellten. Ausgerechnet hier unterläuft ihm ein Schnitzer: Brinkley verwechselt die Hitlerjugend mit dem Reichsarbeitsdienst der Nazis. ● Von Andreas Mink Agenda Maler des Hochadels Franz Xaver Winterhalter Agenda Mai 16 Basel Dienstag, 10. Mai, 19.30 Uhr Wolfgang Koydl: Die Bessermacher. Lesung und Gespräch. Moderation: Markus Wüest, Eintritt frei. Kulturhaus Bider & Tanner, Aeschenvorstadt 2. Reservation: 061 206 99 96. Mittwoch, 11. Mai, 19.30 Uhr Ulrich Tilgner: Die Logik der Waffe. Moderation: Willi Herzig, Fr. 25.–. Volkshaus, Rebgasse 12–14. Info: www.literaturhaus-basel.ch. Dienstag , 24. Mai, 19 Uhr Peter Stamm: Weit über das Land. Lesung und Gespräch. Moderation: Nicola Steiner, Fr. 18.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3. Tickets: www.literaturhaus-basel.ch. Bern Der deutsche Maler Franz Xaver Winterhalter (1805– 1873) hat nahezu alle Monarchinnen und Monarchen im Europa seiner Zeit porträtiert. Einen Namen machte er sich zunächst in Paris. Hier wurde er nach 1834 zum Hofmaler von Louis-Philippe, dem Bürgerkönig. 1855 schuf er sein Meisterwerk, «Kaiserin Eugénie mit ihren Hofdamen». Das grossformatige Gruppenporträt (es misst 295 × 420 cm) wurde erstmals an der Pariser Weltausstellung und sodann im Wiener Kunstverein gezeigt. Die Königin in ihrem weissen, mit violetten Schleifen verzierten Kleid hält einen Geissblattzweig in der Hand, als wäre er ein Zepter. Das monumentale Bild entstand in grosser Eile, wie Tropfspuren im Hintergrund zeigen. Dieser Umstand wurde von Pariser Kritikern ebenso bemängelt wie die Frivolität des Bildes. Gleichwohl wurde es als Druck weit verbreitet und galt nach 1870 als Symbol der «Fête impériale». Zehn Jahre nach diesem Bild schuf Winterhalter sein Porträt der österreichischen Kaiserin Elisabeth, genannt «Sisi». Manfred Papst Franz Xaver Winterhalter: Maler im Auftrag Ihrer Majestät. Arnoldsche Art Publishers, Stuttgart 2016. 256 Seiten, 101 Bildtafeln, Fr. 57.–. Bestseller April 2016 Belletristik Sachbuch 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Peter Stamm: Weit über das Land. S. Fischer. 224 Seiten, Fr. 25.90. Harlan Coben: Ich schweige für dich. Goldmann. 416 Seiten, Fr. 20.90. Nicholas Sparks: Wenn du mich siehst. Heyne. 576 Seiten, Fr. 28.90. John Irving: Strasse der Wunder. Diogenes. 784 Seiten, Fr. 26.40. Jonas Jonasson: Mörder Anders und seine Freunde. Carl’s Books. 352 Seiten, Fr. 21.90. Jojo Moyes: Ein ganz neues Leben. Wunderlich. 528 Seiten, Fr. 28.90. Charles Lewinsky: Andersen. Nagel & Kimche. 400 Seiten, Fr. 23.90. Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit. Diogenes. 368 Seiten, Fr. 31.90. Jussi Adler-Olsen: Verheissung. DTV. 596 Seiten, Fr. 25.90. Siegfried Lenz: Der Überläufer. Hoffmann und Campe. 367 Seiten, Fr. 27.40. Silvia Aeschbach: Älterwerden für Anfängerinnen. Wörterseh. 176 Seiten, Fr. 26.90. Giulia Enders: Darm mit Charme. Ullstein. 288 Seiten, Fr. 22.90. Lisbeth Herger: Unter Vormundschaft. Hier und Jetzt. 200 Seiten, Fr. 42.90. M. Schmieder, U. Entenmann: Dement, aber nicht bescheuert. Ullstein. 224 S., Fr. 25.90. Peter Wohlleben: Das geheime Leben der Bäume. Ludwig. 224 Seiten, Fr. 26.90. Jesper Juul: Leitwölfe sein. Beltz. 216 Seiten, Fr. 21.90. I. Zachenhofer, M. Reddy: Kopfsache schlank. Edition A. 208 Seiten, Fr. 23.90. Ajahn Brahm: Der Elefant, der das Glück vergass. Lotos. 240 Seiten, Fr. 22.90. Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? Kiepenheuer & Witsch. 256 S., Fr. 27.90. Michael Nast: Generation Beziehungsunfähig. Edel. 240 Seiten, Fr. 19.90. Erhebung GfK Entertainment AG im Auftrag des SBVV; 12.04.2016. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Mittwoch, 4. Mai, 19.30 Uhr Werner Adams: In einem kalten Land. Lesung. Buchhandlung Weyermann, Herrengasse. Reservation: 031 311 59 59. Montag, 9. Mai, 20 Uhr Nora Gomringer, Michael Fehr: Achduje & Simeliberg. Performance, Fr. 20.–. Stauffacher Buchhandlungen, Neuengasse 25/37. Reservation: 031 313 63 63. Zürich Sonntag, 8. Mai, 20 Uhr Yann Martel: Die hohen Berge Portugals. Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten, Pelikanstrasse 18. Info: www.kaufleuten.ch. Dienstag, 10. Mai, 19.30 Uhr Unterwegs mit Wilhelm Tell. Lesung und Gespräch mit Annette Hug, Michael Blatter, Valentin Groebner. Moderation: Peppina Beeli, Fr. 18.–. Literaturhaus, Limmatquai 62, Reservation: 044 254 50 00. Mittwoch, 11. Mai, 20 Uhr Literatur Hoch Zwei: Moby Dick und die Krake. Lesung mit Stefan Zweifel und Thomas Sarbacher, Fr. 45.–. Miller’s, Seefeldstrasse 225. Reservation: 044 387 99 79. Dienstag, 17. Mai, 20 Uhr Juli Zeh: Lesung und Gespräch. Moderation: Gesa Schneider, Fr. 25.–. Kaufleuten (siehe oben). Mittwoch, 18. Mai, 20 Uhr Laura De Weck: Politik und Liebe machen. Lesung und Gespräch. Moderation: Hannes Nussbaumer, Fr. 25.–. Kaufleuten (siehe oben). Bücher am Sonntag Nr. 5 erscheint am 29.05.2016 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Die deutsche Autorin, Journalistin und Juristin liest aus Unterleuten – ihrem grossen Gesellschaftsroman DIENSTAG 17.05.2016 20 UHR IM KLUBSAAL Ticketpreise: 28.–/18.– (mit einer Karte der Zürcher Kantonalbank, AHV/IV oder mit Legi) Spezialangebot: 78.– (inkl. 2-Gänge-Menü) Unser ganzes Programm finden Sie auf kaufleutenliteratur.ch. Besuchen Sie uns auch auf Twitter und Facebook. Gebührenfreie Ticket-Reservation: In Zusammenarbeit mit: KAUFLEUTEN.CH literaturhaus.ch Mit einer Karte der Zürcher Kantonalbank erhalten Sie eine Reduktion von 10.– CHF für sämtliche «Kaufleuten-Literatur»-Veranstaltungen. Mehr unter www.zkb.ch/sponsoring