Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung

Transcrição

Bücher am Sonntag - Neue Zürcher Zeitung
Nr. 4 | 24. April 2016
NZZ am Sonntag
Kissinger
Zwei Biografien,
zwei konträre
Meinungen
16
Abschied
Das bleibende
Werk von Lars
Gustafsson
4
Es geht weiter
Nach der 1001.
Nacht ist noch
nicht Schluss
12
Odyssee
Homers Epen
faszinieren bis
heute
22
Bücher
am Sonntag
N Z Z- LI B RO.C H
Lies Biografien und
entdecke Menschen
NEU
NEU
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Dieser sorgfältig
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hergestellte Kunstband
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gewährt einen
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faszinierenden
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Reich
von Gertrud
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Dübi-Müller
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(1888–1980),
Fotografin,
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Sammlerin,
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Künstlern
der Moderne.
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Die Biografie von
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Conrad Gessner erzählt
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Leben und Wirken des
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Universalgelehrten,
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dem
die Naturwissens
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verdanken.
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Monique
Barbier-Mueller,
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Cäsar
Menz,
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Gertrud
Dübi-Müller
1 S., 118 Abb.,
176
F 58.–* / € 58.–
Fr.
ISBN 978-3-03810-139-0
U B. Leu,
Urs
C
Conrad
Gessner
(
(1516–1565)
4 S., 70 Abb.,
456
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Fr. 48.–* / € 48.–
ISBN 978-3-03810-153-6
NEU
NEU
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Leidenschaftlich
ssammelte der glühende
Patriot
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und Secondo
historische
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Trouvaillen,
Kunstwerke
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Schlösser. Als Baulöwe
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veränderte er seine
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Heimat Winterthur; war
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Miguel
Garcia,
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Bruno
Stefanini
1 S., 32 Abb.,
160
F 32.–* / € 32.–
Fr.
ISBN 978-3-03810-146-8
A
Auch
als E-Book erhältlich
NZZ Libro, Buchverlag Neue Zürcher Zeitung Postfach, CH-8021 Zürich. Telefon +41 44 258 15 05, Fax +41 44 258 13 99, [email protected].
* Unverbindliche Preisempfehlung. Erhältlich auch in jeder Buchhandlung und im NZZ-Shop, Falkenstr. / Ecke Schillerstr., Zürich
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Generationen von
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Hörerinnen und Hörern
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erinnern sich noch
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heute an ihre
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Stimme.
Die Biografie
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über
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Weder-Greiner ist
e Stück Medien- und
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Sozialgeschichte
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Schweiz.
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Thomas
Feitknecht,
D Pionierin am Mikrofon
Die
1 S., 24 Abb.,
144
Fr. 38.–* / € 38.–
F
ISBN 978-3-03810-107-9
Inhalt
Der Mensch,
das erzählende
Tier
Henry Kissinger
(Seite 16).
Illustration von
André Carrilho
Die Geschichte hat also ein Ende. Und ein glückliches dazu. Dass wir heute
mit dieser frohen Botschaft aufwarten können, ist reiner Zufall – das gute
Ende war schon seit 500 Jahren da, steckte aber in einer falsch beschrifteten Archivschachtel. Frisch entstaubt liegt es jetzt zum Lesen bereit und
entführt uns in eine zauberhafte Welt: Eine jüngst entdeckte arabische
Handschrift von «Tausendundeine Nacht» beschreibt das Glück, das
Scheherazade nach 1000 durcherzählten Nächten erfährt. Das Märchen,
dem Alfred Messerli ab S. 12 einen Essay widmet, zeigt auf exemplarische
Weise, welch existentielle Kraft einer guten Geschichte eignet. Gefesselt
von ihren Fabeln, kann der König die Erzählerin nicht töten; die Spannung,
die sie generiert, hält Scheherazade am Leben – und nicht nur sie: Solange
der Mensch erzählt, lebt er, und solange er lebt, erzählt er.
Manche Erzählungen vermögen freilich selbst den Tod zu überwinden. So
wird es mit den Geschichten von Lars Gustafsson (S. 4) sein, und so war es
mit Homers Epen (S. 22). Über all die Jahrhunderte bleibt die Geschichte
indes niemals fest. Einiges, wie das Flüchtlingselend, scheint sich zwar zu
wiederholen (S. 21). Tatsächlich aber sind Erzählungen immer neu, und
zwar auch dann, wenn sie sich auf scheinbar Altbekannte(s) konzentrieren
– sei es Henry Kissinger (S. 16) oder Wilhelm Tell (S. 19).
Die Geschichte geht also weiter. Wir erzählen im Mai wieder davon.
Einstweilen wünschen wir nun aber anregende Lektüre. Claudia Mäder
Belletristik
Kurzkritiken Sachbuch
4
15 Reinhard Krüger: Der Stinkefinger
Von Simone Karpf
Léon Werth: 33 Tage
Von Kathrin Meier-Rust
Katharina Kakar: Frauen in Indien
Von Kathrin Meier-Rust
Boris Schumatsky: Der neue Untertan
Von Claudia Mäder
Kurzkritiken Belletristik
11 Jean-Philippe Toussaint: Fussball
Von Claudia Mäder
Franziska Gerstenberg: So lange her, schon gar
nicht mehr wahr
Von Manfred Papst
Julia Deck: Winterdreieck
Von Manfred Papst
Benjamin Black: Tod im Sommer
Von Gundula Ludwig
Essay
12 Das letzte Kapitel von «Tausendundeine Nacht»
Alfred Messerli schreibt über das glückliche
Ende des Märchenklassikers
Kolumne
15 Charles Lewinsky
Das Zitat von Arthur Schopenhauer
Sachbuch
16 Niall Ferguson: Kissinger. Der Idealist,
1923–1968
Greg Grandin: Kissingers langer Schatten
Von Reinhard Meier
18 Thilo Sarrazin: Wunschdenken
Von Beat Kappeler
19 Deborah Feldman: Unorthodox
Von Silke Mertins
Michael Blatter, Valentin Groebner: Wilhelm
Tell, Import-Export
Von Claudia Mäder
20 Christoph Drösser: Total berechenbar?
Christian Rudder: Inside Big Data. Unsere Daten
zeigen, wer wir wirklich sind
Von Leonid Leiva
Bernhard Viel: Der Honigsammler
Von Kathrin Meier-Rust
21 Gaziel: Nach Saloniki und Serbien. Eine Reise in
den Ersten Weltkrieg
Von Janika Gelinek
22 John Freely: Zurück nach Ithaka
Von André Behr
23 Martin Bossenbroek: Tod am Kap
Von Urs Bitterli
Jens Mühling: Schwarze Erde
Von Lukas Mäder
24 Georg Kreis (Hrsg.): Reformbedürftige
Volksinitiative
Von René Roca
Gerhard Paul: Das visuelle Zeitalter
Von Claudia Mäder
ALEXANDER JAMES
Lars Gustafsson: Doktor Wassers Rezept
Von Manfred Papst
6 Roland Schimmelpfennig: An einem klaren,
eiskalten Januarmorgen zu Beginn
des 21. Jahrhunderts
Von Judith Kuckart
7 Ben Lerner: 22:04
Von Martin Zingg
8 Lisa Owens: Abwesenheitsnotiz
Von Sandra Leis
9 Antje Rávic Strubel: In den Wäldern des
menschlichen Herzens
Von Stefana Sabin
Henri Lartigue: Das Leben ist bunt
Von Gerhard Mack
10 J. Paul Henderson: Letzter Bus nach Coffeeville
Von Simone von Büren
11 Alberto Nessi: Miló
Von Charles Linsmayer
Lisa Owens (S. 8) gilt als eine der interessantesten jungen
Stimmen der englischen Literatur.
25 Wolfgang Koydl: Die Bessermacher. Die Schweiz
kann’s einfach besser
Von Urs Rauber
26 Elisabeth Mixa et al. (Hrsg.): Un-Wohl-Gefühle
Von Walter Hollstein
Das amerikanische Buch
Douglas Brinkley: Rightful Heritage: Franklin D.
Roosevelt and the Land of America
Von Andreas Mink
Agenda
27 Franz Xaver Winterhalter: Maler im Auftrag
Ihrer Majestät
Von Manfred Papst
Bestseller April 2016
Belletristik und Sachbuch
Agenda Mai 2016
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E.Müller (fem.) Redaktion Claudia Mäder (cmd., Leitung), Simone Karpf (ska.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Bitterli, Hildegard Elisabeth Keller, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller,
Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Björn Vondras (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Raffaela Breda (Layout), Korrektorat St.Galler Tagblatt AG
Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 0442581111, Fax 0442617070, E-Mail: [email protected]
24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Roman Der am 3. April 2016 verstorbene schwedische Autor Lars Gustafsson spielt in seinem letzten
Werk nochmals alle seine Qualitäten aus: Heiterkeit, Virtuosität und Melancholie
DieGabedes
genuinenErzählens
Lars Gustafsson: Doktor Wassers Rezept.
Aus dem Schwedischen von Verena
Reichel. Hanser, München 2016.
144 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 14.40.
Von Manfred Papst
Wie Giuseppe Verdi mit seinem «Falstaff»
hat sich der grosse schwedische Autor
Lars Gustafsson mit einem Werk von
sublimer Heiterkeit von der Welt
verabschiedet. «Doktor Wassers Rezept»
ist ein verschmitzter erotischer Roman
über einen Hochstapler, in dem der Autor
hintersinnig mit seiner eigenen Biografie
spielt. Sein Protagonist, Doktor Wasser,
ist scheinbar mit sich und der Welt zufrieden: Er ist achtzig Jahre alt, saturiert
und verbringt seine Tage mit der Teilnahme an Preisausschreiben in allen
möglichen Zeitschriften. Am laufenden
Band gewinnt er Kaffeemaschinen,
Kreuzfahrten, Wellnesswochenenden in
Nobelhotels. Aber er löst seine Guthaben
nie ein. Es geht ihm einzig ums Spielen.
«Ich bin ein Gewinner», sagt er von sich.
Und er erinnert sich mäandrierend an
sein Leben. An verflossene Geliebte, die
er sich in verstörend intensiven Bildern
vergegenwärtigt.
Früh schon ist er ein Verführer und
Schwindler: Als junger Mann entdeckt er
die verweste Leiche eines ostdeutschen
Motorradfahrers in einer Böschung. Er
nimmt die Papiere des Verunglückten an
sich und legt sich eine neue Identität zu.
Er ist nun nicht mehr der Bursche, der in
einer Werkstatt für Autoreifen in der
schwedischen Pampa arbeitet oder sich
mit den richtigen Bolzen für defekte
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016
Bootsmotoren beschäftigt, sondern ein
junger aufstrebender Arzt. Natürlich ist
er schlau genug, um sich nicht in
fehleranfälligen Disziplinen wie der
Chirurgie zu verdingen. Er verlegt sich
auf die Schlafforschung. Da kann er
kaum etwas falsch machen, und da
macht er denn auch prompt Karriere.
Überschuss an Phantasie
Doktor Wasser erzählt seine unglaubliche Geschichte mit Verve und Witz.
Glücklich gehen wir ihm auf den Leim.
Ob seine erotischen Abenteuer alle so
stattgefunden haben, wie er es uns weismachen will, beispielsweise, wenn er
von der glasklaren Flüssigkeit berichtet,
die in reicher Fülle aus einem erigierten
Nippel in seinen saugenden Mund dringt,
mögen wir bisweilen bezweifeln. Doch
wenn er von Schrauben und in ihren
minimal voneinander abweichenden
Windungen spricht, dann wissen wir: Da
schöpft einer aus dem Vollen.
In «Doktor Wassers Rezept» begegnen
wir noch einmal all dem, was wir seit
Jahren an Lars Gustafssons Werk lieben.
Er ist ein intellektueller Autor, gewiss.
Aber er spielt sich nicht als solcher auf. Er
will und muss sich nichts beweisen. Er
schreibt mit Herzblut und doch federleicht. Seine Liebe gilt den Aussenseitern,
den schrägen, lebensuntüchtigen und
doch liebenswerten Existenzen, wie
etwa «Nachmittag eines Fliesenlegers»
zeigt, einer der schönsten Schelmenromane unserer neueren Literatur.
Lars Gustafsson war ein neugieriger
Mensch von hellem Verstand. 1936
wurde er in Mittelschweden geboren. Er
schlug eine akademische Laufbahn ein.
In Uppsala sowie in Oxford studierte er
Literatur, Philosophie und Soziologie.
Bevor er als freischaffender Erzähler,
Lyriker und Essayist in Erscheinung trat,
war er zehn Jahre lang Chefredaktor der
angesehenen Literaturzeitschrift «Bonniers Litterära Magasin». Zeit seines Lebens reiste er viel. In den frühen 1970ern
lebte er zwei Jahre in Berlin, von 1983 bis
2006 war er Professor in Austin, Texas.
Er war ein weltläufiger, gebildeter Mann
– und ein gläubiger, nach seiner Heirat
mit Alexandra Chasnoff (der zweiten
seiner drei Ehefrauen) im Jahr 1982 zum
Judentum konvertierter Mensch. Martin
Buber bedeutete ihm viel.
Zeit seines Lebens war Gustafsson ein
vielseitiger Autor. Virtuos spielte er auf
allen Klaviaturen. Er schrieb berührende
Gedichte und blitzgescheite Essays, hintergründige Erzählungen und schwebende – meist kurze – Romane. Im deutschen
Sprachraum könnte man ihn in seiner
serenen Energie am ehesten mit Hans
Magnus Enzensberger vergleichen, der
einige seiner frühen Werke übersetzt
hat, bevor sie in die guten Hände von
Verena Reichel gerieten. Dem deutschen
poeta doctus hatte er jedoch die Gabe
des genuinen Erzählens voraus. Das
Lehrhafte, das Enzensberger – in der
Tradition Lessings – bei allem Esprit stets
eignet, ist Gustafsson ganz fremd. Er
ist kein Didaktiker, sondern, so bewusst
er seine Texte auch konstruiert, ein
Mensch, bei dem stets ein Überschuss an
Phantasie und narrativer Potenz die
Sätze bestimmt. Besonders deutlich zu
sehen ist das in seinem fünfteiligen, 1972
bis 1978 entstandenen Romanzyklus
«Risse in der Mauer».
Wenn wir Lars Gustafssons zahlreiche
Bücher wieder hervornehmen, sehen wir
uns auf so heitere wie hintergründige
Weise mit unserer eigenen Geschichte
konfrontiert. Wir begegnen dem Geist
der Revolte der 1968er und der kurz darauf folgenden neuen Innerlichkeit, dem
Traum von einer besseren Gesellschaft
und dem Kampf mit unseren sexuellen
Neurosen. Die neuen Technologien
begegnen uns ebenso wie der Aufstand
gegen sie. Diesem leichtfüssigen Autor
sind die Ideen von Stanislaw Lem so
wenig fremd wie die Ängste von Günther
Anders.
Natürlich hätte er den Nobelpreis
bekommen müssen. Dass er ihn nicht erhielt, hat – wie bei seinem amerikanischen Kollegen Philip Roth – ausserliterarische, von den Zwängen und Taktiken
der Jury bestimmte Gründe. Er hat es
sich nicht verdriessen lassen: Denn er
war ein souveräner Geist, der immer wieder mit neuen Büchern überraschte, beispielsweise mit dem autobiografisch geprägten Werk «Frau Sorgedahls schöne
weisse Arme» (2008), einer einzigartigen
Zusammenführung von Geist und Eros,
aber auch mit der verspielten kleinen Enzyklopädie «Alles, was man braucht», die
er mit seiner dritten Frau Agneta Blomqvist verfasste.
LARS GUSTAFSSON / LAIF
Schwereloser Fabulierer
Mit viel Herzblut und doch federleicht erzählte Lars Gustafsson seine unvergleichlichen Geschichten.
Das Schweden unserer Dezennien hat
etliche bedeutende Autoren hervorgebracht, die glücklicherweise auch verlässlich ins Deutsche übersetzt wurden
und unsere Literatur enorm bereichert
haben – denken wir nur an den
schwerblütigen Per Olov Enquist und an
den enigmatischen Tomas Tranströmer.
Im Kreis seiner eminenten Kollegen war
Lars Gustafsson der Aufklärer und
Leichtfuss, der schwerelose Fabulierer.
Er hat uns immer trefflich unterhalten,
und er hat uns nie enttäuscht. «Ich bin
ein Gewinner. Ich bin gerade achtzig geworden»: So lauten die ersten Sätze von
«Doktor Wassers Rezept», dem Roman,
der nun zu Lars Gustafssons Vermächtnis
geworden ist. Der Autor ist nicht ganz
achtzig geworden; sechs Wochen fehlten
ihm noch zu seinem runden Geburtstag,
als er starb. Wir trauern um ihn. Er fehlt
uns. Zumal er auch in seinem letzten
Buch nochmals jene Ironie und melancholisch grundierte Leichtigkeit bewiesen hat, die wir so an ihm lieben. Die
Gründlichkeit im Detail, die Musikalität
der Sprache.
Kein anderer hätte uns entflammen
können für Bolzen eines Bootsmotors,
deren Bohrung um den Bruchteil eines
Millimeters von der Norm abweicht, weil
die britischen und die kontinentalen
Masse nicht identisch sind. Wenn Gustafsson uns solche Geschichten erzählt,
hängen wir an seinen Lippen wie selige
Kinder an jenen ihrer Märchenonkel. Der
sublime Intellektuelle und genuine Fabulierer mit den hellen, wachen Augen,
in denen sich die ganze Welt spiegelte,
hat uns verlassen. Sein Schreibtisch ist
leer. Doch seine wunderbaren Bücher begleiten uns weiter. Und unser Nobelpreis
gilt ihm. ●
24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Roman Der erfolgreiche deutsche Dramatiker Roland Schimmelpfennig hat erstmals einen Roman
geschrieben. Er spielt im heutigen Berlin und treibt seine Protagonisten in die Wildnis
AufderSuchenachdemWolf
begegnetderMenschsichselbst
Von Judith Kuckart
Wäre dieser Roman ein Theaterstück,
würde man folgende Eckdaten anführen:
In den wichtigen Rollen: der Schnee, die
Liebe, Alkohol, der Tod, viele, viele Menschen und die Stadt Berlin, oft dort, wo
sie ausfranst. In weiteren Rollen sieht
man stillgelegte Bahnhöfe, Baustellen,
Kneipen, Galerien, Ateliers, traurige
Wohnungen von Reichen und Armen.
Und der Plot? Ein Gewehr und ein Wolf
initiieren Handlungen, die sonst so nicht
stattgefunden hätten. Diese beiden
sprachlosen Hauptdarsteller stossen bei
eisigen Aussentemperaturen hitzige
Flucht– und Suchbewegungen von Menschen an. Roland Schimmelpfennig (geboren 1968) kommt vom Theater und hat
jetzt seinen ersten Roman geschrieben.
Doch hat es bereits Stücke von ihm gegeben, die auf dem Weg zur Prosa waren.
«Vorher/Nachher» zum Beispiel ist 2003
in der Regie von Jürgen Gosch am Deutschen Schauspielhaus Hamburg uraufgeführt worden.
Sein kurzer Roman «An einem klaren,
eiskalten Januarmorgen zu Beginn des
21. Jahrhunderts» ist also das Debüt eines
erfahrenen Handwerkers. Schimmelpfennig geht als Theatermann anders mit
der Zeit von Lesern um. Ökonomischer.
Die Höhepunkte sind gut gesetzt. Ein
Toter liegt im Schnee unter einem Hochstand. Zwei Kinder, kurz darauf mit dem
Gewehr des Toten im Gepäck, erfrieren
auf der Flucht vor ihrem trostlosen Alltag
fast auf einem Güterzug. Ein Bier wird in
einer trüben Bahnhofgaststätte gezapft,
auf den Tresen gestellt, und der, der es
6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016
bestellte, ein trockener Alkoholiker,
weiss, wenn er jetzt trinkt, wird er untergehen. Wenige Buchseiten später wird er
aus einer Kneipe geworfen und fällt dem
Jungen, der fast erfroren wäre, vor die
Füsse. Der Junge sagt «Papa!».
Tomasz aus Warschau, der ohne seine
Freundin Agnieszka nicht leben kann,
sichtet als erster gleich zu Beginn des Romans den Wolf, 80 Kilometer vor Berlin,
und macht ein Foto. Agnieszka verkauft
es an die Presse. Der Pächter eines
Spätkaufs im Prenzlauer Berg macht sich
GETTY IMAGES
Roland Schimmelpfennig: An einem klaren,
eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21.
Jahrhunderts. S. Fischer, Frankfurt am
Main 2016. 256 S., Fr. 28.90, E-Book 21.–.
Zwischen Stadt
und Wald bewegen
sich die Figuren in
Schimmelpfennigs
Roman.
daraufhin auf die Jagd nach dem Wolf
und merkt in der Begegnung mit dem
Tier, wie jämmerlich er plötzlich vor sich
selber dasteht. Es geht in diesem temporeichen Roman um Suche und Flucht,
um die Zugespitztheit zufälliger Begegnungen und die bittere Schärfe von Wiederbegegnungen. Mancher, der auf dem
Weg zu einem Menschen den Wolf getroffen hat, redet von dem Tier, als hätte
er Gott gesehen. Oder sich selbst – zum
ersten Mal. Die Vorgänge sind knapp
skizziert. Das hat – bis auf einige schwerfällige Rückblenden – eine schöne poetische Sachlichkeit. Einige Kapitel bestehen, wie ein Theaterstück, aus Dialogen.
Doch obwohl gesprochen wird, bleibt der
Eindruck, dass die Leute mehr miteinander schweigen, als dass sie reden. Das
Ungesagte wird später, in seinen Konsequenzen, erst sichtbar.
Der Roman von Schimmelpfennig ist
auch ein Berlin-Roman. Solche gab es
schon viele. Alfred Döblin, Bodo Morshäuser und Thomas Hettche fallen einem
ein. Aber die Art, in der Schreibende jetzt
diese Stadt erzählen, hat sich geändert.
Sie ist kein Ort im Herzen des Kalten
Kriegs mehr. Nicht nur der Geruch nach
Kohleöfen ist weitgehend verschwunden, sondern auch das Unfertige, Improvisierte, das, was diese Stadt lange wie
einen Abenteuerspielplatz für Erwachsene aussehen liess. Westberlin ist nicht
mehr Freaktown. Ostberlin ist nicht
mehr graue Hauptstadt der DDR. Ganz
Berlin glänzt glatt wie sein Hauptstadtbahnhof. Kaum eine Baulücke steht noch
offen. Was gilt noch, was nicht? Die Stadt
verdichtet sich, wird teuer und eng. Auch
dies setzt Schimmelpfennig unaufdringlich und unkommentiert mit seinem gut
gemachten und trotzdem rauen Plot in
Szene. Ja, der Wolf ist hungrig, und all
die Menschen, die ihm begegnen, auch.
Es ist ein Hunger nach Sinn. ●
Roman Mit «22:04» legt der New Yorker Autor Ben Lerner einen subtilen und bisweilen enorm lustigen
Roman vor, der sich auf dem schmalen Grat zwischen Fakt und Fiktion bewegt
WasdieKunstvomLebentrennt
Ben Lerner: 22:04. Aus dem Englischen
von Nikolaus Stingl. Rowohlt, Reinbek
2016. 314 Seiten, Fr. 25.90.
Ben Lerner: Abschied von Atocha.
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl.
Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2015.
256 Seiten, Fr. 13.90.
Von Martin Zingg
Es ist genau 22:04 h, als am 12. November
1955 der Blitz in die Rathausuhr von Hill
Valley einschlägt – und das ermöglicht
im Filmklassiker «Zurück in die Zukunft»
eine folgenreiche Zeitreise ins Jahr 1985.
Dieser entscheidende, alles verändernde
Moment hat es Ben angetan, dem Ich-Erzähler in Ben Lerners Roman «22:04»,
und auch in diesem Roman, wie im Film,
drängen sich die verschiedensten Zeiten
und Welten überraschend eng aneinander. Um die dünne und sehr durchlässige
Demarkationslinie zwischen «echt» und
«falsch», zwischen «jetzt» und «früher»
geht es in Ben Lerners grossartigem
Roman immer wieder. Um die Differenz
zwischen Fiktion und Nichtfiktion, zwischen Kunst und Leben.
Väter und Samenspender
Ben ist Autor, er schreibt Gedichte und
Essays, gelegentlich auch Katalogtexte,
und vor allem hat er einen ersten Roman
publiziert, der sehr erfolgreich war –
genau wie Ben Lerner, der Autor des
nun auf Deutsch vorliegenden Romans
«22:04». Auch Ben Lerner, Jahrgang 1979,
lebt in Brooklyn, auch er hat einen stark
beachteten Erstling veröffentlicht («Abschied von Atocha», inzwischen als Taschenbuch greifbar).
Die beiden, der Autor und sein Erzähler, haben einiges gemeinsam. Beide
leiden beispielsweise an einer Krankheit,
die sie permanent in Schach hält, nämlich am Marfan-Syndrom. Wegen einer
Instabilität des Bindegewebes des Körpers befürchten sie das plötzliche Zerreissen der Aorta. Und auch Ben hat 2012
eine Erzählung im Magazin «The New
Yorker» publiziert, die grosse Beachtung
gefunden hat.
Ein Verlag offeriert ihm, dem fiktiven
Ben, nun einen überaus üppigen Vorschuss für einen Roman, den er aus
dieser Erzählung entwickeln soll. Seine
Agentin rät ihm regelmässig, wie er vorgehen soll: Vor allem müsste er sich endlich an die Arbeit machen, denn Ben hat
eine Deadline, und die rückt immer
näher.
Zugleich aber wird New York von
einem schweren Sturm bedroht, der Bürgermeister organisiert erste Rettungsmassnahmen, die Menschen legen noch
schnell Vorräte an und stürzen in die Supermärkte. Auch Ben tut das, zusammen
mit seiner «besten Freundin» Alex, die er
aus gemeinsamen College-Tagen kennt.
Die beiden werden das Unheil entspannt
In Ben Lerners Roman
zieht ein Sturm über
New York auf, doch
der Held des Buchs
hat derweil noch ganz
andere Probleme.
überstehen, und Ben könnte sich bald
wieder dem Schreiben zuwenden. Doch
Alex möchte dringend ein Kind von ihm,
allerdings nur auf Umwegen, ohne mit
ihm zu schlafen. Mit Ben will sie nicht
zusammenleben, und sie weiss auch
nicht genau, ob sie in ihm einen
möglichen Vater sehen kann oder bloss
einen Samenspender. Aber ein Kind will
sie auf jeden Fall, und die Passagen, in
denen Ben in einer Klinik wiederholt
versucht, eine brauchbare, unverschmutzte Samenspende abzugeben,
sind von umwerfender Komik.
Schräg und subtil zugleich ist in diesem Roman vieles. Lerner schickt seinen
Ich-Erzähler wie eine Sonde in unterschiedlichste Realitäten. Seine Freundin
Alena etwa führt ihn in die New Yorker
Kunstwelt: Sie hat ein «Institut für Kunstwerke mit Totalschaden» gegründet und
versammelt darin Werke, die von einer
Versicherungsgesellschaft für «wertlos»
erklärt worden sind, weil sie «vom Status
der Kunst in den Zustand blosser Objekthaftigkeit zurückgestuft, aus dem Verkehr gezogen, vom Markt genommen»
worden sind. Kunst ist unter anderem
auch Verhandlungssache.
Im Roman geht es oft um Erinnerungen und um Identität. Um Zuschreibungen, um den bisweilen verzweifelten
Versuch, Klarheit zu schaffen in einer
Welt, die keine festen Konturen kennt.
Einmal begegnet der Protagonist einer
jungen Frau, Noor, die ihm erzählt, wie
sie nach dem Tod ihres Vaters erfahren
hat, dass dieser gar nicht ihr biologischer
Vater gewesen ist – und sie, in der Folge,
auch nicht eine «halbe» Libanesin. Sie
hat aus familiären Gründen Arabistik
studiert und den Kontakt mit der
Beiruter Familie ihres vermeintlichen
Vaters gepflegt, das Stipendium in Kairo
hat sie nun aber nicht angetreten. Sie
muss erst noch einiges klären. Wie Kunst
ist auch Identität bisweilen eine Verhandlungssache, und das wird in dieser
beiläufigen Passage auf eindrückliche
Weise erzählt.
Formale Vielfalt
Ben Lerner kann auf eine ungemein elegante und zugleich unterhaltsame Weise
Situationen beschreiben, in denen sich
wie von alleine auch ein Lebensgefühl zu
erkennen gibt. Interessant ist «22:04»
zudem wegen seiner formalen Vielfalt.
Lerner baut Gedichte in seine Erzählung
ein, er lässt seinen Protagonisten essayistische
Anmerkungen
einflechten,
macht kühne Sprünge wider alle Chronologie und vergisst trotzdem nichts. Und
so schauen wir Ben zu, wie er durch
seine Brooklyner Tage schlendert, wie er
Menschen trifft, sich gelegentlich verliert – und am Ende diesen Roman präsentiert, dessen Entstehung wir mitverfolgen konnten.
Einen Roman als Protokoll seiner Entstehung zu erzählen, ist nichts Neues,
zugegeben. Hier aber ist der Versuch auf
wunderbare Weise gelungen. Und Nikolaus Stingl hat ihm in seiner deutschen
Fassung eine präzise Frische und Geschmeidigkeit gegeben. ●
24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Roman Die junge Britin Lisa Owens erzählt in ihrem virtuosen Debüt, wie es ist, wenn jemand freiwillig
den Job kündigt und nach seiner Berufung sucht
VomVersuch,ausdem
Hamsterradauszubrechen
delt sich die Selbstzweiflerin in eine
rabiate Fussgängerin.
Zu Hochform läuft die scharfzüngige
Beobachterin in den Dialogen auf:
Ob Partygeplänkel, unnötiger Streit mit
Luke oder ätzende Fragen der Mutter –
Claire spiesst alles auf und zeichnet
gleichzeitig stimmige Porträts. Dabei
bleibt sie aber selber auch immer Teil
der Satire und hält uns einen Spiegel vor,
der abgründiger ist, als uns lieb sein
kann.
Lisa Owens: Abwesenheitsnotiz.
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
und Karen Witthuhn. Piper, München/
Berlin 2016. 288 Seiten, Fr. 26.90,
E-Book 16.–.
Von Sandra Leis
Während ehemalige Klassenkameradinnen bereits als Apothekerinnen arbeiten
und zwei kleine Kinder haben, tritt Claire
Flannery an Ort. Sie ist seit sieben Jahren
mit demselben Mann zusammen, doch
Heirat und Familiengründung schieben
die beiden vor sich her. Das wäre nicht
weiter schlimm, würde Claire mit Ende
zwanzig beruflich durchstarten. Dem ist
aber nicht so: Nach ein paar Gelegenheitsjobs und einer Anstellung im Bereich der «kreativen Kommunikation»
entscheidet sie sich für den Ausstieg:
«Ich glaube fest daran, dass jeder eine
Bestimmung hat.»
Claires Erfinderin, die Autorin Lisa
Owens, hat diese Bestimmung offenbar
gefunden: 1985 geboren und in Glasgow
und Hertfordshire aufgewachsen, lebt
sie in London und hat sechs Jahre lang
für Literaturagenturen und Verlage gearbeitet. Doch eines Tages hatte sie genug,
setzte sich an ihren ersten eigenen
Roman und gilt heute als eine der interessantesten jungen Stimmen Englands.
Zu Recht, denn Thema und Tonfall zeugen von einer eigenständigen literarischen Qualität.
«Not Working» ist ein amüsanter und
gleichzeitig zutiefst ehrlicher Roman
über das Leben ohne Job und hat in der
Verlagsszene bereits ein Jahr vor der Veröffentlichung für Entzücken gesorgt.
Fast zeitgleich mit dem englischen Original erscheint dieses Debüt nun in neun
Übersetzungen.
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016
PHOTONONSTOP / LOOK-FOTO
Vorsätze verpuffen
Als Claire noch einen Job hatte, stellte sie
sich oft vor, was sie alles tun würde,
wenn sie nicht mehr arbeiten müsste:
Sie könnte jeden Tag ins Fitnessstudio
gehen, endlich den «Ulysses» fertig
lesen, die Mechanismen der Wirtschaft
kapieren oder die moderne Kunst. Doch
diese Vorsätze verpuffen allesamt. Statt
dessen trinkt Claire mehr Alkohol, als ihr
gut tut, sie lässt die Wohnung verdrecken und sieht all ihre Schwächen wie
unter einem Vergrösserungsglas.
Ihr Freund Luke und auch ihr Vater
geben zwar Gegensteuer und unterstützen sie liebevoll, doch der grosse Rest
ihres Umfelds reagiert zunehmend gereizt auf ihre freiwillige Auszeit. Freunde
und Familie sprechen von «Luxus» oder
erklären in strengem Ton, dass in dieser
Gesellschaft jeder seine Aufgaben wahr-
Unkraut als Leitmotiv
Pause vom Arbeitsleben: Owens Hauptfigur kommt bei einer
Auszeit ins Grübeln.
nehmen müsse. Und Claire selbst konstatiert nach einer Weile: «Wenn ich ehrlich bin, komme ich mir die meiste Zeit
nutzlos vor: Es ist erschreckend, wie rasant und steil der Abstieg vom produktivenMenschenzureinerRaumverschwendung vonstatten ging.» Auf der Suche
nach einer sinnstiftenden Arbeit gerät
Claire in eine veritable Krise, und die Autorin Lisa Owens bringt das Kunststück
fertig, leichtfüssig und zugleich tiefsinnig darüber zu schreiben. In kurzen Kapiteln berichtet die Ich-Erzählerin über
ihr Leben und den Alltag in London.
Unter der Überschrift «Zebrastreifen»
beispielsweise notiert sie einen einzigen
Satz: «Du musst mich nicht über die
Strasse winken; das Gesetz sagt, du sollst
anhalten, und ich muss dir dafür nicht
danken.» In solchen Passagen verwan-
Claire und ihr Freund Luke sind zwei
Menschen, die viel verbindet und auch
einiges trennt. Sie sagt zu ihm, einem
talentierten Hirnchirurgen: «Du gehst
einer Arbeit nach, die du liebst und die
praktischerweise auch noch eine der
wichtigsten Arbeiten ist, die man machen kann. Wie soll ich da jemals mithalten?» Luke antwortet, Lisa brauche nicht
mitzuhalten, schliesslich hätten sie eine
Beziehung und seien ein Team. Das ist
nett gemeint, hilft ihr aber nicht weiter.
Denn Claire sucht nach ihrer Bestimmung, hat aber nicht die leiseste Ahnung, wohin die Reise gehen soll.
Das ist schwer auszuhalten. Und bleibt
so bis zum Ende dieses wunderbar schrägen Romans. Erst auf der allerletzten
Seite, im Epilog, wird klar, dass Claire
wieder einem Beruf nachgeht. Welchem,
bleibt offen – vermutlich ist sie Schriftstellerin. Claire steht früh auf, geht vor
der Arbeit laufen und notiert: «Ich laufe
(…), und in jeder Strasse explodieren (…)
leuchtend violette Buddleja-Sträusse
und tanzen im Wind: Gruppen von Fans,
die meinen Weg säumen und mich
anfeuern.»
Die Buddleja zieht sich leitmotivisch
durch den Roman «Abwesenheitsnotiz».
Auf der ersten Seite, das Kapitel ist mit
«Mauerblümchen» überschrieben, redet
ein wildfremder Mann auf Claire ein und
will ihr weismachen, dass sie die
Buddleja an ihrer Fassade unbedingt entfernen müsse. Ein solches Unkraut
könne das ganze Haus zerstören, ist der
Mann überzeugt. In der Tat: Die Buddleja
ist entweder ein gemeines und zerstörerisches Unkraut oder aber ein blühender
Gartenstrauch, der Menschen erfreut
und für Schmetterlinge ein Glücksfall ist.
Ähnlich verhält es sich mit der Arbeit: Sie
kann vernichten oder beglücken, und
manchmal ist sie einfach nur ein notwendiges Übel.
Zum Beispiel dann, wenn plötzlich das
Geld knapp wird. Das erlebt auch Claire
und kehrt für ein paar Wochen zurück in
ihren alten Job. Ein Dauerzustand kann
und darf daraus aber nicht werden. Zum
Glück, denn sonst wäre dieser Roman
wohl nie geschrieben worden. ●
Roman In ihrem neuen Episodenroman entwirft Antje Rávic Strubel einen Reigen aus verschiedenen
Liebesgeschichten und stellt die Grenze zwischen den Geschlechtern in Frage
Nichtsistfestgelegt
Antje Rávic Strubel: In den Wäldern des
menschlichen Herzens. S. Fischer,
Frankfurt am Main 2016. 272 Seiten,
Fr. 28.90, E-Book 21.–.
Von Stefana Sabin
Die Geschichten heissen «Der weisse Felsen», «Im Delta», «Sonnenbucht» oder
«Nachtwache am See» und spielen jenseits der Städte in den kalifornischen
Bergen, an skandinavischen Seen oder
auf einer Nordseeinsel unter meist extremen klimatischen Bedingungen. Denn
die Landschaft und das Wetter spielen
gewissermassen mit, wenn Leidenschaften und Begierden zu Taten werden:
«Über den Bergen hatte sich die Wolkendecke aufgelöst, und dort sah Helen hin,
und Faye, die ihren Blick bemerkte,
drehte sich ebenfalls um. Sie standen
dicht beieinander und sahen den Schnee
auf den Gipfeln.» Faye und Helen und die
anderen Figuren – Sara, Ute, Emily, René
– suchen nach Beziehungen jenseits herkömmlicher Paarschemata. So gibt René
auf einem ärztlichen Anamnesebogen
unter Unverträglichkeit «Schlimme Heterophobie» an.
zum anderen und von einem Land ins
andere, sondern auch von einer Geschichte in die andere hinüberwechseln,
durchkreuzen sich diese Geschichten
und ergeben ein narratives Ganzes, das
geschickt komponiert ist. Diese Komposition entspricht der titelgebenden Gattungsbezeichnung als «Episodenroman»
insofern, als sie aus mehreren leicht aus
dem Gesamtzusammenhang lösbaren
Geschichten besteht.
Die verschiedenen Handlungsfäden in
Strubels Roman folgen den Figuren über
Jahre hinweg auf ihren Partnerinnenwechseln und ergeben eine Art Beziehungsreigen, der sich in der allerletz-
ten Episode schliesst. Da taucht Katja,
die in der ersten Episode eine Trennung
vollzieht, als Katt wieder auf, der gerade
eine neue Beziehung eingeht.
Jenseits der Kartografie
Wie schon in ihren früheren Romanen
beschreibt Antje Rávic Strubel besondere
Beziehungskonstellationen und stellt als
Figuren eine Reihe von Frauen vor, die
sich «die uferlose Tiefe jenseits der
Kartografie» erschliessen wollen, wie
eine von ihnen sagt, und damit nicht
nur auf eine geografische, sondern auch
auf eine geschlechtliche Festlegung
hindeutet. ●
Henri Lartigue Fotograf der Leichtigkeit
Erotischer Roman
Die Geschichten, die von der Beziehungssuche dieser verschiedenen Figuren erzählen, sind weniger Liebes- als
vielmehr Verführungsgeschichten, die
um Lust und ihre Erfüllung kreisen und
in eine Sexszene münden. «Durch die
Buchten fiel zitterndes Licht über das
Wasser am Ufer, und eine Hand lag auf
ihrem Bauch. Eine leichte Berührung
unter der Bikinihose. Ein Frösteln der
Haut. Es war nicht ihre Hand.»
Wie in herkömmlichen Konstellationen übernimmt eine Figur die Initiative
und setzt dabei das Einverständnis der
anderen voraus. Immer wieder wird ein
sexuelles Erwachen vorgeführt, das den
vorherigen Lebensentwurf entschieden
verändert, und es wird eine untergründige Sehnsucht beschrieben, die sich in
einer sexuellen Handlung entlädt.
Vielleicht auch deshalb haftet den Liebesszenen eine weiche Gewalt an, die
eine stilistische Gratwanderung zum
Softporno der Unterhaltungsliteratur ist:
«René fing ihre Hände ab. Sie hielt die
Handgelenke fest, drückte sie gegen die
Wand, und Emily hatte den fremden Körper in ganzer Länge an ihrer nackten
Haut.»
Tatsächlich lässt sich der neue Roman
von Antje Rávic Strubel, dessen Titel auf
Ernest Hemingways «Über den Fluss und
in die Wälder» und zugleich an Carson
McCullers’ «Das Herz ist ein einsamer
Jäger» verweist, als erotischer Roman bezeichnen, insofern als das Verlangen und
seine Erfüllung im Mittelpunkt der jeweiligen Episodenhandlung stehen und
deren Spannung ausmachen. Aber da die
Figuren nicht nur von einem Kontinent
Der Vorhang hat ein lebhaftes Muster, das Licht wirft
durch die Jalousien Streifen. In dem Geflacker löst sich
die junge Frau fast auf. Man versteht sofort, dass der
Fotograf den Impressionismus liebte, und glaubt ihm,
wenn er sagte: «Ich war schon immer Maler. Folglich
sehe ich alles mit meinen Maleraugen.» Malerei will zumeist Farbe. Mit der hat Henri Lartigue (1894–1986) bereits vor dem Ersten Weltkrieg experimentiert, als die
Gebrüder Lumière Autochromplatten entwickelten, die
sich belichten liessen. Doch die Technik war zu langsam
für Bewegungen und die Ausrüstung schwer. Ab 1927
wandte er sich ganz der Schwarz-Weiss-Fotografie zu.
Für diese wurde der Sohn aus grossbürgerlichem Haus
bekannt und als der französischste unter den französischen Fotografen gefeiert, nachdem ihm das Museum
of Modern Art in New York 1963 eine Ausstellung gewidmet hatte. Damals war er 69 Jahre alt und hatte bereits
wieder Farbfilm verwendet. Gezeigt wurde diese Seite
seines Werks jedoch selten. Der Band versammelt eine
Auswahl seiner schönsten Farbbilder. Gerhard Mack
Henri Lartigue: Das Leben ist bunt. Schirmer/Mosel,
München 2016. 168 S., 100 Farbabb., Fr. 37.90.
24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Roman Der Brite J. Paul Henderson kann sich nicht entscheiden, ob er ein schräges Roadmovie
entwerfen oder ein gelehrtes Buch über die amerikanische Geschichte verfassen will
ImTourbusvonPaulMcCartney
J. Paul Henderson: Letzter Bus nach
Coffeeville. Aus dem Englischen von
Jenny Merling. Diogenes, Zürich 2016.
520 Seiten, Fr. 33.90, E-Book 27.–.
Von Simone von Büren
In der ersten und letzten Szene von
J. Paul Hendersons Debütroman «Letzter
Bus nach Coffeeville» sitzt die Hauptfigur Doc auf einer Veranda und fragt sich,
ob die Vögel falsch singen. Am Anfang
trinkt er Kaffee, befiehlt den Vögeln, die
Schnäbel zu halten, und schlägt die Zeit
tot. Am Ende trinkt er Bourbon, findet,
die Vögel sängen wunderschön, und
bringt sich dann um. In der Zwischenzeit
passiert nicht viel. Denn Doc ist ein
fürchterlicher Langweiler: Er wurde
Arzt, weil ihm nichts Besseres in den
Sinn kam; er fand «die einzige Erfüllung
im Entfernen von Ohrenschmalz» und
würde vom Leben nur Zigaretten und
Whiskey vermissen.
Die einzige tiefgreifende Entscheidung trifft Doc, als er seiner Freundin
Nancy als Student verspricht, sie umzubringen, sollte der in ihrer Familie vererbte Alzheimer ihre Persönlichkeit zu
verändern beginnen. Gut fünfzig Jahre
später ist Nancys mentaler Zustand verwirrt genug, dass das Versprechen eingelöst wird. Der 72-jährige Doc entführt sie
also mit Hilfe einiger Kumpel aus der
geschlossenen Abteilung eines Pflegeheims in Maryland und fährt sie in einem
ehemaligen Tourbus von Paul McCartney auf die Farm in Mississippi, auf der
sie sterben will.
Seriöse Materialsammlung
Die Reise wäre so langweilig wie Doc und
die in klischierter Verwirrung versunkene Nancy, sässen im Bus nicht noch
Docs Patensohn Jack, ein desillusionierter Wetteransager in einer Midlife Crisis;
der Waisenjunge Eric, der die Toten in
der Bibel zählt (er kommt auf 2 571 109)
und seine Cousine sucht, die sich in Ten10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016
J. Paul Henderson
schickt eine bunt
gemischte Aussenseitertruppe auf
eine Reise über die
Holperstrassen der
USA.
nessee als Stripperin durchschlägt. Und
der Afroamerikaner Bob, der Doc und
Nancy schon als junge Bürgerrechtsaktivisten in einem Bus durch die USA gefahren hat und der seither unter anderem
Rebell, Auftragsmörder der Regierung,
Dokumentenfälscher und Künstler war.
Wie es sich für ein amerikanisches
Roadmovie – und ein solches will «Letzter Bus nach Coffeeville» offensichtlich
sein – gehört, geraten die Ausreisser wiederholt in Konflikt mit dem Gesetz,
schlittern Schotterpisten herunter und
verfrachten betäubte Gegenspieler in
LKW. Spannend wird es dabei kaum.
Dafür ist der Erzähler zu sehr damit beschäftigt, gleichzeitig irgendwelche Banalitäten zu klären und Meilensteine der
amerikanischen Geschichte zu vermitteln, so dass sich der Text auch in der von
Henderson gekürzten Fassung, die der
deutschen Übersetzung zugrunde liegt,
auf langen Strecken wie eine seriös redigierte Materialsammlung liest.
Teilweise lässt sich dies durch die
schiere Stoffmenge erklären, die der
68-jährige Engländer verarbeitet: neben
der autobiografischen Erfahrung mit seiner alzheimerkranken Mutter auch sein
Amerikanistikstudium und seine Dissertation über Darlington Hoopes, den letzten sozialistischen Präsidentschaftskandidaten der USA. Henderson schlägt den
Bogen von den Aufständen der Minenarbeiter West Virginias in den 1920er-Jahren über die Abschaffung der Rassentrennung an staatlichen Schulen 1954
und die Militärinterventionen im Kongo
und in Vietnam zur Registrierung
schwarzer Wähler in Mississippi in den
1960er-Jahren. Auch an kulturgeschichtlichen Referenzen fehlt es nicht: Erics
Cousine arbeitet im Elvis Theme Park
«Graceland», Doc sieht aus wie der Grossvater in der Fernsehserie «The Waltons»,
Nancy heiratet den Vizepräsidenten der
Hershey-Schokoladenfabrik.
Das ist alles durchaus interessant. Und
dass die Reise mit einer vergessenden
Figur zu kollektiver Erinnerung Anlass
gibt, besticht ebenso, wie dass Nancys
Demenz längst überholte gesellschaftliche Zustände unvermittelt in die Gegenwart einbrechen lässt. Aber Henderson
gelingt es nicht, das wissenschaftlich
Angeeignete literarisch zu formen. Seine
Figuren bleiben trotz einschneidender
Erfahrungen Charakterskizzen ohne Entwicklung und wirken wie niedliche
Kunststoffkopien der harten und heruntergekommenen Typen in Texten von
E. L. Doctorow oder Willy Vlautin.
Mit zynischer Stimme
Und sie klingen noch jämmerlicher in banalen Dialogen und plumpen Äusserungen im Stil von «Der strenge Calvinismus
seiner Jugend beschränkte sich zwar
mittlerweile auf das Tragen von CalvinKlein-Unterwäsche». Wobei man oft
nicht weiss, ob solche Bemerkungen der
Figur oder dem Erzähler in der dritten
Person zuzuschreiben sind. Überhaupt
fragt man sich immer wieder, wer da erzählt. Wem gehört diese immer gleich
zynische Stimme, die doch keine eigene
Identität entwickelt? Wer ist zuständig
für die Pseudowitze, die sprachlichen
Unzulänglichkeiten und die vermischten
Metaphern: «Ihr Geist war von Flechten
und Moos überzogen wie ein alter Grabstein, und die Tür zu ihrem Gedächtnis
war nur noch einen Spaltbreit offen. (...)
Der Nebel in ihrem Kopf riss jedoch
immer mal wieder auf.»
Einzelne Episoden in Bobs Vergangenheit sind in ihrer Absurdität dann doch
unterhaltsam. Etwa als Bob Che Guevara
und Fidel Castro darüber streiten hört,
wer den dichteren Bart habe. Überhaupt
gewinnt man den Eindruck, dass es Henderson eigentlich um Bob geht, dessen
Biografie er eng verwebt mit den brisanten gesellschaftspolitischen Entwicklungen in der jüngeren amerikanischen Geschichte. Und auch als Leser hält man
sich an den widerspenstigen Identitätenwechsler, nicht zuletzt, weil er vom
Leben ganz sicher mehr vermissen
würde als Zigaretten und Bourbon. ●
Erzählungen Der Tessiner Alberto Nessi
schreibt in leuchtender Sprache über
Flüchtlinge, Deserteure und Bauern im
Mendrisiotto
Unter kleinen Leuten
Kurzkritiken Belletristik
Jean-Philippe Toussaint: Fussball.
D. von Joachim Unseld. FVA, 2016.
128 Seiten, Fr. 26.90, E-Book 14.90.
Franziska Gerstenberg: So lange her, schon
gar nicht mehr wahr. Schöffling, 2016.
240 S., Fr. 28.90, E-Book 17.90.
Aus Belgien kommt auch Gutes. Freunde
der Kulinarik mögen an Bier denken,
jene der Kultur an Jean-Philippe Toussaint. Der 58-Jährige schreibt Romane,
macht Filme – und begibt sich gelegentlich auch in Fussballstadien. Mit der ihm
eigenen Liebe zum Detail und zur Lakonie berichtet er hier über WM-Spiele von
Japan bis Brasilien. Den letzteren wollte
er sich entziehen und sich ganz aufs
Schreiben konzentrieren, doch konnte er
der Magie des Moments nicht widerstehen und verfolgte die Partien bald auf
jenem Bildschirm, der sonst den Fortschritt seiner Bücher anzeigt. Die Vereinigung der beiden Sphären ist das Programm des Texts, denn wenn Toussaint
über Fussball schreibt, ist auch Literarisches im Spiel: Gefühle aus der Kindheit,
der Umgang mit Erinnerungen oder das
Verrinnen der Zeit, das beim fiebernden
Verfolgen eines Matchs kurz stoppt.
Ganz wie beim Lesen eines guten Buchs.
Franziska Gerstenbergs Königsdisziplin
ist die Erzählung. Mit den Sammlungen
«Wie viel Vögel» (2004) und «Solche Geschenke» (2007) ist die 1979 in Dresden
geborene Autorin, die am Literaturinstitut Leipzig studiert hat, bekannt geworden. 2012 folgte der Roman «Spiel mit
ihr». Nun kehrt die Schriftstellerin wieder zu dem zurück, was sie am besten
kann: zur lakonischen Geschichte, die
vieles offen lässt, aber durch atmosphärische Dichte besticht. Auch in ihren acht
neuen Erzählungen berichtet sie vom
Einbruch des Unheimlichen in den Alltag, von oft nur kleinen Ereignissen, welche dem Leben ihrer Figuren eine neue
Wendung geben. Wieso macht Sonja
ihrem Garagisten aus heiterem Himmel
einen Heiratsantrag? Und wieso behauptet eine Stalkerin, sie habe ein Kind von
Margas Mann? Wir dürfen uns bei Franziska Gerstenbergs Geschichten unseren
Teil denken, und das ist gut so.
Alberto Nessi: Miló. Aus dem Italienischen
von Maja Pflug. Limmat, Zürich 2016.
232 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 29.90.
Von Charles Linsmayer
Als 1984 mit «Terra matta» im LimmatVerlag der Prosaerstling des 1940 geborenen Tessiner Lyrikers und Gymnasiallehrers Alberto Nessi erschien, erkannte
Alice Vollenweider dessen Figuren im
Gegensatz zu jenen von Giovanni Orelli,
Piero Bianconi und Plinio Martini «einen
fröhlichen Eigensinn, eine vitale Hartnäckigkeit und eine Lust an der Auflehnung» zu. Eigenschaften, die sich 30
Jahre später im wiederum vom LimmatVerlag auf Deutsch publizierten Erzählband «Miló» wiederfinden. Insbesondere
auch in der Figur des Partisanen Emile
Lexert in der Titelgeschichte. Einer Erzählung, die nicht nur das Schicksal des
in Lausanne aufgewachsenen, in rebellischer Allüre zum Kämpfer gegen Mussolini gewordenen und kurz vor Kriegsende gefallenen Sohnes einer Zigarrenarbeiterin nachvollziehbar macht, sondern
auch die Epoche des italienischen Faschismus in gleissendes Licht taucht.
Vom dokumentarischen Realismus
der erwähnten Vorbilder ist der Text wie
auch die andern siebzehn des Bandes allerdings weit entfernt. Da steigern rhapsodische Gedichte die Dramatik des Geschehens, während aus lyrischen Bildern
Magie entsteht. Wenn Milós Mutter wie
eine gegen den Wind kämpfende Möwe
dem Genfersee entlang eilt, wenn Mädchen «lächeln wie das Wasser im Wald»
oder Miló im Gefängnis sich vorstellt,
mit einem Eindecker Savoyen zu überfliegen und seine Mutter auf blühende
Weidenröschen abzusetzen.
Die meisten Geschichten spielen unter
Flüchtlingen und Emigranten, Deserteuren, aber auch alten Bauern oder kleinen
Dieben im Mendrisiotto, dem Grenzgebiet zu Italien. Und ihre stupende
Authentizität steigert sich weiter,
wenn eigene Erinnerungen dazukommen. Etwa jene an den
früh verstorbenen Vater in
«Forever». Ein Fussballfan, der
in der Zeitung Nachrufe schrieb
und Nessi etwas Zentrales vermittelt haben muss: «Ich glaube, dass der Wunsch zu schreiben aus dem Tod erwächst.
Aus dem Bewusstsein
des Endes aller
Dinge.» So dass es
dem Sohn vorkommt, als sähe
der Vater, «schon
ins Jenseits ausgewandert, wo alles
klarer wird», ihn
hier «sein Werk des
Chronisten weiterführen». ●
Claudia Mäder
Manfred Papst
Julia Deck: Winterdreieck.
D. von Antje Peter. Wagenbach, 2016.
144 S., Fr. 26.90, E-Book 16.90.
Benjamin Black: Tod im Sommer. D. von
Andrea O’Brien. Kiepenheuer & Witsch,
2016. 270 S., Fr. 21.90, E-Book 14.90.
Eine junge Frau schmeisst ihren Job als
Verkäuferin für Haushaltsgeräte in Le
Havre hin und bedroht ihren Chef, der ihr
den Urlaub verwehrt, mit einem Mixer.
Was wie ein Slapstick beginnt, entpuppt
sich als raffiniertes literarisches Spiel in
der Tradition des Nouveau Roman. Julia
Deck, 1974 in Paris geboren, entwirft in
ihrem zweiten Roman nach dem vielbeachteten Debüt «Viviane Élisabeth
Fauville» eine raffinierte Dreiecksgeschichte. Ihre Protagonistin, die sich
nach einer Filmfigur von Eric Rohmer Bérénice Beaurivage nennt und beschliesst,
Schriftstellerin zu werden, beginnt eine
Affäre mit einem Mann, dem sie immer
unheimlicher wird. Ist sie verrückt, hat
sie ihr Gedächtnis verloren? Gibt es sie
nur in der Fiktion? Es wird uns schwindlig bei der Lektüre, wir wissen nicht
mehr, was wir glauben dürfen, doch lassen wir uns das sehr gern gefallen.
Wenn der grosse irische Autor John Banville Kriminalromane schreibt, nennt er
sich Benjamin Black. Acht Bücher hat er
allein schon dem Gerichtsmediziner
Quirke gewidmet, der zusammen mit Inspektor Hackett ermittelt. «Tod im Sommer» spielt im Dublin der 1950er-Jahre.
Der steinreiche Zeitungsverleger Richard
Jewell wird tot aufgefunden. War es
Mord oder Selbstmord? Die Ermittler halten es für unmöglich, dass jemand sich
mit einer Schrotflinte erschiesst und die
Waffe danach noch in den Händen hält.
Sie gehen von Mord aus und stossen auf
eine Fährte: das Waisenhaus St. Christopher’s, in dem Quirke aufgewachsen ist
und das Jewell als Gönner unterstützte.
Aber waren seine Interessen wirklich nur
die eines Wohltäters, oder hatte er mit
den Knaben Böses vor? Banville alias
Black schreibt einmal mehr spannend,
souverän und routiniert.
Manfred Papst
Gundula Ludwig
24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Essay
Ein uraltes Manuskript führt zu einem guten Ende: Unlängst wurde ein neuer Schluss von
«Tausendundeine Nacht» aufgefunden – er beschreibt das Glück, das auf die letzte Nacht folgt.
Und ein Blick ins Märchen zeigt die Macht, die das Erzählen über unser Leben hat. Von Alfred Messerli
Mit1001Geschichten
gegen
denTod
Ganz neu ist dieses glückliche Ende der Geschichte nicht: Der frisch vorliegende Schluss
von «Tausendundeine Nacht» basiert auf einem
Manuskript, das sich in der Raşit-Efendi-Bibliothek in Kayseri befindet und 1949 durch den Orientalisten Hellmut Ritter (1892–1971) erstmals
beschrieben wurde. Ritter liess damals einen
Mikrofilm der Handschrift anfertigen, der aber
weitgehend unbeachtet blieb. Erst als dieser Mikrofilm vor einigen Jahren digitalisiert und ins
Netz gestellt wurde, erwachte das Interesse der
Wissenschaft, und auch dasjenige der Übersetzerin und Arabistin Claudia Ott.
Es stellte sich heraus, dass es sich bei der Kayseri-Handschrift um ein Fragment handelt, das
die Erzählungen der 880. bis zur 1001. Nacht
enthielt. Diese Nächte sind zwar auch aus anderen Handschriften bekannt. Das Besondere der
vorliegenden Fassung ist aber ihr ausführlicher
Schluss: Während dieser gewöhnlich knapp auf
Scheherezades Schwangerschaft und Geburt
verweist, wird hier auf zwanzig Seiten das
Glück, das auf die 1000. Nacht folgt, ausgekostet. Die als Stichwortgeberin assistierende
Schwester Schahrasads (so heisst sie hier) findet
in diesem Schluss ebenso ihre Würdigung wie
die prächtige Doppelhochzeit, der Brautschmuck
und die Gewänder. Dieser Schluss der Rahmenerzählung ist selten überliefert, und wenn man
die letzten 120 Nächte auch aus anderen Fassungen kennt, ist die Kayseri-Handschrift der bei
Das Ende der Nächte
Das Manuskript aus Kayseri, einer Millionenstadt
in Zentralanatolien, lag bis zu seiner Entdeckung
etliche Zeit in einem falsch beschrifteten Schuber und ist von Claudia Ott nun erstmals in Übersetzung zugänglich gemacht worden. Es enthält
die letzten 120 Nächte des Zyklus sowie das ausführliche Ende der Rahmenerzählung, über das
bis anhin kaum etwas bekannt war.
Claudia Ott: Tausendundeine Nacht. Das
glückliche Ende. C.H. Beck, München 2016.
428 Seiten, Fr. 30.90, E-Book 22.–.
Lesestoff für Erwachsene
Die einzelnen Erzählungen und Märchen sind in
eine Rahmenerzählung eingebunden. Nachdem
seine Frau ihn mit einem schwarzen Sklaven betrogen hat, nimmt König Schehrijar von Samarkand am ganzen weiblichen Geschlecht Rache.
Jeden Tag heiratet er eine Frau und lässt sie nach
der Hochzeitsnacht hinrichten. Erst der klugen
Tochter des königlichen Wesirs, Scheherezade,
gelingt es, den König durch ihre Erzählungen so
zu fesseln, dass er am Ende auf seine Rachepläne verzichtet. Wenn auch viele Erzählungen
mehrere Nächte dauern, so kommen auch kurze
Geschichten vor, ja Kürzestgeschichten, von
denen mehrere auf eine Nacht gehen. Die Textsorten reichen dabei von Novel-lenmärchen und
Exempla über Schwänke und Tierfabeln bis zu
Anekdoten und Witzen. Das kommt einem bei
der ersten Lektüre vertraut vor. Aus den
«Kinder- und Hausmärchen» von Jacob und
Wilhelm Grimm kennen wir etwa Tiermärchen
wie das «Lumpengesindel» oder die «Bremer
Stadtmusikanten».
Gegenüber ihren arabischen Vorfahren nehmen sich diese allerdings wie die armen bäuri-
Die tierischen Helden in
«Tausendundeine Nacht»
sind mit dem Koran vertraut,
den sie zur Richtschnur ihres
Handelns erheben oder
heuchlerisch missbrauchen.
schen Verwandten aus. Die tierischen Helden im
«Glücklichen Ende» in «Tausendundeine Nacht»
sind mit dem Koran vertraut, den sie zur Richtschnur ihres Handelns erheben oder heuchlerisch missbrauchen. Gebete haben auch in der
Tierwelt ihre Geltung, ebenso rituelle Waschungen. Es eignet ihnen etwas Urbanes; die Tiere
wissen zu sprechen, sie denken nach und verfügen über eine differenzierte Psychologie, auch
wenn sie sich dann als abgefeimte Bösewichte
herausstellen sollten.
Überhaupt – da der Name der Grimms schon
gefallen ist – «Das glückliche Ende» ist definitiv
Literatur für Erwachsene. Wenn auch mitunter
Metaphern aus dem Bereich des Handwerks den
Geschlechtsakt spielerisch und verrätselnd umschreiben, so überwiegt doch die schlichte Feststellung des Sachverhaltes mitunter auch die
drastischste Inszenierung.
Fuchs und Bär im Weinberg
Formal zeichnet sich der Text durch eine starke
Verschachtelung aus. Sie ist das Gliederungsprinzip, das in seinen Wucherungen und
Wurzelbildungen das vernünftige Mass mitunter übersteigt. So lässt Schahrasad den Wesir des
Königs Schadbachts auftreten, der, ebenso wie
sie, während dreissig Nächten um sein Leben erzählen muss. Die verschachtelten Geschichten
reflektieren die Rahmengeschichten und umgekehrt. In der Erzählung «Fuchs und Bär im Weinberg» (888. bis 890. Nacht) nimmt der Fuchs
Rache am tyrannischen Partner. Als der Bär, aus
der Grube heraus, den Fuchs bittet, ihn zu befreien, antwortet dieser mit einer weiteren
▲
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016
weitem älteste Textzeuge und geht wohl auf die
Zeit um 1500 zurück.
Die Textgeschichte von «Tausendundeine
Nacht» an sich ist schon abenteuerlich genug.
Einen Grundbestand von über 300 Geschichten
indischen Ursprungs lieferte die persische
Märchenanthologie «Tausend Abenteuergeschichten», die im 10. Jahrhundert, aber wahrscheinlich schon früher, ins Arabische übertragen wurde. Im Jahr 1000 waren die «Tausend
Nächte» dann zum ersten Mal vollständig vorhanden. Bis ins 16. Jahrhundert wurde diese
Sammlung ständig erweitert und neu angeordnet. Durch die französische Übersetzung (1704
bis 1717) des Orientalisten Antoine Galland
(1646–1715) wurde die Geschichtensammlung in
Europa bekannt, und eine beispiellose Erfolgsgeschichte setzte ein. Aber auch die Gallandsche
Übersetzung ist nur ein Fragment; sie umfasst
drei von vielleicht insgesamt zwölf Bänden und
bricht mit der 282. Nacht ab.
INTERFOTO
Ihre fesselnde Erzählkunst bewahrt die kluge Scheherezade (hier in einer Illustration von Edmund Dulac) vor der Hinrichtung.
24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Essay
Tiergeschichte: «Für mich ist das, was du sagst
und tust, dasselbe wie bei dem Falken, der sich
einmal mit einem Rebhuhn unterhielt.» Und natürlich will der neugierig gewordene Bär trotz
seiner hoffnungslosen Lage wissen, was denn
die beiden miteinander geredet haben.
Die Handlung wird so durch eine Erzählung
unterbrochen. Durch diese Unterbrechung wird
einerseits Spannung – die Unterbrechung ist ja
dasjenige Prinzip, das Schahrasad am Leben hält
– aufgebaut. Noch im abgebrühtesten Western
kriegt der Bösewicht nicht sogleich die verdiente Kugel, sondern es wird ihm zugestanden,
seine Version zu erzählen. Eine Geschichte vermag also den Tod hinauszuzögern. Und weil wir
so erpicht auf Geschichten sind, entwischen uns
am Ende noch die Bösewichte.
Eine Situation beziehungsweise den Charakter
des Bären narrativ zu entwickeln, so wie es der
Fuchs im genannten Beispiel tut, zeigt darüber
hinaus auf eindrückliche Weise die Leistungsfähigkeit von Geschichten. Der Homo narrans versteht die Welt nur in und durch Geschichten und
kann sie anderen nur in und durch Geschichten
erklären. Denn wir denken in Geschichten. Uns
an diese unsere Grenzen und Möglichkeiten zu
erinnern, ist nicht das kleinste Verdienst der
vorliegenden Sammlung.
Bei Anbruch des Morgengrauens hört Schahrasad jeweils mit Erzählen auf. Dabei wird nicht
immer eine Geschichte unterbrochen, sondern
das Ende einer Geschichte fällt mitunter mit
dem Ende der Nacht in eins. Immer aber wird
eine spannendere und noch aufregendere und
noch lustigere neue Geschichte für die kommende Nacht in Aussicht gestellt oder aber die Fortsetzung der unterbrochenen.
An dem «glücklichen Ende» ist auch eine Ökonomie des Erzählens zu bewundern, ein haushälterischer Umgang mit den einmal gewählten
Elementen und Motiven. Nichts ist zu viel,
nichts zu wenig. Diese erzählerische Ökonomie
zeigt sich auch als Wiederholung. In einem
Streich in der 913. Nacht legt der Schelm
Musabbid, eine Art arabischer Till Eulenspiegel
– wenn auch ungleich sympathischer –, einen
Dieb herein, der ihm seine Silberdirhams maust,
und verhöhnt ihn am Ende. Der gleichen Geschichte, wenn auch etwas anders erzählt, begegnen wir in der 937. Nacht und der darauffolgenden. Das Personal ist ausgewechselt, statt
Musabbid wird am Anfang ein Irrer bestohlen,
und der Dieb ist hier ein Stadtstreicher. In beiden Fällen ist es aber die Gier nach einer noch
umfangreicheren Beute, die beide Übeltäter zu
Fall bringt.
Auch Objekte und Dinge finden in den Erzählungen nur dort Erwähnung, wo sie notwendig
und also funktional sind. Umso mehr vermag
dann das kleine überraschende Detail zu fesseln, das mit seinem «effet de réel» (Roland
Barthes) Tiefenschärfe schafft. In der Geschichte «Der Verliebte und sein Lehrer» (919. bis 922.
Nacht) wird das Sklavenmädchen vom Verliebten und dem Kammerherrn über das Dach mittels eines Seiles befreit, an dessen einem Ende
eine Pflugschare befestigt war. Nachdem sie das
Seil nun verankert hatte, «schlang sie die Ärmel
Der Homo narrans versteht
die Welt nur in und durch
Geschichten und kann sie
anderen nur in und durch
Geschichten erklären. Denn
wir denken in Geschichten.
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016
BIBLIOTHEK / RAŞIT EFENDI, CLAUDIA OTT / KAYSERI 2015
Gesamtschau des Menschlichen
Abbildung der Kayseri-Handschrift (oben), die in der türkischen Raşit-Efendi-Bibliothek (unten, um 1900) liegt.
ihres Gewandes um ihre Handflächen und liess
sich an dem Seil herab, bis sie bei ihnen angelangt war».
Die «Welthaltigkeit» (Max Lüthi) dieser Geschichten und Märchen zeigt sich in ihrer
anthropologischen Vollständigkeit, die jede
Form von Intrige, Betrug, Eifersucht, Verrat,
Hässlichkeit, aber auch Herzensgrösse und umfassende Liebe einschliesst. Das menschlich
Denkbare wird hier narrativ verhandelt. Nur so
ist erklärbar, dass diese Erzählungen aus der
Zeit, als bei uns die Renaissance das Spätmittelalter abgelöst hatte, uns nachhaltig und bis
heute zu fesseln vermögen.
Man verfolgt mit Spannung etwa das Schicksal der Heiligen in «Die treue Frau des Mekkapilgers aus Nischapur» (939. bis 943. Nacht), die
gesteinigt wird, weil der Bruder des abwesenden Mekkapilgers, der sie begehrt, aber hartnäckig abgewiesen wird, sie bei den «Leuten von
der Moschee» verleumdet. Diese und andere
böse Taten führen jeweils zur Erkrankung der
Männer, die sie begehen. Um wieder zu gesunden, müssen sie ihre Taten der Heldin am Ende,
nachdem sie Königin geworden ist, bekennen.
Die Einsicht in das eigene Tun, das Sündenbekenntnis, eine gleichsam therapeutische Handlung, spiegelt die vorangehenden Erzählsequenzen und verweist einmal mehr auf den kunstvollen Bau dieser Geschichten.
Und dann ist man plötzlich wieder in unsere
Gegenwart versetzt. Eine Frau will von ihrer
Nachbarin wissen, warum Frauen nur einen einzigen Mann heiraten dürfen und es ihnen nicht
einmal erlaubt sei, einen Sklaven als Liebhaber
zu halten, währenddem ein Mann vier Frauen
heiraten dürfe und darüber hinaus so viele Konkubinen und Freudenmädchen nehmen könne,
wie es ihm passe. «Das kommt», antwortet die
Nachbarin, «weil alle Propheten, Heiligen, Kalifen und Kadis Männer waren», und die hätten
sich die Gesetze so gemacht, wie es ihnen passt
(911. Nacht).
Dem Befremdlichen seinen Platz
Claudia Ott führt den Leser sicher durch den
Text. Ihre umsichtige Übersetzung ist genau und
knapp. Das hat sowohl mit ihren Kenntnissen
der arabischen Literatur und Kultur zu tun, als
auch mit ihrem souveränen Umgang mit der
deutschen Sprache. Das Fremde und Befremdliche lässt sie, wenn notwendig, an ihrem Platz
stehen. Gegenüber dem «Trenner der Vereinten» und dem «Zerstörer der Genüsse» (das Ende
von «Die Elster als Schicksalsvogel», 908. bis
909. Nacht) ist unser europäischer Tod geradezu
ein gemütlicher Geselle. Sie bietet darüber hinaus ein einführendes Nachwort mit Abbildungen der Handschrift, ein Glossar und Erläuterungen zu Transkription und Aussprache arabischer Wörter. Die schöne Ausstattung durch den
Verlag C. H. Beck erinnert uns wieder einmal
daran, was Bücher sein können; man möchte
das «glückliche Ende» in seiner Bibliothek, ob
virtuell oder analog, nicht mehr missen. ●
Alfred Messerli ist Professor für Populäre Kulturen an der Universität Zürich und dort u.a. auf
Historische Erzählforschung spezialisiert.
Kolumne
Charles LewinskysZitatenlese
Es wäre gut, Bücher zu
kaufen, wenn man die
Zeit, sie zu lesen,
mitkaufen könnte.
Kurzkritiken Sachbuch
Reinhard Krüger: Der Stinkefinger.
Kleine Geschichte einer wirkungsvollen
Geste. Galiani, 2016. 176 Seiten, Fr. 22.90.
Léon Werth: 33 Tage. Ein Bericht.
S. Fischer, 2016. 206 Seiten, Fr. 28.90,
E-Book 21.–.
Was haben Yanis Varoufakis, Stefan Effenberg und Johnny Cash gemeinsam?
Alle drei erlangten mit einer bestimmten
Geste mediale Aufmerksamkeit, provozierten gar kleinere bis grössere Skandale. Die Rede ist vom ausgestreckten
Mittelfinger. Die Geschichte dieser Beleidigungsgeste skizziert der Semiotiker
Reinhard Krüger in seinem Buch mit
Anekdötchen von der Antike bis zur Neuzeit. Die obszöne Geste übt ohne Zweifel
eine grosse Faszination auf Krüger aus –
so schreibt er ausführlich über die kulturellen und geografischen Varianten der
«phallischen Geste». Vielleicht ist der
symbolische Verweis auf das männliche
Geschlechtsteil auch der Grund, weshalb
die Geste vorwiegend von Männern benutzt wird – zu diesem Schluss kommt,
wer die Beispiele und Bilder im Buch studiert: Mit wenigen Ausnahmen finden
sich darin männliche Zeitgenossen, die
sich des «doigt d’honneur» bedienen.
Auf der Flucht vor den vorrückenden
deutschen Truppen fährt der französische Schriftsteller Léon Werth mit seiner
Frau am 11. Juni 1940 im eigenen Auto
aus Paris ab. Bald stecken sie im Stau
eines gewaltigen Flüchtlingsstroms;
statt wie geplant in acht Stunden werden
sie ihr Ferienhaus im Jura erst nach 33
Tagen erreichen. Dort schreibt Werth seinen gedankenreichen «Bericht», neu aufgelegt erhält er heute eine merkwürdige
Aktualität: Chaos auf den Strassen und
kein Benzin, gestrandete Menschenmassen auf der Suche nach Essen und Unterkunft. Das neu aufgefundene, hier zum
ersten Mal publizierte Vorwort des
Freundes Antoine de Saint-Exupéry, der
Léon Werth seinen Kleinen Prinzen widmen wird, bleibt allerdings reichlich verschwommen. Eine hochwillkommene
Einordnung der Ereignisse und des
Freundespaares bietet dagegen das ausgezeichnete Nachwort von Peter Stamm.
Katharina Kakar: Frauen in Indien. Leben
zw. Unterdrückung u. Widerstand. C.H.
Beck, 2015. 231 S., Fr. 21.90, E-Book 13.–.
Boris Schumatsky: Der neue Untertan. Populismus, Postmoderne, Putin. Residenz,
2016. 160 S., Fr. 27.90, E-Book 15.90.
Zwei Millionen Mädchen und Frauen
gehen in Indien jedes Jahr vorzeitig «verloren» – werden abgetrieben, schlecht ernährt und versorgt, brutal vergewaltigt,
versklavt und ermordet. Trotz ausgezeichneten Gesetzen (die vorgeburtliche
Bestimmung des Geschlechts etwa ist in
Indien seit 1996 strikte verboten) hat sich
die Schreckensstatistik seit 20 Jahren
nicht verbessert – im Gegenteil. Die deutsche Anthropologin Katharina Kakar, die
heute in Goa lebt, macht dafür nebst Kastenwesen und Armut vor allem eine in
den Seelen tief verankerte, spezifisch indische Version des Patriarchats verantwortlich. Die hochidealisierte Mutterschaft und ein emotional überfordernder
Mutter-Sohn-Kult hinterlässt Männer,
die auf weibliche Macht mit Angst und
Kontrollwahn reagieren. Ein überaus differenziertes Buch, das auch positiven
Entwicklungen viel Raum gibt.
«manche meinen / lechts und rinks /
kann man nicht velwechsern / werch ein
illtum». So dichtete Ernst Jandl 1966,
und 50 Jahre später widmet Boris Schumatsky diesem «illtum» ein Buch. Der
aus Moskau gebürtige und in Berlin heimische Politologe beobachtete entsetzt,
wie während der Ukraine-Krise an beiden Polen Verständnis für Putin aufkam
– rechts genährt von einer Affinität zum
Autoritarismus, links beflügelt von der
Ablehnung des «neoliberalen Westens».
Hüben wie drüben sieht Schumatsky die
Bürger vor der Komplexität kapitulieren:
Statt nach Fakten zu forschen, flöhen die
Leute zusehends in die einfachen «Wahrheiten» der Populisten. Die Diagnose
scheint wichtig, nur mangelt ihr die Analyse. Der Autor galoppiert vom Postmodernismus über die Sowjetunion bis zur
Willkommenskultur und weckt so auch
beim Leser den Wunsch nach Reduktion.
LUKAS MAEDER
Arthur Schopenhauer
Der Autor Charles
Lewinsky arbeitet in
den verschiedensten
Sparten. Sein neuster
Roman «Andersen»
ist im Verlag Nagel &
Kimche erschienen.
Goethes sämtliche Werke? Ja natürlich, haben wir vorrätig. Zum Lesen oder
zum ins Regal stellen? Doch, das macht
preislich einen grossen Unterschied. Zumindest, wenn Sie die Lesezeit gleich
mitkaufen wollen. Bei so einem Klassiker geht das ganz schön ins Geld.
Ach so, ein Matura-Geschenk für
Ihren Göttibub! Da sind zehn Minuten
Lesezeit für den ganzen Goethe mehr als
genug. Er wird die Bücher sowieso bei
E-Bay verhökern, und die Zeit braucht er
nur, um die Gebrauchsanweisung für
das Videogame zu studieren, das er sich
von dem Geld kaufen wird.
Was sollen es denn für Minuten sein?
Nein, die sind nicht alle gleich. Den
Goethe gibt es ja schliesslich auch nicht
nur in einer Ausgabe. Wir haben ihn in
Leder oder in Halbleinen oder als Taschenbuch. Ich zeig Ihnen gern mal
unser Zeitsortiment.
Hier zum Beispiel, ein echtes Schweizer Produkt: originale Schneider-Ammann-Sekunden. Sehr sparsam im Verbrauch. Wenn Sie die beim Lesen verwenden, kommt Ihnen jede Minute vor
wie eine halbe Stunde.
Oder hier, speziell für Klassikliebhaber, etwas ganz Exklusives: garantiert
echte Altphilologen-Sekunden. Mit
denen verstehen Sie plötzlich jedes griechische Zitat.
Oder unser Sonderangebot zum
Frühling:
Jungmädchen-Sekunden. Ideal für
Romane, in denen rosarote Einhörner
die Hauptrolle spielen. Obwohl, dazu
würde ich Ihnen nicht raten. Die sind
alle von Fünfzehnjährigen gewonnen,
und als Nebenwirkung kann sich leicht
mal Akne einstellen.
Dafür ist das hier etwas ganz Tolles!
Vor allem bei Leuten sehr beliebt, die
viel Eisenbahn fahren müssen: Legastheniker-Sekunden. Wenn Sie die verwenden, können Sie zum ersten Mal «20
Minuten» lesen und tatsächlich zwanzig
Minuten dafür brauchen.
Teuer? Kann ich nicht finden. Sie
müssen bedenken, dass wir hier keine
Billigsekunden verkaufen, wie das manche Discounter tun. Was den Kunden da
manchmal für Schund angedreht wird,
seit die Lesezeit-Preisbindung aufgehoben wurde! Massenware von dubiosen
chinesischen Zwischenhändlern, und
auf der Verpackung steht nicht einmal
der Vorbesitzer vermerkt. Da kauft sich
dann einer einen Band Heidegger und
kriegt dazu Minuten geliefert, die sich
höchstens für «Shades of Grey» eignen
würden.
Sie wollen es sich noch einmal
überlegen? Gern.
Aber brauchen Sie nicht
zu viel Zeit dafür. Das
kann ganz schön ins Geld
gehen.
Simone Karpf
Kathrin Meier-Rust
Kathrin Meier-Rust
Claudia Mäder
24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch
Biografie Der britische Harvard-Professor Niall Ferguson legt den ersten Band einer monumentalen
Kissinger-Biografie vor. Während er den deutschstämmigen Politiker darin zum Idealisten erklärt,
stempelt ihn der US-Historiker Greg Grandin zum Verbrecher
VonHeinzzuHenry.
UndvomKantianer
zumKriegstreiber?
Niall Ferguson: Kissinger. Der Idealist,
1923–1968. Propyläen, Berlin 2016.
1120 Seiten, Fr. 63.90.
Greg Grandin: Kissingers langer Schatten.
Amerikas umstrittenster Staatsmann und
sein Erbe. C.H. Beck, München 2016.
296 Seiten, Fr. 35.90, E-Book 22.–.
Von Reinhard Meier
Friedrich Schillers Diktum über den
Feldherren Wallenstein im Prolog seines
gleichnamigen Schauspiels trifft wohl
auf die meisten herausgehobenen Figuren der Historie zu: «Von der Parteien
Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein
Charakterbild in der Geschichte.» Aber
um wenige Politiker der Zeitgeschichte
wogt der Meinungsstreit derart hartnäckig wie um den früheren amerikanischen Aussenminister und Sicherheitsberater Henry Kissinger.
Das hat auch mit der immer noch staunenswerten geistigen Präsenz des 92-jährigen Altmeisters zu tun. Neben Aufsätzen und Auftritten zu aktuellen Fragen
wartet er weiterhin alle paar Jahre mit
dicken, sehr lesbaren Büchern etwa über
China oder über die «Weltordnung» auf.
Kissinger war unter den Präsidenten
Nixon und Ford acht stürmische Jahre
(1968–1976) lang die dominante Figur der
amerikanischen Aussenpolitik. Allein
seine eigenen Erinnerungen an diese Zeit
umfassen gegen 4000 Buchseiten. Der
Strom von zum Teil höchst kritischen
Büchern über sein politisches Wirken,
unter ihnen eine Reihe von Biografien,
bricht bis heute nicht ab.
Nun bringt der britische Historiker
und Harvard-Professor Niall Ferguson
eine neue Kissinger-Biografie auf den
Markt. Sie ist über tausend Seiten stark –
und das ist lediglich der erste von zwei
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016
geplanten Bänden. Der Anstoss zu dieser
neuen Lebensbeschreibung kam von
Kissinger selber. Er fragte den Autor an,
ob er dieses Werk anpacken könne – nicht
eben ein bescheidenes Anliegen angesichts der nur schwer noch überblickbaren Kissinger-Literatur. Ferguson lehnte
zuerst ab, sagte dann aber doch zu, als
ihm Kissinger von der Entdeckung von
165 Kisten angeblich verloren geglaubter
Dokumente und persönlicher Schriften
berichtete.
Rückkehr in die Hölle
Lohnt sich die Lektüre dieses Wälzers?
Für den zeitgeschichtlich interessierten
Leser ja – mit Vorbehalten. Ferguson
hatte Zugang zu allen Dokumenten aus
Kissingers gewaltigem persönlichen Archiv, und er führte, neben zahllosen Interviews mit anderen Personen, ausführliche Gespräche mit dem früheren Aussenminister. Aufschlussreich sind die
Zitate aus Briefen des jungen Kissinger
an seine jüdischen Eltern, die mit ihm
und seinem jüngeren Bruder Walter
1938, wenige Monate vor der «Kristallnacht», aus dem bayerischen Fürth nach
Amerika ausgewandert waren. Henry
Kissinger, der damals noch Heinz hiess,
war 15 Jahre alt, als die Familie in New
York ankam. Sechs Jahre später, im
Herbst 1944, kehrte er als amerikanischer Soldat nach Deutschland zurück.
Er kam in der Ardennenschlacht zum
Einsatz und wurde später mit Aufklärungs- und Ausbildungsaufgaben im besetzten Feindesland betraut. Kurz vor
der Kapitulation stiess er in der Nähe von
Hannover auf ein Konzentrationslager,
das ein anderer US-Soldat angesichts von
Leichenbergen und halb verhungerten
Häftlingen als «Hölle auf Erden» beschrieb. Über diese grauenhaften Eindrücke schrieb Kissinger damals einen
bewegenden zweiseitigen Text mit der
Überschrift «The Eternal Jew» (Der ewige
Jude). Er wird in Fergusons Biografie ungekürzt und ohne weitere Kommentierung abgedruckt.
Im Armeedienst verlor Kissinger, wie
er selber erklärte, zunehmend die Bindungen an den jüdisch-orthodoxen
Glauben seiner Eltern. Natürlich gebe es
ein starkes Gefühl der Identifikation mit
dem jüdischen Volk und dem Glauben, in
den er hineingeboren sei, schrieb er später zu diesem Thema. Aber das bedeute
nicht zwangsläufig, «dass man ihn irgendwie praktiziert».
Ein interessanter Aspekt ist Kissingers
Beziehung zu seinem ebenfalls aus
Deutschland emigrierten, 15 Jahre älteren Mentor Fritz Kraemer. Kraemer war
ein hochgebildeter, vielsprachiger Intellektueller und historischer Gelehrter mit
exzentrischen Neigungen – er trug immer
ein Monokel. Henry Kissinger lernte ihn
als jungen Soldaten kennen und war tief
beeindruckt. Er hat Kraemer als den
grössten Einfluss während seiner
Bildungsjahre bezeichnet. Dieser bescheinigte ihm einmal, «ein musikalisches Gespür für Geschichte» zu haben.
Als Kissinger bereits Aussenminister
war, brach Kraemer aus Missbilligung
über die Verhandlungen mit Nordvietnam jeden Kontakt zu seinem Lieblingsjünger ab. Kissinger hat bei Kraemers Begräbnis im Jahre 2003 dennoch eine versöhnliche Rede gehalten, in der er den
Grund ihrer Entfremdung so beschrieb:
«Für den Propheten kann es keine Differenz zwischen dem Konzept und seiner
Umsetzung geben. Der Politiker muss
das Notwendige aus dem Möglichen
bauen.» Über den Bruch zwischen den
beiden ungleichen Einwanderern wird
man erst im zweiten Teil von Niall Fergusons Biografie Näheres erfahren.
YALE UNIVERSITY
Ferguson bezeichnet Kissinger in der
Überschrift des ersten Bandes als «Idealisten». In einem Interview mit der Journalistin Oriana Fallaci hatte dieser – sicher nicht frei von Eitelkeit – 1972 erklärt,
seine wichtigsten weltanschaulichen Inspiratoren seien Kant und Spinoza. In der
Öffentlichkeit wird er allerdings viel eher
mit dem durchtriebenen Ratgeber Machiavelli oder abgebrühten Praktikern
wie Metternich oder Bismarck in Verbindung gebracht – was Kissinger für abwegig erklärt, obwohl er über die beiden
letzteren Politiker respektvolle Studien
publiziert hat. Die überlangen Erörterungen von Begriffen wie «Idealist», «Realist» oder «Opportunist» gehören nicht
zu den Stärken dieser Biografie. Sie wirken ermüdend, weil solche Etikettierungen am Ende niemand eindeutig definieren kann und die Kriterien für deren
Zuordnung höchst subjektiv bleiben.
Robuster Ehrgeiz
Spannender, weil mit realen Ereignissen
und Menschen aus Fleisch und Blut verknüpft, sind die Schilderungen über Kissingers keineswegs mühelosen, aber
dennoch steilen Aufstieg von den akademischen Anfängen als Harvard-Professor
bis ins Zentrum der Macht in Washington. Schon von den demokratischen Präsidenten Kennedy und Johnson wurde
der junge Historiker für gelegentliche
Beratungsaufträge angeheuert. Ferguson
berichtet, dass Kissinger einmal eine
nicht weniger als elfseitige Tirade gegen
Kennedys Sicherheitsberater McBundy
an seinen im Weissen Haus höher angesiedelten Harvard-Kollegen Arthur M.
Schlesinger schickte, weil seine Ratschläge angeblich nicht genügend gewürdigt würden. Das wirft ein scharfes
Licht auf Kissingers Empfindlichkeiten
ebenso wie auf seinen robusten Ehrgeiz.
1938 aus Deutschland
geflohen, kam
Kissinger 1944 – hier
kurz vor der Schlacht
im holländischen
Eygelshoven – als
amerikanischer Soldat
nach Europa zurück.
Ferguson setzt sich in der Einleitung
mit den vielen, zum Teil namhaften
Kritikern von Kissingers Politik im Kalten
Krieg auseinander. Er argumentiert, dass
diejenigen, die ihn als «Verbrecher»
und «Massenmörder» qualifizierten (wie
etwa im Falle der geheimen Bombardierungen in Kambodscha oder der wohlwollenden Haltung gegenüber lateinamerikanischen Diktatoren), genauer
darlegen sollten, was denn im Kontext
des Kalten Krieges mit der damals
expansionistischen Sowjetmacht die
Konsequenzen gewesen wären, wenn
die USA in allen Konfliktherden eine vornehme Politik der Nichteinmischung betrieben hätten. Das soll nicht heissen,
dass sich damit die Vorwürfe gegen Kis-
singers Entscheidungen als politisch
Handelnder pauschal entkräften liessen.
Pauschale Urteile sind bei der Einschätzung vergangener Ereignisse und
ihrer Akteure ohnehin selten überzeugend. Das zeigt auch das hier anzuzeigende jüngste Anti-Kissinger-Buch des
amerikanischen Historikers Greg Grandin. Für ihn ist Kissinger eindeutig ein
Verbrecher, und er macht ihn als geistigen Mentor verantwortlich für alle
späteren militärischen Aktionen Washingtons, die allesamt des Teufels seien.
Grandins Argumentation ist derart undifferenziert und ideologisch verkorkst,
dass man dieses Buch beim besten Willen nicht als vertiefende Lektüre empfehlen kann. ●
24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Politik Thilo Sarrazin kritisiert viel und gern. In seinem neuen Buch will er nun zeigen, wie man die Dinge
besser machen würde. Seine Rezepte gegen deutsche Illusionen sind überraschend deutsch
WenndasWünschen
nichtmehrhilft
Thilo Sarrazin: Wunschdenken. Europa,
Währung, Bildung, Einwanderung –
warum Politik so häufig scheitert. DVA,
München 2016 (erscheint am 25. April).
576 Seiten, Fr. 36.90, E-Book 23.90.
In seiner neuen Kampfschrift nimmt sich
Thilo Sarrazin das «Wunschdenken» vor,
die «spezifisch deutsche Spielart utopischer Politik». Kurieren will er dieses
Übel mit einer noch höheren Dosis an
idealistischer Politik. Deutscher könnte
dies alles gar nicht sein. Denn in dem
Buch, das der Frage nachgeht, «warum
Politik so häufig scheitert», fehlt jeder
Blick auf andere westliche Länder, und
Sarrazin operiert abseits der nun doch
schon mit drei bis vier Nobelpreisen fundierten «ökonomischen Theorie der Politik», wie sie die angelsächsischen Länder
nüchtern anwenden. Diese Sicht, auch
Public Choice genannt, beleuchtet die Irrungen und Wirrungen der Politik als
Spiel der Interessen aller beteiligten Personen, Parteien, Verbände, Behörden,
als deren Maximierung von Ämtern,
Amtsdauern, Um- und Zuteilungen zu
Lasten des Staats, als normale Regung
unter Menschen, unter Politikern. Sarrazins Diagnose eruiert demgegenüber vor
allem schwere persönlich-moralische
Mängel als Ursachen für politische Fehlleistungen. Es sind dies «Unwissenheit,
Anmassung, Bedenkenlosigkeit, Opportunismus, Betrug und Selbstbetrug».
Etwas weniger provokativ
Wenn Sarrazins moralische Herangehensweise zweifelhaft ist, so hat er in der
Sache selbst in vielem Recht. Was er an
falschen Wegen in Merkels offenem
Einwanderungstor, ihrer Euro-Politik, an
Berliner Schulversagen, an einer aus der
Hüfte geschossenen Energiewende ankreidet, ist bedenkenswert. Sarrazin will
nach drei kritischen Büchern zu Einwanderung, Euro und «Tugend-Terror» nun
zeigen, wie man es besser macht. Der
positive Fingerzeig kommt aber erst nach
344 Seiten erneuter, oft vernichtender
Kritik an der bundesdeutschen Politik.
Zunächst geht Thilo Sarrazin Fragen
der Aussen- und Währungspolitik an.
Deutschland, befindet er, soll sich dort
einbringen, wo Verbesserungen nötig
sind. Seine Rolle in EU-Europa soll es
dazu nutzen, sichere Grenzen anzustreben und ein strenges Asylrecht durchzusetzen. Bei Euro-Krisen brauche es keine
neuen, rechtsbrechenden Hilfspakete
und keine Geldvermehrung der Zentralbank, allenfalls, in zweiter Priorität, die
volle Integration der Euro-Länder in
einen Bundesstaat mit gemeinsamen
Steuern und Schuldenkasse.
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016
IMAGO STOCK&PEOPLE
Von Beat Kappeler
Thilo Sarrazin lässt
kein gutes Haar an
Angela Merkels
Politik.
Die heikle Pflege des kulturellen Erbes
und der deutschen Identität gegenüber
schrankenloser Durchmischung mit Zuwanderern geht Sarrazin weniger provokativ an als in früheren Interviews, ein
grosses Anliegen ist sie ihm aber weiterhin. Damals verrannte er sich mit unterschiedlichen Genen, diesmal sieht er nur
«kognitive Unterschiede». Gerne zitiert
er Schultests, um zu belegen, wie die
besseren Resultate der bisherigen Einwohner mit den schlechteren Lese- und
Mathewerten der Einwandererkinder zusammen den Bundesdurchschnitt drücken. Vermutlich ist das nicht falsch,
aber das Gebrüll des «Tugend-Terrors»
ist ihm wieder sicher. Die bessere Politik
sieht Sarrazin in der richtigen Steuerung
der Einwanderung, und zwar quantitativ
wie qualitativ.
Es fehlt an Vorschlägen
Schliesslich wendet er sich logischerweise der besseren Bildung, dann der
Geburtenfreude der Deutschen zu, und
dabei insbesondere der Frage, wie man
sie fördern könnte. Die Rezepte sind traditionell und in den meisten Ländern
bisher nicht sehr hilfreich. Wie überall
gehen die Förderungen und Aufforderungen an die Frauen, vergessen geht,
dass in unseren Hochleistungsgesellschaften die jungen Väter ohne Schaden
ihrerseits während der ersten schwierigen Kinderjahre etwas weniger arbeiten
könnten. Dann müssten die Frauen nicht
zwischen Mutterschaft und gleichem
wirtschaftlichen Fortkommen wie die
Männer wählen.
Nach diesen Diagnosen und Rezepten
aber entschwebt das Buch überraschend
auf langen 100 Seiten in ein Nirwana
guter Politik, als «Anhang» betitelt. Der
ganze deutsche Bildungskanon durchzieht ihn, wie überhaupt das ganze Buch:
Platon, Morus, Kant, Max Weber, Hegel,
Marx. Doch wenn einer wie Sarrazin die
falsche Politik wenden will, kann er nicht
bloss Ermahnungen, Zitate und Definitionen abgeben, wie sie über diese
100 Seiten wabern.
Es fehlen Vorschläge für andere Verfahren, für institutionelle Vorkehren.
Ebendies drängt sich auf und ebendies
bringt die angelsächsische Politologie
des Public Choice hervor, wenn sie die
Politik als Saldierung von Interessen,
nicht von Wunschdenken nimmt. Dann
kommt man auf Quoren, auf Abstimmungsverfahren, auf Checks-and-Balances aller Art. Mit solchen Verfahren
wären die diktatorischen Entscheide von
Regierungschefs wie in Berlin nicht möglich, welchen alle Abgeordneten bei Strafe der Ungnade und Behinderung bei
nächsten Wahlen folgen müssen.
Zwar setzt auch die von Sarrazin verlangte bessere Politik in der EU deutliche
Korrekturen an den bisherigen Fehlläufen voraus. Aber wenn die Politik vor
allem als moralisches Feld politisch Handelnder gesehen wird, dann kommt man
gar nicht auf andere Verfahren. Thilo Sarrazin fordert stattdessen idealistischere
Resultate. Geradezu verstörend wirkt
gegenüber einem nüchternen Politikverständnis die von Sarrazin unterstrichene
Rolle der Religion, anstelle derer es «keinen Ersatz für die stabilisierende Wirkung auf Gemeinschaften» gebe. Für
einen, der den Islam beargwöhnt, ist das
eine inkonsequente Haltung. Die westlichen Gesellschaften müssen republikanische Gleichheit durchsetzen, religionsblind sein. Sie brauchen Verfahren, nicht
Ermahnungen! ●
Autobiografie Mit dem Bericht über ihre Flucht aus einer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft
gewährt die New Yorkerin Deborah Feldman Einblicke in eine abgeschottete Welt
GottlosindieFreiheit
Deborah Feldman: Unorthodox.
Secession, Zürich 2016. 319 Seiten,
Fr. 23.90, E-Book 19.90.
Deborah Feldman ist ein Glücksfall für
die Buchwelt. In ihrer autobiografischen
Erzählung «Unorthodox» beschreibt sie
ihr Leben in der abgeschotteten Welt der
Satmarer Chassiden – den Strengsten der
Strengen unter den frommen Juden in
New York. Die junge Autorin ist zwar keineswegs die erste Aussteigerin. Rebellionen gegen ein Leben zwischen Angst und
Strafe, Schläfenlocken und blickdichten
Strümpfen gibt es seit Jahren. Doch Feldman ist die einzige, die das, was sich im
Inneren dieser Gemeinde abspielt, so
meisterhaft beschreibt, dass selbst diejenigen nicht mehr aufhören können zu
lesen, die sich gar nicht für das Judentum, geschweige denn für Chassiden,
interessieren.
«Unorthodox» ist die Geschichte einer
Befreiung, denn mit 23 Jahren entfloh
Feldman dem gnadenlos restriktiven Sozialgefüge der Satmarer. Mit der Präzision einer Chirurgin stellt sie dar, wie es
überhaupt gelingen kann, mitten in New
York eine fundamentalistisch-religiöse
Insel zu schaffen: nur mit extrem starker
Abgrenzung zu allen anderen. Zwar definiert sich jede ethnisch-religiöse Gruppe
durch Ausgrenzung; Speisetabus, Kleiderordnung, Sprache oder auch religiöse
Gebote gehören zum Überlebensinstrumentarium ethnischer Identität.
Doch die Satmarer haben all dies auf die
Spitze getrieben.
NEW YORK LIBRARY ARCHIVE
Von Silke Mertins
Das orthodoxe Milieu
zeigt sich in Deborah
Feldmans Buch als
weltfremde Insel.
Ihre Speisen sind derart koscher, dass
sie sie nicht einmal mit anderen gläubigen Juden gemeinsam essen können. Die
typischen schwarzen Anzüge und Hüte
der Männer ebenso wie die Perücken und
altmodischen Kleider der Frauen sorgen
dafür, dass sie in der Welt draussen
sofort auffallen, nicht dazugehören. Die
Satmarer Chassiden sprechen ausschliesslich Jiddisch. Englisch gilt ihnen
als unreine Sprache. In der Schule lernen
die Kinder so gut wie nichts, womit sie
ausserhalb ihrer Gemeinschaft überleben könnten. Alles, was nicht ins Bild
passt – vom sexuellen Missbrauch über
Homoerotik bis hin zum Mord –, wird
unter den Teppich gekehrt.
Gleichzeitig ist «Unorthodox» die berührende Geschichte eines kleinen Mädchens, das sich ungeliebt und verloren
fühlt. Deborah Feldman glaubt, Gott
habe vergessen, für sie einen Platz in der
Welt zu schaffen. Der Vater ist debil, die
Mutter verschwunden, sie lebt bei den
Grosseltern. Sie ist eine Aussenseiterin,
die sich nach mehr Zuwendung, Freiheit
und vor allem mehr geistiger Anregung
sehnt, als sie in den Gebetsbüchern findet. Heimlich schleicht sie sich in die verbotenen Stadtbüchereien und versteckt
ihre Beute unter der Matratze.
Als ihr Grossvater eine Ehe arrangiert,
fügt sie sich zunächst. Siebzehnjährig
wird sie mit einem jungen Mann verheiratet, den sie zwei Mal kurz gesehen hat.
Erst unmittelbar vor ihrer Hochzeit begreift sie, was es eigentlich bedeutet,
eine Ehe zu vollziehen. Zunächst bestreitet sie im «Heiratsvorbereitungskurs»,
überhaupt eine Vagina zu haben. Als
Leser kann man nur genauso schockiert
darüber sein wie sie selbst, so hautnah
erlebt man ihre Nöte und Hoffnungen.
Wie bei dieser Vorgeschichte eine Schriftstellerin herauskommen konnte, die so
authentisch und offen selbst über ihre
Sexualität schreibt, ist verblüffend. Ein
noch grösseres Wunder ist, dass es ihr
gelungen ist, mitsamt ihrem kleinen
Sohn zu entfliehen.
Doch nicht allein Feldmans Lebensgeschichte und die intimen Einblicke in
eine fremde Welt machen «Unorthodox»
einzigartig. Die heute 29-Jährige verbindet diese sehr jüdischen Erfahrungen mit
den grossen Menschheitsthemen: Glaube, Liebe, Verrat und die Suche nach
Freiheit. In den USA stürmte ihr Erstling
2012 sofort die Bestsellerliste der «New
York Times» – völlig zu Recht. «Unorthodox» gehört zu den Autobiografien, die
man gelesen haben muss. ●
Geschichte Zwei Historiker gehen den weiten Wegen der berühmtesten Schweizer Mythenfigur nach
Die vielen Gesichter des Wilhelm Tell
Michael Blatter, Valentin Groebner:
Wilhelm Tell, Import-Export. Ein Held
unterwegs. Hier und Jetzt, Baden 2016.
150 Seiten, Fr. 31.90.
Von Claudia Mäder
Man kann sich ein gemütlicheres Büro
als jenes von Michael Blatter vorstellen:
Der Stadtarchivar von Sursee ordnet
seine Akten heute in einem Raum, der
einst als Folterkammer diente.
1653 erhoben sich die ländlichen Untertanen im Entlebuch gegen die Luzerner Obrigkeit. Um gegen höhere Abgaben
und neue Gebühren zu protestieren,
marschierten drei ihrer Mannen als «Tellen» auf, und die versammelten Aufständischen bekundeten ihren Unmut,
indem sie ein «Tell-Lied» im Loop sangen. Wilhelm Tell, der bis anhin den
feindlichen Habsburgern die Stirn gebo-
ten hatte, als Verbündeter der Bauern im
Kampf gegen das heimische Patriziat?
Die Obrigkeit konnte mit dieser Neuinterpretation der Geschichte nichts anfangen, liess die Tellen köpfen und einen
der aufmüpfigen Bauernführer im Rathaus von Sursee foltern.
Zu diesem Zeitpunkt hatte die Tell-Geschichte freilich schon diverse andere
Aktualisierungen erlebt. Stadtarchviar
Blatter und der in Luzern lehrende Historiker Valentin Groebner zeichnen ihre
Verläufe im vorliegenden Büchlein nach.
Ausgehend von der ersten schriftlichen
Erwähnung des «thäll» im «Weissen Buch
von Sarnen» (um 1470), blenden sie zurück zu nordischen und persischen
Sagen, in denen das Apfelschuss-Motiv
bereits im 12. Jahrhundert auftauchte.
Sie schauen sich im Mittelalter um, wo
etwa im «Hexenhammer» (1486) ein
teuflisches Alter Ego des Tell auftritt,
und sie blicken in die Neuzeit und zeigen
den helvetischen Nationalhelden als
Protagonisten der französischen Revolution – oder auch als Maskottchen palästinensischer Terroristen.
Faszination und Langlebigkeit des
Stoffs, das machen die Historiker deutlich, sind in der Figur angelegt: Tell ist
Opfer (einer Obrigkeit) und Mörder (eines
Vogts) zugleich – diese Ambivalenz sorgt
für Spannung in der Story und eröffnet
Erzählern verschiedener Zeiten immer
neue Deutungsmöglichkeiten. Einige der
hier vorgestellten Interpretationen dürften Tell-Fans bereits bekannt sein. Blatters und Groebners «Import-Export»-Geschichte, die die Leser en passant kundig
und leichtfüssig in die Gepflogenheiten
der (vormodernen) Geschichtsschreibung einführt, fügt solch einzelne Episoden aber zu einem bunten Panorama.
Wenn «Tell» letztlich einfach «eine gute
Geschichte» ist, wird deren Geschichte
hier einfach gut erzählt. ●
24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Technologie Zwei Mathematiker veranschaulichen die Funktionsweisen von
Algorithmen und die Bedeutung unserer rasant wachsenden Datenberge
WerhatAngstvorComputer&Co.?
Christoph Drösser: Total berechenbar?
Wenn Algorithmen für uns entscheiden.
Hanser, München 2016. 256 Seiten,
Fr. 26.90, E-Book 14.40.
Christian Rudder: Inside Big Data. Unsere
Daten zeigen, wer wir wirklich sind.
Hanser, München 2016. 304 Seiten,
Fr. 28.90, E-Book 16.90.
Von Leonid Leiva
Seit Grosskonzerne wie Google und Facebook das Internet und somit grosse Bereiche unseres Lebens beherrschen, hat
sich ihr Machtinstrument, der Algorithmus, einen schlechten Ruf eingehandelt.
Algorithmen hätten unsere Welt im Griff
und entschieden für uns, klagen zuweilen Vertreter aus Politik, Medien und
Wirtschaft. Mit seinem Buch «Total berechenbar?» will der deutsche Wissenschaftsjournalist und studierte Mathematiker Christoph Drösser die Diskussion auf eine sachliche Ebene bringen.
Algorithmen sind Handlungsanweisungen, die zur Lösung eines Problems eingesetzt werden. Sie bestehen aus einer
definierten Abfolge von endlichen
Schritten und produzieren zu jeder Eingabe eine oder mehrere Ausgaben. Als
einfachstes Beispiel für einen Algorithmus wird oft ein Kochrezept angeführt.
Drösser verspricht, Algorithmen zu
entmystifizieren, ihnen den Schrecken
zu nehmen. Und zumindest die didaktische Mission gelingt. Gleich zu Beginn
zeigt der Autor, dass immer effizientere
und schnellere Algorithmen in den letzten Jahrzehnten mehr zur starken Zunahme der Rechenleistung von Computern beigetragen haben als Verbesserungen aufseiten der Hardware: Ein Rechner
aus den 1980ern würde mit
einem modernen Algorithmus
bestimmte Aufgaben schneller
lösen als der neuste Computer
mit einem 30 Jahre alten Algorithmus.
Drösser erklärt in leicht verständlicher Sprache die Funktionsweise von im Alltag wichtigen Algorithmen. Wie die Ergebnisliste bei einer GoogleSuche zustande kommt, wie
Singlebörsen den Suchenden
Partner empfehlen, und wie
auch die Wettervorhersage auf
Algorithmen angewiesen ist. Auch
brisante Themen wie die Verschlüsselung von Nachrichten veranschaulicht Drösser mit einfachen Analogien. Allerdings kann er den Leser
nicht über die Tatsache der zunehmenden Überwachung hinwegtrösten.
Viel mehr als die Ermahnung, die eigene
Bequemlichkeit zu überwinden und den
Nachrichtenverkehr konsequenter zu
verschlüsseln, kann der Autor angesichts
dieser Realität nicht bieten.
Insgesamt ist Drössers Buch ein gelungenes Werk der Popularisierung, das für
den Einstieg ins Thema taugt. Intelligent
mit Algorithmen umzugehen, dürfte in
unserer Zeit aber eine der grössten gesellschaftlichen Aufgaben bleiben, für
die jeder Einzelne Verantwortung tragen
sollte – nicht zuletzt die Schöpfer und
Besitzer der Algorithmen selbst.
Doch selbst die besten Algorithmen
wären ohne Daten, aus denen sie nützliche Information extrahieren, wirkungslos. Und die liefern wir selbst mit jedem
Mausklick. Die rasant wachsenden Datenmengen, die wir im Alltag produzieren, verraten viel über die menschliche
Natur. Das beweist
der US-amerikanische Autor Christian
Rudder in seinem sehr lesenswerten
Buch «Inside Big Data». Rudder ist ebenfalls Mathematiker und Betreiber einer
Internet-partnerbörse. Deren Millionen
Nutzer haben ihm inzwischen genügend
Daten für eine soziologische Analyse anvertraut. Und die Ergebnisse lassen die
wahren Vorlieben der Masse hinter mancher Maske hervortreten. Die Statistiken
belegen unter anderem: Schwarze und
Frauen über 40 haben es unter Christian
Rudders Kunden besonders schwer. Das
Buch ist aber mehr als ein Insiderbericht.
Auch übergeordnete Themen wie das
Recht der Nutzer an ihren Daten werden
angesprochen. Und auch hier kann der
Autor nicht alle Antworten liefern. Aber
eins wird klar: Daten wie Algorithmen
werden zunehmend zum Politikum werden, weil sie zu Synonymen für Macht
geworden sind. ●
Biografie Waldemar Bonsels, der Schöpfer der Biene Maja, war ein politischer Opportunist
Der Bienenvater, der Hitler umschwirrte
Bernhard Viel: Der Honigsammler.
Waldemar Bonsels, Vater der Biene Maja.
Eine Biografie. Matthes & Seitz, Berlin
2016. 445 Seiten, Fr. 34.90, E-Book 21.90.
Von Kathrin Meier-Rust
Frech schwirrt sie davon, eine kleine Rebellin – um dann als mutige Heldin ihr
Volk aus höchster Gefahr zu erretten.
Trotz ihrem manchmal etwas martialisch-wilhelminisch anmutenden Gesumme wird die Biene Maja auch nach
über 100 Jahren weltweit in zahllosen
Hör-, Film- und Buchfassungen von Kindern geliebt, während ihr Schöpfer Waldemar Bonsels meist nur dem Namen
nach bekannt ist. Nun beleuchtet eine
ausführliche Biografie Werdegang und
Weltbild des einstigen Erfolgsautors.
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016
Geboren 1880, schmiss der Apotheker-Sohn aus Norddeutschland das Gymnasium; er fühlte sich zum Dichter berufen, wurde dann aber erstmal Kaufmann.
Beides, Dichten und Geld verdienen,
wird er ausgezeichnet zu verbinden wissen. 1902 gründet Bonsels einen Verlag
und publiziert bald jährlich ein Buch –
schwülstige Romane, tiefsinnige Reisebücher und «empfindsame Kriegsberichte». Geschmeidig passt er sich dem Zeitgeschmack ebenso an wie den politischen Umständen: Ohne je Parteimitglied zu werden, dient er sich 1933 Hitler
mit einem antisemitischen Essay an, um
sich 1945 flugs als verbotener Autor zu
inszenieren. Die sorgfältige Klärung der
Naziverbindungen dieses Mitläufers ist
ein grosses Verdienst dieser Biografie.
«Die Biene Maja», 1913 erstmals erschienen, wird über die Jahre zum inter-
nationalen Bestseller, der Bonsels berühmt und reich macht. In seiner Villa
am Starnberger See amüsiert sich der
sanfte Dandy im crèmefarbenen Anzug –
er hat inzwischen von drei Ehefrauen
fünf Söhne – mit einer beständigen Abfolge von jungen Tänzerinnen, die offenbar seinem Charme erliegen.
Handfeste Fakten zum Leben dieses
«glühenden Anhänger seiner selbst» sind
spärlich. Bernhard Viel begegnet diesem
Manko geschickt mit grossen ZeitgeistPanoramen, die Weltbild und Rolle seines Protagonisten erhellen. Etwas gewöhnungsbedürftig sind romanhafte
Szenen, die Bonsels Charakter illustrieren sollen. Doch das Fazit ist klar: Wäre
da nicht diese Biene – weder der selbstverliebte Opportunist noch seine zahllosen pseudotiefsinnigen Werke wären
der Erinnerung wert. ●
Kriegsbericht 1915 reiste ein spanischer Journalist in die Kampf- und Krisengebiete auf dem Balkan.
Sein Report könnte auch 100 Jahre später verfasst worden sein
UnendlicherVerdruss
überdieWelt
Gaziel: Nach Saloniki und Serbien.
Eine Reise in den Ersten Weltkrieg. Aus
dem Spanischen von Matthias Strobel.
Berenberg, Berlin 2016. 240 S., Fr. 34.90
Es mag nur schwer mit dem Habitus professioneller Literaturkritik vereinbar
sein, doch ab Lektüre des 31. Kapitels
rannen der Rezensentin die Tränen herunter. Und das nicht nur aufgrund
Gaziels eindringlicher und packender
Beschreibungskunst, sondern vor allem
aufgrund des kaum auszuhaltenden Paradoxes, mit gezücktem Kritikerinnenbleistift in einem schön eingebundenen
Buch über das Flüchtlingselend vor 100
Jahren an der griechischen Grenze zu
lesen, während man Tag für Tag das gleiche Elend an der gleichen Grenze in den
Nachrichten betrachten kann.
Im Oktober 1915 erhält der spanische
Journalist Gaziel, der mit Taufnamen
Agustí Calvet heisst, in Paris von seiner
Zeitung «La Vanguardia» ein Telegramm:
«Reisen Sie in den Balkan, wann immer
es Ihnen beliebt.» Unverzüglich macht
Gaziel sich auf den Weg. Über Genua und
Mailand reist er zunächst nach Patras
und Athen, von dort aus nach Saloniki,
und schliesslich über die serbische Grenze bis nach Monastir, das heutige mazedonische Bitola. Das wirkt, angesichts
der brennenden Eile aktueller Kriegsberichterstattung, beinahe wie eine beschauliche Interrailtour. Und wirklich
nimmt sich Gaziel immer wieder Zeit,
um etwa den Dom von Mailand zu besichtigen – mit dem bemerkenswerten
Hinweis, dafür Sorge tragen zu müssen,
«dass der ständige Gedanke an den Krieg
nicht unseren Instinkt für die reineren
Realitäten trübt».
Der Front entgegen
Aus dieser Langsamkeit der Reise, die
Europa vor den schrecklichen Erschütterungen des 20. Jahrhunderts noch einmal in seiner ganzen kultur- und völkerreichen Pracht erscheinen lässt, gewinnt
Gaziels Kriegsbericht seine faszinierende
Tiefenschärfe. Hier ist einer auf den Spuren der alten Grand Tour unterwegs, der
seinen Homer zu zitieren weiss und angesichts des Mittelmeers angemessen
in Kontemplation versinkt. Doch Gaziel
lässt es nicht bei der Bewunderung der
Alten Welt und einigen lustigen Reiseanekdoten mit Hotelbesitzern und Kofferträgern bewenden wie so viele kultivierte Reisebeschreiber vor ihm, sondern
er stellt seine europäische Bildung, seine
scharfe Beobachtungs- und rasche Auffassungsgabe in den Dienst der politischen Berichterstattung.
ARCHIVE IMPERIAL WAR MUSEUM
Von Janika Gelinek
Im Ersten Weltkrieg
flüchteten serbische
Bauern durch das
mazedonische
Gebirge in Richtung
Griechenland.
In Griechenland, dem der Hauptteil
seiner Reise und des Buches gewidmet
ist, studiert Gaziel den Frontverlauf en
miniature: im Machtkampf zwischen
dem geschassten Ministerpräsidenten
Venezilos, der England und Frankreich
unterstützt, und dem germanophilen
König Konstantin I., der die Mittelmächte favorisiert. Die Folge davon sind
Revolutionsgerüchte und Aufruhr im
griechischen Parlament, während im
Hafen von Saloniki massenhaft Truppen
anlanden, Waren eingelagert und Geschäfte getätigt werden.
Mehrfach ertappt man sich bei dem
Wunsch, die griechische Innenpolitik
nun mal hinter sich zu lassen, um hinauszugelangen auf die echten Schlachtfelder, dorthin, wo vermeintlich die grosse Weltpolitik ihr Stelldichein gibt. Doch
dieser kurzsichtige Impuls vergeht genauso schnell, wie man sich die gegenwärtige politische Lage ins Gedächtnis
ruft, in der griechische Innenpolitik vor
kurzem erst Anlass für eine europäische
Zerreissprobe war. Immer wieder sorgt
Gaziels Bericht dafür, dass man nicht
dem Glauben anheimfällt, es mit abgeschlossenen historischen Sachverhalten
zu tun zu haben, sondern dass man sich
permanent gemeint fühlt.
Am meisten dann, als er unter grössten Schwierigkeiten Saloniki verlässt
und sich in Richtung Serbien aufmacht,
wo die mit den Mittelmächten verbündeten Bulgaren ihre Schreckensherrschaft
begonnen haben. Durch das eisige mazedonische Gebirge eilt Gaziel mit seinem
dänischen Reisekumpan und einem
verängstigten griechischen Chauffeur
der Front entgegen, bis er im Schneetreiben nahe Florina an einen Gasthof gelangt, in den sich serbische Flüchtlinge
gerettet haben.
Wie menschlicher Abfall
Als Reporter ist Gaziel erfreut: «Endlich
sind wir auf das gestossen, was wir suchen! Wir werden die ersten Folgen der
serbischen Katastrophe mit eigenen
Augen sehen.» Als Mensch aber erschüttert ihn das Elend der Flüchtlinge zutiefst, und es ist unmöglich, nicht die
Grenzzäune der Balkanroute vor sich zu
sehen, wenn Gaziel schreibt: «Die Szenen, die wir erleben, rufen unsagbare Beklemmung hervor, grenzenloses Mitleid,
tiefe Traurigkeit und unendlichen Verdruss über die Welt. Nichts, was ich
bislang in diesem Krieg erlebt habe, hat
mich so sehr erschüttert wie diese Schar
von halbnackten, in Lumpen gekleideten
Bauern, die aus ihrer Heimat gefegt wurden wie menschlicher Abfall. Welches
Verbrechen haben diese Menschen begangen? Welchen unverzeihlichen Fehler? Welch schlimme Tat? Niemand, es
sei denn, er ist ein wutzerfressener
Heuchler, kann diese armen Seelen
ernsthaft beschuldigen.»
Es ist ein Glück, dass diese schön formulierende, leidenschaftliche und kluge
Reporterstimme dank des Übersetzers
Matthias Strobel und des kleinen Berenberg-Verlags nun erstmals auf Deutsch
vorliegt. Man wünscht ihr noch viele
weitere Übersetzungen, nicht nur in europäische Sprachen. ●
24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Epos Der Physiker John Freely hat sich zeitlebens mit den Werken Homers beschäftigt. Jetzt verbindet er
die antiken Geschichten und seine eigenen Erfahrungen zu einer Liebeserklärung an den Dichter
DieOdysseeistnochlange
nichtzuEnde
anderem Namen tatsächlich strategisch
perfekt neben der Einfahrt zu den Dardanellen, die jeder Seefahrer passieren
musste, der von der Ägäis via Marmarameer und Bosporus ins Schwarze Meer
gelangen wollte? Freely zweifelt kaum
daran, zumal ihm die Gegend bestens
vertraut ist und er dort landschaftlich
vieles bestätigt sieht, was in den Epen
beschrieben wird.
John Freely: Zurück nach Ithaka.
Auf Odysseus’ Spuren durch das
Mittelmeer. Philipp von Zabern, Mainz
2016. 391 Seiten, Fr. 39.90, E-Book 25.90.
Von André Behr
Der 90-jährige US-amerikanische Physiker John Freely hat über 40 Bücher zu
Themen des Mittelmeerraums und der
Türkei verfasst, wo er nach seinem Studium in Istanbul lehrte und wissenschaftshistorisch forscht. Bekannt wurde
er ausserhalb von Fachkreisen aufgrund
fundierter Städte- und Reiseführer sowie
Büchern zu Platon, Aristoteles und Kopernikus, in denen er immer auch dem
Wissenstransfer zwischen Abendland
und Kleinasien nachspürte.
Im neusten Buch über Homer kombiniert Freely nun Geschichte und Geschichten mit selbst Erlebtem. Schon als
er sich 17-jährig zur US-Navy gemeldet
hatte und nach Asien beordert wurde,
lagen die «Ilias» und die «Odyssee» in seinem Reisegepäck. Ende des Zweiten
Weltkriegs, erzählt er, habe er sich auf
der Rückfahrt nach der Passage des Suezkanals an die Reling gestellt, um nichts
zu verpassen, wenn sein Schiff entlang
der nordafrikanischen Küste die Routen
des Odysseus kreuzte.
Prall voll Wissen
Autorschaft ungeklärt
Homers «Ilias» erzählt von der Belagerung der Stadt Troia durch die Achäer,
die «Odyssee» von der abenteuerlichen
Heimkehr des Helden Odysseus nach
Ithaka, dessen List mit dem hölzernen
Pferd den Sieg über Troia erst ermöglicht
hatte. In beiden Versepen wird über 24
Gesänge erzählt, in beiden erstreckt sich
der zeitliche Hintergrund des Geschehens über zehn Jahre. Die hochkomplexe
Montage von interagierenden Göttern
und Menschen, Mythen und Handlungen sowie die Vor- und Rückblenden machen das Lesen selber zum Abenteuer.
Vorläufer dieser Epen dürften im vorchristlichen achten Jahrhundert in Kleinasien entstanden sein, erste Schriftfassungen zwischen 750 und 650 v. Chr.,
integrale Fassungen einiges später. Damals lebten auf dem Gebiet der heutigen
Türkei und ihrer Grenzregionen bereits
Griechen. Es war ein sprachlich und
kulturell bunter geografischer Raum,
durch den wichtige Handelswege führten und wo reger Austausch herrschte.
Die von den Phönikiern adaptierte alphabetische Schrift begann sich erst zu etablieren, für Informationen und Unterhaltung sorgten Poeten und Sänger unterschiedlichster Couleur mit Versen und
Liedern.
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016
Odysseus – hier auf
einem Gemälde von
J.H.W. Tischbein
– inspiriert unsere
Kultur bis heute.
Detailanalysen der Antikenforscher
legen nahe, dass die «Odyssee» einige
Jahrzehnte nach der «Ilias» entstand, die
Epen also mindestens zwei Autoren
haben. Ob Homer einer davon war, oder
ob dieser Dichter nur als Legende existierte, konnte bisher nicht geklärt werden. Einigkeit herrscht dagegen darüber,
dass im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr.
mehrere Gelehrte der legendären Bibliothek von Alexandria Herausgeber der für
uns massgeblichen Homer-Texte waren.
Ebenso mehrdeutig wie die Entstehungsgeschichte der Homer-Epen ist
deren Interpretation. John Freely zitiert
deshalb bei seiner Rezeption längere Passagen des Werks und schiebt Erläuterungen dazwischen. Die berühmteste aller
Homer-Diskussionen ist sicherlich die
Frage um Troia, die seit den archäologischen Grabungen Schliemanns phasenweise zu hochgiftigen Streitereien führte. Lag Homers Troia unter diesem oder
Er widmet dem Troia-Thema drei lange
Kapitel und nimmt erst in der Mitte des
Buchs den Faden der «Odyssee» neu auf,
um mehr von den Spuren des Odysseus
auf dessen Irrfahrten zu erzählen.
Insofern ist die Titelei des Verlags
verwirrend. Wer einen Touristenführer
erwartet, in dem alle Stationen des Helden übersichtlich aufgelistet und geografisch dargestellt sind, wird enttäuscht
sein. Freelys Buch ist eine Hommage an
seine Jugendliebe Homer, der bis in unsere Zeit unzählige andere Dichter und
Schriftsteller entzückte. Eine Liebeserklärung, die von mehr als 70 Jahren Forschen und Reisen beseelt und prall voll
Wissen ist.
Bei dieser Fülle wird jeder einiges finden, das ihm bleibt. So macht es beispielsweise schlicht Spass zu erfahren,
dass die berühmten «geflügelten Worte»
älterer Homer-Übersetzungen das Bild
nicht treffend wiedergeben. Das Wort
habe keine Flügel, sondern sei wie
ein Pfeil mit Stabilisationsfedern. Das
schreibt allerdings nicht Freely, sondern
sein Übersetzer Jörg Fündling. Der Aachener Althistoriker und Autor von «Die
Welt Homers» hat im Anhang geistreiche
Anmerkungen eingebaut, die den fachlichen Horizont des Buchs erweitern.
Ans Ende seines Homer-Werks setzt
auch John Freely eine hübsche Anekdote. Mitte der 1960er-Jahre kam er im
Urlaub auf der Insel Marmara mit einer
«freundlichen Dame mittleren Alters»
ins Gespräch, deren Mann einst jene
amerikanische Schule in Istanbul besucht hatte, an der Freely damals unterrichtete. Als sich die Frau nach ihrem
Gatten umschaute, unterhielt sich der
«weisshaarige alte Herr mit Brille» gerade mit Freelys Nachwuchs, trat heran
und stellte sich vor: «Mein Name ist
Homer. Ich habe Ihren Kindern von
Odysseus und vom Troianischen Krieg
erzählt.»
«Und so geht die Odyssee weiter»,
konstatiert John Freely. Wie wahr. Selbst
wenn nichts davon faktisch stimmen
würde, Homers Geschichten aus dem
Quellgebiet unserer Kultur sind zu gut
erzählt, um je ihre Inspirationskraft zu
verlieren. ●
Geschichte Zwischen 1899 und 1902 fochten in Südafrika die Kolonialmächte gegeneinander.
Der Historiker Martin Bossenbroek zeigt, wie der Burenkrieg aufs 20. Jahrhundert vorauswies
KapdesschaurigenKampfes
Von Urs Bitterli
Die Geschichte der europäischen Übersee-Expansion berichtet nicht nur von
der Unterjochung und Ausbeutung fremder Kulturvölker; sie ist auch die Geschichte von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden
Kolonialmächten selbst. Einer der verlustreichsten dieser Konflikte war der
Burenkrieg, in welchem die Engländer
zwischen 1899 und 1902 gegen die Nachfahren der holländischen Pioniersiedler
am Kap der Guten Hoffnung einen wenig
rühmlichen Sieg erfochten.
Die Buren waren in den Jahren
1836 und 1838 im «Grossen
Treck» aus dem Küstenbereich ins nördliche und
nordöstliche Hinterland
eingedrungen und hatten,
in der Hoffnung, ihre staatliche Eigenständigkeit und
Mentalität zu bewahren, den
Oranje-Freistaat und die Republik
Transvaal gegründet. Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Nach der
Jahrhundertmitte lockten Diamanten- und Goldfunde Massen von Kolonisten und
Abenteurern ins Land, und
England witterte die Möglichkeit, seine imperialistische Vision einer kolonialen Landverbindung von
Kairo zum Kap zu verwirklichen. Der Krieg
wurde unausweich-
lich, und seine Opferbilanz war erschreckend: Über 20000 englische und gegen
6000 burische Soldaten fielen im Kampf,
rund 30000 Zivilpersonen starben an
Krankheiten und Hunger, und die Opfer
unter den Schwarzafrikanern werden auf
weit über 10000 geschätzt.
Zur Geschichte des Burenkrieges gibt
es eine reiche, um Ausgewogenheit des
Urteils bemühte englischsprachige Fachliteratur. Nun hat Historiker Martin
Bossenbroek eine Geschichte dieser Auseinandersetzung verfasst, welche die
niederländische Perspektive verstärkt
berücksichtigt. Der Autor wählt einen
originellen Zugang zum
Thema. Er stellt drei herausragende
Akteure
des Geschehens ins
Zentrum: den niederländischen Diplomaten Willem
Leyds, den burischen Kämpfer
Deneys Reitz und
jenen jugendlichen Draufgänger
Winston Churchill,
dessen spektakuläre
Flucht aus burischer
Gefangenschaft damals die Weltöf-
HULTON ARCHIVE/GETTY IMAGES
Martin Bossenbroek: Tod am Kap. Geschichte des Burenkriegs. C.H. Beck, München
2016. 624 Seiten, Fr. 42.90, E-Book 27.–.
Winston Churchill,
der als 25-Jähriger in
burische Gefangenschaft geriet, ist eine
von drei Hauptfiguren
in Bossenbroeks
Kriegsgeschichte.
fentlichkeit beschäftigte. Von einer Figur
zur anderen hinüberwechselnd, doch
den Blick auf das Ganze nie verlierend,
gelingt Bossenbroek eine hervorragende
Gesamtdarstellung. Der Autor ist ein
blendender, von seinem Übersetzer gewandt sekundierter Erzähler. Er setzt
seine Quellen mit Sinn für die erhellende
Nuance ein, und zwar besonders meisterhaft dort, wo es gilt, das Dickicht der
machtpolitischen Interessen im Hintergrund der Kampfhandlungen zu durchdringen. Bossenbroek ist es gelungen,
ein dem kollektiven Bewusstsein längst
entschwundenes Geschehen, an dem
sich die Triebkräfte und Visionen des europäischen Imperialismus beispielhaft
aufzeigen lassen, in die Gegenwart des
heutigen Lesers zurückzurufen.
Der Burenkrieg wies, wie Bossenbroek
zeigt, in mancher Hinsicht auf die Kriege
des 20. Jahrhunderts voraus. Dies gilt
etwa von der «Taktik der verbrannten
Erde», mit der die Engländer auf den
Guerillakrieg der Buren antworteten.
Und es gilt von den Deportationen der
ländlichen Zivilbevölkerung in Lager, die
bei aller Rücksichtslosigkeit des Vorgehens mit den Konzentrationslagern der
Nazis nicht gleichgestellt werden sollten.
Ein in diesem Umfang neues Phänomen
war auch der Einsatz der Propaganda.
Die Meldungen der Kriegsberichterstatter lösten in Europa heftige Debatten
aus, in denen sich die Frontlinien des
Weltkrieges bereits abzeichneten. In
Deutschland ergriff man vehement Partei für die Buren. Ähnlich reagierte man
übrigens auch in der deutschsprachigen
Schweiz, wobei sich die Touristikregionen mit Rücksicht auf ihre englischen
Gäste freilich in vorsichtiger Zurückhaltung übten. ●
Reisebericht Der Versuch, die Ukraine zu verstehen, führt Jens Mühling zu Wodka und Schweinefett
Bei den Menschen hinter dem Konflikt
Jens Mühling: Schwarze Erde.
Eine Reise durch die Ukraine. Rowohlt,
Reinbek bei Hamburg 2016. 286 Seiten,
Fr. 28.90, E-Book 18.–.
Von Lukas Mäder
Ein nicht mehr ganz junger Mann, um die
vierzig. Er kennt Osteuropa, spricht Russisch, hat lange in der Region gelebt. Und
er möchte die Ukraine kennenlernen:
das Land, das durch die Proteste auf dem
Maidan, durch die Annexion der KrimHalbinsel und den Krieg im Osten auseinandergerissen wurde. Das Land, in
dem Lenin plötzlich von den unzähligen
Sockeln auf den Hauptplätzen der Städte
gestürzt wurde, ein ukrainischer Nationalismus aufflammte und das einstige
Brudervolk zum Todfeind wurde.
Der nicht mehr ganz junge Mann ist
der Journalist Jens Mühling, der vor rund
einem Jahr zu seiner Reise aufgebrochen
ist: von der EU-Aussengrenze zu Polen
im Westen bis zu den Karpaten; von der
Hauptstadt Kiew auf die russisch annektierte Krim, und über die Frontlinie in die
Separatistengebiete bis an die Grenze zu
Russland. Er durchquert das Land auf
der Suche nach dem Riss, der es teilt und
seine Menschen trennt.
Die Begegnungen mit den Menschen
machen das Buch denn auch aus: Wenn
der Autor mit einem der wenigen gebliebenen Juden des einst so jüdischen Czernowitz zum Wodka die ukrainische Nationalspeise Salo – weisses Schweinefett
– isst. Wenn er die Veteranen des Maidans
in Kiew, die stundenlang den ukrainischen Nationaldichter Schewtschenko
rezitieren, enttäuscht, weil er als Deut-
scher kein Goethe-Gedicht auswendig
kennt. Oder wenn er dem neuen, prorussischen Direktor des Naturschutzparks im Separatistengebiet klarmacht,
dass sich westliche Investoren kaum für
den alten Hotelbau an der Küste interessieren werden.
Diese Begegnungen lassen den Geschichtenerzähler Mühling aufblühen,
aber nicht nur als Beobachter. Der Autor
ist mit seinen Vorurteilen, seinem Unwissen und seinen Sympathien Teil der
Erzählung, was dem Text Tiefgang gibt:
Meist flott geschrieben, berührend und
lustig, regt das Buch auch zum Nachdenken an. Und wie dem Autor geht es am
Ende auch dem Leser: Er hat den aktuellen Konflikt in der Ukraine, den Riss
durch das Land, nicht ganz verstanden.
Aber er hat Menschen kennengelernt, die
damit leben. ●
24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Demokratie Diverse Politologen und Juristen machen Vorschläge zur Reform der Volksinitiative. Als
mangelhaft erweist sich in ihrem Band indes vor allem die helvetische Diskussionskultur
EinPolitinstrumentunter
dereinseitigeingestelltenLupe
Georg Kreis (Hrsg.): Reformbedürftige
Volksinitiative. Verbesserungsvorschläge
und Gegenargumente. NZZ Libro, Zürich
2016. 144 Seiten, Fr. 24.90, E-Book 14.90.
Von René Roca
«Verbesserungsvorschläge und Gegenargumente» – der Untertitel des Buches,
das mit der Volksinitiative ein wichtiges
Instrument unseres Politsystems unter
die Lupe nimmt, suggeriert, dass der
Leser Beiträge studieren kann, die das
Pro und Contra von Reformmassnahmen
zu Papier bringen. Dem ist aber nicht so.
Die Auswahl der Autoren beschränkt sich
praktisch ausschliesslich auf solche, die
Verbesserungsvorschläge machen und
die politisch eine klar linksliberale Ausrichtung vertreten. Die insgesamt acht
Beiträge, überwiegend verfasst von Politologen und Juristen, wiederholen folglich allzu oft dieselben Argumente: Die
meisten Autoren beklagen die Initiativenflut und beanstanden, dass immer
mehr Volksinitiativen in einen «Konflikt»
mit dem Völkerrecht oder den Menschenrechten geraten.
Gegenargumente fehlen
Die Lösung sieht man in der Hauptsache
in einer Stärkung des Bundesgerichts
oder allgemein der richterlichen Stellung. Mit dieser einseitigen Ausrichtung
und dem weitgehenden Verzicht auf die
Geschichte Einblicke in die Ära des Auges
im Titel angekündigten «Gegenargumente» wird das Buch dem eigenen Anspruch, «eine Plattform für wichtige
staatsrechtliche, politische, ökonomische und zeitgeschichtliche Fragen der
Schweiz» zu sein, nicht gerecht. Auch der
aktuelle historische Forschungsstand
zum Thema fliesst zu wenig ein. Die direkte Demokratie auf Bundesebene war
nur möglich nach jahrzehntelangen politischen Kämpfen in den einzelnen Kantonen. Dazu existieren mittlerweile einige Studien, die bei Reformvorhaben
konsultiert werden sollten. So müsste
man beispielsweise die positiven Erfahrungen vieler Kantone mit der Gesetzesinitiative mit einbeziehen und für die
Bundesebene fruchtbar machen. Als Reformvorschlag taucht die Gesetzesinitiative bei Lukas Rühli auf, wird aber zu
wenig historisch reflektiert.
Auch im ersten Kapitel des Herausgebers, das die Anfänge der Volksinitiative
auf Bundesebene beleuchten will,
werden die historischen Wurzeln praktisch komplett ignoriert. Wer aber, wie
Georg Kreis, punkto Gegenwartsanalyse
von einem «fundamentalistischen» und
«verabsolutierenden Umgang» mit der
Volksinitiative spricht, darf den historischen Blickwinkel nicht ausser Acht lassen. Erstaunlich auch, dass Guisep Nay
die neue Bundesverfassung von 1999 als
«Nachführung» bezeichnet. Einige Probleme bei der Umsetzung von Volksinitiativen verdanken wir der neuen Bundesverfassung, in die undeklariert Begriffe wie «Völkerrecht» und «Verhältnismässigkeit» integriert wurden. Diese
Fragestellung wäre durchaus einen Beitrag wert gewesen.
Die ehemalige Ständerätin Christine
Egerszegi gibt im Gegenzug einen guten
Über- und Einblick in die parlamentarische Debatte und die Schwierigkeiten,
die einer Reform der Volksrechte in den
beiden Kammern begegnen.
Mehr politische Bildung
1789, 1848, 1914 – diese Jahreszahlen mögen einem in
den Sinn kommen, wenn man an die grossen Zäsuren
der Moderne denkt. Aber 1839? Am 19. August dieses
Jahres präsentierte Louis Daguerre in Paris das erste
fotografische Verfahren und damit eine Erfindung, die
die Wahrnehmung, und zuweilen auch die Läufe der
Welt auf revolutionäre Weise verändern sollte.
Erstaunt ob der Vernachlässigung der «Visualität» in
der traditionellen Geschichtsschreibung, hat der in
Flensburg lehrende Historiker Gerhard Paul der epochemachenden Kraft des Bildlichen ein imposantes
Werk gewidmet. Es zeigt (durchaus auch mit Worten),
wie Bilder seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in ver24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016
schiedener Gestalt – von der Fotografie über die Kinematografie bis zu TV und Internet – in alle Bereiche des
Lebens drangen, dort etwa die Wissenschaften beeinflussten, die Politik prägten oder die Lesepraxis veränderten und letztlich einen ganz neuen Menschentypus
hervorbrachten: Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert ist der schriftfixierte Gutenberg-Bürger einem
«Visual Man» gewichen, der Bilder nicht nur gierig rezipiert, sondern je länger je mehr auch selber produziert
– die Geschichte des visuellen Zeitalters ist noch lange
nicht zu Ende geschrieben. Claudia Mäder
Gerhard Paul: Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel.
Wallstein, Göttingen 2016. 760 S., 949 Abb., Fr. 51.–.
Fakt ist, die Schweiz besitzt ein einzigartiges politisches System der Mitsprache.
Diesen Punkt arbeiten einzelne Autoren
gut heraus, so etwa Andreas Gross. Das
Volk, der Verfassungs- und Gesetzgeber,
will frei bleiben. Reformen der direkten
Demokratie müssen deshalb wohlbegründet sein, sonst findet sich in einer
Abstimmung nie eine Mehrheit. Ein
wichtiges Reformvorhaben wäre die Förderung der politischen Bildung an unseren Schulen. Gross erwähnt sie in seinem
Beitrag als einziger. In mehreren Kantonen sind nun Jungparteien daran, das
Fach wieder in den Lehrplänen zu verankern – mit Volksinitiativen! ●
René Roca ist promovierter Historiker,
Gymnasiallehrer und Leiter
des Forschungsinstituts direkte
Demokratie (www.fidd.ch)
Porträt Der deutsche Journalist Wolfgang Koydl lobt die Schweiz als Vorbild für Europa
DieEidgenossensindWeltmeister
imBessermachen
Wolfgang Koydl: Die Bessermacher.
Die Schweiz kann’s einfach besser.
Orell Füssli, Zürich 2016. 223
Seiten, Fr. 19.90, E-Book 15.90.
Von Urs Rauber
Wolfgang Koydl (64) bereiste jahrelang die Welt als Reporter, dpaKorrespondent (in Kairo und Moskau) und Reiseschriftsteller (rund
ein Dutzend Bücher). Der Deutsche arbeitete für BBC und «Washington Post», war Auslandchef
bei der Wiener Tageszeitung «Die
Presse» und berichtete für die
«Süddeutsche Zeitung» aus Istanbul, Washington, London und Zürich, bevor er sich 2011 in der
Schweiz niederliess. Seit zwei Jahren schreibt der scharfsinnige Beobachter und elegante Stilist, der
persönlich eher unscheinbar auftritt und eine liebenswürdige, geradezu unteutonische Bescheidenheit an den Tag legt, für Roger
Köppels «Weltwoche». Mit diesem
teilt er nicht unbedingt die politischen Auffassungen, wohl aber die
Liebe zur Schweiz und deren Sonderfall.
Weniger Prominente
Ginge es nach
Wolfgang Koydl,
würde die Schweiz
ihre Einzigartigkeit
in Europa offensiver
vertreten.
Hazel Brugger (Poetry-Slammerin und
Stand-up-Comedian). In diesen und
einem Dutzend weiteren lustvoll zugespitzten Lebens- und Arbeitsgeschichten
verdeutlicht Koydl, worin die Schweizer
Kunst besteht, es «besser als andere» zu
machen.
Aktiv für die Werte werben
PETER KLAUNZER / KEYSTONE
Natürlich registriert man als Einheimischer gerne Lob aus berufenem ausländischem Mund. Dabei
ist nicht alles, was Koydl in seinem
aktuellsten Werk «Die Bessermacher» schildert, neu. Manches
hat er in seinem fast gleichlautenden Buch «Die Besserkönner» bereits 2014 beschrieben: das ausgeklügelte Funktionieren des politischen Systems, den wirtschaftlichen Erfolg, die dafür verantwortlichen typisch helvetischen Werte
und Eigenschaften. Wir haben das
Buch damals als «Masterarbeit
ohne Anmerkungsapparat» zum
Sonderfall Schweiz vorgestellt. Ein
Buch, dem Jean Ziegler wie Christoph Blocher gleichermassen Respekt zollten.
Anders als im ersten Buch finden sich im neuen weniger Prominente unter den Porträtierten,
dafür wunderbare Trouvaillen:
Zum Beispiel der Tessiner Padrone
Silvio Tarchini (Gründer der Fox
Town Factory Stores, Mendrisio),
die Anstandsdame Viviane Neri
(Institut Villa Pierrefeu, Montreux), der Musiker, Töffmechaniker und Selfmade-Unternehmer
Werner «Wieni» Keller (Discountkette Import Parfumerie) oder
die «Schweizer Kodderschnauze»
Immer wieder überrascht der Verfasser
mit Erkenntnissen, die man – vielleicht
unbewusst – auch hatte, aber nie so präzis auf den Punkt brachte wie der freundliche Nachbar aus Deutschland. «Ja,
genau», ist man wiederholt versucht beizupflichten. Im Unterschied zu vielen
selbstquälerischen Kritikerstimmen der
Intellektuellenszene oder der schreibenden Zunft, die sich mit dem eigenen
Land schwertun und auf das Finstere fokussieren (das es natürlich gibt), beschreibt Koydl die Schweiz in ihrer unspektakulären Normalität, ihrem Pragmatismus, ihrem steten Willen zur Integration und zum Ausgleich – Faktoren,
die exakt das helvetische Erfolgsrezept
ausmachen. Koydl lobt das «Dilettieren»
in der Politik und das Milizprinzip ebenso wie die soziale Kontrolle in der Öffentlichkeit (so, wenn jemand einen Jugendlichen im Zug zurechtweist, der die Füsse
auf das Sitzpolster legt). Solche Verhaltensweisen würden ohne autoritären
Druck «zu einem erfreulicheren Zusammenleben» beitragen.
Wolfgang Koydl hat sich inzwischen
zu einem der besten Schweiz-Kenner
entwickelt; er beobachtet die Regungen
des Landes, ähnlich einem Peter von
Matt oder Peter Bichsel, die das auf literarische Art tun. Was er über die Empfindung der Rätoromanen, über das
Bemühen von Nationaltrainer
Vladimir Petkovic, die
Herzen der Schweizer
Fussballfreunde zu erobern, oder über das 63 504
Kilometer lange Netz der
Schweizer Wanderwege
zu erzählen weiss, ist
schlicht
grossartig,
weil es präzis den
Mechanismus dieses
Landes offen legt.
Darüber
hinaus
deckt der Weitgereiste Besonderheiten auf, die man –
würde er sie nicht
mit Untersuchungen
belegen – eher als blühende Phantasie abtäte: nämlich dass die
Schweizer
verglichen
mit ihren Nachbarn ein
unverschämtes Sexualleben pflegen. So bezeichnete das britische Boulevardblatt «The Sun» die
Schweizerinnen und Schweizer nach
einer Befragung von 35 000 Menschen
aus 30 Ländern unlängst als «Sexweltmeister». Auch für ein einheimisches Publikum bietet das Buch eine
Fülle erstaunlicher neuer Einsichten.
Im Schlusskapitel dann legt Koydl
seine Zurückhaltung ab und spricht uns
ins Gewissen: Die USA seien als Vorbild
ausgefallen, und die grossen europäischen Rezepte und Beglückungsvisionen
trügen den Keim des Scheiterns in sich.
Deshalb müsse die Schweiz ihre Einzigartigkeit in Europa offensiver vertreten.
Sie sei «die einzige 100-prozentige Demokratie der Welt» und trage eine Verantwortung für das «Überleben der Herrschaft des Volkes als beste Regierungsform». Sie solle über ihren Schatten der
Nichteinmischung springen, auch angesichts des in Gefahr geratenen Bilateralismus, indem sie für sich und ihre Werte
werbe und aktiv die demokratischen
Prinzipien propagiere. Der Boden für
mehr Schweiz sei in Europa längst gelegt: für mehr Demokratie, das Milizsystem, den Föderalismus. Eine starke,
selbstbewusste, selbstsichere Schweiz
solle vorführen, «was sie am besten
kann: Dinge besser zu machen». ●
24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Gesellschaft Eine Gruppe von Soziologen stellt fest, dass psychische Leiden zunehmen – und dies in
einer Zeit, die eine nie dagewesene Vielfalt an Wellnessangeboten kennt
Erschöpft statt erholt
Wellness. Die Titel zu den Themen gesunder Ernährung, Fitness, Schlaf, Entspannung sind mittlerweile Legion. Selbiges gilt für die Zeugnisse dafür, wie
krankmachend unser heutiger Lebensstil ist: das beschleunigte Tempo, die zunehmende Reizüberflutung durch die
Medien, das Multitasking, die gewachsenen Anforderungen im Berufsleben.
Der vorliegende Band demonstriert,
wie diese «kontemporären gesellschaftlichen Bedingungen mit depressiver Erschöpfung in eins gehen». Einen interessanten Ansatz verfolgt Monica Greco,
indem sie zeigt, welche Auswirkungen
gesellschaftliche Anforderungen und
Selbstbilder haben können. Kurz gefasst:
Das neoliberale Subjekt wird als autonom, verantwortlich und selbstsicher
dargestellt. Dieses Idealbild produziert
dann geradezu das neurotische Subjekt,
das sich ständig überfordert sieht, ängstlich und unsicher ist. Spannend in die-
Elisabeth Mixa et al. (Hrsg.): Un-WohlGefühle. Eine Kulturanalyse
gegenwärtiger Befindlichkeiten.
Transcript, Bielefeld 2016. 276 S.,
Fr. 39.90, E-Book 29.40.
Von Walter Hollstein
Wir leben in einem seltsamen Widerspruch. «Gegenwärtige westliche Gesellschaften sind von einem Paradoxon gekennzeichnet: Einem gesellschaftlichen
Imperativ auf Wohlgefühle korrespondiert eine alarmierende Zunahme an psychischen Leidenszuständen.» Mit letzteren gemeint sind Depressionen, Angstzustände, Borderline und Burnout. Der
vorliegende Band subsumiert das und
anderes unter dem Begriff der «Unwohlgefühle». In erstaunlichem Gegensatz dazu steht der Boom der Ratgeberliteratur für die Bereiche Gesundheit und
sem Kontext ist auch der Ansatz von
Linda V. und Torsten Heinemann, die ZunahmevonBurnoutals«Siegerkrankheit»
zu verstehen. In dieser Optik argumentiert auch Elisabeth Mixa: Hinter dem,
was so einfach und schön als «WohlfühlVersprechen» daherkommt, macht sie
eine sinistre Absicht aus: «Wellness bietet neue identitätsstiftende Mechanismen zur raschen und effektiven Wiederherstellung der Arbeitskraft, verstanden
als Freizeitarbeit am Selbstdesign.»
Im Gegensatz zu anderen Publikationen begnügt sich der Band aber nicht mit
Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen, sondern thematisiert auch andere Faktoren, die den Leidensdiskurs
unserer Epoche befördern, etwa die
«Marktexpansionsdynamiken der Pharmaindustrie» oder die Eigeninteressen
von Therapeuten. Insgesamt eine sehr
anregende und zum produktiven Eigendenken animierende Lektüre. ●
Das amerikanische Buch Franklin D. Roosevelts Liebe zum Schwarzwald
Grosses Drama mit einem charismatischen Protagonisten bietet der Historiker Douglas Brinkley in Rightful Heritage: Franklin D. Roosevelt and the
Land of America (HarperCollins, 744
Seiten). Anerkannt als Meister seines
Fachs, knüpft der Professor der Rice
University in Texas hier an seinen Bestseller «Wilderness Warrior» (2009) über
Präsident Theodore Roosevelt (1885–
1919) als Naturschützer an. War TR der
Vater der Nationalparks, hat FDR (1882–
1945) die Landschaft Amerikas geprägt
wie kein Präsident vor oder nach ihm.
Er stellte rund 200 Naturgebiete und
historische Stätten unter permanenten
Schutz. Während seiner Amtszeit
pflanzten die 3,4 Millionen Mitglieder
des von ihm gegründeten Civilian Conservation Corps (CCC) drei Milliarden
Bäume. Doch die uniformierten «CCC
Boys» legten auch 200000 Kilometer
geteerter Strassen in schwer zugänglichen Regionen an. Zudem griff Roosevelt mit massiven Dammbauten zerstörerisch in Naturlandschaften ein.
TR und FDR teilten eine elitäre Herkunft. Aber während der Grossonkel
unberührte Wildnis permanent schützen wollte, brachte Roosevelt von zahlreichen Bildungsreisen eine Inspiration
aus Deutschland mit: Sein Modell
wurde der seit der Frühen Neuzeit
sorgsam gepflegte, aber auch von Menschen genutzte Schwarzwald.
Aufgewachsen in dem weitläufigen
Familiensitz am Hudson, entwickelte
Roosevelt schon als kleiner Junge eine
Liebe zur Natur. Während er Kontakte
zu führenden Naturschützern knüpfte,
schrieb er als Teenager für Fachblätter
der Vogelkunde. Und doch dachte und
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 24. April 2016
Douglas Brinkley
(unten) zeigt, wie
der Schwarzwald
(oben) Roosevelts
naturschützerische
Konzepte prägte.
agierte FDR stets wie ein Grossgrundbesitzer und Forstherr alter Schule. Im
Amerika des «Gilded Age» war er damit
ein Aussenseiter. Seit dem Bürgerkrieg
hatten eine explodierende Bevölkerung
und boomende Industrien zu einer rasanten Zerstörung gerade von Waldlandschaften geführt. Dieser kurzsichtigen Kahlschlagmentalität setzte Roosevelt eine Perspektive entgegen, auf die
am besten der damals noch unbekannte
Begriff «Nachhaltigkeit» zutrifft. Wie
der Buchtitel sagt, sah er Amerikas
Natur als «rechtmässiges Erbe» der gesamten Nation und ihrer Nachkommen.
Brinkley leuchtet diese Seite Roosevelts
erstmals tiefgehend aus. Er zeigt durchweg unterhaltsam, wie seine frühzeitig
geformten Ideen Roosevelts gesamte
Karriere als Landbesitzer und Politiker
inspiriert haben. So erscheint das Gut
Springwood rund um Roosevelts Herrensitz Hyde Park als Vorbild für sein
Wirken als Staatssenator und Gouverneur von New York sowie als US-Präsident. Von 1933 an verband FDRs New
Deal als historisch einzigartiges Paket
staatlicher Massnahmen den Kampf
gegen die Weltwirtschaftskrise mit Naturschutz. Initiativen wie das CCC beschäftigten im Rahmen der Works Progress Administration (WPA) insgesamt
8,5 Millionen Arbeitslose. Bei Kriegsende sah FDR in Wiederaufforstung
und Bewahrung der Umwelt gar ein Rezept für die Schaffung von Frieden und
Wohlstand rund um den Globus. Auch
die zentrale Tragödie im Leben Roosevelts geht direkt auf seinen Enthusiasmus in Sachen «Conservation» zurück:
1921 zog sich FDR beim Baden in einem
von ihm initiierten Park nördlich von
New York City Polio zu.
Brinkleys Bewunderung für Roosevelt
spricht aus jeder Seite. Aber der Historiker zeigt ihn nicht nur als unermüdlichen Netzwerker und Antreiber, sondern auch als geschmeidigen Politiker.
So nahm Roosevelt Rücksicht auf die
damalige Basis seiner Partei unter
weissen Südstaatlern und hielt beim
CCC und bei anderen Agenturen auf
Rassentrennung. Daneben lässt
Brinkley Kritiker zu Wort kommen, die
bei Roosevelts Massenorganisationen
Vergleiche mit den totalitären Regimen
in der Sowjetunion und Deutschland
anstellten. Ausgerechnet hier unterläuft ihm ein Schnitzer: Brinkley verwechselt die Hitlerjugend mit dem
Reichsarbeitsdienst der Nazis. ●
Von Andreas Mink
Agenda
Maler des Hochadels Franz Xaver Winterhalter
Agenda Mai 16
Basel
Dienstag, 10. Mai, 19.30 Uhr
Wolfgang Koydl: Die Bessermacher.
Lesung und Gespräch. Moderation:
Markus Wüest, Eintritt frei. Kulturhaus
Bider & Tanner, Aeschenvorstadt 2.
Reservation: 061 206 99 96.
Mittwoch, 11. Mai, 19.30 Uhr
Ulrich Tilgner: Die Logik der Waffe.
Moderation: Willi Herzig, Fr. 25.–.
Volkshaus, Rebgasse 12–14.
Info: www.literaturhaus-basel.ch.
Dienstag , 24. Mai, 19 Uhr
Peter Stamm: Weit über
das Land. Lesung und Gespräch. Moderation: Nicola
Steiner, Fr. 18.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3.
Tickets: www.literaturhaus-basel.ch.
Bern
Der deutsche Maler Franz Xaver Winterhalter (1805–
1873) hat nahezu alle Monarchinnen und Monarchen im
Europa seiner Zeit porträtiert. Einen Namen machte er
sich zunächst in Paris. Hier wurde er nach 1834 zum Hofmaler von Louis-Philippe, dem Bürgerkönig. 1855 schuf
er sein Meisterwerk, «Kaiserin Eugénie mit ihren Hofdamen». Das grossformatige Gruppenporträt (es misst
295 × 420 cm) wurde erstmals an der Pariser Weltausstellung und sodann im Wiener Kunstverein gezeigt.
Die Königin in ihrem weissen, mit violetten Schleifen
verzierten Kleid hält einen Geissblattzweig in der Hand,
als wäre er ein Zepter. Das monumentale Bild entstand
in grosser Eile, wie Tropfspuren im Hintergrund zeigen.
Dieser Umstand wurde von Pariser Kritikern ebenso bemängelt wie die Frivolität des Bildes. Gleichwohl wurde
es als Druck weit verbreitet und galt nach 1870 als Symbol der «Fête impériale». Zehn Jahre nach diesem Bild
schuf Winterhalter sein Porträt der österreichischen
Kaiserin Elisabeth, genannt «Sisi». Manfred Papst
Franz Xaver Winterhalter: Maler im Auftrag Ihrer
Majestät. Arnoldsche Art Publishers, Stuttgart 2016.
256 Seiten, 101 Bildtafeln, Fr. 57.–.
Bestseller April 2016
Belletristik
Sachbuch
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10
Peter Stamm: Weit über das Land.
S. Fischer. 224 Seiten, Fr. 25.90.
Harlan Coben: Ich schweige für dich.
Goldmann. 416 Seiten, Fr. 20.90.
Nicholas Sparks: Wenn du mich siehst.
Heyne. 576 Seiten, Fr. 28.90.
John Irving: Strasse der Wunder.
Diogenes. 784 Seiten, Fr. 26.40.
Jonas Jonasson: Mörder Anders und seine
Freunde. Carl’s Books. 352 Seiten, Fr. 21.90.
Jojo Moyes: Ein ganz neues Leben.
Wunderlich. 528 Seiten, Fr. 28.90.
Charles Lewinsky: Andersen.
Nagel & Kimche. 400 Seiten, Fr. 23.90.
Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit.
Diogenes. 368 Seiten, Fr. 31.90.
Jussi Adler-Olsen: Verheissung.
DTV. 596 Seiten, Fr. 25.90.
Siegfried Lenz: Der Überläufer.
Hoffmann und Campe. 367 Seiten, Fr. 27.40.
Silvia Aeschbach: Älterwerden für Anfängerinnen. Wörterseh. 176 Seiten, Fr. 26.90.
Giulia Enders: Darm mit Charme.
Ullstein. 288 Seiten, Fr. 22.90.
Lisbeth Herger: Unter Vormundschaft.
Hier und Jetzt. 200 Seiten, Fr. 42.90.
M. Schmieder, U. Entenmann: Dement, aber
nicht bescheuert. Ullstein. 224 S., Fr. 25.90.
Peter Wohlleben: Das geheime Leben der
Bäume. Ludwig. 224 Seiten, Fr. 26.90.
Jesper Juul: Leitwölfe sein.
Beltz. 216 Seiten, Fr. 21.90.
I. Zachenhofer, M. Reddy: Kopfsache schlank.
Edition A. 208 Seiten, Fr. 23.90.
Ajahn Brahm: Der Elefant, der das Glück vergass.
Lotos. 240 Seiten, Fr. 22.90.
Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu
tun? Kiepenheuer & Witsch. 256 S., Fr. 27.90.
Michael Nast: Generation Beziehungsunfähig.
Edel. 240 Seiten, Fr. 19.90.
Erhebung GfK Entertainment AG im Auftrag des SBVV; 12.04.2016. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Mittwoch, 4. Mai, 19.30 Uhr
Werner Adams: In einem kalten Land.
Lesung. Buchhandlung Weyermann,
Herrengasse. Reservation: 031 311 59 59.
Montag, 9. Mai, 20 Uhr
Nora Gomringer, Michael Fehr: Achduje
& Simeliberg. Performance, Fr. 20.–.
Stauffacher Buchhandlungen, Neuengasse 25/37. Reservation: 031 313 63 63.
Zürich
Sonntag, 8. Mai, 20 Uhr
Yann Martel: Die hohen Berge Portugals.
Lesung, Fr. 25.–. Kaufleuten, Pelikanstrasse 18. Info: www.kaufleuten.ch.
Dienstag, 10. Mai, 19.30 Uhr
Unterwegs mit Wilhelm Tell. Lesung
und Gespräch mit Annette Hug,
Michael Blatter, Valentin Groebner.
Moderation: Peppina Beeli, Fr. 18.–.
Literaturhaus, Limmatquai 62,
Reservation: 044 254 50 00.
Mittwoch, 11. Mai, 20 Uhr
Literatur Hoch Zwei: Moby Dick und die
Krake. Lesung mit Stefan Zweifel und
Thomas Sarbacher, Fr. 45.–. Miller’s,
Seefeldstrasse 225. Reservation:
044 387 99 79.
Dienstag, 17. Mai, 20 Uhr
Juli Zeh: Lesung und
Gespräch. Moderation:
Gesa Schneider,
Fr. 25.–. Kaufleuten
(siehe oben).
Mittwoch, 18. Mai, 20 Uhr
Laura De Weck: Politik und Liebe
machen. Lesung und Gespräch.
Moderation: Hannes Nussbaumer,
Fr. 25.–. Kaufleuten (siehe oben).
Bücher am Sonntag Nr. 5
erscheint am 29.05.2016
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind
– solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ,
Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich.
24. April 2016 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
Die deutsche Autorin, Journalistin und Juristin liest aus
Unterleuten – ihrem grossen
Gesellschaftsroman
DIENSTAG 17.05.2016
20 UHR IM KLUBSAAL
Ticketpreise: 28.–/18.– (mit einer Karte der Zürcher Kantonalbank, AHV/IV oder mit Legi)
Spezialangebot: 78.– (inkl. 2-Gänge-Menü)
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Gebührenfreie Ticket-Reservation:
In Zusammenarbeit mit:
KAUFLEUTEN.CH
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