Literat und orat. Grundbegriffe der Analyse
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Literat und orat. Grundbegriffe der Analyse
Grazer Linguistische Studien 73 (Frühjahr 2010); S. 21-150 Literat und orat. Grundbegriffe der Analyse geschriebener und gesprochener Sprache Utz Maas Universität Graz Vorbemerkung ..............................................................................................................................23 TEIL I – HEURISTIK: INFORMELLE KLÄRUNG.................................................................23 1. Heuristische Vorüberlegung: die alltagsnahe Begrifflichkeit .........................................23 2. Erste Annäherung an eine Modellierung: die kommunikative Begrifflichkeit vs. Schulgrammatik ...........................................................................................................................25 3. Die funktionale Betrachtung - Registerarchitektur ..........................................................37 4. Register / Textsorten / Literarische Sprache ......................................................................42 5. Funktionale vs. normative Analyse: literate vs. "gute" Sprache ....................................48 6. Sprachausbau I: die ontogenetische Perspektive (und didaktische Konsequenzen) ..54 7. Sprachausbau II: Typologische Perspektiven - Literate Strukturen und Schriftkultur I................................................................................................................................65 8. Zwischenfazit: (vorläufige) Definition des Literaten .......................................................69 TEIL II – ELEMENTE EINER FORMALEN MODELLIERUNG.........................................71 1. Literate Strukturen als Strukturen des Symbolfelds.........................................................71 2. Formstrukturen: die syntaktische Basis für die Analyse orater und literater Strukturen (Satz als Grundkategorie) ......................................................................................78 2.1. Proposition und Nexus...................................................................................................78 2.2. Propositionale Ausbauformen (Adjunkte) .................................................................83 2.3. Komplexe Propositionen I: Satzgefüge .......................................................................84 2.4. Junktion I: Koordination ................................................................................................86 2.5. Junktion II: Attribution ..................................................................................................86 2.6. Das Segmentierungsproblem: propositionale und Satzgrenzen ............................87 2.7. Komplexe Propositionen II: Nominalisierte Prädikationen....................................89 2.8. Komplexe Prädikate........................................................................................................90 3. Literate Strukturen und propositionaler Ausbau ..............................................................92 3.1. Literat als skalare Kategorie..........................................................................................92 3.2. Die Differenzierung des Modells .................................................................................93 3.3. Literate Strukturen jenseits der Satzförmigkeit? ......................................................93 3.4. Das Lexikon......................................................................................................................94 3.5. Grammatik vs. Konventionalisierung.........................................................................95 4. Kommunikative Analyse: Der Gegenpol zum Literaten: orate Strukturen.................97 4.1. Kommunikation vs. Artikulation im Symbolfeld.....................................................97 4.2. Empirische Analysen zu oraten Strukturen ..............................................................98 4.3. Orate Strukturen als Reduktion der sprachlichen Artikulation? ........................117 5. Der literate Ausbau: vorläufiges Fazit...............................................................................118 22 Utz Maas ______________________________________________________________________ TEIL III – HISTORISCHE ANMERKUNGEN...................................................................... 120 1. Fachgeschichtliche Anmerkung zu den Vorgaben der Tradition................................ 120 2. Die institutionalisierte Sprachreflexion............................................................................ 122 3. Semiotische Modellierung ................................................................................................... 127 4. Grundbegriffe der Analyse der sprachlichen Form (Grammatik) .............................. 129 5. Forschungen jenseits der philologischen Schranken: Ethnographie der Sprachen (typologische Perspektiven: Literate Strukturen und Schriftkultur II)........................... 135 6. Corpuslinguistik vs. Grammatik der gesprochenen Sprache ....................................... 142 7. Ausblick................................................................................................................................... 143 8. Literatur................................................................................................................................... 145 Literat und orat. Grundbegriffe 23 ______________________________________________________________________ Vorbemerkung Teil I dient einer konzeptuellen Klärung der Differenzierungen, die mit dem Begriffspaar literat / orat gefaßt werden. Teil II entwickelt ein deskriptives Raster für die Analyse von Äußerungen in den Polen literat / orat, wobei die Kategorie Satz als 1 Basis literater Strukturen näher bestimmt werden muß. Teil III stellt diese Überlegungen in einen fachgeschichtlichen Zusammenhang, vor allem auch in Hinblick auf die Blockierungen gegenüber diesen Fragen im Fach. TEIL I – HEURISTIK: INFORMELLE KLÄRUNG 1. Heuristische Vorüberlegung: die alltagsnahe Begrifflichkeit Geschriebene Sprache ist (bis auf den professionellen Sonderfall phonetischer Transkription) keine Abbildung gesprochener Sprache. Das muß man nicht erst wissenschaftlich entdecken, sondern gehört zu dem sprachlichen Wissen, das in unserer Gesellschaft unwillkürlich erworben wird. Kinder bringen es in der Regel in die Schule mit, und zwar auch Kinder aus sog. bildungsfernen Elternhäusern, wie ein Beispiel zeigt, das ich seit 20 Jahren immer wieder gerne anführe (P = mündlicher 2 Text, S = schriftlicher Text): 1P S 2P S 3P S 4P S 1 un d̥a maɪnə ˈmʊtɐ ʊnt maɪnə ˈʃvɛstɐ und dann ist meine (korr. aus Meine) Mutter und meine Schwester diː vɑːn ˈglaʊb ɪç bɪs ʊm ˈtsvœlf bis (gestr. um) 12.00 Uhr geblieben. ʊnt maɪnə ˈfɑːtɐ diː vɑː bɪs ˈtsvaɪ Und meine Vater war bis 2.00 Uhr diː hat nɔχ ˈdʁakula gəˈkʊkt und der hat Dracola gekuckt. Zur Illustration der elementaren Argumentation nehme ich weitgehend die Beispiele aus dem Deutschen, die ich auch in den einführenden Lehrveranstaltungen genutzt habe (aus leicht zugänglichen Werken wie Kallmeyer 1994, Stock 1996), in Hinblick auf typologische Fragen ergänzt vor allem durch Beispiele aus den in diesem Rahmen entstandenen Abschlußarbeiten. Systematischer werden diese Dinge auf der Grundlage des laufenden Forschungsprojekts zum marokkanischen Arabischen entwickelt werden, das ich gemeinsam mit meinem Wiener Kollegen Stephan Procházka durchführe (gefördert durch den österreichsichen FWF, Projekt Nummer P 21722-G20); dort werden insbesondere auch spontane Gespräche von analphabeten Sprechern ausgewertet. 2 Aus einer studentischen Arbeit im Rahmen der seinerzeitigen Osnabrücker Deutschlehrerausbildung, Beckemeyer / Tophinke (1986). 24 Utz Maas ______________________________________________________________________ Die Schreiberin, ein 10jähriges türkisches Mädchen (Tülay), hatte ihren zuvor frei 3 produzierten Text vom Tonband abgehört und dann verschriftet. Dabei hat sie ihn offensichtlich ediert: die Bearbeitung eines Textes beginnt in solchen Fällen schon beim Abhören, das bereits eine Segmentierung des Gehörten in Hinblick auf die schriftlich auszugliedernden Einheiten vornimmt: beim Abhören werden in der Regel Textsequenzen des Gesprochenen segmentiert, die Kandidaten für Sätze im Schriftlichen sind. Der mündliche Text ist in prosodisch abgegrenzte und integrierte Textblöcke (Intonationseinheiten), gegliedert, die jeweils um eine informationell reiche (lexikalische) Texteinheit gruppiert werden (markiert durch %): %und da meine Mutter und meine Schwester% die waren <glaub ich> bis um zwölf% und meine Vater% die war bis zwei% die hat noch Dracula gekuckt% In diesem Fall ist die spezifisch mündliche Gliederung in prosodische Einheiten kongruent mit der in informationellen Einheiten (Informationseinheiten), die aber in Hinblick auf die zugrundeliegenden Kriterien als Gliederungsstrukturen unabhängig sind. Dabei können in beiden Dimensionen, der prosodischen (phonologischen) wie der interpretierenden (informationellen) die Ausgliederungen feinkörniger sein: Informationseinheiten können minimal sein (aus einem Wort bestehen) oder wie hier komplexer sein: |Mutter & Schwester| und |Dracula-kucken|. Insofern verlangt die Begrifflichkeit noch eine genauere Klärung. Der schriftliche Text integriert die Einheiten des mündlichen in kompakte syntaktische Strukturen (Sätze). Dabei wird der reihende syntagmatische Aufbau im Mündlichen durch hierarchische Strukturierungen "überschrieben", hier besonders deutlich durch die Rahmenstellung des komplexen Prädikats (schriftlich ist ... geblieben vs. mündlich waren). Elemente der mündlichen Textgliederung wie das reihende und (3) fallen weg, ebenso wie lokal markierte Textverweise, die einen Zusammenhang herstellen (etwa noch in (4)). Hinter solchen formalen Editionsprozessen steht offensichtlich eine andere Ausrichtung der sprachlichen Praxis im Sprechen gegenüber dem Umgang mit der Schrift, der sich nicht auf die Praxis des (Auf-) Schreibens beschränkt, das gewissermaßen das mündlich Produzierte nur graphisch repräsentiert (transkribiert). Bei ihrer Edition richtet Tülay den vorher einer Zuhörerin erzählten Text auf einen anderen Horizont als den des Gesprächs aus: der schriftliche Text hat kein solches konkretes Gegenüber mehr, und insofern werden die Orientierungsmarkierungen für den Hörer getilgt, wie z.B. die sog. Topikalisierung durch die Linksherausstellung 4 und Markierung mit einem nachgestellten Quasi-Artikel (Mein Vater, die war...). 3 Mit einem solchen Untersuchungsverfahren sind seit über 20 Jahren an der Universität Osnabrück Seminar – und Abschlußarbeiten entstanden, die zum erheblichen Teil auch die empirische Grundlage für diese Überlegungen liefern. Die letzte "Kohorte" dieser Arbeiten ist im Laufe des Jahres 2009 als MA-Abschlußarbeiten schon auf der Grundlage einer früheren Fassung dieses Textes entstanden (auf sie verweise ich auch gelegentlich im Folgenden): Dunst (2009) , Hong (2010), Nyamaa (2009), Propp (2009). 4 Daß von der Schreiberin hier die statt mit der hochdeutschen Genuskongruenz der verwendet wird, spiegelt die bei türkischen Lernern des Deutschen häufige Neutralisierung der Genusopposition im Deutschen, die es im Türkischen nicht gibt. Literat und orat. Grundbegriffe 25 ______________________________________________________________________ Ebenso ist es bei allen anderen Elementen, die nur in einer situierten Gesprächssituation mit einem konkreten Gegenüber Sinn machen: auch Partikeln wie noch stellen auf den Erwartungshorizont eines Zuhörers ab und werden von Tülay getilgt, nicht anders als modulierende Elemente, die ihre Einstellung artikulieren (wie glaub ich). Der entscheidende Punkt ist hier nicht das Schreiben, an das solche Veränderungen gebunden wären, sondern der zugeschaltete Horizont des Lesens für den produzierten Text: anders als beim Transkribieren geht es um ein Schreiben für einen Leser, der sich einen Reim auf das Geschriebene machen soll. Im Folgenden soll es darum gehen, das in Praktiken wie der von Tülay ins Werk gesetzte sprachliche Wissen systematischer zu explizieren. Das verlangt die Abklärung der begrifflichen Grundlagen für eine solche Modellierung (das ist Ziel von Teil I). In Teil II werden die Grundstrukturen für eine beschreibende Analyse definiert: mit einer Dimension literat des Sprachausbaus und komplementär dazu zu oraten Strukturen in der Kommunikation. Die besonderen Probleme einer typologisch orientierten Analyse kommen schon in Teil I zur Sprache (Kap. 4); die Abklärung der methodischen Schritte in Teil II erfolgt dann vorwiegend mit Bezug auf das Deutsche, da so die Prämissen der Argumentation transparenter sind. In Teil III folgt ein Abriß des wissenschaftlichen Hintergrundes für eine solche Modellierung (nicht nur der sprachwissenschaftlichen Fachgeschichte i.e.S.). 2. Erste Annäherung an eine Modellierung: die kommunikative Begrifflichkeit vs. Schulgrammatik 2.1. Wie das Beispiel in (1.) zeigt, sind Differenzierungen über die medial faßbaren Unterschiede von gesprochener und geschriebener Sprache hinaus in Alltagspraktiken solide verankert. Darauf zielt auch die institutionelle Sprachreflexion seit der Antike, deren Horizont ohnehin durch die Schule als primär auf die Schriftaneignung ausgerichtetem Ort bestimmt war (s. dazu III.1.). Die neuere Sprachwissenschaft arbeitet sich zwangsläufig an dieser Vorgabe ab, zunehmend auch mit dem Bemühen, von einer rein negativ definierten Abgrenzung von den schulgrammatischen Vorgaben loszukommen und einen archimedischen Punkt für einen eigenständigen Ansatz zu finden. Dafür steht seit 50 Jahren das, was vor allem im Rahmen der Generativen Grammatik Chomskys eine kognitionswissenschaftliche Modellierung genannt wird. Diese bildet auch den Horizont für das Folgende, der aber nicht auf die spezifischen Annahmen der neueren Grammatiktheorie beschränkt ist. Vielmehr wird hier das aufgenommen, was bereits zu Beginn des 20. Jhds. mit einer breiten wissenschaftstheoretischen Neuorientierung einsetzte, zu der die Phänomenologie (Husserl) und die verschiedenen Spielarten der "Denkpsychologie" (insbesondere die Gestaltpsychologie) gehörten – die damalige strukturalistische Reartikulation der Sprachwissenschaft war nur eine Version dieser Neuformierung (s. III.3.). Konstitutiv für diese Modellierung ist es, Sprachstrukturen als etwas grundsätzlich ("ontologisch") Anderes zu verstehen gegenüber den materiellen (sinnlichen) Formen, in denen wir sie erfahren – oder in anderer Perspektive: in 26 Utz Maas ______________________________________________________________________ denen wir sie praktizieren. Für ein strukturales Verständnis von Sprache (da unterscheiden sich Saussure und Chomsky nicht) ist diese nicht an die Materialität von Sprechen oder Schreiben (bzw. Hören oder Lesen) gebunden: diese setzen vielmehr Sprache voraus. Das ist strikt zu trennen von der Frage, wie Sprache empirisch gegeben ist (anders gesagt: wie sie gelernt wird): hier ist in der Ontogenese (im nicht-pathologischen Fall) das Sprechen primär (und vor dem Sprechen: das Kommunizieren, das soziale Interagieren ...). In einer groben Vereinfachung ist also bei jeder Art der Modellierung von zwei 5 begrifflichen Reihen auszugehen: Diese Unterscheidung ist in der vortheoretischen Begrifflichkeit nicht deutlich, weshalb hier terminologische Präzisierungen nötig sind, in speziellen Fall also empirisch: mündlich / schriftlich analytisch: orat / literat Ein grundlegendes Problem ist es immer, wie theoretische Begriffe zu verstehen sind. Um zirkulärer Argumentation vorzubeugen, behandle ich sie hier als Größen eigener Ordnung. Das ist davon zu unterscheiden, wie sie in der beobachtbaren Welt verankert werden können, bzw. wie ihr empirisches Gegenstück in die Welt kommt, also im Fall der Sprache: wie diese gelernt wird. In unserer Kultur ist der erweiterte Sprachausbau gebunden an den Erwerb der Schrift (an das Lernen, mit Schrift umzugehen). Von daher auch die terminologische Festlegung: ausgebaute Strukturen werden als literate Strukturen bezeichnet (< lat. lit(t)era "Buchstabe"). 2.2. Aber auch die strukturelle Analyse amalgamiert noch recht Verschiedenes: Praxisformen sowohl wie Eigenschaften, die sich an den Spuren der Praxis ablesen lassen (an ihrer Objektivierung in Texten wie bei sprachlichen Handlungen). Auf der Seite der Sprachpraxis ist die kommunikative Dimension grundlegend – jedenfalls in der Ontogenese: das Kind erwirbt Sprache in der Kommunikation. Jede Art von sprachlicher Handlung ist sozial verankert, kann insofern auch auf ihre kommunikativen Aspekte abgeklopft werden. Von diesem grundlegenden Kommunikationskonzept muß ein spezifischer Kommunikationsbegriff unterschieden werden: die interaktive Kommunikation. Im Folgenden benutze ich Kommunikation (bzw. kommunikativ) in diesem eingeschränkten Sinne - hier liegt die gleiche begriffliche Unterbestimmtheit wie bei vielen Dimensionsbegriffen vor, vgl. etwa 5 Den Terminus der Artikulation benutze ich hier in dem weiten (und systematischen) Sinne der älteren Begrifflichkeit im Gegensatz zu der sprachwissenschaftlich meist üblichen Einschränkung auf artikulatorische Phonetik u.dgl., s. dazu III.1. Literat und orat. Grundbegriffe 27 ______________________________________________________________________ Größe als (skalare) Dimension und groß als Wert auf dieser Dimension (auf die Frage wie groß ist Hans? (groß ~ Dimension) kann die Antwort sein: er ist klein (klein / groß als Werte auf der Dimension). Ausgehend von dieser Differenzierung läßt sich eine literate Praxis als nicht (dominant) kommunikativ ausgerichtet verstehen, wie es bei Tülays Editionen in dem Beispiel oben deutlich wird. Als Gegenpol zu kommunikativ kann Darstellung 6 verwendet werden, also die Dominanz des mit den Äußerungen Ausgedrückten, schematisch also: Eine schriftsprachliche Edition, wie sie auch von Tülay ins Werk gesetzt wird, ist nicht kommunikativ. Sie optimiert die sprachliche Form in Hinblick auf die Darstellung des Inhalts. Sie erfolgt unter dem Aspekt, daß es kein Gegenüber mehr gibt, das man kennt / sieht, keine gemeinsame Situation, in der man erzählt, keine begründeten Annahmen darüber, was der andere weiß. Im Gegensatz zu den oraten Strukturen im frei erzählten Text operiert ihre schriftliche Edition mit literaten Strukturen. Es ist offensichtlich, daß mediale Aspekte eine Rolle spielen. In einer schriftsprachlichen Fixierung stehen spezifisch mündliche Ressourcen zur Vereindeutung unbestimmter Ausdrucksweisen nicht zu Verfügung: die Prosodie, parasprachliche Markierungen bzw. nonverbale Ausdrucksmittel in Mimik und 7 Gestik u.dgl., die in einer situierten kommunikativen Praxis genutzt werden. Werden orate Texte in schriftlicher Form präsentiert, schafft man ihre Interpretation nur, wenn man sie sich vorliest – sie also medial ins Mündliche überführt und dabei entsprechende Markierungen einführt. Insofern gehören Strukturierungsmittel, die an das mündliche Medium gebunden sind (wie auch parasprachliche und nonverbale Mittel, die an die interaktive Konstellation von Angesicht-zu-Angesicht gebunden sind) definitionsgemäß nicht zum Literaten. Für die literate Edition ist das Herausfiltern solcher Momente eine Art Basislinie – zu unterscheiden von den spezifischen literaten Strukturen. 6 Darstellung ist in dieser Hinsicht der traditionell schon verwendete Begriff, letztlich so schon in der antiken griechischen Sprachreflexion, griech. apophasis (bei Aristoteles der logos apophantikos, gebildet mit logos, dem medial unspezifischen Terminus für einen sprachlichen Ausdruck); auch Bühler benutzt diesen Terminus, s.u. in III.1 zu den historischen Zusammenhängen. 7 Entsprechend einem mehr technischen Umgang mit diesen Termini unterscheide ich hier und im Folgenden zwischen nonverbalen Ausdrucksmitteln (Mimik, Gestik u.dgl.) und parasprachlichen, die die formalen sprachlichen Strukturen überlagern (Stimmlage, "lautmalerische" Differenzierungen, sprachliche Mimikry u.dgl., die etwa bei einer akustischen Analyse von den sprachstrukturellen Indikatoren physikalisch nicht getrennt sind). 28 Utz Maas ______________________________________________________________________ 2.3. Ein Problem für eine systematische Modellierung besteht darin, daß solche Unterscheidungen immer schon zum festen Bestand der Schule (Sprachdidaktik) gehört haben. Aus dieser stammt aber auch eine aporetische Konstellation, die in die jüngere Sprachtheorie vererbt ist. Entsprechend der primären Ausrichtung der Schule auf die Schriftkultur wird hier die Schriftsprache als primär gesetzt: Sprache wird durch die schriftsprachlich gesetzte elaborierte Form definiert (also auch eng gekoppelt an normative Vorgaben), denen gegenüber die alltäglich beobachtbare gesprochene Sprache als minderwertige, reduzierte Form erscheint: im Unterrichtskontext als Quelle von Fehlern und insofern zu unterbinden – bei einer etwas systematischeren Reflexion als Resultante von kommunikativen Zwängen, die die ideale Form vorgeblich nicht erreichbar machen (so in der jüngeren Reflexionstradition der Generativen Grammatik als "Performanz"-Probleme verbucht). Dem steht nun der für die moderne Volksschulpädagogik grundlegende Gedanke von den natürlichen Faktoren als den primären gegenüber. Das Prädikat natürlich kommt in diesem Sinne nur der gesprochenen Sprache zu, der gegenüber die Schriftsprache (mit ihrer Dominanz von Normen, am greifbarsten in der Orthographie) als künstlich und daher sekundär erscheint. In der Didaktik drückt sich das z.B. in der paradoxen Maxime des "Schreib, wie du sprichst!" aus. Es ist offensichtlich, daß beide Aspekte, die hier aporetisch verknüpft erscheinen, an schulisch Anschaulichem abgelesen sind. In dem Maße, wie das schulisch Ansozialisierte aber zur zweiten Natur wird, erscheinen diese Denkfiguren selbstverständlich – die auch bei Sprachwissenschaftlern zumeist nur in der Anschauung der Beobachtungsdaten eine Bestätigung finden. In der neueren Sprachwissenschaft, in erheblichem Maße definiert durch einen anti-schulischen Affekt (s. auch III), wird denn auch Schriftsprachliches strukturell vor allem negativ definiert: in einer kommunikativen Betrachtung durch das Fehlen einer interaktiven Rückkoppelung, einer situativen Vergewisserung; auf der materialen Seite durch das Fehlen der expressiven Elemente des Sprechens: parasprachliche Ausdrucksformen (ggf. auch verlängert in der grammatikalisierten Prosodie), das Fehlen non-verbaler Formen (Mimik, Gestik, Körperhaltung) u.dgl. Die Einführung einer formalen Terminologie: literat vs. orat, die an ihre analytische Definition gebunden ist, soll helfen, diesem begrifflichen Dilemma zu entkommen. 2.4. Orat und literat sind insofern strukturelle Konzepte. Das widerspricht nicht ihrer genetischen Herleitung aus dem Umgang mit materiellen Bedingungen der sprachlichen Praxis, durch die solche Strukturierungen möglich werden. Diese Zusammenhänge stehen bei der jüngeren empirischen Forschung auch im Vordergrund – wobei das Problem auftritt, daß sie damit u.U. auch an die Stelle einer begrifflichen Klärung treten können. Geht man im Sinne der neueren kognitionswissenschaftlichen Konzeptualisierung von den kognitiven Anforderungen und Reaktionen auf eine extern definierte Problemkonstellation aus (versteht man kognitive Leistungen als Lösungen von Aufgaben, ggf. aufgrund ihrer Habitualisierung in Lösungsmustern), unterscheidet sich schriftliche Praxis von einer (nur) mündlichen durch die Verfügbarkeit eines externen Speichers, der die Sprachverarbeitung beim Lesen entlastet (und auch dem Schreiber für seine Literat und orat. Grundbegriffe 29 ______________________________________________________________________ Selbstkontrolle zugänglich ist) – während der Hörer seine Strukturierung notwendig on-line im quantitativ extrem beschränkten Arbeitsspeicher vornehmen muß. Im Standardfall "scannt" der (kompetente) Leser einen Text in der zweidimensionalen Fläche des Blattes, auf dem er geschrieben / gedruckt ist – während der Hörer nur auf die Formen zugreifen kann, die er im Arbeitsspeicher vorhält (was schon bei längeren Sätzen Probleme bereiten kann). Umgekehrt beschränken die gleichen materiellen Bedingungen auch die Sprachproduktion: jedenfalls bei kommunikativ produzierten Äußerungen, die ein Management der Sprechsituation implizieren, bei denen der Sprecher seine Redeposition behaupten muß, muß die Sprachplanung synchron mit der Sprachproduktion verlaufen – wo Probleme auftreten, die ein Mehr an Planungszeit erfordern, müssen die dadurch zwangsläufig entstehenden Pausen überbrückt werden (durch die vielen ähm u.ä. in der gesprochen Sprache, die dem Zeitgewinn dienen, ggf. auch durch die Produktion einer Art sprachlicher Makulatur ohne weiteren Informationsgehalt, die dem gleichen Ziel dient). Schon für komplexe literate Satzkonstruktionen reicht den Sprechern oft die verfügbare on-line Planungszeit nicht, was häufig Konstruktionsbrüche zur Folge hat. Schriftliche Texte haben demgegenüber in der Regel keine solche on-line Bindung: die vielfältigen Editionsvorgänge sind in der ggf. allein sichtbaren Reinschrift unsichtbar geworden (bzw. bei den jetzt üblichen korrigierten Versionen eines computer-produzierten Textes). Es liegt auf der Hand, daß die spezifischen oraten bzw. literaten Strukturen auf den Umgang mit diesen Möglichkeiten bzw. auch Beschränkungen zurückgehen. Sie können aber nicht darauf reduziert werden, weil sie ihnen gegenüber die Autonomie von gelernten Strukturen haben, die eben auch von Sprache zu Sprache verschieden sind. Das definiert sie eben als Zeichenstrukturen – was in Teil II durch das Bühlersche Konzept des Symbolfelds weiter expliziert wird. 2.5. Die mediale Ebene verdeckt eine grundlegende Differenz im sozialen Horizont der beiden Praktiken. Mündliche Äußerungen sind im Regelfall an ein Gegenüber gerichtet, das sich als Hörer einen Reim auf sie machen muß. Wieweit das gelingt, ist in der interaktiven Kommunikation für den Sprecher mehr oder weniger direkt nachvollziehbar und als Kontrollinstanz für seine Artikulation der Äußerung nutzbar – das charakterisiert eben orate Strukturen. Allerdings ist das mündliche Medium als solches auch nicht kommunikativ beschränkt: bei einer Rede oder einem Vortrag vor einem großen Publikum ist die interaktive Rückmeldung nur noch sehr eingeschränkt. Entsprechend der offenen Adressierung stellt dabei dann auch die Form nur noch marginal (beschränkt auf rhetorische Versatzstücke) auf interaktive Reaktionen ab. Dem entspricht auch ein Gefälle bei der strukturalen Artikulation: mit zunehmender Allgemeinheit der Adressierung wird auch in mündlichen Praktiken die Artikulation zunehmend literater. Bei schriftlichen Praktiken kehrt sich dieses Verhältnis um: nur in Ausnahmefällen sind diese in direkte Interaktionen eingebunden (etwa, wenn Sitznachbarn im Unterricht mit herübergeschobenen Zetteln heimlich kommunizieren o.dgl. – und in solchen Fällen zeigen die schriftlichen Mitteilungen in 30 Utz Maas ______________________________________________________________________ der Regel auch keine literaten Strukturen). Die Unterscheidung von orat / literat ist also sozial fundiert – im sozialen Horizont der jeweiligen sprachlichen Praxis. Das wird von den meisten Arbeiten auf diesem Feld unterschlagen, die gewissermaßen einen monadischen Ansatzpunkt beim Sprecher (und spiegelverkehrt dann auch: beim Schreiber) suchen. Die grundlegenden Klärungen sind schon in der ersten Hälfte des 20. Jhds. erfolgt, insbesondere durch Karl Bühler (1934), auf den ich im Folgenden immer zurückgreife. Bühlers immer zitiertes Organonmodell hatte nicht (wie es irreführender Weise meist heißt) eine kommunikative Grundlegung der Sprachreflexion zum Ziel, sondern eben die Abklärung der verschiedenen Dimensionen und die Verdeutlichung von deren Nichtreduzierbarkeit, vgl. Bühler (1934: 28), schematisiert: Die spezifisch kommunikative (interaktive) Konstellation hat die Sprachpraxis mit nonverbaler Interaktion gemeinsam – ontogenetisch wird sie von dieser aus auch gebootet (s.u.). Aber sprachlich ist sie nur, weil sie eine Form hat (durch Zeichen artikuliert wird), die sich weder auf den Ausdruck von Befindlichkeiten des "Senders" (Sprecher / Schreibers) reduzieren lassen, noch auf die interaktiv ausgelösten Reaktionen beim "Empfänger" (Hörer / Leser). Diese Form ist der Interaktion vorgängig – für das die Sprache lernende Kind ist sie schon da: bei den anderen, den Bezugspersonen, mit denen es interagiert. Als vorgegebene, sozial definierte Form wird sie in der Sprachpraxis reproduziert – gewissermaßen mit den auszudrückenden Befindlichkeiten beim Sender aufgeladen, und dann vom Empfänger als Reaktion auf das so Präsentierte verarbeitet. Die kommunikativen Strukturen bleiben selbstverständlich auch in der symbolischen Praxis vorhanden – und sind u.U. sogar bestimmend; aber sie erklären diese nicht. Diese symbolvermittelte Grundstruktur der Sprachpraxis wird durch die Ressourcen der Schriftsprache weiter entfaltet. Im Gegensatz zur Adressierung an einen Hörer in der interaktiven Kommunikation erfolgt die Adressierung an einen Leser in einem virtuellen kommunikativen Raum: die Grundmaxime für die Artikulation schriftlicher Texte läßt sich als: schreib, wie du gelesen werden willst! explizieren. Da das Lesen vom Schreiber aber im Regelfall nicht kontrolliert werden kann (seine interaktive Nutzung ist eine Ausnahme, s.o.), steht das Schreiben im Regelfall in einem offenen Raum unterschiedlichster Lesekontexte. Kommunikative schriftliche Praktiken (der Brief an einen engen Freund z.B.) schränken diesen Raum ein, lassen beim Leser bestimmte Einstellungen und Vorwissen erwarten – sie Literat und orat. Grundbegriffe 31 ______________________________________________________________________ repräsentieren insofern auch nicht den Idealtypus des Literaten. Die literate Artikulation ist also skalar: der Idealtypus minimiert diese Erwartungen – mit ihm sind nur die strukturellen Faktoren der Artikulation vorausgesetzt, nicht aber darüber hinausgehende spezifische Erwartungen. Das gilt insofern unabhängig von dem Medium: will man bei der üblichen Redeweise von einer Kommunikation bleiben, so adressieren literat artikulierte Texte einen generalisierten Anderen und keine konkrete Person (kein Gegenüber) – unabhängig davon, ob im mündlichen oder im 8 schriftlichen Medium. Daraus folgt im übrigen auch, daß eine Analyse literater Strukturen (also denen, die auch die editorische Praxis von Tülay in Abschnitt 1 bestimmt haben) nicht mit einer Analyse der Schreibprozesse gleichgesetzt werden können: deren genaue Beschreibung, wie sie in der letzten Zeit vor allem auch mit den sophistizierten Techniken der Auswertung von elektronisch erstellten Schreibprotokollen (beim Schreiben am Computer) unternommen werden, blenden 9 diese soziale Formbestimmung des Literaten aus. 2.6. Die Dimension literater / orater Artikulation wurde oben in Hinblick auf den Unterschied von gesprochener und geschriebener Sprache eingeführt, der auch im Weiteren im Vordergrund steht. Sie ist aber nicht darauf beschränkt, sondern grundsätzlich unabhängig von dem Medium, in dem sie erfolgt. Das wird noch deutlicher, wenn man die Verhältnisse in der nativen Gebärdensprache betrachtet, 10 bei denen weder Lautliches noch Schrift im Blick sind. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß (native) Gebärdensprache unter den gleichen kognitiven Bedingungen praktiziert wird, die auch die Lautsprache bestimmen (bzw. beschränken), daß sie aber aufgrund der anderen medialen Voraussetzungen (Artikulation im dreidimensionalen Raum) dazu ein anderes strukturelles Design entwickelt. Das unterscheidet auch native Gebärdensprachen von den aus der Lautsprache übersetzten gebärdenden Hilfssprachen, mit denen sich "Lautsprachler" ein Verständigungsmittel mit Taubstummen geschaffen haben: die funktionale Äquivalenz zur Lautsprache (und auch zur Schriftsprache) geht hier nur bis zu den unabhängig interpretierbaren Äußerungseinheiten ("Sätze"), während die syntaktisch feinkörnigeren Gliederungen inkongruent sind, wobei die lautsprachlich sequenziell (durch funktionale Wörter bzw. Morpheme) repräsentierten Strukturelemente in der Regel als Modifikation der Zeichen im dreidimensionalen Raum des Gebärdens 11 artikuliert werden. So benötigen native Gebärder für "Sätze" im Durchschnitt die 8 Diese Argumentation greift zurück auf Grundbegriffe des symbolischen Interaktionismus, wie er in der Tradition von George Herbert Mead entwickelt wird (grundlegend dessen postum veröffentlichte Vorlesung "Mind, self, and society", 1934). 9 Weiter unten werde ich darauf zurückkommen. Ein Beispiel dafür ist Strömqvist (2004). 10 Einen gewissen Einblick in diese Fragen verdanke ich Gesprächen mit Ronnie Wilbur und schließlich Andrea Lackner, die dazu in Seminaren in Graz Materialien aus ihrem Dissertationsprojekt vorgestellt hat. Die folgenden Bemerkungen sind nur als Überlegungen für künftige Untersuchungen zu verstehen, ausgehend von ersten Arbeiten, die Ronnie Wilbur schon unternommen hat. 11 Für eine systematische Darstellung s. z.B. Liddell (2003); speziell zu den strukturellen Differenzen zwischen nativer und sekundärer Gebärdensprache (am Beispiel der American Sign Language vs. Signed English), s. Wilbur (2000). Die in letzter Zeit häufig zu findende 32 Utz Maas ______________________________________________________________________ gleiche Zeit wie native Lautsprachler, ohne daß sich auf der Ebene der Konstituenten Entsprechungen herstellen lassen. Bei der Artikulation der Gebärdensprachen sind die manuellen Zeichen, die insbesondere die lexikalische (konzeptuelle) Information kodieren, von den nicht-manuellen (Mimik, Körperhaltung u.dgl.) zu unterscheiden, mit denen satzmodale Spezifizierungen kodiert werden, aber auch die referenzielle Verankerung (ggf. auch die Kontinuität über eine längere Äußerungsstrecke hinweg) und vor allem auch die Integration mehrerer propositionaler Einheiten ("komplexe Sätze"). Gebärdensprachen werden spontan z.B. in Familien von Taubstummen entwickelt. Wo sie darauf beschränkt bleiben, auch bei einem erweiterten Horizont der Verständigung mit vertrauten Personen, bleiben sie kommunikativ gebunden, sind sie also orat strukturiert. Zunehmend werden Gebärdensprachen aber auch in einem offeneren kommunikativen Raum genutzt, zur Darstellung von Sachverhalten, die nicht vertraut bzw. von den Adressaten nicht erwartet werden (z.B. im Unterricht an höheren Lehranstalten), sodaß also literate, d.h. kommunikativ dezentrierte Äußerungen zu erwarten sind. Die Untersuchung solcher Fragen hat erst begonnen – sie setzt die Klärung der verschiedenen Artikulationsebenen der Gebärdensprache voraus, die allerdings auch noch sehr im Fluß ist. Es gibt aber schon erste Untersuchungen, die insbes. die Struktur von dialogisch gebärdeten Erzählungen mit der vergleichen, die sich zeigt, wenn der / die ErzählerIn gebeten wird, die Erzählung nochmal "für die Kamera" zu produzieren, wobei sich ggf. der aufnehmende Kameramann in ein transparentes Medium transformiert (also nicht mehr die mehr oder weniger vertraute Person ist, der etwas erzählt wird). Dabei werden eine ganze Reihe der "oraten" Strukturelemente ausgeblendet, in die sonst die grammatischlexikalischen Artikulationsformen eingebettet werden, die als Kontextualisierungshinweise dienen, vor allem aber auch der Segmentierung und dem Zusammenfassen von segmentalen Abschnitten zu größeren Einheiten. Diese Strukturelemente stehen offensichtlich in einem fließenden Übergang zu expressiven Formen der Körperhaltung, dem Gesichtsausdruck, die die interpersonale Konstellation aufnehmen (ähnlich wie es in der gesprochenen Sprache bei dem Verhältnis von Prosodie und parasprachlichen Ausdrucksformen ist, s.u.). Bei einer literaten Artikulation werden sie offensichtlich zugunsten der formaler kodierten symbolischen Gesten zurückgefahren. Die Parallele zur Differenz orater / literater Artikulation geht aber noch weiter: Solche auf einen generalisierten Anderen orientierten Gebärdentexte zeigen offensichtlich auch eine erhebliche Verdichtung in der Kodierung gegenüber den interaktiv-kommunikativ ausgerichteten. Das sind allerdings nur sehr vorläufige Überlegungen aus zweiter Hand, die nach konkreteren Untersuchungen verlangen. Sie sollen deutlich machen, daß die Dimension des Sprachausbaus nicht mit ihren medialen Aspekten verwechselt Subsumption der Gebärden unter die mediale (oft: "modale", engl. modality) Dimension blendet diesen grundlegenden Unterschied aus. Mündlich / schriftlich sind mediale Realisierungsformen der Sprache bei lautsprachlicher Ontogenese. Medial kann das Gebärden als "Zweitsprache" hinzukommen – aber bei nativen Gebärdensprachlern sind die Gebärden orthogonal dazu, wie sich insbesondere eben darin zeigt, daß es auch hier Sinn macht, mit einer Differenzierung nach orat / literat zu operieren. Literat und orat. Grundbegriffe 33 ______________________________________________________________________ werden darf. Daß literate Strukturen in der Regel mit der Aneignung der Schriftsprache entfaltet werden, impliziert eben nicht, daß sie mit dieser identifiziert werden können, s. auch unten (I.5.) zum Aufbau protoliteraten Wissens vor der Schule bzw. vor dem Erwerb der Schriftsprache. Bei der weiteren Argumentation beschränke ich mich aber auf die Verhältnisse in der gesprochenen und geschriebenen Sprache, mit dem Schwerpunkt bei Fragen der strukturellen Artikulation. 2.7. Die strukturelle Artikulation der sprachlichen Praxis ist an ihren Spuren (am "Text") abzulesen. Das ist der traditionelle Gegenstand der grammatischen Analyse, die, wie der Terminus (etymologisch) auch besagt, instrumental für den Erwerb der Schriftsprache ist, also den Ausbau des sprachlichen Wissens mit literaten 12 Strukturen. In der schulgrammatischen Tradition steht dafür die Integration einer Äußerung mit den grammatischen Strukturen eines Satzes. Das ist offensichtlich auch die Fluchtlinie für die Edition, die Tülay an ihrem mündlichen (oraten) Text vornahm. Ein Großteil der sprachwissenschaftlichen Diskussion dreht sich um die Klärung des schwierigen Grundkonzepts Satz, was in den folgenden Abschnitten ein Stück weit entwickelt werden soll. Hier kann der Begriff mit einer schulgrammatischen Anschaulichkeit zunächst für die Entwicklung der Argumentation dienen. Daß Satzstrukturen nicht aus den funktionalen Zielsetzungen der Kommunikation abzuleiten sind, machen Gesprächsmitschnitte sehr schnell deutlich, vgl. das folgende Beispiel (aus einem Gespräch mit vier Beteiligten in 13 Mannheim: SAbine, MOnika, WErner, PEter): (1) SA isch war wie / # weesch ja wie er donn is (2) SA MO un DIE # do drauß geschdonne un ALS gschännd jaja ↓ (3) SA ALS gschännd ↓ (4) SA MO haww=isch gsachd geh doch mol nau:s ↓ ah die is doch eifersischdisch is die doch donn ↓ (5) SA MO WE PE weeschd↑ jaja sie haww=isch gsachd geh donn hawwe=se do drauße widder # is eifer / is klar Die Darstellung in modifizierter Partiturschreibweise (simultanes Sprechen wird in einem Block dargestellt) macht deutlich, daß die jeweiligen Äußerungen nicht Sätze 12 Der Terminus Grammatik ist abgeleitet von dem griechischen Partizipialstamm gramma < graph-ma, zu graph-ein "schreiben". 13 aus: Kallmeyer (1994), Bd. 1, S. 135. 34 Utz Maas ______________________________________________________________________ sind. Um eine sprachliche Praxis wie hier analysieren zu können, brauchen wir eine Konzeptualisierung in drei Dimensionen: - medial kann sie mündlich oder schriftlich sein, - funktional kann sie kommunikativ oder darstellend sein, - strukturell kann sie grammatisch integriert (satzförmig) sein. Das läßt sich in einem dreidimensionalen Schema repräsentieren: Dieses Schema soll die Unabhängigkeit der drei Dimensionen verdeutlichen, die man formal auch als Attribute MEDIUM, FUNKTION und STRUKTUR fassen kann, für die bei jeder Äußerung die Werte festgelegt werden müssen, hier in einer ersten Näherung mit binären Werten: MEDIUM m/s; FUNKTION k/d; STRUKTUR S-/S+. Spielt man das an dem Mannheimer Beispiel durch, wird deutlich, worum es geht – wobei ich zur Vereinfachung das Attribut {MEDIUM m/s} auslasse, da es hier konstant (m) bleibt. Jedem Gesprächsauszug kann ein entsprechender Vektor {FUNKTION k/d; STRUKTUR S-/S+} zugeordnet werden: (1) SA isch war wie {d, S-} / # weesch ja wie er donn is {k, S-} (2) SA MO un DIE {d, S-} # do drauß geschdonne un ALS gschännd {d, S-} jaja ↓ {k, S-} (3) SA ALS gschännd ↓ {d, S-} (4) SA MO haww=isch gsachd geh doch mol nau:s ↓ {d, S+} ah die is doch eifersischdisch is die doch donn ↓ {k, S+} (5) SA MO WE PE weeschd↑ jaja sie haww=isch gsachd geh {d, S-} donn hawwe=se do drauße widder # {d, S-} {k, S-} is eifer / {k, S-} is klar {k, S-} Literat und orat. Grundbegriffe 35 ______________________________________________________________________ Oder mit zwei Abschnitten aus diesem Gespräch in der schematischen Darstellung: Die Isolierung der Dimensionen hat ihre Probleme. Auf der medialen Ebene wird das für die hybriden Medien diskutiert: darstellende schriftliche Texte werden eben auch in einer sozialen Aktivität produziert, und, wie sich noch zeigen wird, ist auch die grammatische Strukturiertheit eher eine skalare Angelegenheit als eine binäre. Hier kommt es mir zunächst nur darauf an zu verdeutlichen, daß jede Äußerung auf jeder der drei Flächen unabhängig spezifiziert sein kann. 2.8. Auf der funktionalen Ebene sind die Werte kommunikativ und darstellend nicht disjunkt. MO (4) die is doch eifersischdisch ist offensichtlich eine darstellende Äußerung, die hier aber keine neue Information in das Gespräch einführt, sondern als Bestätigung der Hauptsprecherin SA in dieser Passage das von dieser zuvor Dargestellte noch mal auf einen allgemeinen Nenner bringt. Insofern sind diese beiden Attribute relativ unabhängig – sie können überlappen, schematisch: kommunikativ darstellend {k+,d-} {k-,d-} ist offensichtlich nicht definiert. {k+,d+} {k-,d+} 36 Utz Maas ______________________________________________________________________ Auch auf der syntaktischen Ebene ist die Klassifizierung {S±} zu grob. Hier ist grundsätzlich danach zu unterscheiden, ob unvollständige Satzstrukturen geäußert wurden, weil die Äußerung abgebrochen wurde, deren Planung aber offensichtlich auf eine vollständige Struktur abzielte, oder ob die Äußerung in einer nicht satzförmigen Struktur abgeschlossen wurde. Nur im zweiten Fall wird man von oraten Strukturen sprechen. SA (1) isch war wie ist vermutlich ein Abbruch. Allerdings sind solche Transkripte ohne detailliertere Informationen nicht eindeutig. Solche Abbrüche können auch konventionell sein, etwa als euphemistische Auslassungen tabuisierter Ausdrucke (das ist zum … das ist zum <Kotzen o.ä.>); nur in solchen Fällen liegt {S-} vor. In einer groben Näherung können Abbrüche als {S*} kodiert werden. Wie feinkörnig man ein solches Raster differenziert, hängt von der deskriptiven Zielsetzung ab. Ein weiteres Problem stellt sich bei der Domäne solcher Wertungen. Geht man von den Einheiten der gesprochenen Sprache aus (den Intonationseinheiten), sind diese oft inkongruent zu der syntaktischen Integration, die über mehrere solcher Intonationseinheiten spannen kann – wie auch umgekehrt die prosodische Integration über mehrere (kürzere) Sätze gehen kann. In Hinblick auf die Zielsetzung einer solchen Analyse, die die Nutzung der literaten Potentiale der Sprache aufzeigen soll, empfiehlt sich die Trennung der beiden Ebenen: • die prosodische Gliederung (Pausen, Intonationskontur, Hervorhebungen u.dgl.) werden lokal notiert mit der Ausgliederung von Intonationseinheiten, • Segmente, die eine syntaktische Integration zeigen, werden am rechten Rand mit einer entsprechenden Klassifizierung versehen – ggf. auch innerhalb von Intonationseinheiten, oder aber auch erst im Anschluß an eine Folge von Intonationseinheiten, wodurch indirekt dargestellt wird, daß prosodische Segmente innerhalb einer solchen Strecke keine eigene syntaktische Integration aufweisen. Mit dieser Verfeinerung kann das Beispiel von oben differenzierter aufbereitet werden: (1) SA isch war wie {[k+,d+], S*} / # weesch ja wie er donn is {[k+,d+], S-} (2) SA MO un DIE {[k-,d+], S-} # do drauß geschdonne un ALS gschännd {[k-,d+], S-} jaja ↓ {[k+,d-], S-} (3) SA ALS gschännd ↓ {[k-,d+],S-} (4) SA MO haww=isch gsachd geh doch mol nau:s ↓ {[k-,d+], S*} ah die is doch eifersischdisch {[k+,d+], S+} is die doch donn ↓ {[k+,d-], S-} (5) SA MO WE PE weeschd↑ jaja sie haww=isch gsachd geh {[k-,d+], S*} donn hawwe=se do drauße widder # {[k-,d+], S-} {[k+,d-], S-} is eifer / {[k+,d+], S-} is klar {[k+,d-], S-} Literat und orat. Grundbegriffe 37 ______________________________________________________________________ 3. Die funktionale Betrachtung Registerarchitektur 3.1. Für die neuere Sprachwissenschaft ist in einer Verlängerung ihrer disziplinären Verselbständigung eine Art ontologischer Überhöhung ihres Gegenstandes als natürlich charakteristisch: die Fixierung auf die gesprochene Sprache wird damit gerechtfertigt, daß diese natürlich sei – im Gegensatz zur geschriebenen Sprache. Nun macht aber bei der Sprache die Rede von "Natürlichem" wenig Sinn, wenn sie nicht auf die Randbedingungen zielt, unter denen Sprache zustande kommt (wenn "unsere Natur" nicht mehr funktioniert, können wir tatsächlich nicht mehr sprechen / hören ...). Sprache ist etwas, das wir aus unseren natürlichen Ressourcen machen – und insofern ist sie nicht mit diesen gleichzusetzen; sie ist durch eine soziale Praxis definiert, in die jedes Kind hineinsozialisiert wird – als Sprache der Anderen (s. Maas 2008: Kap. II.1): Sprache wird gelernt. Bei diesem Lernprozeß öffnen sich unterschiedliche soziale Horizonte: die Praxis wird dezentriert – und literate Strukturen bezeichnen die Rationale des dabei erschlossenen Ausbaus der gelernten sprachlichen Ressourcen. Auf einer allgemeinen Ebene wird man Sprache bestimmen als Ressource, die die körperlich-situative Gebundenheit des Verhaltens überwinden kann. Diese Ressource ist an biologische Voraussetzungen gebunden, aber nicht mit diesen auf eine biologische Art gegeben: sie muß in einem langen Lernprozeß entwickelt werden – die biologischen Ressourcen müssen ausgebaut werden (das ist ein aus der handwerklichen Praxis vorgegebener Terminus: so, wie z.B. ein Winzer den vergorenen Traubensaft zum Wein ausbaut). Ein sprechendes Bild dafür bietet der inzwischen alltägliche Umgang mit Computern: Sprachstrukturen müssen von 14 einfacheren aus gebootet werden – literate Strukturen von kommunikativen aus. Das definiert einen theoretischen Raum, in dem die Modellierung der Sprachpraxis zu bewerkstelligen ist: Es geht nicht um ein Entweder / Oder von literaten / oraten Strukturen, sondern um die Frage danach, wie die in einer sozialen Gemeinschaft genutzten (von den einzelnen gemeisterten) Ressourcen praktiziert werden. In jedem Fall handelt es sich um gelernte Strukturen – und zwar gelernt in einem spezifischen sozialen Sinn: sprachliche Strukturen (anders als naturhafte, unserer Körperlichkeit geschuldete) sind notwendig sozial spezifisch – das gilt für orate wie für literate Strukturen. Aber mit Äußerungen sind zwangsläufig Bedingungen verbunden, die unserer Körperlichkeit bzw. den physikalischen Bedingungen der Kommunikation geschuldet sind – die in diesem Sinne denn auch überall zu finden ("universal") sind: soweit in kommunikativen Strukturen vorsprachliche Ressourcen genutzt werden, sind sie sprachübergreifend. 14 Zu diesen Fragen der Konzeptualisierung, insbesondere auch zu der aus der Computerlinguistik stammenden Metapher des Bootens, s. Maas 2008. In der generativistischen Literatur wird er allerdings mit universalgrammatischen Prämissen verwendet: gebootet wird dort in der frühen Sprachentwicklung das genetisch vorinstallierte Sprachprogramm – diese Prämisse mache ich mit meiner Argumentation ausdrücklich nicht. 38 Utz Maas ______________________________________________________________________ 3.2. Um den Blick auf die funktionalen Zusammenhänge der Sprachpraxis frei zu bekommen (und von dort aus die Konsequenzen für die strukturelle Artikulation in den Blick zu nehmen), ist ein begriffliches Koordinatensystem nötig, in dem die Sprachstrukturen zu verorten sind. Dazu kann auf das schon in der antiken Rhetorik etablierte Raster der verschiedenen Sprachregister zurückgegriffen werden. Register können etwas formaler als Paare von Domänen der Sprachpraxis und strukturellen Eigenschaften, die diese artikulieren, verstanden werden: Register = df (Domäne, Sprachstruktur) Wie schon in der antiken Rhetorik kann man von drei Grundregistern ausgehen, deren Domänen unterschiedlich weite soziale Horizonte öffnen: REGISTER intim informell – öffentlich formell DOMÄNEN Familie, enge Freunde ... Straße, "Markt", Arbeitsplatz ... Institutionen Diese Register markieren auch Etappen der Sprachbiographie: • das Kind wird in ein personales Beziehungsgeflecht hineingeboren: die Sprache, die es lernt, ist die Sprache dieser Personen (im intimen Register), • dieses Verhältnis bei der Aneignung der Sprache der anderen kehrt sich mit der weiteren Sozialisation um: im informell-öffentlichen Register ist die erworbene Sprache eine Ressource, um Beziehungen zu anderen herzustellen (gleichaltrigen Freunden, später Arbeitskollegen ...), • im förmlichen Register verschwindet die Bindung der sprachlichen Form an Personen bzw. überhaupt an die Artikulation einer bestimmten Situation: die sprachliche Form dient hier dazu, prinzipiell situationsungebundene Äußerungen zu ermöglichen. Hier greift die oben schon eingeführte Redeweise in der üblichen Kommunikationsbegrifflichkeit: im förmlichen Register ist der Adressat ein generalisierter Anderer – keine spezifische Person. Damit ist die soziale Dimension der Registerdifferenzierung gefaßt, die noch in weiteren Aspekten auszudifferenzieren ist. Soziale Horizonte implizieren immer auch Formen der Kontrolle, die als Normen verstanden werden können. Das ist offensichtlich im förmlichen Register, für das solche Normen oft auch kodifiziert vorgegeben sind (z.B. bei der Orthographie). Die soziale Kontrolle beschränkt sich aber nicht auf solche kodifizierten Normen. Gerade auch im intimen Register sind derartige Vorgaben extrem restriktiv: der "Akzent", mit dem gesprochen wird, markiert die Zugehörigkeit zum WIR – Außenstehende werden ihn nie adäquat erwerben. In dieser Hinsicht weisen die öffentlichen Register sogar noch tolerantere Schwellen auf, s. auch unten (II.3.4.) zum literaten Lexikon. Die systematische Modellierung der Register muß aber auch noch andere Dimensionen aufweisen. Ihre strukturelle Seite läßt sich als domänenadäquate Beschränkungen der sprachlichen Form fassen. Hier sind funktionale Aspekte von Literat und orat. Grundbegriffe 39 ______________________________________________________________________ rein formalen zu trennen. Funktional gilt für das förmliche Register, daß hier die sprachlichen Einheiten prinzipiell ihre kontextfreie Interpretation ermöglichen. Das ist grundsätzlich unabhängig von Formvorgaben (die den oben angesprochenen normativen Aspekt betreffen). Formvorgaben ohne funktionale Ausrichtung auf die Erweiterung des Horizontes, anders gesagt: auf die Darstellung von Neuem, sind kein Moment des Sprachausbaus, den sie vielmehr blockieren können. Unklarheiten in dieser Hinsicht belasten die einschlägigen Diskussionen, vor allem durch die Engführung auf literarische Praktiken im weiten Sinne. Formale Vorgaben bis hin zur Metrik definieren zunächst einmal eine rein reproduktive Sprachpraxis, wie sie auch für vieles von dem definierend ist, was als förmliche Praxis anzusprechen ist: zeremoniale Praktiken sind oft gerade durch den Zwang zur Reproduktion eines Wortlauts definiert – mit fließenden Übergängen zur Literatur, etwa dem Vortrag von Epen, Mythen … Auch wenn diese dann verschriftet werden, gehören sie einer reproduktiven Praxis an, die bei den Adressaten mit formorientierten Erwartungen korrespondiert – die also gerade nicht die Mittel zu Interpretation von Neuem artikuliert. Die artistische Wertschätzung beruht auf dem virtuosen Umgang mit diesen Vorgaben (ggf. auch beim Ausloten von Variationsmöglichkeiten im Rahmen dieser Vorgaben). Das ist offensichtlich etwas anderes als die Darstellung von Sachverhalten, die im Vorfeld so nicht erwartet bzw. einsichtig waren. Im förmlichen Register werden die Erwartungen im Sinne der Ausrichtung auf den generalisierten Anderen minimiert. In diesen funktionalen Zusammenhängen sind die strukturellen Anforderungen verankert: das förmliche Register (im Sinne der Ausrichtung auf den generalisierten Anderen) ist der Ort für satzförmige Strukturen bzw. für die Zerlegung komplexer Äußerungen (Texte) in Sätze, während das für die informellen Register nicht gilt, für die orate Strukturen adäquat sein können. Das förmliche Register ist insbesondere der Ort der Schriftkultur, worauf die strukturellen Anforderungen der Schriftsprache abstellen, insbesondere die Satzgliederung. 3.3. Die Registerarchitektur ist prinzipiell unabhängig von ihrer medialen Artikulation – faktisch allerdings in großem Maße mit ihr gekoppelt. Die Schriftsprache wird in der Regel erst institutionell zugänglich (in der Schule), und ist in den meisten Gesellschaften (historisch auch in unseren europäischen Gesellschaften) an institutionelle bzw. professionelle Praktiken gekoppelt. Von daher die Plausibilität einer Argumentation, die Schriftliches aus dem Horizont einer allgemeinen Sprachreflexion ausblendet. Gerade aber die jüngeren Entwicklungen in den literaten Gesellschaften, in denen die Partizipation, ob nun am Arbeitsplatz, im öffentlichen Raum (bei der Nutzung von Verkehrsmitteln) oder in der häuslichen Freizeit, ohne schriftliche Praktiken nicht mehr möglich ist, sodaß hier Analphabeten als pathologischer Fall gelten, zeigen die orthogonale Architektur dieser Dimensionen der Sprachpraxis. Für die derzeitigen Verhältnisse ist charakteristisch, daß das informelle Register zunehmend durch skribale Praktiken bestimmt ist: Notizzettel für den Kollegen am Fließband, Einkaufslisten für den Gang in den Supermarkt, Geldabheben am Bankautomaten, Kontrolle der Kontoauszüge, SMS auf dem Handy, 40 Utz Maas ______________________________________________________________________ Internetrecherchen und Chatten am häuslichen Computer … Im Sinne der vorausgehenden Differenzierungen sind diese Praktiken nur z.T. als kommunikativ zu bestimmen (so das SMS-en oder Chatten) – der Umgang mit den komplexen Kodierungen an Bank- oder Fahrscheinautomaten ist es dagegen nicht, genausowenig wie das Aufstellen einer Einkaufsliste. Zwar können solche Praktiken auch darstellende Elemente enthalten (etwa beim SMS-en oder Chatten), aber die Modellierung der dargestellten Sachverhalte bleibt dann rudimentär, auf das interaktiv erforderliche Minimum beschränkt. Vor allem gilt für die sprachliche Form dieser Praktiken nicht die Bedingung der notwendigen Satzförmigkeit, die so auch hier ex negativo ihren zentralen Status zeigt. Das herauszustellen, ist gerade auch vor dem Hintergrund der derzeit modischen Beschäftigung mit solchen informellen schriftlichen Praktiken in der Schule notwenig. Es ist offensichtlich, daß die Schule ihre Selektionsfunktion mit dem Messen schriftkultureller Leistungen erfüllt – vor dem Hintergrund der für die gesellschaftliche Partizipation geforderten Kompetenzen auch unvermeidlich. Nun zeigt es sich, daß Schüler, die in den informellen Praktiken durchaus eine gewisse Virtuosität entfalten können (im sprachlichen Feld etwa im Codeswitchen bei zweisprachigen Jugendlichen mit Migrationshintergrund), sich damit keineswegs einen Zugang zur entfalteten Schriftkultur erschließen – ebensowenig wie sie es mit anderen virtuosen Fertigkeiten (etwa im Fußballspielen) tun. Die schriftkulturelle Artikulation des formellen Registers bildet hier die Barriere: Sieht man die Sprachentwicklung im Horizont der Registerarchitektur als eine fortschreitende Öffnung weiterer Horizonte (s.o.), zeigt sich eben auch, daß schriftliche (skribale) Praktiken für sich genommen diese Barriere nicht beseitigen: Barrieren in der Registerarchitektur Wenn die sprachliche Bildungsarbeit auf die Förderung gerade auch bei den Lernern abstellen soll, die eine solche Unterstützung benötigen, dann sind eben begriffliche Differenzierungen wie hier (insbesondere zwischen medialen Ausdrucksformen: schriftlich / skribal, vs. strukturellen: literat) unverzichtbar. Literat und orat. Grundbegriffe 41 ______________________________________________________________________ 3.4. Der Ausgangspunkt bei funktionalen Überlegungen bestimmt das deskriptive Handwerk der Sprachwissenschaft. Hier geht es nicht darum, die richtige, wirkliche, natürliche ... Sprache zu beschreiben (also mit einer dogmatischen Vorentscheidung Scheuklappen aufzusetzen), sondern entlang der Registerdifferenzierung die Familie der lokalen Sprachpraxen zu dokumentieren. Das charakterisiert vor allem die jüngere Diskussion um die Aufgaben der Sprachdokumentation bei bedrohten Sprachen, z.B. das "Endangered languages project" an der School of Oriental and 15 African Studies der Universität London (Leitung Prof. Dr. Peter Austin). Nun werden die bedrohten Sprachen überwiegend in kleinen Gemeinschaften in Reliktzonen gesprochen, bei denen ein literater Ausbau nicht ansteht. In ihnen kennt jeder jeden, haben Äußerungen vor allem kommunikative Funktionen und sind im lokalen Kontext empraktisch definiert; ein inzwischen als Gemeinplatz gehandeltes Beispiel sind die Pirahã im Amazonasbecken, s. Everett (2005). Ist man nicht fixiert auf die in solchen Fällen praktizierte "bedrohte" Sprache (oder die Bewahrung von deren Spuren), wird man feststellen, daß die Registerdifferenzierung in solchen Gemeinschaften in der Regel mehrsprachig artikuliert ist (die Pirahã erscheinen als ein pathologischer Fall, der noch genauer zu klären ist): der literate Ausbau erfolgt in einer anderen Sprache als der im intimen Register genutzten. In dieser Hinsicht sind die Erfahrungen bei Projekten aufschlußreich, die sich um die Verschriftung als 16 (sozial praktizierte) Form des Spracherhalts bemühen. Sprachwissenschaftliche Arbeiten isolieren zu oft eine Sprachform, die in der jeweiligen Registerarchitektur nur arbeitsteilig beschränkt genutzt wird, auf die aber in politischen Projekten das ganze Registerspektrum projiziert wird: so vor allem auch im Bemühen um Spracherhalt, in entsprechenden Bildungsprojekten u.dgl. Bilinguale Erziehungsprojekte, die in solchen Kontexten aufgebaut werden, haben hier ihren Horizont. Für die ältere Generation in solchen Gemeinschaft geht es zumeist darum, daß ihre Kinder die Sprache der Eltern soweit lernen, daß sie an den kommunalen Praktiken (zeremonialen Aktivitäten, die an die traditionelle Sprachform gebunden sind) partizipieren können. Das verlangt vor allem eine relative Beherrschung der Lautform; dem ist ggf. auch der Schreibunterricht 17 untergeordnet, der dann auf "lautgetreues" Schreiben ausgerichtet ist. Dadurch 15 s. http:///www.hrelp.org/documentation/ , bei dem auf regelmäßigen Tagungen auch solche methodischen / theoretischen Fragen diskutiert werden, s. die von Peter Austin hg. Bände Language Documentation and Description, seit 2003, z.B. Foley (2003). 16 Einiges dazu findet sich bei der "Foundation for Endangered Languages" (basiert in Bath, Großbritanien), die seit 1998 internationale Tagungen an wechselnden Orten durchführt, bei denen über die Unternehmungen zum Spracherhalt referiert wird. Die jeweiligen Tagungsakten können aufgerufen werden unter http://www.ogmios.org , (z.B. die 6. Konferenz in Antigua, Guatemala 2002, mit einem solchen Schwerpunktthema). 17 Diese Konstellation ist aus allen traditionellen Schriftreligionen bekannt, deren Überlieferung irgendwann von der gesprochenen Sprache der Gemeinde soweit dissoziiert war, daß die "heiligen Texte" nicht mehr verständlich waren. Darauf reagieren phonetisierende Hilfsnotationen, die das traditionelle Schriftbild unangetastet lassen, aber seine Aussprache sichern, wie es systematisch früh im Islam mit den vokalisierenden Hilfszeichen (arab. Taschkil) für die Koranhandschriften praktiziert wurde (und nach ihrem Modell dann auch in 42 Utz Maas ______________________________________________________________________ ergibt sich u.U. ein Konflikt zu dort engagierten Sprachwissenschaftlern, die für diese Sprachen (und ihren Unterricht) ein Schriftsystem konstruieren, das für die grammatische Struktur der Texte durchsichtig sein soll: solche auf kompetente Leser zielende abstraktere (morphophonologisch ausgerichtete) Orthographien werden von 18 den Gemeinschaften meist abgelehnt. In der Forschung sind die Konsequenzen aus diesem Sachverhalt noch längst nicht gezogen. Für die jüngere, vor allem typologisch ausgerichtete Diskussion hatten die Arbeiten zu den australischen Sprachen eine Schlüsselrolle, die tatsächlich in vieler Hinsicht ungewohnte Strukturen vorgeben. Andererseits machen gerade die Besonderheiten der Feldforschung bei den Aboriginees, die in den entsprechenden Arbeiten immer herausgestellt werden, auch den begrenzten Horizont des dort zu Analysierenden deutlich: wenn es nur noch möglich ist, bestimmte sprachliche Formen zu elizitieren, wenn man die letzten Sprecher an ein Wasserloch begleiten muß, an dem solche Formen in einem zeremonialen Kontext einmal praktiziert worden sind, dann verweist das (ebenso wie das in Australien eine so große Rolle spielende exklusive Recht einiger Personen, eine bestimmte Sprache zu gebrauchen) darauf, daß diese Sprachen nicht als ausgebaute Sprachen fungieren – tatsächlich sprechen diese Menschen im Alltag auch fast immer Englisch bzw. eine Art Pidgin. Das spricht selbstverständlich nicht gegen die Erforschung dieser Sprachen (die angesichts ihres drohenden Verschwindens eine hohe Priorität hat), es spricht nur dafür, diese Registerspezifik sorgfältig bei dem zu berücksichtigen, was man dort registriert (s.u. bes. III.5. zu den Arbeiten von J.Heath). 4. Register / Textsorten / Literarische Sprache 4.1. Im Sinne der angestrebten kognitiven Modellierung ist es sinnvoll, die strukturelle Artikulation der Äußerungen deutlich von ihrer medialen Form (und der damit induzierten sekundären Strukturierung) zu unterscheiden. In Hinblick auf die medienspezifischen und auch kommunikativen Differenzen ist es sinnvoll, von einem Feld auszugehen, das in medialer Hinsicht mündliche und schriftliche Formen zeigt, in struktureller Hinsicht orate und literate Formen (die in jeder medialen Form realisiert werden können, wie die Beispiele andeuten sollen): der jüdischen Überlieferung des damals längst nur noch als tote Sprache tradierten Hebräisch). Damit konnte der Text lautiert werden – auch ohne ihn zu verstehen. 18 Walace Chafe, der zu den wenigen Sprachwissenschaftlern gehört, die diese Fragen systematisch bearbeitet haben, diskutiert diese Fragen in seinen Arbeiten zum Seneca (einer irokesischen Sprache). Dieses hat eine ungemein komplexe Morphologie mit vielfältigen Fusionen der Morpheme, die er in seiner eigenen Orthographie morphophonologisch transparent macht – die aber von der indianischen Gemeinschaft als Grundlage für den dortigen zweisprachigen Unterricht zugunsten einer oberflächlich-"lautgetreuen" Graphie abgelehnt wurde, vgl. Chafe (1996), hilfreich dazu auch Chafe (1963), wo er in Richtung auf ein solches sprachwissenschaftliches Laienpublikum die Schreibung als rein phonographische Repräsentation definiert. Die Schriftkultur, die eine andere Art von Graphie verlangt, ist hier fraglos englisch artikuliert. Literat und orat. Grundbegriffe 43 ______________________________________________________________________ Damit werden die Alltagsbegriffe mündlich / schriftlich als komplexe konzeptuelle Aggregate greifbar, die in einem mehrdimensionalen begrifflichen Feld aufgelöst werden können. Das ist nun auch in der deskriptiven Praxis, vor allem da, wo sie auch sprachdidaktische Zielsetzungen hat, eine schon lange geübte Praxis, die sich in der Germanistik inzwischen einen eigenen terminologischen Apparat geschaffen hat, die Textsorten. Einflußreich ist (nicht nur im deutschsprachigen Raum) für die neuere Diskussion die romanistische Arbeit von Peter Koch und Wulf Österreicher (1985) geworden, die allerdings nicht sehr glücklich mit einer Polarisierung von Sprache der Nähe gegenüber Sprache der Distanz operieren. Für die von ihnen angestrebten (und in ihrer Nachfolge auch unternommenen) Analysen ist das damit etikettierte Raster entscheidend, in dem sich selbstverständlich auch die hier herausgestellten Momente einer kommunikativen gegenüber einer darstellenden Dimension finden, heuristisch umgesetzt in einer Vielfalt von heterogenen empirischen Aspekten. Die seitdem verbreite polarisierte Klassifizierung nach Distanz- vs. Nähesprache ist allerdings, gerade weil hier eine sprechende Terminologie gesucht wird, u.U. mystifizierend: gerade alltagsnahe schriftliche Praktiken wie etwa Notizen (Einkaufslisten o.ä.) kann man kaum sinnvoll als distanzsprachlich etikettieren – und auch für poetische Praktiken, ob nun mündlich oder schriftlich, macht das nicht sehr viel Sinn. Gravierender ist aber die mit der analytischen Explikation in ihrer Modellierung gebahnte begriffliche Zirkularität: sie tragen der Differenz von medialen und strukturellen Aspekten dadurch Rechnung, daß sie bei den letzteren mit einem begrifflichen Präfix konzeptuell operieren (konzeptuelle Mündlichkeit / Schriftlichkeit). Damit wird aber unterstellt, daß jenseits des medialen (anschaulich gegebenen) Terminus des Mündlichen / Schriftlichen eine intentional darauf gerichtete Reflexion (das meint ja wohl konzeptuell) auch einen anderen Begriffsinhalt hätte. Wenn dieser aber nicht nur suggeriert werden soll, muß er 19 expliziert werden – insofern ist mit diesen Termini nichts gewonnen. Ich ziehe daher die Kunsttermini literat / orat für die strukturellen Aspekte vor, die eine formale Explikation verlangen, wie sie hier skizziert wird. 19 Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß die mit solchen Etiketten operierenden Arbeiten empirisch reiches Material aufbereiten, wie etwa bei Ágel / Hennig (2006), die dort ein deutsches Corpus mit heterogenen Textsorten vom 17. Jhd. bis zur Gegenwart mit einem weiter differenzierten Raster bearbeiten. 44 Utz Maas ______________________________________________________________________ Geht man von der Ausbaudimension der Sprachpraxis aus (insbesondere auch aus der Perspektive der Sprachentwicklung), macht es Sinn, wie hier angedeutet, orat und literat als Pole einer skalaren Dimension zu fassen – und nicht als jeweils unabhängige Kategorien zu definieren: die spezifischen Sprachstrukturen sind vielmehr Ressourcen, die es der Praxis erlauben, sich von der situativen Abhängigkeit kommunikativer Strukturen zu emanzipieren. Ist das der Fall, liegen literate Strukturen vor – bei oraten Strukturen ist das nicht der Fall: sie sind in dieser Hinsicht negativ definiert. Erst wenn die Besonderheiten der mündlichen Kommunikation (interaktiv: von Angesicht zu Angesicht ...) in die Überlegungen hineingenommen werden, lassen sich auch positive Charakteristiken für orate Strukturen definieren, s. dazu II.4. 4.2. Die hier anvisierte funktionale Modellierung verlangt es aber auch, den Inhalt des sprachlich Artikulierten / Dargestellten in Rechnung zu stellen. Interaktive Kommunikation ist im Grenzfall reflexiv: sie geht im interaktiven Geschehen auf, sprachliche Interaktionen reduzieren sich dann auf kommunikative Gesten wie in vielen Alltagsritualen. Das beschränkt sich nicht auf den Austausch von mehr oder weniger ritualisierten festen Ausdrücken. Die inzwischen recht ausgedehnt betriebene Gesprächsanalyse hat gezeigt, wie sehr solche kommunikativen Strukturen auch in elaborierten sprachlichen Formen dominant sein können. Analysiert man in diesem Sinne die Praxis von Cliquen (inzwischen extensiv so für jugendliche Cliquen in den verschiedensten sozialen und sprachlichen Kontexten praktiziert), so zeigt sich eben, daß auch extensive Narrationen nichts anderes sind als eine damit reproduzierte Form, die Gemeinsamkeit zu bestätigen – insofern werden sie meist auch nicht einfach monologisch produziert (auch wenn einem dominanten Erzähler der entsprechende diskursive Raum eingeräumt wird), sondern durch ein Ineinandergreifen der Äußerungsaktivitäten koproduziert (s. z.B. de Fina 2006). In einer Verlängerung der oben entwickelten Differenzierung der Dimensionen einer expliziten Modellierung wird es so erforderlich, der Möglichkeit Rechnung zu tragen, daß die traditionell gekoppelten Strukturen (wie z.B. narrativ und monologisch) dissoziiert vorkommen. Aber auch, wenn oft eine elaborierte sprachliche Praxis kommunikativ gebunden ist, so ändert das nichts an der Grundbestimmung von Sprache als Ressource, die es erlaubt, über kommunikative Praktiken hinauszugehen, die sich in der Fluchtlinie gestischer Kommunikation analysieren lassen, die die Gemeinsamkeit menschlicher Sprache mit tierischer Kommunikation ausmacht. Sprache ist eine solche Ressource, wenn sie Sachverhalte in das Handeln einführt, die nur symbolisch präsent sind: das ist die inhaltliche Seite der oben eingeführten Dimension der Darstellung. Literate Strukturen potenzieren diese genuin sprachliche Ressource: sie erlauben die Artikulation von Sachverhalten, die über das hinausgeht, was in interaktiven Formen möglich ist. In der Diskussion um diese Fragen wird gerne auf Literatur als Darstellung fiktiver Sachverhalte verwiesen. Damit ist aber nicht der Kern getroffen, da fiktive Sachverhalte zweifellos auch in der mündlichen Kommunikation produziert werden. Es geht vielmehr um den Grad der analytischen Durchdringung der dargestellten Literat und orat. Grundbegriffe 45 ______________________________________________________________________ Sachverhalte, die in schriftlicher Form objektiviert und so auf einer neuen Ebene bearbeitet werden können, indem vorher nicht zugängliche Implikationen aufgedeckt und transparent gemacht werden: Literate Strukturen sind im Kern solche, die orat nicht möglich sind – Schriftlichkeit zeigt ihre Potentiale da, wo der so fixierte Text 20 vorher nicht schon mündlich existierte. In einer kognitiven Modellierung fungiert das Medium Schrift als externer Speicher für die kognitiven Operationen, für die die literaten Strukturen Zugriffsmöglichkeiten auf den Speicher vorgeben. 4.3. Als besondere Form einer hybriden Sprachpraxis ist jede Art literarischer Praxis im Rahmen einer Modellierung der Registervariation zu rekonstruieren, die bei empirisch-deskriptiven Arbeiten auch mit der Frage von sprachlichen Gattungen im Blick ist (in der germanistischen Tradition: Textsorten). In systematischer Sicht handelt es sich dabei um Bündel von Erwartungen an einen Text, die gewissermaßen als Kontextfaktoren (als Erwartungserwartungen bei Sprecher und Hörer bzw. Schreiber / Leser) in Rechnung gestellt werden. In einer groben Näherung lassen sie sich auch skalieren: • mit einem Maximum bei empraktischen, situativ interaktiven Aktivitäten (mit der Folge orater Strukturen), • mit einem Minimum bei einem expositorischen Text, der sich wie in einem philosophischen Traktat bemüht, alle Voraussetzungen explizit zu artikulieren, • dann mit der ganzen Skala von Zwischenstufen: von literarischen Texten, die eine fiktive Welt als Interpretationsrahmen aufspannen, bis zu narrativen Episoden in Gesprächen, bei denen ebenfalls situative Faktoren und Referenten eingeführt und systematisch identifiziert werden müssen. Diese Skala der Erwartungsbündelung ist invers zur Dimension Darstellung des Sprachausbaus: mit expositorischen Texten sind im Grenzfall keine anderen Erwartungen verbunden als die Kenntnis der Grammatik einer Sprache. Insofern lassen sich Textsorten auch (extensional) über distributionelle Beschränkungen der grammatisch vorgegebenen kombinatorischen Möglichkeiten explizieren, wie es in 21 der (computergestützten) Corpuslinguistik praktiziert wird. Rein statistisch lassen sich aus größeren Corpora Korrelationen extrapolieren: in einem deutschen Text mit einer überproportialen Häufigkeit der Personalpronomina der 1. und 2. Person (ich, 20 Das wird gerade bei der literaturorientierten Reflexion auf Schriftlichkeit meist ignoriert, wenn die Anfänge der Literatur in Epen gesehen werden, die zwar in schriftlicher Form überliefert wurden, dabei aber ihre Form durch den mündlichen Vortrag erhalten haben. Demgegenüber sind diese begrifflichen Differenzierungen gerade auch im pädagogischen Kontext immer schon verhandelt worden. Ein seinerzeit einflußreiches, inzwischen aber offensichtlich weitgehend wieder vergessenes Werk ist Bereiter / M.Scardamalia (1987), die dort das Verschriften von vorher fertigen Inhalten bzw. Texten als telling knowledge von der Verschriftung als Mittel, um vorher nicht zugängliche Implikationen des "Inhalts" zu erschließen und transparent zu machen, als knowledge transforming unterschieden. 21 S.u. zu den entsprechenden differenzierten Modellierungen, vor allem zu den Arbeiten von Douglas Biber, etwa sein einflußreiches Buch Biber (1988). 46 Utz Maas ______________________________________________________________________ du) finden sich unterproportional wenig Passivformen und als DefaultVergangenheitsmarkierung Perfektformen (präteritale Formen sind eingeschränkt auf die funktionalen Elemente in komplexen Prädikaten); umgekehrt korrelieren häufige Passivformen mit häufigen Nominalisierungen; überproportional häufige Präteritalformen in einfachen Prädikaten korrelieren mit überproportional häufigen Passivformen u.dgl. Solche Korrelationen definieren Texttypen, die sprachextern mit bestimmten Textvorkommen (Briefen, redaktionellen Zeitungsartikeln, Märchen …) verknüpft werden können. Letztlich ist auch das in der sozialen Grundstruktur von Sprache begründet, die als Sprache der anderen angeeignet wird – woraus folgt, daß jede sprachliche Praxis 22 in der Form andere Praktiken reproduziert. In der neueren Literaturwissenschaft wird dem extensiv mit dem Etikett der Intertextualität nachgegangen – was aber auf der Ebene literarisch artifizieller Praktiken nur das weiterverfolgt, was auch in trivialen Alltagspraktiken zu finden ist, die eben auch in der Regel nicht aus originellen, ad hoc "generierten" Äußerungen, sondern der Reproduktion von "ready mades" bestehen. Auf der Seite der Sprachpraxis ist die konnotative Dimension 23 insofern gegenüber der denotativen grundlegender. Es ist offensichtlich, daß solche Zuordnungen (bzw. Erwartungen) der sprachlichen Praxis ein Wissen spiegeln, das kompetente Sprecher (Schreiber) mit der Partizipation am sprachlichen Verkehr erwerben. Und so gibt es bei allen diesen Gattungen mehr oder weniger konventionalisierte Elemente, die als Versatzstücke fest sind und insofern zu den Erwartungen gehören bzw. auch als Deklaration eines bestimmten Erwartungstypus dienen (etwa das Es war einmal ... bei Märchen). Mit der Inventarisierung solcher Strukturelemente haben deskriptiv orientierte Arbeiten wie die von Biber die Forschung erheblich weiter gebracht – vielleicht gerade auch, weil bei ihnen die grundlegenden Fragestellungen zunächst ausgeblendet wurden. Aber solche an Texten festgemachte Struktureigenschaften sind nur heuristische Näherungen, die nur eine statistische Wahrscheinlichkeit haben. Zu dem erworbenen Wissen um solche Zuordnungen gehört auch die Möglichkeit, damit kreativ umzugehen, wie es Kinder schon früh in ihren Rollenspielen praktizieren. Das Gegenstück dieser Gattungen ist denn auch ihre Hybridisierung in der Praxis: als Spiel mit solchen wiedererkennbaren Versatzstücken – von der modernen Literatur bis hin zum ironischen Spiel mit Sprachformen im Alltagsgespräch (gelobt als 24 "kreative" Praktiken der "Jugendsprache" ...). Das ist das Feld dessen, was 22 Das ist ein Topos der modernen Sprachreflexion, der zu Beginn des 20. Jhds. extensiv als "Sprachkrise" literarisch artikuliert wurde; Hugo von Hofmannsthals "Brief des Lord Chandos" (1902) ist dafür geradezu eponymisch geworden. 23 Darum rankt sich eine ausgedehnte semiotische Diskussion; für Hinweise und die begrifflichen Grundklärungen, s. Maas (1985). 24 Ein weiteres Problem ist die Fenstergröße für solche Textsortenanalysen: die Sprachpraxis operiert in dieser Hinsicht mit Collagen, ohne den Zwang zu einer strikten Homogenisierung; Passagen mit einer reduzierten, interaktiv kalibrierten Sprachstruktur können sich mit literaten, rein darstellenden Sequenzen abwechseln, im ironischen Spiel gewissermaßen als Kontrapunkt mit Anspielungen auf Märchen u.ä. versetzt … Eine ganzheitliche Charakterisierung von Texten hat nur eine recht unterschiedliche statistische Güte – sie funktioniert allenfalls bei strikt institutionell gebundenen Sprachpraktiken. Literat und orat. Grundbegriffe 47 ______________________________________________________________________ traditionell als Stilanalyse vorgegeben war, was in neueren Arbeiten als Diskursanalyse firmiert (so jedenfalls in der englischsprachigen Tradition dieses Terminus). Es markiert gewissermaßen eine horizontale Ebene im Raum der Sprachpraxis, bei dem der Sprachausbau (die Dimension des Literaten) eine vertikale Ebene bildet. 4.4. Aufzunehmen ist allerdings die Verwirrung, die aus der partiellen Homophonie des funktionalen Terminus literat für die ausgebaute Form sprachlicher Praxis auf der einen Seite und dem schulisch auch normativ verwendeten Terminus literarisch resultieren kann (in einigen Sprachen, vor allem den osteuropäischen, wird auch Literatursprache als Bezeichnung für die normative Hochsprache verwendet). In der Tradition der Schule wird die Sprachreflexion auf die Literatur ausgerichtet. Insofern die literarische (künstlerische) Sprachpraxis deren Potentiale auf ihre Weise ausreizt und als fiktive Darstellung (oder auch freies Spiel mit der Form) die Dezentrierung voraussetzt, ist die damit verbundene Sichtweise auch nicht ganz falsch. Daß sie aber nicht richtig ist, zeigen literarische Praktiken, die sich um Abgrenzung von den (schul-) grammatischen Modellen literater Textintegration bemühen – wie es letztlich die moderne Literatur durchgehend bestimmt, die sich damit von dem "klassischen" Kanon abgrenzt. Hier gibt es eine lange und komplexe Geschichte, die mit dem Vorführen auch orater Strukturen im Roman oder auf der Bühne (sorgfältig markiert mit Anführungszeichen u.ä.) einsetzt, schließlich mit dem Verwischen der Grenze von Vorführen und Vorgeführtem (der "erlebten Rede", frz. discours indirect libre) für den neuen Roman seit dem Ende des 19. Jhds. geradezu kanonisch wird. Damit entstehen aber in der modernen Literatur hybride Sprachformen, die die analytischen Differenzierungen der funktionalen Modellierung nicht mehr ablesbar machen. Autoren wie Thomas Bernhard produzieren hochkomplexe Texte, die sich einer einfachen strukturellen Klassifikation verweigern. Seine Texte sind oft nur interpretierbar, wenn man sie sich vorliest – also medial ins Mündliche überführt und dabei Markierungen einführt, die bei schriftlichen Texten nicht repräsentiert werden. Es soll genügen, dafür einen beliebigen Auszug als Illustration anzuführen: Und er, Konrad, bringe dem Baurat, obwohl er sich mit dem Baurat überhaupt nicht unterhalten will, denn er will ja nichts, als in sein Zimmer zurück, zurück zur Studie, etwas zu trinken und Neinnein sage er, Konrad, auf die Frage, ob er, der Baurat, Konrad in seiner Arbeit, tatsächlich soll der Baurat in Ihrer Studie gesagt haben, gestört habe (Thomas Bernhard, Das Kalkwerk 56). Die Notwendigkeit, solche Texte ins Mündliche umzusetzen, macht ihre Struktur aber nicht orat – sie zeigt nur, daß die schriftliche Form auch hier unterbestimmt ist in Hinblick auf die von der Interpretation geforderte Repräsentation. In der modernen Literatur finden sich noch andere hybride Formen, die es nicht weniger unmöglich machen, in ihr in einem generellen Sinn ein Modell für literate Strukturen zu sehen. Nicht wenige Autoren setzen dialektale Formen ein (gerade auch solche, die sich einem nostalgischen Bild der Mundartliteratur verweigern wie etwa bei X. Kroetz), die definitionsgemäß einen beschränkten WIR-Horizont in die sprachliche Form einziehen – gegen den unversalistischen Horizont der literaten Sprache. Auch das gehört zu der modernen Textinszenierung, die den Leser stärker 48 Utz Maas ______________________________________________________________________ einbezieht bzw. aus seiner klassischen Distanz zum Text herausholen will. Wie dem im einzelnen auch sei, solche literarischen Erscheinungen machen deutlich, daß es gilt, sich der Suggestion der Literatursprache zu entziehen: der analytisch notwendige Begriff des Literaten ist funktional; er ist nicht durch die Anschaulichkeit der literarischen Sprache definiert. Das erfordert allerdings auch, das Konzept des Oraten präziser zu fassen. 5. Funktionale vs. normative Analyse: literate vs. "gute" Sprache 5.1. Ein notorisches Problem solcher Analysen ist die Verquickung von funktionaler Betrachtung und normativen Setzungen / Wertungen, die die Schulgrammatik bestimmen – nicht zuletzt in der Perspektive der (antiken) Grammatiktradition, die Grammatik als Ausbildung zum Schreiben der Hochsprache (der "guten" Sprache) betrieb. Die im Folgenden (II.2.) explizierten Strukturen des Satzes und seiner Ausbauformen sind, wie es der Dynamik einer "lebendigen" Sprache entspricht, unterschiedlich robust. Ihre Festigkeit ist eine Funktion des Sprachwandels – insofern gibt es hier auch das, was in der Gestalttheorie als unterschiedlich robuste (bzw. "flaue") Strukturen bezeichnet wird: Strukturierungsmuster können sich 25 widersprechen und zu verschiedenen Deutungen führen. Diese Fragen werden in der Diskussion um die normative Grammatik ausgiebig abgehandelt, sodaß hier einige Hinweise genügen. Nötig ist aber eine Klärung des Normbegriffs. Grundsätzlich läßt dieser sich aus den Formen der Erwartungen an die Praxis entwickeln: überall da, wo Abweichungen vom Erwartbaren vorliegen, sind normative Strukturen impliziert. Norm entspricht hier dem "Normalen", also dem, was die Wiedererkennung sicherstellt und damit die soziale Zugehörigkeit ausdrückt. Bei der Sprache entspricht das dem oben auch herausgestellten Aspekt der sozialen Kontrolle als steuerndem Moment des Spracherwerbs. In diesem Sinne sind Normen gleichbedeutend mit sozialen Lebensformen. Sie gehen allerdings nicht auf in der praktizierten Konformität, gewissermaßen als einem statistischen Wert, der sich bei der externen Beobachtung des Verhaltens ergibt, sondern sie sind definiert in einer reflexiven Dimension des Verhaltens, in der dieses bewertet wird. In der psychoanalytischen Begrifflichkeit entspricht das einer Imago: dem Bild, das sich die Akteure von sich selbst und ihrem Verhalten machen – das in Auseinandersetzung 26 mit dem Bild entwickelt wird, das sich andere von ihnen machen. Der entscheidende Punkt ist dabei, daß die Imago selbst eine kontrollierende / regulierende Funktion im Verhalten hat. 25 Was für die Gestalttheorie etwa in der Wahrnehmungspsychologie grundlegend ist, wie dort die Experimente mit Vexierbildern zeigen, wird in der Sprachwissenschaft erst jetzt theoretisch aktuell – artikuliert in der Optimalitätstheorie. Der Markierungstheoretiker Bühler läßt grüßen! 26 In der sozialwissenschaftlichen Diskussion ist diese Argumentation vor allem seit Anderson (1983) etabliert. Literat und orat. Grundbegriffe 49 ______________________________________________________________________ In dieser reflexiven Dimension werden die Vorgaben für das Verhalten auch im sozialen Leben direkt thematisch, wo es u.U. dazu einen eigenen Diskurs und institutionelle Vorgaben gibt. Wo das der Fall ist, können solche Normen auch kodifiziert werden. Bei der Sprache ist das in der Regel an die Schrift gebunden – wo sich die Normierung unmittelbar im Schriftunterricht auswirkt. Dabei sind unterschiedliche Praktiken in unterschiedlicher Weise im Fokus – die Normierung der gesprochenen Sprache wirkt sich zwar sozial massiv aus (wie sich z.B. bei Bewerbungsgesprächen zeigt, wo entsprechende Analysen gezeigt haben, daß darüber die ersten sozialen Einordnungen der Bewerber laufen), ihre Kodifizierung ist aber im Gegensatz zu den Rechtschreibbüchern, die in einer Gesellschaft wie der deutschen fester Bestandteil der meisten Haushalte sind, eher verdeckt. Dabei muß das, was in der Kodifizierung bzw. dem darauf ausgerichteten Diskurs Gegenstand ist, sich nicht mit den faktischen Normen decken – wie nicht zuletzt die Debatte um die Rechtschreibreform deutlich gezeigt hat. 5.2. Normen und funktionale Strukturen schließen sich nicht aus. Es geht nicht um die Frage: normativ oder funktional, sondern um die Frage: sind vorgegebene Normen funktional begründet (bzw. wieweit sind sie es). Anti-normative Affekte, die sich nicht nur, aber eben auch in vielen sprachwissenschaftlichen Ansätzen finden, können die Analyse blockieren. Ein nicht-sprachlicher Vergleich kann helfen, bei der Abgrenzung klarer zu sehen. Es handelt sich zweifellos um eine normative Vorgabe, wenn man bei einem Empfang nicht im "Adamskostüm" zugelassen wird. Unter den vorherrschenden mitteleuropäischen Verhältnissen ist allerdings eine Bekleidung funktional (ohne sie ist das Risiko einer Erkältung gegeben). Welche Form die verlangte Bekleidung hat, ist dann aber (jedenfalls oft) nicht mehr funktional zu erklären: Krawatten sind z.B. in diesem Sinne nicht funktional zu begründen. Allerdings ist eine funktionale Analyse an ein definiertes Koordinatensystem gebunden, in dem die Funktion definiert werden kann - bei diesem Beispiel sind das letztlich die Körperfunktionen (Bewahrung der Körpertemperatur u.dgl.). Bei einem anderen Koordinatensystem können auch andere Funktionen definiert sein – wenn die Zielsetzung ist, die eigene Karriere zu fördern, kann eine "standesgemäße" Bekleidung auf einem Empfang sehr wohl funktional sein. Im sprachlichen Bereich sind Normen eng an institutionelle Einrichtungen gebunden, insbesondere an die Schule. Dort werden Sanktionen verhängt, und schulische Normen haben lebenspraktisch unmittelbare Wirkungen. Sprachunterricht ist insofern zwangsläufig normativ. Aber daraus folgt nicht, daß alles, was dort geschieht (bzw. vermittelt wird) nur normativ ist. Die Vorgaben des Aufsatzunterrichts: einen kohärenten Text zu erfassen, in ganzen Sätzen zu schreiben, nicht nur kurze Einfachsätze zu reihen, einen differenzierten Wortschatz zu nutzen u.dgl. sind normativ – und werden in der Regel auch nur so vermittelt. Das ändert aber nichts daran, daß auf diesem Wege funktionale Ressourcen der Schriftpraxis erschlossen werden: für viele Schüler auch nur so – ohne einen solchen Unterricht würden sie keinen Zugang zur Schriftkultur finden. 50 Utz Maas ______________________________________________________________________ Aber auch hier muß im Einzelnen analysiert werden, wo die Grenze zwischen 27 funktional Erforderlichem und willkürlichen Schikanen verläuft. 5.3. Die Abklärung normativer Strukturen setzt insofern die Klärung ihres Verhältnisses zu den spontan zugänglichen (und produktiven) Strukturen des sprachlichen Wissens voraus. Dieses Verhältnis kann grundsätzlich positiv oder negativ gepolt sein: • positive Normen sind Vorgaben, die im spontan erworbenen sprachlichen Wissen nicht vorhanden sind, • negative Normen stigmatisieren Strukturen des spontan erworbenen sprachlichen Wissens. Positive Normen sind mehr oder weniger artifizielle Vorgaben wie sie etwa in orthographischen Willkürlichkeiten gegeben sind (z.B. Thron mit initialem <Th>, das sonst nur in einem Feld des [insbesondere griechisch fundierten] Bildungs- bzw. Technikwortschatzes zu finden ist); negative Normen interferieren mit spontanen Fundierungen (so, wenn z.B. die Wortbrechung im Deutschen an Silbengrenzen ausgerichtet wird, in der älteren Orthographie aber die Trennung <ge-stern> 28 (entsprechend [ˈgɛs.tɐn]) sanktioniert war ("trenne nie st, denn das tut weh!"). Für die Sprachpädagogik ist die Unterscheidung dieser beiden Seiten der Normierung grundlegend, weil diese für die Lerner sehr unterschiedliche Folgen haben: positive Normen belasten das Gedächtnis, interferieren aber nicht mit der Sprachpraxis, während negative Normen zu erheblichen Verunsicherungen führen. In diesem Rahmen kann es genügen, diese Verhältnisse an einigen Beispielen zu illustrieren. Ein notorisches (viel beschriebenes) Problem ist z.B. die obsolete Festschreibung von propositionalen Verknüpfungselementen wie weil, das in der normativen Grammatik nur als Subjunktor (mit Nebensatzstellung) zugelassen ist: Hans kann heute nicht kommen, |weil er krank ist| *Hans kann heute nicht kommen, |weil er ist krank| Aber die mit * markierte Form ist nicht einfach abweichend, sondern artikuliert mit der "Hauptsatzstellung" der so eingeleiteten Proposition eine eigene satzmodale Bestimmung (Indikativ), insofern handelt es sich hier um eine parataktische Fügung (s. dazu weiter in Teil II). Ähnlich ist es bei zahlreichen anderen Vorgaben der normativen Grammatik, die mit dem gängigen Sprachgebrauch (nicht nur der "gesprochenen Sprache") schlicht nicht übereinstimmen. Ein terminologisches Problem entsteht hier zusätzlich durch literarische Texte, die im schulischen Kontext auch als Modelle dienen. Solche Modelle (bzw. Leseerfahrungen) haben zweifellos eine Schlüsselrolle beim Ausbau 27 Noch wichtiger: wieweit dieser Unterricht so angelegt ist, daß die Lerner durch ihn tatsächlich einen Zugang zur Schriftkultur finden – was bekanntlich bei vielen keineswegs der Fall ist. 28 Die mögliche Fundierung in der älteren deutschen Schrifttradition mit einer spezifischen stLigatur ist seit den verschiedenen Schriftreformen im 20. Jhd. (letztlich auch schon bei der Sütterlin-Schrift) weggefallen. Literat und orat. Grundbegriffe 51 ______________________________________________________________________ literaten Wissens – sie sind aber von den u.U. auch in der Auseinandersetzung mit ihnen entwickelten funktionalen (literaten) Strukturen zu unterscheiden. So gehört es zweifellos zur (Makro-)Strukturierung eines erzählenden Textes im Deutschen, daß die chronologischen Verhältnisse dabei durch die Tempusformen artikuliert werden. Üblicherweise stellt eine Erzählung ein bereits geschehenes Ereignis dar, was Vergangenheitsmarkierungen erfordert, ggf. mit einer Abstufung von relativen Zeitverhältnissen; möglich ist dabei immer der metaphorische Rückgriff auf Präsensformen, wie es didaktisch gerne heißt: zur "Verlebendigung" in der Darstellung der Handlung (neben der Artikulation zeitloser Sachverhalte im Hintergrund des Geschehens). Dafür sind nun aber die im gesprochenen Deutsch inzwischen weitgehend allein üblichen periphrastischen Formen ("Perfekt") genauso brauchbar wie die weitgehend obsoleten synthetischen Präteritumsformen: der Junge ist mit seinem Hund in den Wald gegangen ist funktional gesehen äquivalent mit der Junge ging mit seinem Hund in den Wald Wenn schon Grundschüler angehalten werden, die synthetischen Formen zu verwenden, ist das eine normative Vorgabe, die sich an den üblichen Lesebuchtexten orientiert, mit der funktionalen Analyse aber nichts zu tun hat. 5.4. Allerdings sind die Verhältnisse nicht immer so eindeutig wie hier. Orthographische Vorgaben sind grundsätzlich funktional – im virtuellen Raum möglicher Texte in einer Sprache. Sie werden aber überlagert durch eine Fülle von Zöpfen der Kodifizierungstradition, die in diesem Sinne nicht ausgewiesen sind. Diese Unterscheidung liegt allerdings nicht immer auf der Hand. Erklärt man die literate Struktur eines Textes durch die funktionale Forderung, daß seine Kodierung so erfolgen soll, daß seine Interpretation möglichst ohne Rückgriff auf textexterne Annahmen möglich sein soll, erscheinen viele orthographische Vorgaben als überflüssig. Das betrifft z.B. große Bereiche der Interpunktion, die daher auch unter solchen Prämissen im Rahmen der letzten Reform bei der Kommatierung eine weitgehende Freigabe durchsetzen wollte. Nun ist eine Textpassage wie die folgenden auch ohne Interpunktion zweifellos eindeutig zu interpretieren: der Mann ging in den Wald ↑ um Holz zu sammeln ↑ dort traf er einen Jäger ↑ Die syntaktische Struktur gibt an den markierten Stellen eindeutige Zäsuren vor, die drei Propositionen zeigen (die zweite ist elliptisch). Im strikten Sinne ist hier keine interpungierende Markierung für das Erlesen erforderlich. Aber hier sind die Horizonte des kompetenten Lesens maßgeblich: für das kursorische Lesen eines längeren Texts sind interpungierende Markierungen (einschließlich der satzinitialen Majuskel) starke orientierende Hinweise, und in diesem Sinne also funktional. Daher normkonform und funktional: Der Mann ging in den Wald, um Holz zu sammeln. Dort traf er einen Jäger. 52 Utz Maas ______________________________________________________________________ Vor allem aber ist die Funktionalität der Orthographie nicht auf die Probleme eines Einzelfalls abgestellt, sondern auf den virtuellen Raum aller möglichen Texte. In dieser Hinsicht ist die deutsche Orthographie optimiert, insbesondere durch die weitgehende Grammatikalisierung ihrer Markierungen: durch das satzinterne Parsing durch die Majuskelsetzung beim Kern nominaler Gruppen, das Parsing komplexer Sätze durch die Kommatierung aller satzwertigen Konstruktionen (Propositionen) u.dgl. 5.5. Belastet wird dieses Feld durch die Verunsicherungen durch die übliche Grammatographie: Die Darstellungen in den verbreiteten Grammatiken des Deutschen verdecken oft mehr von den (funktional auszuweisenden) Strukturen, als daß sie sie zeigten. So ist z.B. als keineswegs nur der temporale Subjunktor eines Adverbial- ("Neben-") Satzes – es kann auch als sequenzieller Verknüpfer genutzt 29 werden, also mit einer eher parataktischen Funktion, trotz der Nebensatzstellung: Hans ging spazieren, |als Emma plötzlich vor ihm stand| synonym mit: |(und) da stand Emma plötzlich vor ihm| Strukturen wie diese erfüllen im Gegensatz zu dem in (II.2.) Abgehandelten alle Bedingungen der (vollständigen) Artikulation durch das Symbolfeld, sind in diesem Sinne also literate Strukturen. Die Frage der Wertung gehört in eine andere Art der Betrachtung, die später noch in Teil (II.3.) diskutiert wird. Die in dieser Hinsicht zentrale normative Rolle der literarischen Sprache (und die Verwirrungen durch die "anti-schulische" Selbststilisierung in der modernen Literatur) ist im vorigen Abschnitt (4.) angesprochen worden. 5.6. Da Schreiben in der Regel in der Schule gelernt wird, sind die Vorstellungen von literaten Strukturen in der Regel eben auch an die schulisch hoch gesetzten literarischen Modelle gebunden (zu unterscheiden von dem funktionalen Konzept des 30 Literaten). Historisch läßt sich nachvollziehen, daß diese Modelle in der Regel auch aus einer ganz anderen (eben der in den mehrsprachigen Verhältnissen verankerten anderen "Hochsprache") stammen, wie es vor allem auch bei den religiös transportierten Schriftkulturen der Fall ist. Damit können artifizielle Muster 29 In der traditionellen, an der Rhetorik orientierten lateinischen Schulgrammatik war das ein alter Hut: in den ausführlicheren Lateingrammatiken wurden solche Konstruktionen z.B. als die eines cum inversum erörtert (umgekehrtes cum – cum entsprechend dem dt. als). 30 Das hat sehr handfeste Konsequenzen bei der Art, wie das Bildungssystem funktioniert. Die Aneignung der schriftkulturellen Ressourcen ist für Kinder und Jugendliche, die das entsprechende "kulturelle Kapital" nicht aus ihrer Familie mitbringen, nur in der Schule möglich – die auch in der bürgerlichen Gesellschaft einen entsprechenden kompensatorischen Auftrag hat. Die Art und Weise, wie in der Schule (insbesondere im Sprach- bzw. Deutschunterricht) aber die funktionalen Dimensionen der Schriftkultur von literarisch ausgerichteten normativen überlagert werden, bestätigt solche Lerner in der Regel darin, daß sie dort nicht zuhause sind – und bestätigt sie in dem Prozeß der Selbstausschließung von der Partizipation an den gesellschaftlichen Ressourcen, s. etwa Pieper (2004). Vieles von dem, was die Forschung als "kreative" Aktivitäten der Jugendkultur herausstellt, dient dazu, diesen Mechanismus zu überspielen. Literat und orat. Grundbegriffe 53 ______________________________________________________________________ vehikuliert werden, mehr oder weniger durchsichtig als Kalkierungen auf fremdsprachige Modelle; es können durch die Sprachentwicklung überholte Muster konserviert werden; es können aber auch einfach elitäre Distinktionen gegenüber der Sprache "des Volks" vorgegeben sein. Dabei können in unterschiedlichen Kulturen sehr unterschiedliche normative Konzepte Geltung haben. In den europäischen Sprachen wirken die Modelle der alten Schul- bzw. Kirchensprachen nach, die als hochwertig einen kompakten Periodenbau mit einer tief geschachtelten Konstruktion von abhängigen, vor allem auch infiniten Propositionen vorgaben, der Anreicherung auch der nominalen Konstituenten durch attributiven Ausbau u.dgl., die in der Schule als das ganz Andere gegenüber der spontanen Sprache geübt wurden und werden – und auf deren Konto die Ablehnung der Beschäftigung mit geschriebener Sprache in der neueren deskriptiven 31 Sprachwissenschaft zurückgeht. In umgekehrter Blickrichtung geht darauf die (ebenfalls schulisch transportierte) Vorstellung von der gesprochenen Sprache als einer reduzierten Form der Sprache (d.h. also gegenüber der expliziten schriftlichen Form) zurück. In Fernost ist das normative Feld dagegen konträr gepolt: literate Sprache ist minimalistisch, in der Schule werden lakonische Schriftpraktiken geübt (japanische Haikus, die gut zu den alten kaligraphischen Techniken passen ...), 32 mündliche Sprache gilt demgegenüber als "verbos", als redundant ... Auch hier gilt es aber zu beachten, daß solche normativen Vorgaben immer rittlings auf etablierten (in der alltäglichen Partizipation gelernten!) Sprachstrukturen operieren. Sprachen wie das Chinesische, mit einer wenig ausgeprägten Morphologie, machen andere Vorgaben für den Sprachausbau als solche mit reicher Morphologie (wie z.B. Deutsch oder Russisch). Wie vorläufige explorierende Untersuchungen 33 zeigen, sind hier die Register in syntaktischer Hinsicht sehr viel durchlässiger, d.h. die größere Integration literater Texte erfolgt strukturell mit den gleichen Mitteln, die auch in der spontan gesprochenen Sprache genutzt werden (insbesondere die Integration durch syntaktische Klitisierung, da die "Auffüllung" des kanonischen Symbolfeldes Satz mit Proformen nicht grammatisiert ist), sodaß die Registerabgrenzung vor allem mit konnotativen Mitteln des Wortschatzes erfolgt (was als stilistische Ressource selbstverständlich auch in anderen Sprachen genutzt wird). Insofern haben solche Analysen zwangsläufig einen typologischen Horizont. Es ist klar, daß diese normative Dimension bei allen empirischen 34 Untersuchungen geschriebener vs. gesprochener Sprache isoliert werden muß, Dabei gilt selbstverständlich, daß sich diese normativen Ausrichtungen auch in der gesprochenen Sprache geltend machen können. Verkompliziert wird das ganze dadurch, daß die moderne Literatur durch eine Gegenreaktion auf den "akademischen" literarischen Stil bestimmt ist, durch die orate Formen literaturfähig 31 Zum lateinischen Periodenbau, der von Cicero nicht nur kultiviert, sondern in der rhetorischen Lehre auch kanonisiert wurde, s. den Überblick bei Hofmann / A.Szantyr (1965). 32 Einiges dazu ist schon in der neueren Literatur zu finden, s. z.B. Li / Thompson (1982). 33 So in der MA-Arbeit von Y.Hong (s. Kap. 4). 34 Vgl. in diesem Sinne die russisch-deutschen Beispielanalysen in Maas 2008a: Kap. II.4 (zu den konverbalen, d'ejepričast'e – Konstruktionen). Dazu auch die Befunde in der MA-Arbeit von K.Dunst (2009). 54 Utz Maas ______________________________________________________________________ geworden sind: angefangen bei der zitierenden Einbettung im Naturalismus über das Theater (gesprochen auf der Bühne, aber so auch gedruckt als Lesetext!) bis zum roman parlant seit der ersten Hälfte des 20. Jhds. (Louis Fedinand Céline u.a.). Das ist 35 ein eigener Strang im Feld von orat / literat, der hier ausgeklammert bleiben soll. 6. Sprachausbau I: die ontogenetische Perspektive (und didaktische Konsequenzen) 6.1. Hinter der bisher entwickelten Argumentation steht eine dynamische Sicht von Sprache, die in ihr ein Moment der Entwicklung des Menschen in der Auseinandersetzung mit seiner sozialen Umwelt sieht. Sprache, oder noch allgemeiner: symbolische Praktiken können als Fortführung des Bestrebens nach Autonomie gesehen werden, in dem sich die spezifisch menschliche Form von Vitalität entfaltet: angefangen bei der motorischen Entwicklung, mit der das Kleinkind sich autonome Bewegungsräume gegenüber der symbiotischen (und zunächst ja auch körperlichen) Bindung an die Mutter bzw. den späteren weiteren Bezugspersonen erschließt. Symbolisches Verhalten überwindet dabei letztlich die physikalisch definierten Schranken des Verhaltens. Sprachentwicklung ist insofern mit der biologischen Entwicklung verschrankt, die bei der Geburt noch nicht abgeschlossen ist: das menschliche Neugeborene ist im Vergleich zu anderen Tieren bei der Geburt noch nicht fertig: weder in der körperlichen Entwicklung noch im Gebrauch seiner körperlichen Ausstattung (es kann z.B. im Unterschied zu neugeborenen Rindern noch nicht einmal stehen oder sich selbständig fortbewegen). Aus dieser Verklammerung der unkörperlichen (sozial bestimmten) Sprachentwicklung mit körperlicher Entwicklung (oft auch als Reifung angesprochen, insofern hier ein genetisch vorgegebenes Programm entfaltet wird) resultiert ein großer Teil der Konfusion der einschlägigen Diskussion. Die frühe Sprachentwicklung ist nicht zu trennen von der Aneignung der körperlichen Ressourcen, angefangen beim "Brabbeln" Neugeborener, mit dem sie die Organe ausprobieren, die sie später für die Artikulation sprachlicher Äußerungen betätigen (der Mensch hat kein spezifisches Sprachorgan – für die sprachliche Artikulation werden die Organe der Atmung und der Nahrungsaufnahme umfunktioniert). Es liegt auf der Hand, daß sprachliche Leistungen, die an den kontrollierten Umgang mit bestimmten körperlichen Funktionen gebunden sind, nicht erbracht werden können (entfaltet werden können), bevor die organische Entwicklung und ihre kontrollierte Nutzung gegeben ist. Das macht die Probleme der landläufigen Sprachentwicklungsmodelle mit ihren Stufen aus: es ist in der Regel nicht klar, ob es dabei um spezifische sprachliche (symbolische) Verhältnisse geht – oder um ihre Fundierung in der körperlichkognitiven Ausstattung, die dazu vorausgesetzt ist. In einer groben Rasterung können Entwicklungsphasen im Sinne einer implikationellen Ordnung angesetzt werden: 35 Nur zwei Hinweise zu dieser ausgedehnten Forschungsdiskussion: Betten (1985) und Maas (2009). Literat und orat. Grundbegriffe 55 ______________________________________________________________________ • Sprachentwicklung setzt voraus, daß das Kind eine gewisse Autonomie in der symbiotischen Bindung an die Bezugspersonen erworben hat: insofern setzt sie ein, wenn das Kind auch im motorischen Bereich begonnen hat, sich von der Mutter (dem Vater) zu entfernen, also in der Regel im zweiten Lebensjahr. Die motorische Selbständigkeit wird weitergeführt, wenn das Kind der Bestimmung seines Verhaltens durch die anderen einen eigenen Willen entgegensetzt (der Psychoanalytiker Spitz setzt an den Anfang der Sprachentwicklung das kindliche Nein, mit dem es seine Autonomie symbolisch markiert – gewissermaßen als Replik auf das Nein, mit dem die Bezugspersonen seinen motorischen Aktivitäten Schranken setzen, s. Spitz 1957); • die weitere Entwicklung besteht in der Differenzierung der symbolischen Artikulation: frühkindliche Äußerungen erhalten ihren Sinn in der sozialen Konstellation mit den kontrollierenden Bezugspersonen (nicht nur den Eltern, auch den älteren Kindern). Dadurch sind sie beschränkt auf eine nur abhängige situative Teilaktivität, der von den anderen Sinn zugeschrieben wird. Mit dem Erschließen der grammatischen Ressourcen der Sprache kann das Kind selbst seinen Äußerungen einen Sinn geben – letztlich mit den grammatischen Ressourcen, die Sätze zu selbstständig interpretierbaren Äußerungseinheiten machen (formal gesprochen: die Finitheitsbestimmungen eines Satzes, s. dazu II.1.); • diese beiden Momente sind eng gekoppelt: in sozialer Hinsicht ist daher die Selbstorganisation kindlichen Verhaltens im Umgang mit seinen peers entscheidend, in dem es nicht mehr eine abhängige Rolle in fremdbestimmten Situationen hat. Charakteristischerweise nutzen Kinder ihr Rollenspiel (alleine oder auch mit anderen Gleichaltrigen) dazu, komplexe sprachliche Strukturen auszuprobieren – wozu sie in der Kommunikation mit überlegenen Älteren keine Chance haben. Diese Entwicklungsphase ist meist im Alter von 4 – 5 Jahren erreicht; • zu dem Gewinn an Autonomie gehört eine selbstreflexive Modellierung des eigenen Ichs (in der psychoanalytischen Diskussion ausgiebig exploriert, angefangen bei der sog. "Spiegelphase", in der das Kind sich selbst in dem objektivierten Bild im Spiegel entdeckt) – im Gegensatz zu anderen Personen, denen so ebenfalls die Autonomie eines Ichs zugeschrieben wird. Auch in dieser Hinsicht haben Rollenspiele eine explorierende Funktion. In sprachlicher Hinsicht wird das in der Vielfalt von satzmodalen Bestimmungen umgesetzt, mit denen vor allem virtuelles Verhalten artikulierbar wird – ebenso wie Täuschungen, Lügen u.dgl. Komplexe sprachliche Strukturen, etwa Matrixkonstruktionen mit kognitiven Prädikaten und propositionalen Komplementen ebenso wie finite Komplementsätze, adversative Konstruktionen u.dgl. können erst erschlossen werden, wenn diese Entwicklung durchlaufen ist; • das geht parallel mit der Differenzierung kognitiver Kontrollaktivitäten, gebunden an die Erweiterung des Gedächtnisses (vor allem auch des "Arbeitsspeichers"). Dabei gilt generell für diese differenzierte Entwicklung, 56 Utz Maas ______________________________________________________________________ daß mit ihr bzw. mit ihrer Entfernung von den rein biologischen Grundlagen auch die unterschiedlichen personalen Ausbildungen, die man oft als individuelle Lernerstile anspricht, zunehmen. Es spielt für die Entwicklung offensichtlich eine große Rolle, ob das aktuelle Verhalten immer quasi reflexartig als selbstverständlich aktiviert wird, oder ob es eine Entscheidung für alternative Optionen voraussetzt. Das erklärt insbesondere auch die u.U. anders ausgebauten Fähigkeiten bei von Anfang an zweisprachig aufwachsenden Kindern als bei später erworbener Zweisprachigkeit. Diese erfahren früh sprachliche Formen als Optionen im Horizont von alternativen Artikulationsmöglichkeiten bzw. lernen, so damit umzugehen. Komplexere syntaktische Strukturen (im Gegensatz etwa zu einer rein gedächtnismäßig abzuspeichernden Wortschatzerweiterung) können nur auf einer entsprechend differenzierten Grundlage erworben werden. Das charakterisiert ein sprachliches Kompetenzniveau, wie es im Sinne der "Schulreife", also der Voraussetzungen für den Schrifterwerb, in der Regel im Alter von 5 – 7 Jahren in allen Gesellschaften auch angesetzt wird; • die weitere Entwicklung, bestimmt durch die Aneignung der Schriftkultur, ist eine weitergehende Entfaltung dieses Prozesses der Sprachentwicklung als Gewinn von Autonomie. Schriftsprachentwicklung ist nichts ganz Anderes als Sprechsprachentwicklung, sondern ihre Fortsetzung unter anderen, komplexeren Randbedingungen – als Entfaltung dessen, was die spezifisch menschliche Form von Vitalität ist. Jenseits der Möglichkeit, Schrift auch für die Repräsentation von Gesprochenem zu nutzen (als telling knowledge i.S. von Bereiter / Scardamalia), erlaubt sie es, die Bindung an empraktische Kontexte zu überwinden. Das setzt voraus, daß die kognitiven Voraussetzungen dafür gegeben sind: daß Schriftzeichen nicht als Bilder gesehen werden (auch nicht als Bilder für etwas anderes), sondern als diakritische Zeichen, die im Symbolfeld der Sprache ihre Funktion haben (s. Teil II.1. zu diesem bühlerschen Konzept). Und das wiederum setzt voraus, daß eine symbolische Praxis mit Zeichen gebootet wird – ausgehend von einer Praxis, in der Sprachliches als Anzeichen für damit (denotativ, vor 36 allem aber auch konnotativ) Verbundenes fungiert. Die bescheinigte Schulreife (bzw. die Einschulung) setzt das voraus – ohne daß diese Voraussetzung damit schon bei allen Kindern hinreichend gegeben wäre; • im Gegensatz zur üblichen didaktischen Zerstückelung der Sprachentwicklung, die auf die verschiedenen Schulformen bzw. –stufen abgebildet wird, gilt es deren Einheit zu sehen, die aber in einem vieldimensionalen Raum artikuliert wird. Dazu gehört nicht nur, daß sie nicht mit dem Schuleintritt abgeschlossen ist, von dem an etwas anderes geschieht (wie es häufig in sprachwissenschaftlichen Arbeiten zur Sprachentwicklung präsentiert wird, für die diese sich zwischen Geburt und 36 Die jüngere kognitive Psychologie ist dabei, diese Zusammenhänge aufzudröseln, bes. etwa in den Arbeiten von E.Bialystok, die die fragliche Schwelle denn auch als eine der symbolischen Repräsentation bestimmt, s. z.B. Bialystok /Senman (2004). Literat und orat. Grundbegriffe 57 ______________________________________________________________________ Schuleintritt abspielt), sondern daß der Sprachausbau, der in der Schule dann als schriftkulturelle Fertigkeiten bewertet wird, in grundlegenderen Sprachstrukturen verankert ist. Wenn Schrift nicht auf ihre mediale (skribale) Seite reduziert wird, wie es allerdings gerade auch in didaktischen Ansätzen des Anfangsunterrichts angelegt ist (die Schreiben kommunikativ bestimmen und die Kinder im freien Schreiben dazu anhalten, Sprechsprachliches graphisch umzusetzen u.dgl.), dann führt sie das auf einem entfalteteren Niveau fort, was vorher schon im Gesprochenen angegangen worden ist: die Modellierung von Sachverhalten im Horizont von Alternativen, wodurch Implikationen erschlossen werden, die in der Anschauung nicht zugänglich sind (im Sinne von knowledge transformation bei Bereiter / Scardamalia). Das ist aber auch der Horizont, in dem das "kulturelle Kapital" aufgebaut wird, das erfolgreiche Lerner in die Schule mitbringen – die anderen aber nicht. In diesem Sinne ist eben die literate Artikulation eine Dimension in der Sprachentwicklung: die des Sprachausbaus – und nicht eine späte "Stufe", die 37 auf etwas ganz Anderes draufgesattelt wird. 6.2. Bei der im Vorausgehenden entwickelten Argumentation war der Bezug auf das Lesen zentral, als kontrollierende Instanz gegenüber der Äußerungsperspektive beim Sprecher / Schreiber. Wenn dieser Bezug empirisch Sinn machen soll, verlangt das noch weitere Differenzierungen. Lesen, also die Sinnentnahme bei einem schriftlichen Text, ist offensichtlich ein idealtypischer Begriff, dem unterschiedliche Praktiken entsprechen, nicht nur, aber insbesondere auch gebunden an sprachbiographische Entwicklungsverläufe. Unklarheiten ergeben sich hier nicht zuletzt durch die Überlagerung der strukturellen Reflexion mit sprachdidaktischen Überlegungen, die ihrerseits meist mit den Scheuklappen der professionell verankerten Zerlegung nach Schulstufen und ihren Lernzielen versehen sind. Beim Lesen sind zwei Aspekte isolierbar, die aber wie zwei Seiten einer Medaille nicht absolut gesetzt werden können: • die graphische Form (der mediale Aspekt), in unserer Kultur also die Alphabetschrift, • die Inhalte, die in dieser graphischen Form kodiert sind (der Bedeutungsaspekt). Kompetentes Lesen wird zwangsläufig in einer Progression gelernt, bei der die Kontrolle der graphischen Form am Anfang steht. Aber auch der elementare Anfang eines Lernprozesses ist durch sein Ziel (hier: das kompetente Lesen) definiert. Den Anfang bildet die Kontrolle der buchstäblichen Artikulation, zunächst als Verknüpfung der graphischen Form mit einer lautlichen Interpretation. Auf dieser elementaren Stufe drohen "Materialentgleisungen", wie man früher sagte: 37 Das ist nun auch der Tenor der jüngeren einschlägigen Forschung, s. etwa Leseman u.a. (2007), die dort in diesem Sinne von oral literacy als den entsprechend vorskribalen Formen der literat ausgebauten Sprache sprechen. 58 Utz Maas ______________________________________________________________________ • rein skribales Lernen der graphischen Form, wie es in analphabeten Praktiken 38 zu finden ist, • die Fixierung auf die isolierten Buchstaben mit einer hyperlautierenden Interpretation, die den Zugang zu semantisch interpretierbaren Textformen 39 blockiert. Kompetentes Lesen nutzt diese mediale Grundlage, löst sich aber von ihr durch die Projektion von inhaltlichen Interpretationen, die fortlaufend wieder kontrollierend an die graphische Form rückgebunden werden (deutlich abzulesen an den Augenbewegungen, die die neuere Leseforschung exploriert). So hat man denn auch früh schon Lesen als einen hypothesengeleiteten kognitiven Prozeß definiert, so z.B. Thorndike (1917). Schematisch läßt sich das so darstellen, daß einmal Schrift als opake Barriere erscheint (skribale Praktiken), ein andermal als transparentes Medium für das Lesen: Die sprachbiographische Progression läßt sich als kontinuierliche Erweiterung des Horizonts solcher interpretierender Hypothesen beschreiben: • im elementaren Anfangsunterricht als lokale Hypothesen über die lautliche Interpretation der Buchstaben, die als Skopus die Silbenstruktur haben, die 38 Und so auch als häufiges Ergebnis des Schreibunterrichts in Elementarschulen in nichtliteraten Gesellschaften, bei denen die literate Praxis für viele Schüler nicht den Horizont bildet, s. dazu Maas (2008a) mit Beispielen aus Marokko, bes. das Beispiel der marokkanischen Schülerin Houda, S. 495 - 496. 39 Das ist nach wie vor die Grundlinie der didaktisch üblichen Art des Anfangsunterrichts, gegenüber der erfolgreiche Lerner selbständig einen Ausweg finden müssen – während die, die das nicht schaffen, als Versager stecken bleiben (neuerdings gerne auch mit dem Stigma von "Legasthenikern" versehen). Ausführlich zu diesem Komplex mit instruktiven Beispielanalysen Röber (2009). Dort auch zu den grundlegenden konzeptuellen Barrieren in der didaktischen Diskussion, die in einem Zirkel stecken bleibt, weil sie ihre Begrifflichkeit gewissermaßen an den didaktischen Praktiken abliest – angefangen bei den Lautstrukturen, die sie als "Aussprache" von (isolierten!) Buchstaben versteht, wodurch ein Verständnis der komplexen Segmentierungs- und Kategorisierungsprobleme der Lerner blockiert wird. Literat und orat. Grundbegriffe 59 ______________________________________________________________________ • • • • ihrerseits die wortprosodische Gliederung als Horizont hat: im Deutschen z.B. die (vom Lautlichen aus gesehen:) Unterdifferenzierung der Vokalzeichen, die nur über die überlokal zugängliche Anschlußkorrelation im Silbenbau aufzulösen ist, z.B. bei <u> mit den Interpretationen [u] und [ʊ]: [u] bei gute 40 [guː.σtə], aber [ʊ] bei Hunde [hʊn.σdə]; oder die ansonsten vielfach mehrdeutige Graphie <e>, die sich bei einer schulisch üblichen Hyperlautierung [eː] (bzw. [ʔeː]) nicht erschließt, sondern nur im Rückgriff auf die prosodische Gliederung, die ihren lokalen Ausdruck in unterschiedlichen Silbentypen findet, wie bei der unterschiedlichen Interpretation des <e> in der prominenten vs. der Reduktionssilbe in Esel [ˈʔeː.σzəlσ]; die nächsten "Etappen" im Lernprozeß erschließen die Grundstruktur schriftlicher Texte, zunächst ihre Artikulation durch Wortformen. Der Skopus der Hypothesenbildung (und des entsprechenden Abtastens des graphischen Textes beim Erlesen) sind hier die Buchstabenfolgen zwischen Spatien und ihre Interpretation sowohl auf der Ebene des phonologischen 41 Wortes wie einer semantisch interpretierbaren Form; auf einer weiteren Ebene werden Wörter in ihrem syntagmatischen Zusammenhang interpretiert. <buddelt ein> anders bei Lola buddelt |ein riesiges Loch| als bei 42 sie |buddelt ihn ein| entweder mit der Ausgliederung einer NG (ein als Artikel) oder eines komplexen Verbs (ein als Verbpartikel); darüber hinaus geht die Integration solcher Syntagmen in einen selbständig interpretierbaren Satz, bei dem die Konstituenten (Prädikat mit seinen eng gebundenen Objekten; Subjekt; adverbiale Adjunkte) auf ein interpretatives Szenario (Prädikat mit seinen Argumenten; höhere Prädikate zur Situierung der Proposition usw.) abgebildet werden; schließlich die Projektion der Makrostruktur des Textes, z.B. eine Erzählung mit einer chronologischen und motivationalen Grobstruktur, einem Spannungsauf- und -abbau u.dgl. Die Kompetenz eines Lesers mißt sich daran, wieweit er seine Hypothesenbildung (sein Erlesen) auf den maximalen Skopus kalibrieren kann und den Rückgriff auf die feinkörnigeren Strukturen nur noch zur Kontrolle einsetzt – offensichtlich auch eine Frage des Lesetempos, maximal bei kursorischem Lesen der Tageszeitung, aber auch der Fachliteratur, die ohne solche Strategien nicht zu bewältigen ist. Zum Erlesen im 40 [.σ] repräsentiert die Silbengrenze. Christa Roeber (2009) hat in ihren Beispielanalysen aufschlußreiche Protokolle von Leseanfängern – sowohl solchen, die an der Buchstabenorientierung kleben bleiben und damit nur sinnlose Lautierungen produzieren, wie anderen, die mit möglichen Lautierungen experimentieren, um solche wortphonologisch wie semantisch interpretierbare Formen zu finden, die also im hypothesenbildenden literaten Raum agieren. 42 In Anlehnung an einen Beispielsatz der DUDEN-Fibel (Berlin: DUDEN PAETIC 2005). 41 60 Utz Maas ______________________________________________________________________ feinkörnigeren Modus wird dann nur noch als Reparaturmodus umgeschaltet, wenn Unstimmigkeiten oder auch sinnlose Interpretationen entworfen werden und nach einer Korrektur verlangen. 6.3. Ein Problem der dieses Feld bestimmenden didaktischen Reflexion ist es, diese perspektivische Ausrichtung auf das kompetente Lesen mit dem Ziel der Wissenserweiterung bzw. das Schreiben als Form der Wissensbearbeitung (also des knowledge transforming, s.o.) auszublenden und die schriftsprachliche Erziehung auf 43 die elementaren Stufen mit einem engen Skopus auszurichten. Hinzu kommt hier, daß bei dem die Didaktik bestimmenden Horizont die spezifischen Aneignungsprobleme der Schrift von denen der Sprachentwicklung generell überlagert werden. Bei Schuleintritt, also der Entwicklungsphase, in der im Anfangsunterricht die Grundstrukturen der Schriftsprache vermittelt werden sollen, sind auch im Mündlichen die sprachlichen Strukturen noch nicht "gebootet", die komplexe literate Strukturen nutzen. Komplexe syntaktische Strukturen (komplexe Sätze, aber auch die Verdichtung der syntaktischen Artikulation in einfachen Sätzen) finden sich in der gesprochenen Sprache von Schulanfängern in Ausnahmefällen – sie werden zugleich mit der Schriftsprache gelernt (auch wenn das nicht auf den Unterricht beschränkt ist). Zugleich aber bedeutet der Zwang zur schriftlichen Präsentation solcher Strukturen eine Schikane, die jedenfalls in freien schriftlichen Texten die Nutzung komplexer sprachlicher Strukturen reduziert. Das ist der Kontext für die z.T. widersprüchlichen Befunde in der Forschung zur Schriftpraxis bei Grundschulkindern. Man kann davon ausgehen, daß Kinder schon in der Vorschulzeit bewußt mit den erfahrenen Formen von sprachlicher Variation umgehen: in ihren Rollenspielen geben sie oft solchen Unterschieden (präsentiert als unterschiedliche Figuren) eine unterschiedliche Stimme. Aber die Mittel zur Darstellung sind hier mimetisch, im Rückgriff auf parasprachliche Ressourcen (s.o.), nicht symbolisch im engeren Sinne sprachlicher Ressourcen. Wenn sie dann schreiben können, und man sie bittet, dergleichen zu verschriften, fehlen ihnen die literaten Äquivalente – und heraus kommen fragmentierte Texte, die meist auch nur bei entsprechendem Kontextwissen einen Sinn machen. Das Bewußtsein davon, daß viele der mündlich genutzten Ressourcen orat sind, bringt sie dazu, sie im Schriftlichen wegzulassen – mit einer literaten Edition, wie sie oben in (1.) bei Tülay illustriert wurde. Erst im Verlauf der Grundschulzeit, also der Entwicklungsphase von 6 – 10 Jahren eignen sie sich auch im Mündlichen Ressourcen an, dergleichen auch literat zu repräsentieren, z.B. auch im Lexikon ein differenziertes Inventar von Formen, die logophorische Bezüge (s. dazu II.1.) zu artikulieren erlauben, unterschiedliche Typen von Äußerungen zu differenzieren u.dgl. Die inzwischen auch im internationalen Vergleich durchgeführten Untersuchungen auf diesem Feld zeigen, daß unabhängig von 43 Diese Kritik wird durchaus auch im Fach vorgebracht, s. etwa Haueis (2007) oder Enders (2007) – soweit ich sehe, aber (bisher) ohne große Konsequenzen. Literat und orat. Grundbegriffe 61 ______________________________________________________________________ sprachstrukturellen Besonderheiten solche Strukturen in vollem Sinne erst nach der 44 Pubertät (bei Erwachsenen) zu finden sind. Bildet man die schulischen Aufgaben darauf ab, sollte es sich von selbst verstehen, daß die Klärung der Zielsetzung bei dieser entfalteten Sprachpraxis ansetzen sollte: bei dem, was kompetente Menschen mit ihren sprachlichen Ressourcen zu machen vermögen. Das gilt für die mündliche Sprachpraxis, erst recht aber für die schriftliche, die auf spezifisch literate Strukturen abstellen muß. Das spezifisch didaktische Problem: die Lerner bei dem abzuholen, wo sie ihre Potentiale schon entfaltet haben, markiert den anderen Pol in diesem Lernfeld und seiner schulischen Unterstützung. Das Gegenteil davon ist es, sie auf diese schon verfügbaren Ressourcen festzulegen – z.B. die Schriftsprache zu vermitteln als eine Form, Mündliches (in oraten Strukturen) zu repräsentieren, wie es bei freiem Schreiben in den ersten Klassen in der Regel geschieht. Vordergründig vermittelt das zwar im Grundschulunterricht Erfolgserlebnisse, aber damit werden die schriftkulturellen Zusammenhänge auf den Kopf gestellt. Die institutionell verfestigte Zerstückelung der didaktischen Reflexion, mit eigenen Berufsbildern für die Grundschule gegenüber der Sekundarstufe: den Grundund Hauptschullehrern gegenüber den Gymnasiallehrern u.dgl., führt dazu, daß schulische Vermittlungsprobleme an die Stelle von systematischen Begründungsfragen treten. An die Stelle einer Reflexion auf Schrift (auf literate Ressourcen), die es ermöglicht, auch die Leistung der Schule zu beurteilen, tritt der anschauliche Rückgriff auf die Anforderungen der Schule (in ihren verschiedenen Formen). Das wiederum mündet dann gerade auch in der pädagogischen Diskussion in die breite Kritik an der Schule: die Forderung nach der "Entschulung", nach der Rückführung des Lernens auf "natürliche" Formen, der Aufnahme von Alltagspraktiken und der Orientierung des Sprachunterrichts auf Kommunikation, 45 mit denen der Blick auf den schriftkulturellen Ausbau versperrt ist. 44 Auch hier kann der Hinweis auf den oben schon genannten Band von Verhoeven / Strömqvist (2004) genügen, der die vorhandene Literatur anführt. S. dort insbesondere Berman (2004). In der Didaktik kenne ich nur einen Ansatz, der diese Überlegungen konsequent zugrundegelegt und umgesetzt hat: Leimar (1974) (auf deutsch nur in einer gekürzten und systematisch eher verhunzten Version zugänglich, wie schon der irreführende Titel zeigt: "Dialogisches Erstlesen", Frankfurt: Diesterweg 1979). Der didaktische Angelpunkt ist bei Leimar, daß die Lehrerin sich von den Kindern Äußerungen diktieren läßt; die eigene Sprache der Kinder ist zwar der didaktische Ansatzpunkt (daher der Titel ihres Buchs), aber sie erfahren sie im Unterricht immer in der literaten Edition durch die Lehrerin. Am Anfang steht der Leseunterricht: die Schriftsprache ist von vorneherein an literate Strukturen gekoppelt – im Gegensatz zu dem heute in der Grundschule üblichen freien Schreiben, bei dem die Kinder Schrift nur medial als Verschriftung von Gesprochenem erfahren. Ulrika Leimars Arbeit hat, soweit ich sehe, auch in Skandinavien keine Fortsetzung erfahren, nachdem sie früh gestorben ist (zuletzt hatte sie noch Materialien für den Unterricht mit Migranten entwickelt). Immerhin geht jetzt Enders (2007) auf die deutsche Version (!) ein. 45 Die Konfusionen nehmen hier nur noch zu, seitdem internationale Evaluationen wie z.B. PISA moralische Paniken auch im politischen Diskurs ausgelöst haben. Dabei kumulieren die Unklarheiten vor allem auch im Bereich der migrationsbedingten Problemstellungen, mit denen Fragen der Mehrsprachigkeit in den Vordergrund gerückt sind. Einflußreich waren und sind hier die Arbeiten von Jim Cummins, der zweifellos das Verdienst hat, seit den 70er Jahren 62 Utz Maas ______________________________________________________________________ 6.4. Geht man von einem idealtypischen Begriff des Literaten aus, wird der maximale Lesemodus unterstellt. Das ist bei der folgenden, strukturbezogenen Argumentation impliziert. Bei empirischen Analysen wird eine literate Struktur immer auf den erreichbaren Lesehorizont kalibiriert werden müssen: bei einem Grundschüler sind literate Strukturen anders als bei kompetenten Erwachsenen – und auch bei diesen wird man literate Strukturen nicht ohne weiteres mit dem Periodenbau der "Kritik der reinen Vernunft" gleichsetzen können. Für die empirische Analyse kann also mit einer Maxime operiert werden: Eine Textstruktur ist literat, wenn sie die erreichbaren literaten Ressourcen (im Sinne der folgenden Abschnitte) maximal ausreizt. Der Horizont der Erreichbarkeit ist dynamisch zu verstehen: in einer literaten Gesellschaft bestimmt die Schriftkultur die Sprachentwicklung von Anfang an – nicht erst von dem Punkt an, wo im engeren Sinne die Schriftsprache erworben wird (meist mit dem Schulbesuch gleichgesetzt). Ein Wissen um schriftstrukturelle Verhältnisse erwerben Kinder zwangsläufig in der Konfrontation mit der literaten Umwelt – um es von den spezifischen schriftsprachlichen Kenntnissen zu unterscheiden, ist es üblich, von protoliteraten Wissensbeständen zu sprechen. Um literate Wissensformen zu erheben, ist ein Untersuchungsdesign erprobt, bei dem spontan erzählte und auf Tonband aufgezeichnete Geschichten von den Sprechern anschließend verschriftet werden, was es ermöglicht, die von ihnen ins 46 Werk gesetzten literaten Editionsprozesse zu kontrollieren. Da für ältere Sprecher die Konfrontation mit der eigenen Tonbandaufnahme oft unangenehm ist, läßt sich dieses Verfahren modifizieren, indem ein solcher transkribierter spontaner Text einer Gruppe von Sprechern gegeben wird, die ihn "literat" edieren sollen – was zugleich auch eine direkte Kalibrierung auf eine größere Sprechergruppe erlaubt. Dieses Verfahren ist schon in verschiedenen kulturellen (und sprachlich verschiedenen) 47 Kontexten erprobt. des 20. Jhds. die systematische Unterscheidung zwischen den kommunikativen und den schriftkulturellen Aspekten des Sprachausbaus etabliert zu haben. Indem er die letzteren (bei ihm cognitive academic language proficiency = CALP) aber einfach an schulisch gesetzten Anforderungen abliest, hat er der angesprochenen Konfusion Vorschub geleistet. Daß die faktische Ausgrenzung eines Großteils der Schüler, nicht nur, aber insbesondere auch mit sog. Migrationshintergrund, entlang dieser institutionell gesetzten Hürden erfolgt, ändert nichts daran, daß nur mit einer systematischen Reflexion auf die schriftkulturellen Grundlagen weiterzukommen ist. Zu diesem Feld und insbesondere auch den Arbeiten von Cummins und der daran anschließenden Diskussion, s. Maas (2008a), bes. S. 640 – 641. Zur Konfusion gehört auch die Übernahme von Cummins’ academic, das sich so auch in deutschen Texten findet ("akademische Sprachfertigkeiten") – wo es schlicht schulisch heißen muß (im Deutschen kann man die Grundschule nicht als "akademisch" bezeichnen). 46 So z.B. in unseren Osnabrücker Forschungsprojekten mit marokkanischen Kindern in Deutschland und Marokko, auch im Vergleich zu "muttersprachlich" deutschen, s. die Hinweise / Beispiele in Maas (2008a). 47 S. z.B. Fernandez (1984). Die oben schon angeführten Osnabrücker MA-Arbeiten zu erwachsenen Schreibern sind so verfahren. Literat und orat. Grundbegriffe 63 ______________________________________________________________________ Auch im vorschulischen Feld läßt sich dieser Frage nachgehen. Dazu gehören die praktizierten Registervariationen als Inszenierungsformen im kindlichen Rollenspiel. In diesen wird der literate Sprachausbau angebahnt und werden protoliterate Wissensstrukturen aufgebaut. Das protoliterate Wissen kann auch direkt abgerufen werden, wenn man Kinder bittet, eine erzählte Geschichte nochmal zu 48 diktieren, um sie für sie aufzuschreiben. Dabei geht es nicht um den skribalen Akt (der als solcher allenfalls die Sprachproduktion retardiert, aber keine spezifische literate Perspektive eröffnet), sondern die Art der Adressierung des Textes: Beim Diktieren soll nicht nur eine andere Form des Gesprächs mit dem Kind aufgerufen werden, sondern das Kind muß den schreibenden Erwachsenen gewissermaßen als Medium sehen, der seinen eigenen Text als einen aufnimmt, der dann anderen Lesern (Zuhörern) zugänglich gemacht wird, die das Kind nicht kennt (bzw. nicht gegenüber hat). Dadurch verschiebt sich der Horizont, auf den die Artikulation des Textes abstellt, von der interaktiv bestimmten Gesprächssituation zur Ausrichtung auf den generalisierten Anderen als Grundlage für eine literate Artikulation (s.o. I.3.). Es ist erstaunlich, wie viele Kinder in unserer literaten Kultur auch schon vor der Schulzeit einen solchen anderen Horizont (den eines generalisierten Anderen) in ihrem Repertoire haben (verständlicherweise vor allem solche, die von zuhause das Vorlesen von Geschichten gewohnt sind). Wie weit eine solche Horizontverschiebung gehen kann, zeigt die Arbeit von Propp (2009), wo ein dt.-russ. zweisprachiger Junge im Vorschulalter bei seinen freien Erzählungen adressiert an eine ebenfalls zweisprachige Erwachsene durchgängig deutsche und russische Formen mischte (also mit dem für diese Sprechergruppe in Deutschland üblichen Codeswitchen). Als er die gleiche Erzählung der Studentin aber mit der entsprechenden Aufgabenstellung eines Lesetextes nochmal diktierte, nutze er das Codeswitchen nicht mehr: die Vorstellung von einem unbekannten Adressaten (Leser) ließ es für ihn offensichtlich nicht zu, bei diesem die Fähigkeit zum Codeswitchen zu unterstellen (die beim Gespräch mit der ebenfalls zweisprachigen Studentin selbstverständlich war) – hier hatte der Junge ja entsprechende Erfahrungen u.a. im Kindergarten gemacht. An diesem (literaten) Umschalten änderte es auch nichts, daß die gleiche Studentin Adressatin seines Diktierens blieb. Für das praktische Vorgehen gibt es bei einem solchen Vorgehen allerdings Probleme. Kinder im Vorschulalter produzieren in der Regel auf Anhieb keine elaborierte Geschichte – eine narrative Struktur kommt mit ihnen zumeist nur im Gespräch mit einem Erwachsenen zustande, der gewissermaßen das strukturelle 48 S. Pontecorvo / Zucchermaglio (1989). Damit zeichnet sich in der pädagogischen Forschung eine Trendwende ab, die allerdings noch weit davon entfernt ist, verallgemeinert zu sein. Die Stereotypen der älteren Handbücher, nach denen die Überwindung des "egozentrischen" Denkens erst mit der Pubertät möglich wird, sind weiter im Umlauf und blockieren die Forschung, s. Jechle (1992) für eine Diskussion, der seine eigene Untersuchung von Kindern ab 12 Jahren in diesem Sinne auch als Pionierarbeit versteht. Es kann nicht darum gehen, das Datum solcher postulierter Schwellen zu bestimmen, sondern es geht um eine empirisch offenere Sicht, wie Kinder sich die von Anfang an sozialen Strukturen sprachlichen Handelns aneignen – und von Formen der Koordination ihres Handelns mit anderen aus schließlich die literaten Ressourcen der Sprache booten. 64 Utz Maas ______________________________________________________________________ Raster bereitstellt, in das hinein die Kinder Erlebtes füttern, meist nur mit reichlich lakonischen Antwortfragmenten. Auch ein zweiter Durchgang mit der Bitte um eine zusammenfassende Darstellung im Diktat fällt dann meist relativ lakonisch aus – in der Regel aber doch in der Form eines abgeschlossenen Satzes. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund, und auch um eine größere Vergleichbarkeit der Daten bei einer Untersuchung mit mehreren Kindern sicherzustellen, werden oft Bilderbücher als Vorlage genutzt. Das Ergebnis sind dann aber keine Erzählungen (auch wenn zu Tricks gegriffen wird, indem z.B. der Erwachsene das Bilderbuch nicht sieht [für Kinder ist in der Situation aber als Prämisse selbstverständlich, daß der Erwachsene das Bilderbuch kennt, das er ihnen ja vorlegt]), sondern Bildbeschreibungen – mit 49 Äußerungen wie "die sitzen", "der tut sich aufn Bauch legen" u.dgl., die ggf. auch in der Wiederholung als "Diktat" stehen bleiben. Aus solchen Vorgaben kann aber eine Erzählsituation geschaffen werden, die offen adressiert ist, wenn der Erwachsene nicht in der künstlichen Zurückhaltung mit nur bewertenden Reaktionen ("hm", "super" …) bleibt, sondern wie bei spontanen kindlichen Erzählungen auch seine aktive (steuernde) Rolle übernimmt und z.B. nachfragt ("wer sind denn die?"). Der interessante Punkt für die Erhebung protoliteraten Wissens ist es dann, ob die so sozial (interaktiv) produzierte Erzählung in der diktierenden Wiederholung vom Kind 50 angeeignet und aktiv in eine literate Struktur gepackt wird. Im übrigen sind gerade auch bei einem solchen Untersuchungsdesign relativ enge Transkriptionen der kindlichen Äußerungen, die insbesondere auch die Prosodie registrieren, aufschlußreich bzw. erforderlich. Die fehlende textuelle (literate) Verdichtung zeigt sich bei kindlichen Erzählungen durch eine äußerungsextern bleibende Verknüpfung (das propositional Geäußerte ist kursiv markiert): - [die sitzen auf einer Wiese] - und [dann erschrecken die sich] - und [dann schlafen die ein] - und [dann tun die aufwachen] - und [dann haben die Fußball gespielt] -… und dann artikuliert hier eine metasprachliche Diskursorganisation gegenüber dem propositional Artikulierten, äquivalent mit und jetzt sehe ich auf einem anderen Bild …, und jetzt sage ich noch …. Dabei zeigt dieses Bespiel durchaus schon grammatische Integrationsformen: das reihende dann ist in den Satzbau integriert, belegt das Vorfeld des finiten Verbs (das Integrationsfeld ist durch die [ ] markiert). Das ist etwas anderes als bei einer koordinierenden Verdichtung der propositionalen Struktur wie bei dem zweiten (unterstrichenen) und in: 49 Die Beispiele hier gehen auf eine Präsentation von Claudia Müller (Dortmund) in der PH Freiburg 2009 und die Diskussion zu ihrem Dissertationsprojekt zurück. 50 In der neueren Forschung gibt es auch andere Techniken, diesen Problemen beizukommen. Leseman u.a. (s.o.) geben den von ihnen untersuchten Vorschul-Kindern (die also nicht lesen können) Bilderbücher mit der Instruktion, einem anderen Kind das Buch vorzulesen – und blockieren so die Bildbeschreibungen (vorausgesetzt, die Kinder haben Erfahrungen mit Vorlesen). Literat und orat. Grundbegriffe 65 ______________________________________________________________________ und [dann hat der eine den Stein losgelassen und der andere wollte das auch machen] In solchen syntaktisch integrierten Strukturen haben die Verbindungselemente wie und kein prosodisches Gewicht – während sie bei der metasprachlichen Diskursorganisation zumeist prosodisch abgegrenzt werden, wobei bei und dann das dann auch einen starken Akzent trägt. (Proto-) Literate Strukturen zeigen sich an solchen Integrationsformen. Schließlich ist hier, beim Wechsel der Perspektive von der individuellen Sprachpraxis (wie bei der Edition) zum Ausbau einer Sprache auch die übliche Mehrsprachigkeit der Registerdifferenzierung zur Geltung zu bringen. Weiter zu diesem Feld Maas (2008a), II.2 – 3 (auch mit weiteren Literaturhinweisen). 7. Sprachausbau II: Typologische Perspektiven Literate Strukturen und Schriftkultur I 7.1. Aus der so skizzierten Blickrichtung ergibt sich ein anderer Zugang zu Fragen der Sprachentwicklung / der historischen Betrachtung. Bei dem verbreitetsten Muster von schriftkulturellen Verhältnissen werden die verschiedenen Register durch unterschiedliche Sprachen artikuliert. Bei dynamischen Sprachgemeinschaften kann mit der Demotisierung der Schriftkultur dagegen die intim genutzte Sprache ausgebaut werden – wie es eben historisch in allen modernen "Nationalsprachen" der Fall war, die am Modell einer zunächst ganz anderen Schriftsprache (in Europa Latein) ausgebaut wurden. Den Horizont dieser Diskussionen bildet der große Diskurs über die Schriftkultur, der politisch im Kolonialismus aufgeladen wurde, als die "schriftlosen" Völker zu rechtlosen Völkern erklärt wurden und die Eroberung ihrer Territorien als terra nullius auch dadurch legitimiert wurde, daß über die Besitzverhältnisse dort ja keine bindenden (schriftlichen) Verträge vorlagen. Der große wissenschaftliche Diskurs über die Überlegenheit der Schriftkulturen, der sekundär dann auch noch psychologisch angereichert wurde, liest sich über weite Strecken als Legitimationsbeschaffung für den Kolonialismus (der auch jenseits der überholten militärisch-imperialistischen Formen keineswegs erledigt ist). Ein Großteil der empirischen, sprachwissenschaftlich betriebenen ethnologischen Arbeit verdankt seine Motivation einer Gegenreaktion auf den Kolonialismus, mit dem Versuch, der Vorstellung von den "primitiven Kulturen" (s. auch unten zu Malinowski, III.3.) gewissermaßen eine stellvertretende symbolische Repräsentation in einem Sprachmuseum entgegenzustellen (so bei den Gründervätern der modernen deskriptiven Sprachwissenschaft Boas, Sapir u.a.). Faktisch belastet dieser Diskurs die analytische Modellierung bis heute – weil die moralische Emphase hier die 51 analytische Distanz erschwert. 51 Für einige bibliographische Hinweise auf diesen Diskurs, s. Maas (2005, 2006); Olson (1994). Mit einer anderen Fokussierung werden diese Fragen in der Alphabetisierungsdiskussion bearbeitet, für Hinweise s. etwa Maas (2003); Olson / Torrance (1994). NB: Die Hinweise auf 66 Utz Maas ______________________________________________________________________ Bei einer systematischen Modellierung steht auch hier wieder die Vorstellung von dem Natürlichen (der gesprochenen Sprache) der Forschung im Wege. Das betrifft die für die Analyse von zweisprachigen Verhältnissen zentrale Figur der Übersetzungsäquivalenz, die hergestellt werden muß, wenn die Sprachen nicht auf eine arbeitsteilige Registerdifferenzierung beschränkt bleiben sollen – anders gesagt: wenn eine Sprache ausgebaut werden soll. Sprachstrukturen projizieren den virtuellen Raum einer damit ermöglichten Sprachpraxis, der nicht in dem aufgeht, was von den Sprechern tatsächlich realisiert wird. Unter diesem Aspekt sind eben auch die Übersetzungsaktivitäten mit ihren zwangsläufigen Kalkierungen u.dgl. zu sehen, die für die historischen Prozesse des Sprachausbaus in fast allen bekannten Entwicklungsverläufen eine Schlüsselrolle hatten: Mit ihnen werden u.U. sprachliche Potentiale ausgereizt, die in den bis dahin u.U. ausschließlich artikulierten informellen Registern nicht zur Geltung kamen (s. z.B. Rabin 1958). Das Gegenstück dazu ist die oft zu findende Herausstellung der sog. "mündlichen Literatur" als "authentischem" Ausdruck solcher Kulturen. Was damit gefaßt wird, sind in der Regel in hohem Maße feste Texte, die vom Inhalt über den Textaufbau bis hin zu den weitgehend formularischen Ausdruckselementen vorgegeben sind und tradiert werden – und von den Hörern auch in dieser festen Form erwartet werden. Auch da, wo die Virtuosität eines Sängers / Erzählers geschätzt und honoriert wird, zeigt diese sich in der Regel in der Variation auf festen (und erwarteten) Schemata: mit Parallelismen im Aufbau bis hin zur metrischen Form. Es liegt auf der Hand, daß solche Ausdrucksformen keine Ressourcen zur Umgestaltung der Verhältnisse bieten, zur Bewältigung der rasch entwerteten Lebensformen – sie sind keine Ressource zum knowledge transforming (im Sinne von Bereiter / Scardamalia). Mit dem Blick auf den Sprachausbau in der literaten Dimension geht es nicht um eine Wertung in der Fluchtlinie der kolonialistischen Abwertung schriftloser Völker, sondern um ein so sichtbar gemachtes zentrales Moment der einfachen Reproduktion ihrer Verhältnisse, das sie überwinden müssen, um zu Subjekten der dynamischen Veränderungen in der Weltgesellschaft zu werden. Dieser Aspekt wird bisher viel zu wenig systematisch verfolgt: in der typologischen Forschung steht ihm nicht zuletzt das orthodoxe Verdikt gegenüber "nicht-authentischen" Texten entgegen, mit dem Nachdruck auf der "natürlichen" Sprache, das den Blick auf die Sprachpraxis verstellt, bei der die (evtl. nicht genutzten) Ressourcen mit Barrieren (auch strukturinkompatiblen Optionen) abzugleichen sind. Aufschlußreich (weil auch in einem umfangreichen Corpus leicht zugänglich) sind hier die Bibelübersetzungen, die da, wo sie in den großen Schriftsprachen schon eine lange Tradition haben, auch einen sukzessiven Revisionsprozeß zeigen, der die Übersetzungen auf die sprachspezifischen strukturellen Ressourcen kalibriert. Dabei ist es gerade bei Übersetzungen nötig, nicht mit einem holistischen Schriftkonzept zu operieren, sondern weitere (Register-) Differenzierungen vorzunehmen, s. etwa am Beispiel der Bibelübersetzungen de Arbeiten von mir dienen hier nur als Abkürzung, weil ich hier nicht alles wiederholen will, was ich dort dazu sage – sie sollen nicht anzeigen, daß es primär um meine Auffassungen geht. Literat und orat. Grundbegriffe 67 ______________________________________________________________________ Vries (2007). Grundsätzlich stellt sich hier die Frage nach einem "guten" vs. "schlechten" Sprachausbau: i.S. der entwicklungssoziologischen Diskussion von Theoretikern der Dritten Welt als autozentrierte Entwicklung, die die Ressourcen einer gegebenen (informell praktizierten) Sprache ausbaut, vs. einer heterozentrierten, die diesen fremde Strukturen überstülpt, und damit die Partizipation großer Teile der Menschen an diesem Ausbauprozeß abblockt, s. für die generellen Probleme Maas (2008b). Schließlich ist hier auch die Frage der Erreichbarkeit der strukturellen Ressourcen aufzunehmen, die unten in (I.5.) als Differenzierung des Lesehorizonts expliziert wird. In schriftkulturelle Verhältnisse ist immer auch die gesellschaftliche Organisation mit ihren Ausschließungsmechanismen eingeschrieben. Die Dynamik der modernen Gesellschaft (ihr republikanisches Projekt, s. Maas 2008a) zeigt sich hier als Demotisierung der Schriftkultur, die sie aus dem Arkanum einer professionell beschränkten Praxis herausholt. Ein wichtiges Moment dabei war die Etablierung einer Orthographie als Ressource für das Lesen. Andererseits erfolgte der Ausbau des Deutschen zu einer (demotisierten) Schriftsprache aber in Auseinandersetzung mit der Modellsprache Latein – mit der Folge einer Reihe von Kalkierungen, die die frühen Übersetzungen und dann vor allem die Kanzleisprache geprägt haben. Der selbstbewußte Ausbau des Deutschen zur Schriftsprache, wie er vor allem auch in literarischen Spuren im Barock nachzuvollziehen ist, stützte sich auf die so gewonnenen, vor allem auch orthographischen Ressourcen: insbesondere die satzinterne Durchgliederung durch die grammatikalisierte Klein- und Großschreibung auf der einen Seite, die Bildung komplexer (verdichteter!) Perioden 52 durch die grammatikalisierte Interpunktion auf der anderen. Die Frage, wieweit solche Strukturen einen guten oder schlechten Sprachausbau des Deutschen repräsentieren, ist in der Forschung noch offen – sie droht allerdings durch die aktuellen Veränderungen in der Sprachkultur überholt zu werden. Orientiert am englischen Modell, das mit der Abkehr vom Periodenbau eben auch am Ende des 18. / Anfang des 19. Jhds. die grammatische Klein- und Großschreibung abschaffte, wird auch im Deutschen die komplexe Syntax inzwischen obsolet – und erhält die Reformfraktion in der Rechtschreibdebatte Rückenwind, die Schreiber mit relativ kleinem Leseskopus (bzw. schulische Lerner) als Orientierung nimmt. Die Frage nach dem schriftkulturellen Ausbau der Sprachpraxis in einer Gesellschaft (Sprachgemeinschaft) muß notwendig den Horizont auch einer formalen sprachtypologischen Untersuchung bilden, wenn diese nicht blind für konstitutive Fragen sein will. 7.2. Verständlicherweise stammen die meisten Arbeiten, die auf Fragen des Sprachausbaus eingehen, aus den großen Schulsprachen (Englisch, auch Deutsch, 52 Zur Herausbildung der deutschen Orthographie in diesem kulturellen Spannungsfeld, s. Maas (i.E.). Die Verklammerung mit dem Sprachausbau nach dem Modell des Lateinischen ist bei der Interpunktion besonders sinnfällig: im 19. Jhd. wurde auch in Schulbüchern für die Volksschule die Setzung des Semikolons geübt – das heute sogar manche LektorInnen in wissenschaftlichen Verlagen nicht mehr kennen und aus Manuskripten zu tilgen fordern … 68 Utz Maas ______________________________________________________________________ Französisch). Das erlaubt es nicht, die Sprachbaufaktoren des Symbolfeldes zu isolieren, weil die Strukturen hier zu ähnlich sind. Empirische Analysen aus anders gebauten, vor allem exotischen Sprachen stoßen schnell an die Grenzen dessen, was für den Außenbeobachter zugänglich ist. Abgesehen davon, daß Fragen der Registerdifferenzierung ohnehin nur eher selten thematisiert werden, haben die einschlägigen Arbeiten in der Regel eine narrative Schieflage: schon wegen der am ehesten zugänglichen Lento-Diktion sind narrative Texte in der Regel die Datengrundlage – spontanes Gesprächsmaterial ist für einen Außenstehenden nicht nur ausgesprochen schwer zu erhalten, sondern vor allem schwierig auszuwerten. Aber auch da, wo derartige Aufnahmen untersucht werden, ist die Analyse orater Strukturen in solchen Daten bisher ausgesprochen defizitär – weil in die grammatische Analyse literate Prämissen gepackt werden (angefangen bei der vorausgesetzten Satzstruktur). Statt von einem vorgegebenen Modell auszugehen, das an einer bestimmten Sprache (und ggf. ihrer normativen Zurichtung) abgelesen ist, muß der Ansatzpunkt unabhängig von solchen Modellen gesucht werden, letztlich auf einer Metaebene zu den beobachtbaren Sprachstrukturen, die ggf. als deren Verwaltung auf der Ebene der kognitiven Ressourcen zu verstehen ist – kontrolliert durch das jeweils sozial Erwartete. Diese Verschiebung in der Betrachtungsweise ist im übrigen auch ohne fachspezischen Vorkenntnisse intuitiv zugänglich, was es möglich machen sollte, die Schranken der schulgrammatischen Konzepte zu überwinden, die oft auch bei Sprachwissenschaftlern zur zweiten (Sprach-) Natur geworden sind. Bezugspunkt für den alltagspraktischen Umgang mit Sprache ist das, was man damit macht, letztlich also gebunden an die Interpretation von Äußerungen. Die Frage nach der Sprachstruktur läßt sich daher reformulieren: was an der Interpretation einer Äußerung (ggf. komplex, also einem Text) liegt mit ihrer Form fest, was beruht auf Inferenzen des Hörers (Lesers), die sich auf äußerungsexterne Momente stützen. Ein einfaches Beispiel kann das verdeutlichen. Nehmen wir einen Sachverhalt, der auf drei verschiedenen Weisen (a – c) beschrieben werden kann: (a) Hans war krank. Er legte sich ins Bett. (b) Hans war krank. Deswegen legte er sich ins Bett. (c) Weil Hans krank war, legte er sich ins Bett. Mit (a – c) wird der Sachverhalt jeweils anders kodiert, der Zusammenhang zwischen den beiden Momenten des Krankseins und des Insbettgehens ist in unterschiedlicher Weise in der Form repräsentiert: bei (a) bleibt er ohne formale Repräsentation; bei (b) ist er lokal mit einem verweisenden (über die Satzgrenze hinausweisenden) Element repräsentiert; bei (c) mit einer spezialisierten Konstruktion ("Nebensatz"), die es erlaubt, zwei Propositionen in einer zu integrieren. (a) und (b) artikulieren den Sachverhalt in zwei Sätzen, (c) in einem (komplexen) Satz. (a) und (b) zeigen insofern eine fragmentierte Kodierung, (c) eine integrierte, die die aus (a) inferierbaren Zusammenhänge explizit macht und damit auch ihre Repräsentation vereindeutigt. Eine kausale Verknüpfung wie sie bei (b) und (c) expliziert wird liegt bei (a) nicht fest. Hier sind auch andere Verknüpfungen denkbar, vgl. die Kodierungen (d – f) eines anderen Sachverhalts: Literat und orat. Grundbegriffe 69 ______________________________________________________________________ (d) Hans duschte. Dann ging er in die Kneipe. (e) Hans ging in die Kneipe. Vorher duschte er. (f) Bevor Hans in die Kneipe ging, duschte er. Die fragmentierten (parataktischen) Artikulationen (a) und (d) repräsentieren den komplexen chronologischen bzw. kausal verknüpften Sachverhalt ikonisch in der Abfolge der Äußerung. Syntaktisch integrierte Strukturen sind frei davon – um den Preis des größeren Aufwands der formalen Artikulation – mit rein formalen Mitteln. Um für die weitere Diskussion eine terminologische Stütze zu haben, bleibe ich in der etablierten textilen Metaphorik der Rhetorik (Text < lat. textus "das Gewebte") und spreche bei Strukturen, die in der formalen (grammatischen) Form maximal repräsentiert sind, als fest geknüpft (wie hier bei (c) und (f)), im Gegensatz zu lose geknüpften Strukturen wie bei (a), (b), (d) und (e). Fest geknüpfte Strukturen charakterisieren offensichtlich literate Formen – mit denen, wie oben angesprochen, Zusammenhänge in artikulierten Sachverhalten explizit gemacht werden (s. Bereiter / Scardamlias knowledge transformation). Diese Charakterisierung von konkreten Textstrukturen läßt sich auf den jeweiligen Sprachbau übertragen, wenn die dort verfügbaren Strukturierungsmöglichkeiten betrachtet werden. Sprachen unterscheiden sich offensichtlich erheblich danach, in welchem Umfang sie formale Ressourcen der festen Verknüpfung verfügbar machen – oder eben die Herstellung solcher interpretierender Zusammenhänge den Inferenzen der Sprecher / Hörer überlassen, die ggf. auf lexikalische Mittel (lokale Kodierungen) zur Vereindeutigung zurückgreifen müssen. 7.3. Interferieren schon bei der Analyse von intuitiv zugänglichen Sprachverhältnissen (wie den unseren) schulgrammatische Konzepte, so ist die Gefahr da noch größer, wo die Analyse nicht im gleichen Sinne intuitiv zu kontrollieren ist, wie bei der deskriptiven Arbeit mit exotischen Sprachen. Hier muß die Analyse entsprechend strikt bei der mündlichen Äußerung ansetzen – mit deskriptiven Kategorien, die verhindern, daß die Analyse zirkulär wird. Es gibt erstaunlich wenige Arbeiten, die diesen Ansprüchen entsprechen. Auf einige davon wird in (III.5.) eingegangen. Bei den entsprechenden Analysen sind die in Teil II genauer besprochenen unterschiedlich harmonisierten Verhältnisse zwischen Syntax und Prosodie im Bau der verschiedenen Sprachen zu explorieren. Insofern ist es sinnvoll, darauf erst später einzugehen. 8. Zwischenfazit: (vorläufige) Definition des Literaten Aus den Überlegungen bisher ergibt sich ein Fazit: literate Strukturen reizen gewissermaßen die sprachlichen Potentiale aus und machen die Äußerungen damit von den kommunikativen Zwängen frei. Die Voraussetzungen dazu schaffen die grammatischen Strukturen der Äußerung, vereinfacht: Satzstrukturen – mit einem noch zu klärenden Satzkonzept. Damit läßt sich eine vorläufige Definition der 70 Utz Maas ______________________________________________________________________ strukturellen Grundbegrifflichkeit geben: Literat sind Äußerungen, die in der grammatischen Form von Sätzen artikuliert sind und eine Darstellungsfunktion haben. Die mediale Seite ist demgegenüber nicht definierend: für sie gilt im Gegenteil, daß literate Strukturen keinerlei medienspezifische Eigenschaften aufweisen (also insbesondere nicht die mündlicher Äußerungen). Eine solche Bestimmung definiert gewissermaßen einen Grenzwert für die sprachliche Praxis: bei ihm ist die Interpretation aufgrund der Form allein gegeben, fundiert in der Syntax der sprachlichen Form. Ein solcher Fall ist für die sprachliche Praxis nur kontrafaktisch anzusetzen – er entspricht dem Umgang mit mathematischen Formeln. Für die Sprachpraxis, die auch im förmlichen Register immer situiert ist, fungiert dieser Grenzwert im Sinne einer Maxime: maximiere die formale Strukturierung, sodaß formal nicht kodierte Interpretationsmomente minimiert werden. Die grammatischen Anforderungen, die im Satzbegriff gefaßt werden, binden die sprachlichen Elemente in ein symbolisch integriertes Feld (mit arbeitsteilig differenzierten Formen). Semantisch wird damit ein Sachverhalt dargestellt, weshalb nur partiell (in den Präsuppositionen) darstellende Äußerungen (wie Fragen, Aufforderungen) einen sekundären Status haben. Dabei ist es offensichtlich, daß eine solche Bestimmung nur bei komplexen Sachverhalten und ihrer Darstellung relevant wird: einfache Sachverhalte und entsprechende Äußerungen wie Am Baum hängt ein Apfel sind rein formal betrachtet literat – aber in einem uninteressanten Sinne: der dargestellte Sachverhalt stellt nur triviale Anforderungen an seine sprachliche Artikulation. Die gesetzte Domäne für die Wertung als literat sind offensichtlich (komplexe) Texte, die im syntaktischen Sinne vollständig in Sätze zerlegt werden (können) müssen. Ausgeblendet ist dabei die konnotative Dimension (die von der Registerdifferenzierung impliziert wird), also das, was traditionell als "Stilebenen" gefaßt wird. Im Folgenden wird es darum gehen, diese vorläufigen Bestimmungen expliziter zu fassen. Dabei zeigt sich auch, daß die Terminologie nicht beliebig ist: literat ist mit der Anspielung auf Schriftliches nicht nur eine Metapher für den Sprachausbau. Als Maximierung der Nutzung der strukturellen Ressourcen wird eine literate Praxis nicht nur faktisch (in der Regel) mit der Schrift gelernt (in der Schule), sondern wie gerade auch der typologische Vergleich, soweit er sensibilisiert für diese Probleme ist (s.u. III.5. zu den australischen Sprachen), zeigt, daß da, wo keine Schriftkultur etabliert ist, also kein Bedarf an solcher Strukturmaximierung besteht, entsprechend literat ausgebaute Sprachstrukturen auch nicht entwickelt (grammatisiert) werden (s. auch Maas 2008b). Literat und orat. Grundbegriffe 71 ______________________________________________________________________ TEIL II – ELEMENTE EINER FORMALEN MODELLIERUNG 1. Literate Strukturen als Strukturen des Symbolfelds 1.1. Ergebnis der heuristisch angelegten Überlegungen in Teil I ist, daß mit den Alltagsbegriffen mündlich / schriftlich konzeptuelle Aggregate vorliegen, die mehrdimensional aufgelöst werden müssen, um zu einer analytisch tragfähigen Begrifflichkeit zu kommen. Die Grunddimensionen der Modellierung sind dabei in unterschiedlicher Weise begrifflich anschlußfähig. Während kommunikative (interaktive) Strukturen auf allgemeine Bedingungen sozialen Handelns zurückgeführt werden können, haben sprachliche Strukturen einen anderen Status: sie sind eine unabhängige Größe, die der kommunikativen Praxis als Ressource zugeschaltet werden kann. Geschieht das, handelt es sich um eine symbolische Praxis, definiert durch ein Symbolfeld, in dem die einzelnen Elemente ("Zeichen") ihren Wert erhalten. Grundbegriffe der Zeichentheorie setze ich hier voraus. Außer dem Feldbegriff gehören dazu Stufen der symbolischen Organisation. Symbole können mit einfachen Strukturen expliziert werden, durch einfache Zuordnungen: etwas (ein Zeichen) steht für etwas anderes (das Bezeichnete). Demgegenüber ist Sprache durch Symbole zweiter Ordnung definiert: sprachliche Zeichen operieren über Symbolen, sie haben ihren Wert im Symbolfeld. Damit verbunden ist die enorme Steigerung der Leistungsfähigkeit sprachlicher Systeme verglichen mit einfachen Symbolsystemen. Eine Folge davon ist, daß Sprachsysteme auch nur sprachspezifisch gelernt werden 53 können. Anders als in den gängigen Einführungsdarstellungen erschließen sich die Besonderheiten der Sprache als Zeichensystem nicht durch den Vergleich mit einfachen Zeichensystemen (Verkehrszeichen, tierische Kommunikationsformen wie z.B. die "Sprache" der Bienen u.ä.). Daher führt auch eine begriffliche Entwicklung, die vom Kommunikationsbegriff als grundlegend ausgeht (insofern es sich nicht um Fragen der Ontogenese u.dgl. handelt), in eine Sackgasse, wie schon in (I.2.) entwickelt: weder ist Sprache als Ausdruck der Befindlichkeit eines Sprechers zu fassen, noch erschöpft sie sich im interaktiven Geschehen zwischen Sprecher und Hörer. Sie ist vielmehr als unpersönliche Struktur zu fassen, was einen Vergleich mit anderen ebenfalls komplexen Symbolsystemen nahelegt, insbesondere mathematischen (algebraischen) Symbolstrukturen. Der traditionelle Terminus für diese Struktur ist die Grammatik, wobei das Grammatikkonzept allerdings aus seiner schulgrammatischen Engführung gelöst werden muß. 53 In der Ontogenese muß das sprachliche Symbolsystem von einfacheren Zeichenpraxen aus gebootet werden – ein mühseliger und langwieriger Prozeß, der mehrere Jahre kindlichen Sprachlernens in Anspruch nimmt, s.o. I.6. 72 Utz Maas ______________________________________________________________________ 1.2. Aus dieser Verankerung im Symbolfeld ergeben sich Konsequenzen für die Struktur des Literaten. Dieses ist auf die Überwindung lokaler Horizonte ausgerichtet, wie es auch die Lernprogression in (I.6.) deutlich macht. Für das Lesen ist eben nicht das definierend, was den Lernprozeß an seinem Anfang zwangsläufig bestimmt: die lautliche Interpretation der Buchstaben, die lexikalische (kontextfreie) Interpretation der Wörter u.dgl., sondern die Integration dieser Formelemente in ein Ganzes: den Text mit seiner Interpretation. Die lokalen Struktureigenschaften sind dadurch definiert, daß sie dieses Ganze artikulieren: sie müssen es dem Leser möglich machen, die Textbedeutung zu erschließen. Die lokale Artikulation muß daher kompatibel erfolgen, weil sonst ihre Integration in ein Ganzes nicht möglich ist. Die Kriterien für eine literate Strukturierung sind daher Metakriterien relativ zu den lokalen Strukturanforderungen. Die Konsistenz der lokal umgesetzten Kodierungen ist daher eine Grundbedingung literater Organisation – ohne sie hätte ein Leser keine 54 Chance, den Text zu erlesen. Sie liegt in der Linie einer Verlängerung der Skopuserweiterung des Hypothesenraums beim Lesen: in letzter Konsequenz als Etablierung einer Orthographie für alle möglichen Texte (in einer bestimmten Sprache). 1.3. In der Tradition der kognitiven Psychologie können die Strukturen des Symbolfelds als Gestalten gefaßt werden: so wie geometrische Figuren Gestalten sind, die die Wahrnehmung strukturieren – in relativer Unabhängigkeit von den physikalischen Gegebenheiten (den "Wahrnehmungsreizen"). Die Wahrnehmung einer runden Kreidefigur an der Tafel als Kreis ist robust gegenüber der physikalisch meßbaren Verteilung von Kreidepartikeln, die nie die idealen geometrischen Bedingungen eines Kreises erfüllen (gleicher Abstand aller Punkte auf der krummen Linie von einem [zentralen] Punkt aus). Die Grundfigur der literaten Struktur ist der Satz. Entsprechend ist eine Äußerung (ein Text) literat, wenn er (vollständig) in Sätze zerlegt werden kann. Das läßt sich auch i.S. der Markiertheitstheorie formulieren: literate Strukturen sind der markierte Fall, orate (d.h. nicht-literate) sind der unmarkierte Fall. Das findet sich so schon bei Karl Bühler, der in diesem Sinne ein radikaler Markiertheitstheoretiker war: In der spontanen Gesprächssituation (also kommunikativ) sind literate Strukturen nicht zu erwarten – hier treten überhaupt sprachliche Äußerungen nur als markierter Fall auf (Bühlers Beispiele: bei der 54 Das so recht abstrakt Formulierte wird sehr deutlich, wenn man experimentelle Schreibungen analysiert, wie wir es in Osnabrück bei unseren Projekten mit marokkanischen Kindern getan haben. Als wir Kinder mit berberischer Familiensprache gebeten haben, ihre mündlichen Erzählungen zu verschriften (wofür sie kein Modell kannten), mußten diese sich gewissermaßen von Laut zu Laut durch ihren Text durcharbeiten und Verschriftungen suchen. Migrantenkinder in Deutschland hatten dabei auch nur wenige Anhaltspunkte in den LautBuchstaben-Zuordnungen der deutschen Orthographie. Wie sehr solche Kinder in einer literaten Welt zuhause waren (trotz z.T. erheblicher Probleme mit schriftkulturellen Anforderungen in anderer Hinsicht), zeigte sich, wenn sie sich bemühten, ihre einmal gewählten Verschriftungsoptionen im ganzen Text konsistent durchzuhalten; für ein instruktives Beispiel s. Youssef in Maas (2008a): 487-495. Literat und orat. Grundbegriffe 73 ______________________________________________________________________ Bestellung im Café, in der Straßenbahn ... – also immer da, wo die Situationen in hohem Maße die Optionen des kommunikativen Handelns einschränken). Aus der Perspektive der (sprachlichen) Handlungen ist der Grundbegriff hier die Erwartung an bestimmte (sprachliche) Verhaltensweisen: Situationen können als Typen von solchen Erwartungsbündeln definiert werden. Solche Erwartungsbündel werden gelernt und steuern damit auch das Verhalten der Sprecher: Im spontanen Gespräch wird von den (grammatischen) Ressourcen des Symbolfelds nur soviel zugeschaltet, wie kommunikativ erforderlich ist. Von der gegenteiligen Praxis, bei der das Reden literat artikuliert ist, sagte Bühler: sie "leg[t] … d[as] konstruktive Mitdenken des Hörers ans Gängelband" (Bühler 1934: 397). Literate Strukturen sind in einer unabhängigen Dimension gegenüber der Kommunikation definiert, letztlich damit auch: unabhängig von der Verständigung zwischen Sprechenden. Verständigung funktioniert u.U. auch ohne sie, wie jedes Gesprächsprotokoll zeigt. Umgekehrt können die Strukturen einer Äußerung den Filter des Symbolfelds passieren (sie können grammatische Sätze sein), ohne daß deswegen die Verständigung funktioniert – was ebenfalls eine Alltagserfahrung ist. Die Strukturen des Symbolfelds sind also strikt zu unterscheiden von den 55 Bedingungen, die mit der Interpretation einer Äußerung verbunden sind. Literate Strukturen erfüllen eine symbolische Funktion durch ihre Form. Insofern haben die Strukturen des Symbolfelds hier ein Eigengewicht – während sie in der (interaktiven) Kommunikation ein abhängiger Faktor sind. Andererseits können die Formaspekte aber nicht absolut gesetzt werden: weder auf der materiellen Seite, wie der Hinweis in (I.6.) auf rein skribale Praktiken zeigt, noch auf der genuin sprachlichen Formseite, wie das Spiel mit Sprachformen zeigt, von kalauernden Blödeleien bis hin zu poetischen Kunstwerken – auch als literarische Praxis erfüllen diese nicht die Bedingungen des Literaten. Die beiden Seiten des Symbolfelds (Form und Interpretation) sind bei den weiteren Klärungen im Blick zu behalten, insbesondere auch bei der Frage nach dem Satz als der literaten Grundkategorie. 1.4. Das Symbolfeld und das im Rückgriff darauf definierte Konzept des Literaten sind analytische Begriffe, die Aspekte an empirischen sprachlichen Gegenständen isolieren. Insofern besteht hier kein Widerspruch zu der grundlegenden Verankerung der Interpretation aller Äußerungen in der Sprechsituation. Sprache kommt schließlich nur in der Form konkreter (situierter) Praktiken in die Welt – nicht anders als auch der Mensch nur in sexuell bestimmten Formen (männlich oder weiblich) in die Welt kommt. Das schließt aber für die systematische Modellierung nicht aus, abstraktere Strukturen zu isolieren – Bestimmungen des Menschlichen nicht anders als des Sprachlichen. Die Bedingungen solcher Abstraktionen müssen dabei allerdings kontrolliert bzw. expliziert werden. 55 Das macht im übrigen auch eine Reduktion der Strukturen des Symbolfelds auf kommunikative Strukturen unmöglich, wie sie in funktionalistischen Ansätzen immer wieder versucht wird – das ist auch der harte Kern von Chomskys Argumentation, der von seinen biolinguistischen Prämissen zu unterscheiden ist, die ihn dazu gebracht haben, diese Strukturen deswegen als genetisch verankert zu postulieren. 74 Utz Maas ______________________________________________________________________ Strukturanalysen, wie sie im Vorausgehenden skizziert sind, explizieren notwendige Bedingungen für die Interpretation von Äußerungen – nicht die Interpretation selbst. Grammatische Strukturen, wie sie traditionell mit dem Konzept Satz verbunden sind, liefern so etwas wie ungedeckte Schecks des sprachlichen Verkehrs, die noch validiert werden müssen. Die Interpretation einer Äußerung verlangt ihre außersprachliche Verankerung, in theoretischen Arbeiten als Referenz expliziert: die referenzielle Interpretation der Aktanten im propositionalen Szenario, sowie die referenzielle Interpretation des Szenarios als situiertes (situierbares) Ereignis (in formellen Modellierungen seit Reichenbachs grundlegenden Arbeiten als Ereignisvariable repräsentiert, über der das Szenario prädiziert wird). Bühler hatte diesen Aspekt mit seiner Origo des sprachlichen Aktes expliziert. Damit wird die Reflexion scheinbar an die Faktoren gebunden, die in den bisherigen Überlegungen als das Spezifikum orater Strukturierung gefaßt waren: die Bindung an eine Sprechsituation mit den damit gesetzten spezifischen Festlegungen in Raum und Zeit, 56 präsupponiertem Vorwissen bei Sprecher / Hörer u.dgl. 56 Diese Frage hat noch weitergehende Implikationen, die hier wenigstens angedeutet werden sollen, da an ihnen ein Großteil einer verbreiteten Konfusion in der Diskussion um die Analyse schriftkultureller Praktiken hängt (mit Emphase vor allem von Brian Street mit seinem Konzept der social literacy vorgebracht, s. Street 1995). Das Symbolfeld ist definitionsgemäß eine ideale, insofern also asoziale Struktur. Mit ihm wird aber eine soziale Praxis artikuliert: ontogenetisch betrachtet ist es zuerst in der Sprache der anderen da – als solche wird diese angeeignet und dann auch zur Sprache für mich. Das Symbolfeld kommt also in einer intersubjektiven Praxis in die Welt, mit seiner Entfaltung wird aber die intersubjektive Nabelschnur getrennt. Eine genaue (auch ethnographisch kontrollierte) Analyse schriftkultureller sozialer Prozesse, wie sie sich z.B. in den Arbeiten von Street findet, widerspricht also keineswegs einer systematischen ("abstrakten") Modellierung der literaten Ressourcen, die dabei ins Werk gesetzt werden. Die in diesem Kontext oft zu findende polemische Gegenüberstellung der beiden Herangehensweisen an das Problem behindert nur ein Weiterkommen bei der theoretischen Klärung. Bei empirischen Analysen sind beide Dimensionen zu trennen (und insofern auch: zu berücksichtigen). Im sozialen Raum ist der Erwerb der Schriftsprache immer auch die Initiation in eine bestimmte, gesellschaftlich determinierte Praxis – mit ihr wird der Lerner Mitglied einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe (s. auch die Diskussion in I.5). Daher führt auch die Suche nach formal ablösbaren Indikatoren nicht weiter, wie bei der etwas hysterischen Diskussion über die Rolle des Vorlesens in den ersten Lebensjahren: dieses hat die in der Forschung immer wieder herausgestellte positive Rolle als Teil einer sozialen Praxis, bei der das Kind Mitglied einer literaten (privilegierten) Gesellschaftsschicht wird – deutlich schon daran, daß es dabei auch eine aktive Rolle spielt und die fraglichen Geschichten nicht nur passiv rezipiert, sondern diese mit den Erwachsenen ko-produziert. Der rein physische Vorgang des Vorlesens, bei dem das Kind auf eine passive Rolle festgelegt wird (von den Erwachsenen u.U. sogar entsprechend sanktioniert wird), unterscheidet sich auch in den Konsequenzen nicht sonderlich von der Berieselung durch ein laufendes Fernsehgerät. Auf die Struktur der Ko-Produktion in der Sprachpraxis komme ich unten in II.4 zurück. Hier sind auch gesellschaftliche Makro-Horizonte zu berücksichtigen ("Kulturen"). Traditionelle Schriftkulturen sind ausgerichtet auf einen autoritativen Text, zumeist mit religiösen Konnotationen. In diesen ist es (wie bei der traditionellen muslimischen Schule) ausgeschlossen, daß ein "unreifes" Kind Fragen an einen ehrwürdigen Text stellt, den es noch nicht fassen kann, den es aber als Initiationsritual auswendig lernen soll. In solchen Kontexten werden die schriftkulturellen Potentiale sozial abgeblockt. Die Analyse setzt eben voraus, daß Literat und orat. Grundbegriffe 75 ______________________________________________________________________ Ausschlaggebend für die Analyse des Sprachausbaus ist das Symbolfeld und damit die Frage, ob dessen Struktur über die Ausdifferenzierung der Sachverhaltsfaktoren auch derartige (referenzielle, illokutionäre …) Festlegungen 57 grammatisiert ausdrückt, statt sie nur mit "freien" Mitteln ausdrückbar zu machen. Die Grenzlinie zwischen den beiden Bereichen war schon in der antiken rhetorischen Tradition fest: die Sachverhaltsstrukturierung hat in den W-Fragen schon ein 58 traditionelles Gegenstück, während die satzmodalen Spezifizierungen keine entsprechende Thematisierungsform haben: sie sind nur indirekt greifbar (durch kontrastierende Äußerungen), und dadurch eben von der Äußerungssituation und der Ausrichtung auf deren Akteure nur schwerer ablösbar als Sachverhaltsmomente. Sinnfällig wird die Notwendigkeit einer solchen Unterscheidung bei Aufforderungen; diese sind explizit auf die Gesprächssituation, auf ein konkretes Gegenüber kalibriert, durch dessen Aktivität der mit ihnen artikulierte Sachverhalt erfüllt werden soll. Demgegenüber ist ihre Grammatisierung in Imperativen eine Form des Symbolfelds (wo sie z.B. zu indikativischen Formen in Opposition stehen) – was es möglich macht, Äußerungen mit imperativischen Formen auch für andere pragmatische Zwecke zu nutzen, nicht anders als Aufforderungen auch in nichtimperativischen Formen auszudrücken (du gehst da jetzt rein! ist grammatisch ein indikativischer Satz). Dieser Hörerorientierung beim Imperativ entspricht die Sprecherorientierung bei Optativen u.a. Für die gesprochene Sprache bestehen hier durch den Rückgriff auf prosodische Markierungen noch größere Spielräume als für die geschriebene (du kommst morgen ↑ ist ein indikativischer Satz, wenn man diese Kategorie an der Wortstellung mit einem informationsstrukturell definierten Vorfeld des finiten Verbs (Prädikats) festmacht – nimmt man die Prosodie zu den grammatikalisierten Ausdruckselementen hinzu, kann die Klassifikation anders aussehen). Grammatische Formen sind auf einen generalisierten Anderen kalibriert – nicht auf den konkreten Gesprächspartner, auch wenn dieser die entsprechenden Variablen in der Äußerungsstruktur erfüllt (und spiegelverkehrt auf ein generalisiertes Ego / Sprecher). Bei den grammatischen Strukturen geht es also um sprachspezifisch definierte Symbolfelder. Die referenziell interpretierbaren Elemente sind darin im Jakobsonschen Sinne Schalter: Strukturelemente sind sie nicht als interpretierte, sondern als zu interpretierende (s. Jakobson 1957). Das Pronomen ich ist grammatisch kein Index für den (konkreten) Sprecher / Schreiber (wie ein unübertragbarer Personenindex, vergleichbar den Stimmeigenschaften, die zur Sprecheridentifizierung führen können); solche Elemente sind Schalter in der Äußerungsstruktur, die nach einer (situationsgebundenen) referenziellen Interpretation verlangen. Probleme gibt sie daher zunächst einmal auch isoliert von der sozialen Praxis gefaßt werden. Hinweise zu den verschiedenen sozialen / kulturellen Prägungen der Schriftkultur in Maas (2008a), Teil 2. 57 Zum Terminologischen: ich unterscheide (anders als in der ausgedehnten Grammatikalisierungsdiskussion, die die sachliche Unterscheidung selbstverständlich auch macht) terminologisch zwischen der Grammatisierung einer konzeptuellen Struktur und der Grammatikalisierung einer Form (die etymologisch eine andere Funktion hatte) für den Ausdruck dieser konzeptuellen Struktur. 58 In der antiken Rhetorik war das die inventio. 76 Utz Maas ______________________________________________________________________ es aber, wenn die grammatisierten Faktoren der Verankerung der Interpretation nicht nur auf solche generalisierten Strukturmomente sprachlichen Handelns wie z.B. das polarisierte Beteiligungsfeld der Bühlerschen Origo kalibriert sind: beteiligt + - Adressat + DU ICH ER S.u. für die Grammatisierung von Respektmarkierungen als Finitheitsmarker, die Evidenziale u.dgl., die zwangsläufig auf eine spezifische Gesprächskonstellation kalibriert sind. 1.5. Eine zentrale Dimension bei der Interpretation aller Arten von Äußerung ist die Autorschaft (Übernahme der Verantwortung, Beglaubigung) für das Ausgedrückte. Im Defaultfall wird der Sprecher / Schreiber für das von ihm Ausgedrückte haftbar gemacht – nicht nur in der gesprochenen Sprache. Das muß aber nicht für alle Äußerungen gelten: ein probates Mittel, diesen Default zu überschreiben, ist die direkte Rede, bei der eine Äußerung nur angeführt und ihr Autor genannt wird: Hans hat gesagt: "Emma spinnt". Formen der Markierung direkter Rede (Quotative) finden sich wohl in allen Sprachen; sehr unterschiedlich in den Sprachen ist das Spektrum der (grammatisierten) Mittel, die Autorverantwortung zu reduzieren: indirekte Rede, 59 generell logophorische Markierungen, Anspielungen … Die Skala der syntaktischen Integration ist hier auch im Deutschen einigermaßen groß: (a) Hans sagte: "Ich komme morgen" (b) Hans sagte, er kommt morgen (c) Hans sagte, er komme morgen (d) Hans sagte, er käme morgen (e) Hans sagte, daß er morgen kommt (f) Hans sagte, daß er morgen komme (g) Hans sagte, daß er morgen käme Bei (a) erfolgt die Integration nur indirekt über die vom Prädikat sagte geforderte Artikulation eines Objekts. Bei (b) – (g) läuft die Integration über eine anaphorische Referenz (mit potentieller Ambiguität). (b) – (d) sind asyndetisch, aber bei (c) und (d) 59 In der Sprachtypologie werden logophorische (< logos "Sprache, Rede", phor- "tragend", also von einer Rede in eine andere transportierend, vgl. auch anaphorisch) Systeme in jüngerer Zeit systematischer diskutiert, ausgehend von den reichen Markierungssystemen vor allem in westafrikanischen Sprachen. In dem von Heath analysierten australischen Nunggubuyu (s. 4.2.9) stehen offensichtlich gar keine indirekten Ausdrucksmittel zu Verfügung, nicht nur keine indirekte Rede, auch keine andere Form als die direkte Rede für mentale Akte überhaupt. Auf dem anderen Pol stehen Sprachkulturen wie beim Mongolischen, bei denen in der direkten Kommunikation die Markierung der Verantwortlichkeit für das Gesagte geradezu dominant ist. Darauf komme ich in 4.2.8. ausführlicher zurück. Literat und orat. Grundbegriffe 77 ______________________________________________________________________ mit einer subjunktiven Abhängigkeitsmarkierung (bei (d) mit der früher normativ geforderten consecutio temporum). (e) - (g) haben eine explizite Subjunktionsmarkierung. Die minimal markierte asyndetische Form (b) dürfte in der gesprochenen Sprache als Default fungieren, ggf. auch mit einer einheitlichen Intonationskontur. In der gesprochenen Sprache kommen hier die expressiven (parasprachlichen) Mittel hinzu, eine fremde Stimme zu inszenieren. Kinder experimentieren in ihren frühen Rollenspielen recht extensiv mit solchen Mitteln. Das zeigt, wie fundamental diese Dimension der Sprachpraxis ist. Allerdings sind die Ausdrucksmittel, die sie dazu nutzen, zunächst eher mimetisch: sie reproduzieren lautmalerisch Geräusche, geben den unterschiedlichen Figuren im Spiel unterschiedliche Stimmen (Auto – [brːːːm], oder: der Junge – [ʔɑʊːːː]). Die spezifischen symbolischen Ressourcen, um solche Sachverhalte in der Darstellung zu repräsentieren, erschließen sie sich relativ spät – in unserer Gesellschaft meist erst in der Zeit, in der sie in der Schule auch schriftsprachliche Ausdrucksformen lernen (s.o.). Dazu gehört es, jeden solchen Sachverhaltsaspekt mit einem Prädikat zu belegen (also das Lexikon differenziert auszubauen) bzw. in einer propositionalen Form zu artikulieren und ggf. als sekundäre Prädikation mit einer primären zu verknüpfen (das Auto fuhr laut vorbei oder der Junge sagte, daß es ihm weh tut …). Das souveräne Verfügen über solche Ressourcen erlaubt es dann später auch wieder, mimetische Elemente entsprechend markiert als Collagen in einen literaten Text einzubauen (der Junge schrie laut "Au"…). In typologischer Perspektive ist keineswegs die schematische Markierung des verantwortlichen Sprechers zu erwarten (wie es in Gesprächsprotokollen erfolgt – oder auch in der traditionellen Form eines Dramenskripts). Die Architektur der Sprachsysteme ist in der Regel von Ökonomieaspekten bestimmt, die nur den markierten Fall, nicht den Default formal auszeichnen. Bei der Grammatisierung solcher Markierungen, wie es in Sprachen mit Evidenzialitätssystemen als Finitheitsmarkierung der Fall ist (z.B. verbreitet in südamerikanischen Sprachen) liegt allerdings ein solcher u.U. überschüssiger Markierungszwang vor. In der modernen Literatur sind solche Strukturen grundlegend für das zentrale Problem, den "Autor" nicht gewissermaßen aus dem Text auszuklammern, wie es das traditionelle Literaturkonzept tat. Daraus resultieren die differenzierten Formen der erlebten Rede (frz. discours indirect libre), bei denen die Autorschaft wie ein Weberschiffchen zwischen der inszenierten Figur, ggf. dem (literarischen) Erzähler und dem Autor hin und her changiert. Diese Polyphonie der Sprachpraxis wird in 60 jüngerer Zeit zunehmend Gegenstand der Forschung. Diese Fragen verlangen eine gründliche, sprachtypologisch kontrollierte Diskussion: Insofern solche Markierungen in erheblichem Umfang expressiv gemacht werden (dem Hörer / Leser Inferenzen abverlangen), gehören sie nicht zum Symbolfeld im engeren Sinne (im Gegensatz zu den formalen Elementen, an denen 60 Ausgehend vor allem von der literaturwissenschaftlichen Diskussion, für die die Rezeption der Arbeiten von M.Bachtin (seit den 20er Jahren) eine Schlüsselrolle hat; allerdings war die Analyse der "erlebten Rede" in der sprachwissenschaftlichen Stilanalyse schon in den 20er Jahren auch in Deutschland ein zentraler Forschungsgegenstand. 78 Utz Maas ______________________________________________________________________ solche logophorischen Verweise festgemacht werden). In einer ganzen Reihe von Sprachen bilden sie aber die zentrale Achse der grammatisierten Satzmodalität, ggf. auch von morphologischen Finitheitsmarkierungen am Prädikat (z.B. das erwähnte reiche Spektrum an Evidenzialen in den südamerikanischen Indianersprachen). Damit verbinden sich komplexe Fragen der kulturellen Vorgaben für solche grammatischen Strukturen, die in der Regel eben nur auf die spezifische Konstellation mit einem konkreten Adressaten kalibrierbar sind. In Sprachen der australischen Aboriginees fehlen formale Mechanismen der Integration wie die indirekte Rede z.T. völlig – hier ist nur eine zitierende Inszenierung der fremden Rede, ggf. mit deklarierenden Zusätzen (so machte er …) möglich (s. z.B. Heath zum Nunggubuyu, unten III.5.). In anderen Sprachen kann die Registerdifferenz den Ausschlag geben. So hat Dunst (2009) bei den von ihr analysierten spontanen russischen Gesprächen häufig sprachliche dummies in solchen logophorischen Funktionen, etwa ein formal "erstarrtes" takoj, am besten mit "so" zu übersetzen (es ist nur homophon mit dem Demonstrativ, SM.Nom), z.B. on mne takoj 3SM.Nom 1S.Dat so "Er zu mir so ‚Sieben Euro‘" sem‘ sieben evro Euro Ihre Gewährsleute, die diese Texte verschrifteten, ließen diese Elemente entweder weg oder ersetzten sie durch explizite (und lexikalisch differenzierte) Formen. Sprachkulturen sind unterschiedlich tolerant gegenüber solchen Praktiken. 2. Formstrukturen: die syntaktische Basis für die Analyse orater und literater Strukturen (Satz als Grundkategorie) 2.0. Die Basis der Analyse ist auf der Formseite zu suchen. Den Kern bilden, wie oben schon angesprochen, satzförmige Strukturen. Damit verbindet sich eine Fülle von grundsätzlichen Problemen, die im Folgenden mit der Zielsetzung angesprochen werden sollen, so ein Raster für empirische Analysen zu gewinnen. Um die Argumentation zu entlasten, argumentiere ich dabei im Rückgriff auf das intuitiv zugängliche Deutsche. 2.1. Proposition und Nexus 2.1.1. Ausgangspunkt muß das sein, was die lange Tradition der Schulgrammatik vorgegeben hat, für die immer schon klar war, daß Sätze den Horizont der Sprachpraxis definieren – daß dieser nicht auf das beschränkt ist, was in der Praxis beobachtbar ist. Allerdings wird diese Annahme in der Schulgrammatik von normativen Vorgaben überlagert, auf die unten zurückzukommen ist. Hier sind zunächst einmal die Grundbegriffe festzuhalten, die mit einer solchen Analyse verbunden sind (die auch Bühler in seiner "Sprachtheorie" zusammenstellte). Dabei Literat und orat. Grundbegriffe 79 ______________________________________________________________________ gibt es eine Reihe von terminologischen Unklarheiten, die eine Festlegung sinnvoll machen – nur um diese geht es im Folgenden, da sonst hier die gesamte Sprach- und Grammatiktheorie zu entwickeln wäre. Dabei sind zu unterscheiden: • die Formseite der Äußerung, • die Interpretation der Form (außersprachlich). Formen sind gelernt (also auch sprachspezifisch) – ebenso wie ihre Interpretation. Dabei ist die Form im Sinne von oben als Gestalteigenschaft der Äußerung zu verstehen: insofern ist die (empirisch beobachtbare) Äußerung von ihrer (evtl. gegebenen) Struktur als Satz zu unterscheiden. Hier handelt es sich also um sprachliches Wissen – das mit außersprachlichem (also nicht formgebundenem) Wissen (oft als Weltwissen angesprochen) verknüpft ist. Dem entspricht eine terminologische Differenzierung: außer-sprachlich Konzept Sachverhalt Sprache (Zeichen): Symbolfeld Wort Wortgruppe (paradigmatische (syntagmatische Abgrenzung: Verknüpfung) Wortfeld) Proposition Satz Der Horizont dieser Begrifflichkeit ist die Syntax: Wort wird dabei als syntaktische Grundeinheit genommen – die weiteren Begriffe sind syntaktische Konstruktionen mit Wörtern (morphologische Fragen sind erstmal ausgeklammert). Die Differenzierungen sind hier semantisch: Wort wird primär als konzeptuelle Artikulation verstanden (was Probleme mit sich bringt – und traditionell nur den Autosemantika entspricht). Eine syntaktische Schwelle wird da angesetzt, wo die syntaktische Konstruktion als Ausdruck eines Sachverhalts interpretiert werden kann: also als Proposition. Ein Satz ist demgegenüber in einer ersten Näherung eine Konstruktion, die als eigene Äußerung fungieren kann: als Äußerung, zu der eine Stellungnahme möglich ist, die Handlungskonsequenzen hat. Das ist jedenfalls das traditionelle Verständnis, das vor allem in der neueren Sprachphilosophie / Logik etabliert ist (seit Frege und Wittgenstein), wo ggf. von der Proposition auch als vom Satzradikal gesprochen wird, der im Satz noch weiter satzmodal bestimmt wird. Im Rahmen der Finitheitsdiskussion wird eine satzmodal bestimmte Proposition als semantisch finit gefaßt – Propositionen können auch semantisch nicht-finit vorkommen, s.u. Dieses traditionelle Konzept blendet die Strukturbedingungen des Symbolfelds aus; s.o. zur reflektierten theoretischen Klärung bei Bühler (Satz als "geschlossenes und wohlbesetztes Symbolfeld") und weiter in (III.3.). Die Notwendigkeit einer solchen konzeptuell klareren Definition ergibt sich nicht zuletzt auch in Hinblick auf sprachtypologische Befunde (s.o. I.4. und weiter in III.5.).Für eine Abklärung literater Strukturen ist daher ein restriktiveres Konzept von Satz erforderlich, als es hier in Anlehnung an die schulgrammatische Tradition zunächst aufgenommen wird. 80 Utz Maas ______________________________________________________________________ EXKURS ZUR Terminologie (Proposition vs. Satz)-----------------------------------Um begriffliche Unklarheiten zu vermeiden, ist ein Exkurs in die Logiktradition nützlich. Die logische Sprachreflexion war traditionell eine Art Argumentationsanalyse, die sich um die Analyse von Urteilen drehte, also um die Frage, was ein Urteil (mit anderen Worten: einen Satz) wahr oder falsch machte. Aus diesem Kontext stammt auch der Terminus Proposition und damit auch die Unterscheidung von Proposition und Satz, wobei der letztere durch seine satzmodalen Bestimmungen definiert ist, die den w.u. besprochenen Finitheitsbestimmungen der Grammatiktheorie entsprechen. In der Logiktradition bezeichnet eine Proposition die Prämisse bei einem Schluß. Eine Proposition wird interpretiert durch einen Sachverhalt, z.B. |Hans sieht fern|. |Hans sieht fern| ist nur eine Proposition für Sprecher des Deutschen, die das vorausgesetzte sprachliche Wissen haben: die Wörter (Hans, sieht, fern) müssen bekannt sein, ebenso die Grammatik, die die Konstruktion |Hans sieht fern| ermöglicht. Der Kern der Proposition ist eine Prädikation: ein Prädikat (hier: sieht fern) wird prädiziert über einem Argument (Subjekt : Hans). Eine solche Prädikation kommt aber nur zustande, wenn das Subjekt identifizierbar ist – was auf außersprachliches Wissen zugreift: z.B. daß der Referent (Hans) bekannt ist. Die Unterscheidung von Proposition und Satz wird verdeckt, wenn ein Satz nur aus einer Proposition besteht wie bei |Hans sieht fern|. Unmittelbar einsichtig wird die Unterscheidung aber bei komplexen Sätzen, die mehr als eine Proposition beinhalten: [[wenn Hans fernsieht]Prop [dann schläft er meistens ein]Prop ]Satz In der Logiktradition wurde die Unterscheidung, daß eine Proposition wie |Hans sieht fern| kein Satz ist (kein Urteil, bei dem sich die Frage nach wahr oder falsch stellt), daran festgemacht, daß sie als Prämisse eines Urteils fungieren kann: |wenn Hans fernsieht| (dann schläft er meistens ein) Hier liegt keine Behauptung ( Satz) von |Hans sieht fern| vor. Behauptet wird nur die Implikation |wenn Hans fernsieht, dann schläft er meistens ein|. Diese Behauptung (Implikation) ist auch wahr, wenn Hans (gerade) nicht fernsieht. Wird aber die Proposition |Hans sieht fern| als Satz geäußert (behauptet), stellt sich die Frage nach ihrer Wahrheit: dieser Satz ist wahr, g.d.w. ("genau dann, wenn") Hans fernsieht. In der grammatischen Redeweise ist die Terminologie nicht einheitlich. In der deutschen (und französischen ...) Tradition wird Proposition auch dort benutzt, in der angelsächsischen Tradition steht dafür clause (im Deutschen nicht möglich, wegen der anderen Assoziationen bei "Klause(l)"); manchmal wird hier von Satzbasis gesprochen, auf der die Finitheitsbestimmungen (die Satzmodalität) operieren. Für die grammatische Analyse sind hier Äquivalenzrelationen in der Konstituentenanalyse ausschlaggebend, schematisch etwa: Literat und orat. Grundbegriffe 81 ______________________________________________________________________ ENDE DES EXKURSES-------------------------------------------------------------------Die logische Tradition zielt auf die Interpretation von Äußerungsstrukturen – das ist gerade nicht das, was das Symbolfeld definiert. Dieses ist ein Feld von Relationen zwischen Formen, die unabhängig von ihrer Interpretation (auch: von ihrer Interpretierbarkeit) definiert sind – umgelegt auf die Sprachproduktion und -rezeption entspricht das auf Seiten der Äußerungen gewissermaßen Mechanismen der Gestaltschließung. Insoweit, aber auch nur insoweit ist das Symbolfeld rein formal definiert: es entspricht i.S. der üblichen sprachwissenschaftlichen Unterscheidungen der Syntax. Aber als Symbolfeld ist es an seine symbolische Funktion gebunden. Geht man von der in vielen Darstellungen zugrundegelegten kommunikativen Konzeption aus, ist die Frage des Zuschaltens des Symbolfelds eine Frage der kommunikativ geöffneten Horizonte: in dem Maße, wie der Kontext und die spezifischen wechselseitigen Erwartungen der Gesprächsbeteiligten die Interpretation nicht sicherstellen, wächst die Rolle der formalen Strukturen bei der Artikulation der Äußerung: literate Strukturen, die auf einen generalisierten Anderen abstellen, sind daher an die formale Artikulation (im Kern: die Satzförmigkeit) gebunden. Im Gegensatz zum konkreten (sozial situierten) Äußerungsakt impliziert die Ausrichtung auf einen generalisierten Anderen die Sicherstellung der Interpretierbarkeit unter allen möglichen Rezeptionsbedingungen – und damit eben die Maximierung des Formaspektes. Im Gegensatz zu Symbolsystemen erster Ordnung (s.o. Abschnitt 1) folgt daraus nicht die Interpretierbarkeit jedes Formelementes: die Strukturen des Symbolfelds sind vor allem solche der zweiten Ordnung, die in kognitiven Modellierungen weitgehend auf das Konto der Sprachverarbeitung gehen. 2.1.2. Ausgehend von der traditionellen Begrifflichkeit entspricht eine Proposition einer syntaktischen Konstruktion, wobei die Syntax die Vorgaben für eine Durchgliederung der in einer Konstruktion integrierten (Wort-) Formen liefert. Insofern ist die Grundstruktur der logischen Analyse, die eine Proposition in ihr 61 Subjekt und das darüber prädizierte Prädikat zerlegt, zu grob. Statt von einer 61 Auch typologisch ist eine analoge Konstituentenstruktur mit einer VP und einem "externen Argument" problematisch und kann nicht "universalgrammatisch" postuliert werden, wie die Diskussion um "nicht-konfigurationelle" Sprachen deutlich gemacht hat. In der jüngeren deutschen Grammatiktradition hat man die ältere logische und zugleich neuere generativistische Zerlegung z.T. als die in ein Subjekt und einen Prädikatsverband repliziert, der seinerseits als Kopf ein Verb hat – also mit einer Verquickung von syntaktischen und Wortartenkategorien, die ich im Folgenden vermeide. 82 Utz Maas ______________________________________________________________________ solchen Zerlegung gehe ich im Folgenden von der Struktur aus, die auch schon die mittelalterliche Grammatik ansetzte: mit einem syntaktischen Kopf im Prädikat, von dem alle anderen Elemente direkt oder indirekt abhängig sind (als seine "Satelliten"). Auch für die feinere Analyse ist es wieder möglich und sinnvoll, auf die ältere Tradition zurückzugehen. Gerade auch "Vorstrukturalisten" bemühten sich, analytische Kategorien zu finden, die gewissermaßen quer zu den fest gewordenen Konzepten der Schulgrammatik (also stereotypen literaten Strukturen) waren. Grundlegend dafür war ein Verständnis von syntaktischen Strukturen als Netz von Abhängigkeiten, bei denen das syntaktische Prädikat als Kopf fungierte – formal also eine Halbordnung, wie sie inzwischen in Darstellungen mit Baumgraphen auch 62 üblich geworden ist. Um von der schulgrammatischen Vorgabe wegzukommen, operierte Otto Jespersen mit der von ihm eingeführten Kategorie eines Nexus: das bezeichnet das Feld der Abhängigkeiten von dem jeweiligen Prädikat (unabhängig von den Wortarten, also auch bei Nominalsätzen mit einem nominalen Prädikat). In Anlehnung an Jespersen werde ich im Folgenden von Nexus und komplementär dazu 63 von Junktion sprechen; der syntaktischen Proposition entspricht so ein Nexusfeld. Das erlaubt es im übrigen auch, eine gewisse terminologische Ambiguität zwischen syntaktischen und semantischen Begriffen aufzulösen, die aus der stark semantisch orientierten älteren Grammatiktheorie resultiert, die nicht nur die 64 Proposition, sondern auch das Prädikat betrifft: PRÄDIKAT PROPOSITION semantisch deskriptiver Inhalt eines Lexems Sachverhalt syntaktisch Kopf eines Nexusverbands (einer Proposition) Nexusfeld eines Prädikats Tatsächlich liegt hier auch nicht einfach eine irritierende Homonymie vor, sondern ein systematischer Zusammenhang, der durch die schulgrammatische Fixierung auf die Wortarten verdeckt wird. Jedes semantische Prädikat ist potentiell auch ein syntaktisches, vgl. die elementaren Prädikationen: semantisch (lexikalisches Prädikat) Haus ("Substantiv") schnell ("Adjektiv") laufen ("Verb") geben ("Verb") 62 syntaktisch (Kopf einer Prädikation) das ist ein Haus das ist schnell er läuft sie gibt es ihm Die traditionellen Strukturen sind Dependenz- und keine (ungerichteten) Konstituentenstrukturen. Diese grammatiktheoretischen Fragen gehen über das hier zu Klärende hinaus. 63 Zum Verhältnis dieser Begrifflichkeit zu den Jespersenschen Kategorien, s. Teil III. 64 Auch in neueren Grammatiktheorien findet sich diese Begrifflichkeit, vgl. z.B. die Terminologie der LFG. Literat und orat. Grundbegriffe 83 ______________________________________________________________________ Diese Entsprechungen bilden die strukturelle Grundlage für den minimalen Grenzwert orater Äußerungseinheiten (eine neue Information pro Intonationseinheit, s.u.). Die praktischen Probleme eines entsprechenden "Parsings" von Äußerungen werden unten aufgenommen. Die Relationen im Nexusfeld werden traditionell in der Grammatik als Valenz diskutiert, worauf auch die Vorstellung von mehr oder weniger gesättigten solcher Felder zurückgeht. Neben der quantitativen Valenz (0-, 1-, 2-, 3- ...-wertig) lassen sich darüber noch weitere formale Filter (in der GG früher: Selektionsbeschränkungen) definieren. Formal schließt hier dann das System der Markierungen solcher Relationen, bzw. ihre Differenzierung an: Kasusmarkierungen in Sprachen mit reicher Morphologie, Markierungen mit Partikeln (Adpositionen), 65 Wortstellungsbeschränkungen u.dgl. Das liefert die (vom Charakter des Prädikats abhängige) Basisstruktur eines Nexusfelds: im Kern also die obligatorischen Konstituenten eines Prädikats. In der traditionellen Grammatik des 19. Jhds. sprach man recht prägnant in solchen Fällen vom nackten Satz – im Gegensatz zum bekleideten Satz, der Erweiterungen aufweist, 66 die auch noch möglich (aber nicht vom Symbolfeld gefordert) sind. 2.2. Propositionale Ausbauformen (Adjunkte) Das Nexusfeld integriert eine Menge von syntaktischen Elementen, je nachdem mit eigenem deskriptiven Inhalt (als Prädikate im semantischen Sinne, s.o.), in einer arbeitsteiligen Funktionszuweisung: im Nexusfeld hat jedes Element in Bezug auf jedes andere eine spezifische Funktion. Mit Ausnahme des Kopfes ist jedes Element von einem anderen abhängig; dabei ist in einer transitiven Relation jedes Element auch vom Kopf (dem Prädikat) abhängig (außer der Kopf selbst). Diese Struktur läßt sich durch Adjunkte erweitern – klassische Beispiele sind die Umstandsbestimmungen (Adverbiale): temporal, lokalisierend oder auch modalisierend (in einen Szenariotypus einordnend). In semantischer Hinsicht ist 65 Das findet sich im übrigen auch schon bei Bühler (1934) recht differenziert aufgedröselt, einschließlich seiner Systematisierung im Sinne einer Markiertheitstheorie, wie sie in jüngerer Zeit erst von Kiparksy und Co. wieder auf die Tagesordnung gebracht worden ist: z.B. daß bei einer ökonomisch optimierten Architektur wie in den ie. Sprachen mit einer akkusativischen Ausrichtung eine offene Akkusativmarkierung im unmarkierten Fall eines unbelebten Objekts unterbleibt (Neutrum mit der Neutralisierung von Nominativ und Akkusativ) und nur im markierten Fall eines belebten Objekts erfolgt, u.a. mehr. 66 Im 19. Jhd. war diese Konzeptualisierung allgemein üblich, s. etwa Heyse (1838 – 1849). Ähnliche Unterscheidungen finden sich heute verschiedentlich wieder in jüngeren Arbeiten, z.B. in der Role and Reference Grammar (RRG), deren Unterscheidung von Kern (core) und Peripherie dem allerdings nur teilweise entspricht. Auf diese Weise lassen sich recht elegant auch die syntaktischen Strukturen beschreiben, die in der GG-Tradition als pro-drop abgehandelt werden: in Sprachen ohne einen obligatorischen Subjekts-Ausdruck (die semitischen Sprachen, die meisten romanischen Sprachen u.a.) gehört zum nackten Satz eben kein Subjekt – weshalb sich diese Redeweise auch in den semitistischen Grammatiken gehalten hat. 84 Utz Maas ______________________________________________________________________ deutlich, daß es sich hier um komplexe Propositionen handelt, die auch entsprechend mit komplexen Sätzen paraphrasierbar sind: Letzte Woche ging Emma mit ihrem Dackel spazieren ~ Es war (passierte ...) letzte Woche, daß Emma mit ihrem Dackel spazieren ging. Andererseits sind von der syntaktischen Struktur her für diese Erweiterungen reguläre Nuten und z.T. auch spezielle Markierungen definiert: sie werden (nicht nur im Deutschen) am Satzrand artikuliert, oft findet sich auch ein höheres Prädikat in Form einer Adposition, das die einfache Proposition als eines seiner Argumente nimmt, oder es finden sich spezielle morphologische Markierungen ("adverbiale Kasusformen"): Vor einer Woche ging Emma mit ihrem Dackel spazieren. VOR (x,y) mit x = (Emma ging mit ihrem Dackel spazieren), y = (eine Woche) Zu den Kasusmarkierungen s. etwa im Dt. Samstag vs. samstags u.dgl. Insofern ist es sinnvoll, diese Erweiterung der Proposition als bekleideten Satz zu fassen, der eine unmarkierte Struktur darstellt – während die Paraphrasen mit einem komplexen Satz markierte Optionen darstellen, wie z.B. auch Spaltkonstruktionen: Es war Hans, der mit Emmas Dackel spazieren ging. 2.3. Komplexe Propositionen I: Satzgefüge Eine weitere Ausbaustufe liegt vor, wenn Elemente im Nexusfeld selbst propositional ausgebaut werden. Eine der Propositionen bildet dann die Matrix, die andere ist abhängig. Das ist prinzipiell bei jedem Satelliten möglich: Subjekt: daß Hans ihr Blumen schenkt, gefällt Emma Objekt: Emma glaubt, daß Hans mit dem Dackel spazieren geht Adjunkt: Als Hans mit dem Dackel spazieren ging, schlief Emma Die semantische Finitheit kommt dem ganzen (komplexen) Satz zu. Die Prädikationen der einzelnen Propositionen können je nach Sprachbau abgestufte Formen grammatischer Finitheit aufweisen: • bei reicher Morphologie betrifft das u.U. die Form des Prädikats: mit der Einschränkung der paradigmatischen Optionen, ggf. auch mit spezialisierten Formen (Subjunktivformen, oft auch "Konjunktiv" genannt), • ggf. in Verbindung mit eingeschränkten Möglichkeiten für die Artikulation der Argumente, insbesondere des Hauptarguments ("Subjekt"): diskutiert unter same / different-subject-Markierung (vs. freie Personmarkierung am Hauptprädikat); im Deutschen z.B. als Grenzfall Infinitivkonstruktionen, die keinen eigenen Subjekts-Ausdruck zulassen (also same-subject sind: Emma hofft, (*Emma / *Hans) mit dem Dackel spazieren zu gehen, Literat und orat. Grundbegriffe 85 ______________________________________________________________________ • weitere grammatische Beschränkungen, z.B. die Wortstellungsfreiheit (im Dt. die Endstellung des [grammatisch] finiten Verbs als Markierung der Abhängigkeit vs. Zweitstellung mit einem Vorfeld für ein Topik als Markierung der [semantischen] Finitheit), • spezielle Subordinatoren, wie z.B. daß, ggf. auch mit einer semantischen Artikulation im Sinne eines höheren Prädikats für Adjunkte, s. 3.1.2): als, obwohl ..., • allerdings sind sprachbauspezifisch solche Markierungen nicht obligatorisch. Vgl. auch im Dt., wo bei bestimmten Verben, die eine propositionale Ergänzung erwarten lassen, asyndetische Verbindungen eindeutig sind: Hans sagt, er geht mit dem Dackel spazieren, vgl. auch konditionale Gefüge: Geht Hans mit dem Dackel spazieren, kommt er immer vergnügt zurück (mit einem propositional ausgebauten adverbialen Adjunkt, vgl. syndetisch wenn Hans ...). Im Deutschen werden solche Markierungen oft kumuliert, vgl. bei |wenn Hans fernsieht (fernsähe)|: Subjunktor, Wortstellung, spezielle Verbformen ... Zu den Valenzeigenschaften eines Verbs kann es gehören, daß es als Prädikat solche propositional ausgebaute Ergänzungen verlangt (im Deutschen allerdings nicht): • 1-wertiges Verb: daß das Auto nicht anspringt, passiert schon mal (vgl. Ein Unfall passiert ...) • bei 2-wertigen Verben ist die alternative Option oft ein Präpositionalobjekt: Emma glaubt an sein Versprechen Syntaktisch sind syndetische (mit explizitem Subjunktor markierte) und asyndetische Subordinationen äquivalent. Charakteristisch für gesprochene Sprache (> orate Strukturen) ist es, explizite Subjunktionsmarkierungen nur zur Desambiguierung zu verwenden: Emma glaubt, daß Hans kommt ist mündlich nicht zu erwarten (dort 67 häufiger: Emma glaubt, Hans kommt). Die normative Grammatik der europäischen Schulsprachen ist spiegelverkehrt dazu auf syndetische Konstruktionen getrimmt, mit dem Modell des lateinischen Periodenbaus, s. (I.4.2.). Auf dem anderen Pol stehen z.B. australische Sprachen, die nur in einem oraten Modus genutzt werden, bei denen die Integration mehrerer Propositionen in eine größere textuelle Einheit ohne syntaktische Subjunktionsmarkierungen erfolgt (wie ohnehin hier die Kategorie Satz einen prekären Status hat, s. III.5. zum Nunggubuyu bzw. zu dessen Analyse durch J.Heath). 67 Die normative Grammatik der westlichen Schulsprachen mißbilligt in der Regel asyndetische Strukturen. Anders ist es dagegen z. B. im Chinesischen, dessen hochsprachliche Kultivierung umgekehrt redundante Markierungen mißbilligt (s.u.). Zu den westlichen Schulkulturen gehört im übrigen auch die arabische: asyndetische Subjunktionen sind charakteristisch für alle gesprochenen arabischen Varietäten – sie fehlen dagegen im (normativ geregelten) Klassischen Arabischen (an dem sich die moderne Schriftsprache orientiert) völlig. 86 Utz Maas ______________________________________________________________________ 2.4. Junktion I: Koordination Schließlich sind Ausbauformen möglich, die keine Abhängigkeit vom Kopf (dem Prädikat) aufweisen. Jespersen hatte dafür den Terminus der Junktion, den ich hier 68 allerdings weiter fasse, als er es tat. Darunter fallen zunächst einmal alle Arten von Koordinationen, die gewissermaßen eine syntaktische Nute mehrfach belegen: Hans kam nachhause und Emma legte sich ins Bett. Hier dient keine der beiden Propositionen als Matrix – beide bilden parataktisch einen Satz, durch und verknüpft (es gibt semantische Optionen für solche Verknüpfungen, die deutlich machen, daß mit ihnen gewissermaßen doch ein höheres Prädikat artikuliert wird, das beide Propositionen integriert: aber, denn, ...). Vgl. auch die Default-Interpretation bei einer und-Koordination als zeitliche Abfolge: Emma und Hans heirateten und bekamen ein Kind Emma und Hans bekamen ein Kind und heirateten Wie auch bei diesem Beispiel erfolgt eine engere Integration über elliptische Tilgungen, die die entsprechenden Koordinanten gewissermaßen syntaktisch klitisiert: Hans kam nachhause und (Hans, er > ∅) legte sich ins Bett. Hans kam nachhause und Emma (kam > ∅) auch (nachhause > ∅). Andere Integrationsmechanismen sind lokale Verweisungselemente: Erst geht Hans mit dem Dackel spazieren, dann legt Emma sich ins Bett. 2.5. Junktion II: Attribution Eine andere Art von Erweiterung ist die Einführung einer sekundären Prädikation, die nicht (oder nur schwach) über den Prädikatskopf vermittelt ist. Noch an das Prädikat gebunden (also als Moment des prädizierten Szenarios artikuliert) sind Depiktive: Hans kam müde nachhause Hans ist nicht generell müde, sondern nur bei seinem Nachhausekommen 68 Hier gibt es ohnehin terminologisch-begriffliche Probleme. In der älteren Grammatikreflexion, an die einige Autoren auch heute noch anschließen, bezeichnet Junktion im etymologischen Sinne einfach eine Verknüpfung, steht also gegen eine reine Juxtaposition. Insofern dient Junktion dort als Oberbegriff zu allen Arten grammatischer Verknüpfung: loser Aggregation durch lokal artikulierte Verweise, parataktische Verknüpfung, ggf. mit expliziten Markern auf der einen Seite, und syntaktisch integrierten Formen (Hypotaxe, nominale Umkategorisierung u.dgl.) auf der anderen Seite. Jespersen beschränkte den Terminus auf eine besondere Form der Verknüpfung: als Gegenbegriff zum Nexus, woran ich hier anschließe. Zum begrifflichen Hintergrund und zu neueren terminologischen Spielarten, s. 6.2. Literat und orat. Grundbegriffe 87 ______________________________________________________________________ Emma trinkt ihren Kaffee schwarz der Kaffee ist nicht grundsätzlich schwarz, sondern nur als Moment von Emmas Trinken. Völlig unabhängig sind sekundäre Prädikate, wenn sie eine nominale Konstituente ausbauen, also als Attribute fungieren: Der müde Hans wurde wieder munter, als er Emma sah Schwarzer Kaffee gehört bei Emma zum Frühstück Solche Attribute können auch propositional ausgebaut werden: Hans, der fürchterlich müde war, wurde wieder munter, als er Emma sah Kaffee, der schwarz ist, schmeckt bitter Hier gilt wieder ähnlich wie bei (2.2.), daß es sich zwar um einen syntaktischen Ausbau handelt, daß die daraus resultierende Komplexität aber relativ gering erscheint – jedenfalls in den Grammatiken in der Regel nicht registriert wird. Vgl. dazu aber unten bei (II.4.). Für eine solche Verdichtung durch sekundäre Prädikationen gibt es aber Schwellen, die unter den Bedingungen mündlicher Kommunikation offensichtlich nur schwer zu überschreiten sind. 2.6. Das Segmentierungsproblem: propositionale und Satzgrenzen 2.6.1. Bei der Integration mehrerer Propositionen in eine syntaktische Konstruktion ergeben sich Segmentierungsprobleme, an denen auch die Definition der problematischen Kategorie Satz hängt. Um eine analytische Herangehensweise zu finden, muß die Blickrichtung allerdings umgekehrt werden, entsprechend der Aufgabenstellung für einen Hörer: Segmentierungsprobleme entstehen nur da, wo eine vorgegebene Äußerung als komplex vermutet wird, also in ihr Kandidaten für mehrere Propositionen (Sätze) gesehen werden. Der Verpackung von mehreren Propositionen in einen Satz entspricht so das Aufdröseln einer Äußerung in ihre propositionalen Bestandteile. Wo die Kohäsion der Elemente in einer vorgegebenen Äußerung durch ihre grammatische Bindung (funktionale Arbeitsteiligkeit) groß ist, stellt sich kein Segmentierungsproblem: bei einer Äußerung wie [ˌkɔm.tɐ.ˈmɔ͡ɐ.gŋ̥] kommt er morgen? stellt sich die Frage nicht; anders bei Konstruktionen wie er sagt, er kommt morgen. Die Grundfigur der Argumentation in (II.2.) ist die syntaktische Integration, die abgrenzbare Einheiten liefert: Propositionen bzw. mit der entsprechenden satzmodalen Spezifizierung: Sätze. Diese syntaktischen Makroeinheiten können eine unterschiedliche interne Komplexität aufweisen, für die in den vorausgehenden Abschnitten die Möglichkeit in einem Feld mit den Dimensionen von Nexus und Junktion skizziert ist. Sprachen sind aber dynamische Systeme, und so ist denn auch die Segmentierung komplexer Texte keine triviale Angelegenheit – nicht nur in der gesprochenen Sprache, bei der die Nutzung literater Strukturen zur Disposition steht 88 Utz Maas ______________________________________________________________________ (s. II.4.), auch in Hinblick auf die Umsetzung der grammatischen Strukturanalysen von (II.2.). 2.6.2. Geht man von den Prädikaten als Köpfen einer Prädikation und damit einer Proposition aus, sollte die Anzahl der Prädikate der Anzahl der Propositionen entsprechen – und als Grenzwert für orate Artikulation auch entsprechend sogar der Anzahl von Sätzen (s. dazu weiter in II.4.). Sekundäre Prädikationen, die in eine propositionale Struktur integriert werden, verkomplizieren dieses Bild. Die weitestgehende Integration solcher sekundärer Prädikationen erfolgt dadurch, daß sie nicht alle Eigenschaften eines vollen Prädikats aufweisen, was in der Tradition der Schulgrammatik, die ein Prädikat entsprechend der lateinischen Schulgrammatik an eine verbale Form bindet, als Nominalisierung gefaßt wird (s. 2.7.); oder aber sie werden als modifizierendes Element eines komplexen Prädikats integriert (s. 2.8.). In diesen Fällen gibt es keine Segmentierungsprobleme (bzw. -optionen). Problematischer sind die Fälle, wo die sekundäre Prädikation ihre propositionale Struktur bewahrt, vor allem dann, wenn sie nicht in das Nexusfeld als Komplement eingebunden, sondern nur adjungiert ist. Hier kann ggf. die reduzierte Finitheit solcher sekundärer Prädikate, die sich nur indirekt über eine syntaktische Analyse erschließt (keine oder doch keine unabhängige TAM-Markierung, Personmarkierung u.dgl.), zu Segmentierungsproblemen führen. Unproblematisch sind solche Konstruktionen nur dann, wenn dafür eigene (morphologisch markierte) Formen genutzt werden, die wie z.B. Infinitive keine primären Prädikate bilden können. In Sprachen, die keinen obligatorischen Ausdruck für die Aktanten verlangen, können solche Propositionen ambig sein (s.u. zum Chinesischen). 2.6.3. Ein Grundproblem liegt bei der Passung der symbolisierten semantischen Vorgaben für die Interpretation und den formalen (syntaktischen) Strukturen. Geht man von der Interpretation einer (syntaktischen) Proposition durch einen Sachverhalt aus (s. II.1.) aus, korreliert die geringere syntaktische Autonomie einer Konstruktion mit ihrer nicht gegebenen unabhängigen Interpretation als Sachverhalt. Hier sind syntaktische Tests einschlägig, etwa die mögliche unabhängige referenzielle Spezifizierung der Aktanten: Bei (a) hat die Matrix (scheinen) keinen unabhängigen Referenten: es als Subjekt ist ein dummy, das die "Anhebung" des referenziellen Aktanten des untergeordneten Prädikats ermöglicht. Damit ist hier von nur einer Proposition auszugehen, auch bei der finit subjungierten Konstruktion. (c) zeigt Ähnlichkeiten damit: keine unabhängige Spezifizierung der Refenten. Anders ist es bei (b), bei dem auch unabhängige satzmodale Spezifizierungen möglich sind (vgl. Hans hofft heute (noch), Literat und orat. Grundbegriffe 89 ______________________________________________________________________ morgen zu kommen). Konstruktionelle Ähnlichkeiten verdecken hier die Unterschiede und können zu Segmentierungsproblemen führen. Letztlich sind hier die Analysen über ein Netz von syntaktischen Beziehungen abzusichern, zu denen auch die Interpretation komplexer Strukturen gehört, vgl. die problematische Interpretation von ihn als OBJekt bzw. SUBjekt in den folgenden Beispielen (d) und (e): 2.7. Komplexe Propositionen II: Nominalisierte Prädikationen Sprachen wie Deutsch differenzieren nominale vs. verbale Strategien der Artikulation des Nexus, die schon im Lexikon verankert werden (als Wortarten), was komplementär dazu auch formale Mittel zum Wortartwechsel bedingt. Die nominale Strategie bietet die Möglichkeit zum Ausbau mit sekundären Prädikationen, die maximal in ein Nexusfeld integriert sind. Dazu dienen eine ganze Reihe janusartiger Formen, die einerseits im Nexusfeld als nominale "Endknoten" fungieren, andererseits selbst aber die syntaktischen Potentiale zum Aufspannen eines eigenen Nexusfelds haben: • Infinitive in substantivierter Form: sein morgendliches den Berg Besteigen (vs. sein Besteigen des Berges) • Partizipien: den Kinderwagen schiebend ging er nachhause Der adverbale Akkusativ beim Komplement dieser Formen markiert das verbale Nexusfeld (zu den adnominalen Alternativen s.u.). Solche Konstruktionen sind allerdings als ausgesprochen schriftsprachlich ("Kanzleistil") markiert. Die Vermutung, daß sie auf den lange Zeit als schriftsprachliches Modell genutzten lateinischen Periodenbau zurückgehen, bietet sich an. Daß es sich um eine verkappte Junktion handelt, wird durch die (weniger sperrige) Formulierungsalternative mit einer adnominalen Kasusmarkierung deutlich: Genetiv wie bei sein Besteigen des Berges. In Weiterführung von (2.3.) gibt es also eine Skala des Ausbaus (bzw. der Integration von sekundären Prädikationen: P* im Gegensatz zum Matrixprädikt P): • mit verbalen Prädikaten (adverbalen Kasusmarkierungen Komplementen, ggf. adverbialen Adjunkten): Emma sahP, [daß Paul schnell den Apfel vom Baum pflückteP*] Emma sahP, [Paul schnell den Apfel vom Baum pflückenP*] bei den 90 Utz Maas ______________________________________________________________________ • mit nominalisierten Prädikaten (adnominalen Kasusmarkierungen bei den Attributen, ggf. attributive und kongruierende adjektivische Formen): ? Emma sahP [Pauls schnelles PflückenP* des Apfels (vom Baum)] Während jedenfalls solche erweiterten Konstruktionen an der Grenze des ? Akzeptablen sind (daher auch die Markierung (vom Baum)), wird die nominale Strategie des Deutschen deutlich an der unproblematisch weitergedrehten Integration durch die Inkorporation in ein Kompositum: Emma sahP [Pauls schnelles ApfelpflückenP* ] 2.8. Komplexe Prädikate 2.8.1. Formal gesehen handelt es sich auch bei komplexen Prädikaten um einen syntaktischen Ausbau: Hans wird mit dem Dackel spazieren gehen Hans will mit dem Dackel spazieren gehen Hans ist mit dem Dackel spazieren gegangen Aber von einem Ausbau kann in dem hier genutzten Sinn nur die Rede sein, wenn es sich um (stilistische) Optionen handelt, die grammatisch äquivalent sind: Wo solche Konstruktionen grammatikalisiert sind, sind sie keine freien Optionen mehr. Synchron (im Gegensatz zu ihrer diachronen Herleitung) handelt es sich also nicht um Ausbauformen. Anders ist es da, wo komplexe Prädikate mit "leichten Verben" gebaut werden, wie bei den Funktionsverb-Gefügen des Deutschen: zur Aufführung kommen / bringen / gelangen ... Darauf ist hier nicht weiter einzugehen. In anderer Hinsicht produzieren allerdings komplexe Prädikate syntaktische Komplikationen, die bei einfachen nicht auftreten: Relativ zu den rigiden Wortstellungsregeln des Deutschen gibt es Probleme der Kohäsion. Bei analytischen Prädikaten wird die Kohäsion gesprengt, vgl. Hans hat zwei Flaschen Bier getrunken. mit Hans trank zwei Flaschen Bier. Spiegelverkehrt ist es bei den Satelliten. Es macht durchaus Sinn, im Nexusfeld die verschiedenen Ergänzungen nach der Enge ihrer Bindung ans Prädikat zu ordnen – wobei das Subjekt (in Sprachen wie Dt., die eines aufweisen) wie auch in der generativistischen Analyse als relativ peripher ("externes Argument", s.o.) behandelt werden kann. Dafür spricht auch seine Sonderrolle bei den eng integrierten (nur 69 minimal finit ausgebauten) Infinitivkonstruktionen u. dgl. Das spiegelt sich auch in den Zitierformen für Aussagsätze, bei denen das Subjekt tatsächlich extern, vor dem "Prädikatsverband" steht: 69 Im Sinne der jüngeren generativistischen Rektions- und Bindungstheorie kann man sagen, daß das Subjekts-Argument der Infinitivkonstruktion vom Subjekt der Matrix streng regiert wird, und daß einer solchen strengen Rektion ein phonologisches ∅-Element entspricht (wie auch in der Phonologie eine Synkope). Literat und orat. Grundbegriffe 91 ______________________________________________________________________ Hans trank zwei Flaschen Bier. Aber diese Stellung ist im Deutschen (anders als im Englischen und Französischen) nicht grammatikalisiert, vgl. Gestern abend trank Hans zwei Flaschen Bier Der kritische Punkt ist hier die unterbrochene Kohäsion der syntaktischen Bindung, vgl. RAHMEN enge Bindung ans PRÄDIKAT SUBJEKT gestern abend trank zwei Flaschen Bier Hans Bemerkenswerterweise bleibt die Kohäsion im abhängigen Satz gewahrt: SUBJUNKTOR SUBJEKT RAHMEN enge Bindung ans PRÄDIKAT weil Hans gestern abend zwei Flaschen Bier trank / getrunken hat Aus syntaktischer Perspektive ist die Struktur des Aussagesatzes also die markierte Konstruktion – was als Ausdruck der semantischen Finitheit auch funktional sinnvoll ist (während die Konstruktion einer abhängigen Proposition die entsprechenden Strukturen nicht aufweist, z.B. kein eigenes Topikfeld). 2.8.2. So einfach wie in diesen Beispielen liegen die Dinge allerdings auch nur bei relativ kurzen Sätzen. Die für den deutschen Aussagesatz charakteristische Rahmenstellung mit der von rechts abnehmenden syntaktischen Bindung wird bei umfangreicheren Strukturen nicht aufrechterhalten, worauf in (II.4.) zurückzukommen ist. Die Rahmenstruktur des deutschen Aussagesatzes läßt sich als Bindungsgefälle explizieren, bei dem man die syntaktische Bindung als transitive Relation verstehen kann: Vfin > Vinf > dirObj ... > Subj Schematisch: 70 70 Hier geht es nur um die Grundstruktur. Ein empirisch angenähertes Modell müßte die syntaktische Integration skalar modellieren, mit Rückgriff auf unterschiedliche syntaktische Parameter, s. III.4. 92 Utz Maas ______________________________________________________________________ 3. Literate Strukturen und propositionaler Ausbau 3.1. Literat als skalare Kategorie Vereinfacht gesprochen lassen sich die Ausbauformen der nackten Proposition in (II.2.) als Komplexitätsstufen literater Artikulation fassen. Die Grundstruktur der Artikulation einer Äußerung ergibt sich durch die Option, die Strukturen des Symbolfeldes zuzuschalten. Auf den ersten Blick sieht das nach einer einfachen Ja/nein-Frage aus: Äußerung + - literat orat Die Dinge stellen sich aber rasch als komplexer dar: das Zuschalten des Symbolfelds kann in unterschiedlichem Ausmaß erfolgt sein, sodaß eben auch literate Strukturen einen skalaren Charakter haben, vgl. (mit Verweis auf die Abschnitte von II.2.): Äußerungen können, müssen aber nicht durch das Symbolfeld artikuliert sein. Sie stehen unter den Bedingungen der Kommunikation: Bedingung für eine (geglückte) Äußerung ist ihre Interpretierbarkeit. Diese kann, muß aber nicht an Artikulationen mithilfe des Symbolfelds gebunden sein. Die Schwelle zur literaten Struktur wird überschritten, wenn eine Äußerung (im umfangreichen Fall: ein Text) vollständig durch das Symbolfeld artikuliert ist, also in Sätze zerlegt ist (II.1.). Die weiteren Ausbauformen erweisen die literate Strukturierung als skaliert: Ausbaustufen, die komplexer als die des nackten Satzes (II.1.) sind, sind literater. Allerdings ist das hier schematisch vorgegebene Bild mit Sicherheit zu simpel. Die Strukturen in (II.2.) müssen als Beschränkungen modelliert werden (die dadurch zu symbolischen Ressourcen werden) – in etwa so, wie derzeit auch in der Optimalitätstheorie Sprachstrukturen modelliert werden. Wie angedeutet, sind die hier sehr grob formal gefaßten Strukturbedingungen an Sprachbauspezifika gekoppelt, die Prognosen im Sinne von sprachlicher Komplexität sehr schwierig machen. Das spricht aber nicht dagegen, in empirischer Absicht eine solche Modellierung zu explizieren, s. u. (II.4.). Literat und orat. Grundbegriffe 93 ______________________________________________________________________ 3.2. Die Differenzierung des Modells Die Modellierung oben in (I.3.) kann / muß in Hinblick auf die deskriptive Fragestellung verfeinert werden: • anstelle von [mündlich] sind die Formen der prosodischen Integration in Anschlag zu bringen, bei denen noch offen ist, ob sie sich auch skalar darstellen lassen (s. II.4.); • ebenso wird bei [schriftlich] nach den verschiedenen medialen Formen (Briefe anders als SMS …) zu differenzieren sein; • in der Dimension [kommunikativ / darstellend] müssen die Kategorien so differenziert werden, daß auch die oben angesprochene Überlagerung der funktionalen Nutzung darstellbar wird; • am komplexesten sind die nötigen Differenzierungen auf der Ebene des Symbolfelds, für die die Frage nach [± Satz] entsprechend (II.2.) zu differenzieren ist, insbesondere mit den beiden Subdimensionen Nexus und Junktion. Das dreidimensionale Modell von (I.3.) müßte entsprechend in seinen Flächen eine Schar von Optionen bieten, insbesondere auch in den in diesem Kapitel behandelten syntaktischen Feld (der Satzförmigkeit): 3.3. Literate Strukturen jenseits der Satzförmigkeit? Mit den grammatischen Vorgaben von (2.2.) sind allerdings nicht unproblematische Prämissen verbunden, die ich hier nur ansprechen kann. Geht man von den schulgrammatischen Klassifikationen aus, sind auch Aufforderungen mit imperativischen Prädikaten Sätze – obwohl sie an den grammatischen Feldstrukturen nur sehr eingeschränkt partizipieren: Komm morgen zum Essen! *Kommen morgen zum Essen! *Kam zum Essen! usw. 94 Utz Maas ______________________________________________________________________ (Scheinbar homophone Ausdrücke wie die hier mit * versehenen sind im [elliptischen] "Telegrammstil" als Aussagen möglich, dazu s. II.4.) Andere Personen als die zweite, andere Tempusmarkierungen als "aktuell" (Nicht-Präteritum) u.dgl. sind nicht möglich. Wo bei Aufforderungen in diesem Sinne variiert werden soll, muß eine nicht-imperativische Form gewählt werden: Schon die "Höflichkeitsform" einer Aufforderung ist synonym mit einer indikativischen Aussage: Kommen Sie morgen zum Essen! Vgl. auch die synonyme Form in einer thetischen Aussage als Einleitung einer Erzählung: Kommen die Meyers zum Essen, und was passiert ... oder auch subjungiert in einer konditionalen Fügung (~ wenn sie zum Essen kommen ...) Kommen sie zum Essen, werde ich Kasseler machen. Andererseits ist offensichtlich, daß die Struktur dieser Äußerungen rein mit Mitteln des Symbolfelds artikuliert ist (vgl. auch Sprachen mit morphologischen Markierungen des Imperativs wie im Russischen, also nicht nur reduzierten Formen wie im Deutschen); die formalen Markierung sind in das morphologische Paradigma integriert (im Plural ist die Form identisch mit der 2.Ps. Indikativ: kommt! ~ ihr kommt). Da sie auf der satzmodalen Ebene als paradigmatische Kontraste zu anderen Illokutionen anzusehen sind, werden solche Strukturen eben auch als (grammatische) Sätze behandelt. Dem entspricht auch ihr (unmarkiertes) Vorkommen – gerade auch in mündlicher Kommunikation sind sie häufig. 3.4. Das Lexikon 3.4.1. Orthogonal zum syntaktischen Ausbau ist der lexikalische. Da der Wortschatz in der Schule explizit geübt wird, steht dieser Aspekt bei empirischen Untersuchungen, die Sprecher- / Schreiberreaktionen bzw. -Bewertungen einbeziehen, geradezu im Vordergrund: hier ist die Überlagerung mit normativen Vorgaben bzw. den schulisch eingeübten "Korrekturpraktiken" besonders sinnfällig. Daß diese Ebene unmittelbar zugänglich ist, wird ja auch bei den Editionspraktiken im Beispiel von Tülays Text (s. I.1.) deutlich. Auf der funktionalen Seite liegt auf der Hand, daß lexikalische Differenzierungen eine kognitive Belastung darstellen, wenn man von der Interaktion ausgeht, die sprachlich artikuliert werden soll. Hier sind unbestimmte Ausdrücke Entlastungen, mit denen sich ein Sprecher dem Druck auf Explizitheit entziehen kann: Da kam so'n Mann ... Derartige Ausdrücke (auch lexikalisiert: Ding, dingens …) entlasten die Sprecher gegenüber der Erwartung, spezifische Aussagen zu machen: anstelle von so[lch ei]n Mann einen deskriptiv angereicherten Ausdruck zu produzieren, der die Literat und orat. Grundbegriffe 95 ______________________________________________________________________ Identifizierung der erwähnten Figur ermöglicht hätte. Da beim Schreiben die "Entschuldigung" durch den kommunikativen Stress entfällt, werden hier die spezifischeren Ausdrücke erwartet. Derartige unbestimmte Markierungen auf der Schwelle zu Abtönungspartikeln (II.4.3.) sind nicht nur schriftkulturell verpönt – sie konnotieren eben die "intimere" kommunikative Gesprächssituation ggf. auch im Geschriebenen (daher auch ihre Häufigkeit in informeller schriftlicher Kommunikation: in persönlichen Briefen, beim Chatten im Internet u.dgl.). 3.4.2. Hier öffnet sich das weite Feld der lexikalischen Spezifizierungen, die in beiden Dimensionen: der denotativen Spezifik (im Grenzfall fachsprachlich beschränkt) und konnotativer Aufladung mit bereits erfahrenen sprachlichen Kontexten, bestimmt sind. Heute morgen sprang die Kiste mal wieder nicht an enthält nicht nur einen unspezifischen denotativen Terminus (Kiste), sondern konnotiert auch eine intime Relation zwischen Sprecher und Hörer – und ist deswegen in beiden Dimensionen in einem förmlichen Register nicht zu erwarten. Damit sind gerade auch in die lexikalische Artikulation (und weitergehend: in die phonologische) die sprachbiographisch partikulären Horizonte eingeschrieben, die in einer Spannung zu dem prinzipiell universalen Horizont des Literaten stehen: der generalisierte Andere ist als Bezugsgröße mit partikulären Horizonten unverträglich; das gilt insbesondere für den WIR-Horizont des intimen Registers, der andererseits in der Regel emotional stark besetzt bleibt und insofern auch eine gewisse Stabilität unabhängig von anderen sprachbiographischen Entwicklungen bewahren kann (s. I.3.). In diesem Feld sind nur recht allgemeine Hinweise möglich. Hier ist das Zusammenspiel von Sprachbauspezifika (also typologischen Fragen im engeren Sinne) und verschiedenen schriftkulturellen Vorgaben ausschlaggebend: bei ihrer Untersuchung von muttersprachlichen Editionen spontansprachlicher Texte im Mandarin hat Y.Hong (2010, s. Kap. 4) kaum syntaktische Editionseingriffe gefunden, dafür aber durchgängig Veränderungen im Lexikon: den Austausch durch "hochwertigere" (literarisch konnotierte) Wörter – während bei entsprechenden muttersprachlich deutschen Texten das Bild spiegelverkehrt war: die größere Toleranz im heutigen Deutschunterricht der Schule führt dazu, daß umgangssprachliche Wortwahl den schriftsprachlichen Filter passiert, aber auf der syntaktischen Ebene Verdichtungen und größere Einbettungstiefe angestrebt werden. 3.5. Grammatik vs. Konventionalisierung Mit der vorausgehenden Argumentation öffnet sich das problematische Feld der schwierigen Abgrenzung von grammatischen gegenüber nur konventionalisierten Mustern. So ist es ein Spezifikum des Sprachbaus des Deutschen, daß (syntaktische) Prädikate verbal sein müssen – Nominalsätze wie im Russischen oder den semitischen Sprachen sind hier nicht grammatisch: in übersetzungsäquivalenten Sätzen steht im Deutschen eine Kopula. Nun sind aber propositionale Ausdrücke wie die folgenden problemlos: |ich und Bier trinken?| 96 Utz Maas ______________________________________________________________________ Man kann sich darüber streiten ob hier das und als eine Art Kopula fungiert – aber auf jeden Fall fehlt eine verbale Artikulation eines Prädikats. Solche Strukturen mögen auf den ersten Blick marginal erscheinen (wie man in deskriptiven Grammatiken meist noch eine Restkategorie von "minor [sentence] structures" findet), bei genauerem Hinsehen wird die Grenzziehung aber zusehends schwieriger, was eben auch die traditionelle, ungemein konfuse Diskussion um eine Definition von Satz prägt (für die fleißige Menschen über 400 Definitionsvorschläge aus der Literatur zusammengetragen haben). Es findet sich eine Fülle von Äußerungen, die mit Ressourcen des Symbolfelds artikuliert sind und für die die Interpretationen auch unproblematisch sind, die grammatisch aber nicht der kanonischen Satzdefinition entsprechen. Die Schulgrammatik klassifiziert sie immerhin als Ausrufesätze und die Orthographie sieht ihre Markierung mit einem "Ausrufezeichen" vor. Das Spektrum der genutzten syntaktischen Ressourcen streut sehr weit: • Propositionen: Insubordination |daß du auch immer fernsehen mußt!| • Syntagmen (< Proposition) |ein tolles Kleid!| • Nennungen (Vokative ...): |Hans!| 71 Die Forschung ist auf diesem Feld noch nicht sehr weit gekommen. Ich belasse es hier bei der traditionellen Sichtweise, die feststellt, daß derartige Strukturen nicht den Satzfilter des Symbolfelds passiert haben. Kommen sie in einem ansonsten literaten Text vor (werden sie nicht als Textcollage mit oraten Strukturen [in "direkter Rede" oder dgl.] eingebaut), werden sie als elliptisch behandelt: die literaten Strukturen erweisen sich als robust und operieren hier eine Gestaltschließung (s. II.2.1.): • |daß du auch immer fernsehen mußt!| daß du (auch) immer fernsehen mußt, geht mir auf die Nerven. • |ein tolles Kleid!| du hast ein tolles Kleid an • |Hans!| komm jetzt endlich! • |Auto!| Vorsicht, bleib stehen! u.dgl. In einem oraten Kontext handelt es sich um vollständige Äußerungen; hier gibt es 72 keinen Grund zur Annahme von Ellipsen (wie sich ja auch formal daran zeigt, daß eine wie hier angedeutete "Auffüllung" zu vollständigen Sätzen keineswegs eindeutig 71 In Hinblick auf die eher unübliche Markierung der Subjunktion in der spontanen gesprochenen Sprache mit einem expliziten Default-Subjunktor daß wird dieser gewissermaßen frei für andere Funktionen, wie hier die Insubordination. 72 Da Ellipsen in solchen Argumentationen eine zentrale Rolle spielen, ist eine begriffliche Klärung angebracht. Von Ellipsen soll hier nur die Rede sein, wenn der fehlende Ausdruck festliegt, nicht aber wo Ergänzungen / Spezifizierungen möglich sind. Das ist z.B. kontextuell eindeutig und von der Grammatik in gewisser Weise sogar gefordert bei Koordinationen (Hans trinkt Bier und Emma [trinkt > ∅] Wein). Insofern gehören auch euphemistische Auslassungen hierher (Hans ist ein …!), bei denen zumindest ein eng umgrenztes Wortfeld für die Feder in der Lücke definiert ist. Vgl. auch in (4.3) Ellipsen eines spezifischen Objekts bei transitiven Verben zur Markierung von Habitualität (Hans trinkt > Alkoholisches). Literat und orat. Grundbegriffe 97 ______________________________________________________________________ ist, wie es für Ellipsen zu fordern wäre). Diese Fragen sind offensichtlich orthogonal zu den Strukturen des Symbolfeldes: sie werden in Abschnitt (II.4.3.) wieder aufgenommen. 4. Kommunikative Analyse: Der Gegenpol zum Literaten: orate Strukturen 4.1. Kommunikation vs. Artikulation im Symbolfeld Das Symbolfeld definiert Vorgaben für die Artikulation von Äußerungen, die in einer Sprachgemeinschaft gelernt / erwartet werden, um Äußerungen ohne einen spezifischen Kontext (ohne Adressierung an ein spezifisches Gegenüber) zu artikulieren. In (2.1) waren orate Strukturen nur negativ definiert worden: orate Äußerungen weisen die Strukturen von (II.2.) nicht auf (sie sind jedenfalls nicht vollständig durch sie artikuliert), wobei die Schranken der (kommunikativ gebundenen) Sprachverarbeitung als grundlegend angesehen werden können – und literate Strukturen eben durch das Aufheben dieser Schranken definiert sind. Dem steht gegenüber, daß die Interaktion in der Kommunikation ihrerseits besondere orate Strukturen freisetzt (oben schon als Koproduktion der Äußerungen in der Kommunikation angesprochen), die in literat strukturierten Texten definitionsgemäß fehlen. Komplementär zu (II.3.) sollte es daher die Analyse der spezifischen kommunikativen Bedingungen interaktiver Gespräche möglich machen, orate Strukturen positiv zu definieren – das ist es wohl, was den derzeit modischen Bemühungen um eine "Grammatik der gesprochenen Sprache" auch vorschwebt (s.u.). In einer ersten Näherung läßt sich der Raum orater Strukturen durch drei Dimensionen definieren: • die Interaktion mit einem konkreten Gegenüber: dem Angesprochenen, • die Bedingungen einer on-line Sprachproduktion und -rezeption, • die Vorgaben der Gesprächssituation. In diesen Dimensionen sind weitere Differenzierungen einzuziehen: • die Interaktion mit dem Gegenüber ist ein physischer Faktor, wenn dieser dem Sprecher ins Wort fällt oder aber auch mit ihm kooperiert: das Management des Rederechts / Redewechsels (engl. turn-taking) ist ein komplexer Forschungsgegenstand vor allem auch der Mikrosoziologie (sog. Konversationsanalyse). Schließlich dient ein Großteil der Äußerungen dem sozialen Kontakt, der mehrstimmig die Äußerungen jenseits ihres propositionalen Inhalts artikuliert (gerade auch mit phatischen Äußerungen, s. III.3. zu Malinowski); • on-line sind die sprachlichen Ressourcen offensichtlich beschränkt: das Kurzzeitgedächtnis begrenzt den Raum des Wahrgenommenen und formal Kontrollierbaren; die Sprachplanung ist ggf. nicht im Phasentakt mit der 98 Utz Maas ______________________________________________________________________ Äußerung, sodaß Pausen entstehen oder überbrückt ("gefüllt") werden – verbunden mit interaktivem Stress, weil das Gegenüber sich dadurch das Rederecht nehmen kann; • die Gesprächssituation definiert in der Regel den thematischen Raum, das Vorwissen der Beteiligten, das deiktisch / anaphorisch genutzt werden kann; mit ihm sind bestimmte "Gattungsspezifika" der Äußerungsstruktur verbunden (empraktische Interaktion als Moment kooperativer Aktivitäten vs. narrative Konstellation); diese Vorgaben können in hohem Maße auch konventionalisiert sein und insofern nicht zu Disposition stehen, u.dgl. mehr. Äußerungselemente, die derartige Faktoren symbolisieren, sind auch im positiven Sinne orat: insofern gehören sie nicht in einen literaten Text. Es ist denn auch charakteristisch, daß Kinder, die in unserer (literaten) Gesellschaft aufwachsen, diese Zusammenhänge sehr früh entdecken. Bei den oben angesprochenen Untersuchungen mit Vorschulkindern, die Texte zum Vorlesen diktieren sollen, lassen diese sie oft weg, vgl. auch Tülays Edition oben in (I.1.). Das ist zu unterscheiden vom literaten Ausbau, der die Ressourcen des Symbolfelds nutzt, um die Artikulation des Gesagten zu maximieren. Insofern läßt sich auch die Charakterisierung des Verhältnisses von orat / literat nicht einfach auf die Ausbaudimension reduzieren. Ausgehend von der Definition von literat in (I.7.) läßt sich für orat definieren: Orat sind Äußerungen, die nicht in der grammatischen Form von Sätzen artikuliert sind und ggf. sprachliche Elemente aufweisen, die auf die konkrete Gesprächssituation kalibriert sind. Die (lineare) Dimension, die oben in der Definition von literat zugrundegelegt wurde, ist auf der Ebene der Syntax definiert: des syntaktischen Ausbaus bzw. der syntaktischen Integration; die spezifisch oraten Elemente sind Operatoren auf den syntaktisch aufgespannten Strukturen; in syntaktischer Hinsicht sind sie in diese einmontiert (was die notorischen Probleme einer Konstituentenanalyse dieser "Partikeln" nach sich zieht). Dazu im Folgenden noch einige kursorische Hinweise. 4.2. Empirische Analysen zu oraten Strukturen 4.2.1. Das definiert inzwischen auch ein expansives Forschungsfeld zur gesprochenen Sprache, bei dem rein beschreibende Arbeiten, die (mit entsprechend unterschiedlichen terminologischen Angeboten) formale Strukturbeschreibungen mit Registerdifferenzen korrelieren (mit weiteren Sortierungen wie "Textsorten"), dominieren. Dabei wird z.T. auch nach einem fundierenden (funktionalen) Ansatz 73 gesucht. Nicht nur sind aber die dabei vorgenommenen Zuschreibungen typologisch nicht geklärt (s.u.), vor allem wird durchgängig bei der Modellierung die Dimension des Symbolfeldes nur unzureichend isoliert. Forschungen in diesem Feld haben eine Tradition in den philologischen Fächern, später dann erst recht in der deskriptiven (strukturalistischen) Sprachwissenschaft, 73 S. auch oben in I.4 den Hinweis auf die Arbeiten von Peter Koch und Wulf Österreicher und daran anschließende Untersuchungen. Literat und orat. Grundbegriffe 99 ______________________________________________________________________ für die die Arbeit an gesprochenen Texten geradezu definierend war. Die neuere Forschung (verstärkt in den letzten 20 Jahren) reagiert auf den Bruch mit dieser Tradition, der im Kielwasser der Generativen Grammatik vollzogen wurde. Für deren (frühe) Modellierung hatten solche "medialen" Fragen keinen Stellenwert – und so wurde dort in der Regel mit schriftsprachlichen Beispielen (bzw. konstruierten Artefakten) operiert. Darauf reagiert in der derzeitigen Forschungslandschaft ein breites Feld von Untersuchungsansätzen, die demgegenüber die Besonderheiten gesprochener Sprache (und damit von oraten Strukturen) zeigen wollen – und damit ex negativo eben auch das, was den literaten Ausbau sprachlicher Ressourcen ausmacht. Zu den wichtigsten gehören die Arbeiten aus dem Umfeld von Wallace 74 Chafe in Kalifornien (s. Chafe 1994 mit weiteren bibliographischen Verweisen). Konkrete Forschungen zielen hier zumeist darauf, einzelne Dimensionen zu isolieren, die die Analyse an der sprachlichen Form festmachen. Chafe bemüht sich um eine Operationalisierung der extrapolierten Strukturmerkmale, wobei er vor allem einen Faktor als zentral ansetzt: die orat beschränkte Verarbeitungskapazität, die einen Grenzwert für den Informationsgehalt einer oraten Äußerung setzt: eine neue Information je Äußerungseinheit. Von diesem Ausgangspunkt aus sind bei ihm die Strukturen der Äußerung strikt prosodisch definiert – er spricht von den 75 oraten Einheiten als Intonationseinheiten, was im weiteren Sinne der Prosodie zu verstehen ist. So geäußerte Einheiten können, müssen aber nicht syntaktisch artikuliert sein – insbesondere brauchen sie keine (abgeschlossene) propositionale Struktur zu haben. Entscheidend ist hier, daß der Ausgangspunkt bei der Prosodie solche Strukturen unabhängig von der syntaktischen Gliederung definiert und es auch erlaubt, sie in einer Signalanalyse zu operationalisieren: • auf der Ebene der Zeitsteuerung etwa bei Grenzsignalen: dem dynamischen Verlauf der Äußerungsintensität mit einem ggf. anakrustischen initialen Aufbau (als "flacher", komprimierter Kontur) gegenüber einer Steigerung gegen Ende (Dehnung der letzten betonten Silbe, oft als [imaginäre] "Pause" wahrgenommen, u.dgl.), • der Kontur der Grundfrequenz, vor allem der Markierung einer Zäsur durch deren Neujustierung, u.dgl. 4.2.2. Detaillierte Forschungen aus dieser Blickrichtung stehen noch aus; zur Orientierung kann es helfen, sich die Grundverhältnisse schematisch klarzumachen. Grundlage ist letztlich der physiologische Prozeß der Atmung, der in der mündlichen 74 Auch Chafe, auf dessen Arbeiten ich in vieler Hinsicht aufbaue, operiert letztlich unter den Prämissen eines lautsprachlichen Grundverständnisses, das den schriftkulturellen Ausbau nicht in den Blick nehmen kann. Das wird z.B. deutlich bei seinem Plädoyer für ein phonographisches Verständnis der Interpunktion (allerdings bezogen auf die englische Orthographie, die anders strukturiert ist als die deutsche), s. Chafe (1988). Das mindert nicht seine Pionierleistung auf diesem Feld. 75 Diesen von ihm übernommenen Terminus hatte ich auch oben schon verwendet. 100 Utz Maas ______________________________________________________________________ Sprache (um-) genutzt wird. Die prosodische Grundfigur ist die (periodische) 76 Atmungseinheit: Diese physiologisch fundierte Grundfigur ist die Basis für die Artikulation von Äußerungen, die darauf gewissermaßen abgebildet werden, wobei die verschiedenen Parameter der Äußerungsartikulation entsprechend ausgerichtet werden. Von daher der Default-Fall einer abgeschlossenen Aussage: Diese Grundfigur kann in unterschiedlicher Weise moduliert werden – ggf. auch mit festen symbolischen Funktionen ("grammatikalisiert"). Wird die abfallende Kontur an den rechten Rand verlagert, symbolisiert das das Nicht-Abgeschlossene der Äußerung ("Frageintonation"). Der Fokus kann an den linken Rand verlagert werden – mit kontrastierender Funktion u.dgl. Für die Modellierung kann man einen Default mit der Harmonisierung der Strukturierung auf den verschiedenen Ebenen definieren, hier mit einer groben Zuordnung der Aspekte, die in der Forschung differenziert werden: 76 Auf einer noch grundlegenderen Ebene handelt es sich darum, daß in der Sprache vitale leibliche Betätigungen umfunktioniert werden – wir haben im biologischen Sinne kein "Sprachorgan". In der Sprachentwicklung werden elementare Körperfunktionen umfunktioniert für symbolische Zwecke, bis mit dem Symbolfeld eine Ebene gebootet wird, die von leiblichen Funktionen frei ist (wobei die darin artikulierten Formen für ihre Interpretation wieder verankert werden müssen). Zu den spezifischen Formgebungen dieses Entwicklungsprozesses gehört dabei die Auszeichnung der lautlichen (vokalen) Artikulation mit ihrer Bindung an die lineare Strukturierung – andere körperliche Ausdrucksformen (Mimik, Gestik, Körperhaltung …) werden sukzessive zu Begleiterscheinungen, die in literaten Strukturen ganz weggefiltert werden (während sie bei oraten Strukturen u.U. für die Interpretation steuernd sein können). "Native" Gebärdensprachen tarieren das Feld körperlicher Ausdrucksformen offensichtlich anders aus – weil bei ihnen die vokalen Formen wegfallen. Ein spannender Punkt ist die Frage, wieweit auch hier eine Freisetzung des Symbolfelds, also literate Strukturen, möglich sind – bzw. wieweit Gebärdensprache mit ihrer spezifischen Bindung an Körperlichkeit (wenn auch ohne die strikte Linearität sprachlicher Äußerungen) einen solchen Ausbau zuläßt, s.o. I.2.6. Im übrigen kann auch hier wieder an Bühlers grundlegende Überlegungen (1933) angeschlossen werden. Literat und orat. Grundbegriffe 101 ______________________________________________________________________ Zeitdimension Zeitsteuerung Informationsstruktur Wortarten (deskriptive Elemente VOR Anakrusis (presto Topik (Präsupposition) Funktionselemente Ø NACH "reguläre" Artikulation lento ~ allegro) Fokus "volle" Lexeme + ) Unharmonische Strukturen, die dieser Zuordnung nicht entsprechen, erfüllen damit besondere Funktionen wie insbesondere beim Kontrast, bei dem die "markierten" Formen / Funktionen im Vorfeld (vorne) artikuliert werden. Schließlich muß die Figur nicht monoton sein, sondern kann intern Teilfiguren aufweisen, z.B. mit zwei relativen Maxima (bei einem vollen thematischen Element und einem rhematischen = Satzakzent). Bei solchen komplexeren Konturen stellt sich die Frage der Abgrenzung zu mehreren Figuren. Die im Laienverständnis feste Vorstellung von Pausen ist offensichtlich nicht entscheidend – eine Kontur kann sich ggf. auch über eine Pausenunterbrechung fortsetzen, und ggf. können mehrere prosodische Figuren ausgegrenzt werden, ohne daß im physikalischen Sinne eine Pause vorliegt. Robust ist demgegenüber vor allem die Gliederung durch die Grundfrequenz (weshalb Chafe auch von Intonationseinheiten spricht, was ich übernehme). Die Grundfigur setzt jeweils auf der Basislinie der Grundfrequenz eines Sprechers ein, wie es oben auch bei der idealisierten Kontur symbolisiert ist; im Idealfall wird diese Kontur nach jeder Figur neu justiert. Innerhalb dieser holistischen Kontur können gerade auch die F0-Verläufe recht bewegt sein, ohne dadurch (notwendig) unabhängige Figuren (= Intonationseinheiten) auszugliedern, Grundsätzlich gilt aber auch für die prosodischen Strukturen, daß es sich bei ihnen um gelernte Muster handelt, daß insofern auch eine phonologische Analyse gefordert ist, was eine direkte Reduktion auf phonetische Indikatoren ausschließt. Ausschlaggebend ist die Wahrnehmung (Bewertung) einer solchen Gliederung durch die (entsprechend sozialisierten) Sprecher, in Hinblick auf die phonetische Indikatoren, wie sie z.B. die akustische Analyse zugänglich macht, ambivalent sein können. Das ist ein recht komplexes, vor allem auch noch wenig erforschtes Feld, das durch eine ganze Schar phonetischer Parameter aufgespannt wird, die in der Wahrnehmung unterschiedlich gewichtet sein können, sich ggf. auch überlagern. Dabei gilt hier wie bei allen sprachlichen Strukturmarkierungen: sie sind Optionen für die Artikulation eines sprachlichen Inhalts, die nicht aktiviert werden müssen, wenn dieser ohnehin auf der Hand liegt (bzw. wenn ein kulturell gesetzter Defaultfall vorliegt), und nicht zuletzt: sie können fast immer auch überschrieben werden, wenn besondere Bedingungen vorliegen. So ist denn auch der Neueinsatz bei der Grundfrequenz nur robust in dem Sinne, daß er ein starker (hinreichender) Indikator für eine neue prosodische Figur ist – er ist kein notwendiger Indikator, insofern prosodische Figuren auch durch andere Parameter ausgegliedert werden können. 102 Utz Maas ______________________________________________________________________ Die Probleme einer solchen Analyse können an einem Beispiel illustriert werden, einem Ausschnitt aus einem Gespräch zwischen zwei Freundinnen über ihre 77 Urlaubsplanung (mit | sind die wahrzunehmenden Segmentierungen markiert): M N <weil> die Leute | es sind vielleicht auch nicht so viele Leute dann da denke ich och | vielleicht machen die überhaupt zu | zwischen Weihnachten und Silvester | meinst nich? Die wahrgenommene Gliederung ist nicht unmittelbar an der akustischen Signaldarstellung abzulesen, die verschiedene Parameter isoliert, wie die folgenden Abbildungen zeigen (Oszillogramm / Energieverteilung, darunter: Spektrogramm, darunter: F0-Kontur): 0.9999 0 -1 8.74095 0 Time (s) 5000 0 0 8.74095 300 Time (s) 0 0 8.74095 Time (s) 77 die Leute es sind vielleicht auch nicht so viele Leute dann da denke ich och vielleicht machen die überhaupt zu zwischen Weihnachten und Silvester meinst nich A B C D E F G H Beispiel aus Stock (1996): dort Textbeispiel 5.23. Literat und orat. Grundbegriffe 103 ______________________________________________________________________ Die holistischen Figuren im Signal, die im Zeitsignal als Pausengliederung interpretiert werden könnten, entsprechen nicht den wahrgenommen Einheiten bzw. ihrer Integration für die Interpretation. Deutlich ist auch, daß die F0-Kontur nicht mit jedem so segmentierten Abschnitt neu einsetzt – daß sie sogar über eine längere Pause hinweg weitergeführt wird (denke ich och͡ vielleicht, Wechsel von C nach D). Äußerungssegmente werden integriert, indem sie auf diese Weise an die vorausgehenden akkomodiert werden, während umgekehrt auch das Abfallen der Grundfrequenz am Ende eines solchen Segments kein Abschlußsignal sein muß. Das ist bei der F0-Kontur für diesen Abschnitt deutlich: Die Basislinie der Grundfrequenz wird am Ende von A (als "Topik" vorangestellt) erreicht, ebenso wie am Ende von G, dem Abschluß der Äußerung der Sprecherin N – aber auch am Ende von E, also im Innern einer ansonsten integrierten Äußerung. Vgl. damit den kleineren Ausschnitt E – G: 200 70 0 2.86987 Time (s) vielleicht machen.die.überhaupt z u zwischen Weihnachten und S i l v e s ter Deutlich sind hier die beiden Makrosegmente der Äußerung: der anakrustische Anfangsteil (vielleicht machen die überhaupt …, bei dem die Wörter, wie angedeutet, akustisch z.T. nicht zu segmentieren sind) gegenüber dem rhematischen Teil, mit dem Satzfokus auf zu. Die Teilkonturen zeigen auf den ersten Blick ein fragmentiertes Bild, bei dem aber auch deutlich ist, daß keine der Teilkonturen wieder auf der Basislinie der Grundfrequenz ansetzt, die am Ende des anakrustischen Vorlaufs schon erreicht wurde. Dadurch sind diese Teilkonturen eben in eine einheitliche Äußerungskontur integriert. Deutlich ist hier aber auch die Korrelation dieser prosodischen mit der informationsstrukturellen Gliederung: der anakrustische Vorlauf besteht zwar aus vier "Wörtern", enthält aber überhaupt kein autonomes (neues) informationshaltiges Element: ein solches liegt erst mit der abgetrennten Verbpartikel zu vor, die mit dem Satzfokus artikuliert wird – diese beiden Segmente sind gewissermaßen ex negativo integriert, weil das erste kein Kandidat für eine eigene Gliederungseinheit ist. Im Nachtrag folgen noch zwei eigene informationelle Einheiten, artikuliert durch die beiden "vollen" lexikalischen Einheiten Weihnachten und Silvester (bei und liegt offensichtlich ein Oktavsprung vor: hier gibt das Signal ein verzerrtes Bild). Dieses Beispiel soll hier nur zur Illustration der offensichtlich reichlich komplexen Verhältnisse bei einer solchen Analyse dienen. 104 Utz Maas ______________________________________________________________________ 4.2.3. Der physiologisch fundierten Gliederung steht die semantisch ausgerichtete gegenüber. Dabei wird die Organisation orater Äußerungen vor allem durch den Umfang der damit artikulierten NEUEN Information beschränkt – wobei NEU in den oben skizzierten Dimensionen der Gesprächskonstellation definiert ist. Das verlangt im einzelnen noch genauere Klärungen: Information ist hier vor allem in Hinblick auf den damit aktivierten konzeptuellen Inhalt kalibriert; insofern ist der prototypische Fall ein volles Lexem (deskriptives Prädikat, s.o.) je orater Einheit, s. das Beispiel in 4.2.2. In diesem Sinne kann auch auf einer vorläufigen heuristischen Ebene von den Informationseinheiten einer Äußerung die Rede sein, die im (oraten) Grenzfall aus nur einer solchen Einheit besteht. Die grammatischen Strukturen einer Sprache erlauben es aber, mehr Information in eine Äußerung zu packen – das macht das Symbolfeld der Sprache aus. Dabei erweist sich die oben in (II.2.1.) skizzierte Entsprechung syntaktischer zu semantischen Strukturen als grenzwertige Harmonisierung der sprachlichen Artikulation: (deskriptiv volle) Prädikate tendieren gewissermaßen danach, auch syntaktische Prädikate (Köpfe von Prädikationen) zu sein; das ist der Grenzwert für orate Äußerungen, der literat aber nahezu beliebig mit Strukturen des Symbolfelds überschrieben werden kann (mit der Anreicherung einer syntaktisch integrierten Struktur durch sekundäre Prädikationen). 4.2.4. Die grundlegende Ebene der strukturellen Modellierung von Äußerungen ist die Integration von Informationseinheiten. Dabei lassen sich syntaktische (grammatisch artikulierte) von allein synthetischen (a-grammatischen) Formen 78 unterscheiden: die letzteren werden vor allem mit prosodischen Mitteln artikuliert. Um die Rolle der Prosodie in den Griff zu bekommen, muß die Modellierung gewissermaßen auf einer Ebene hinter den grammatischen Strukturen von (II.2.) ansetzen, wie eine grobe Schematisierung verdeutlichen kann: 78 Die Terminologie ist hier nicht fest. Mit der Differenzierung von syntaktischen und synthetischen Strukturen folge ich Überlegungen von Wolf Thümmel, der damit in unserer gemeinsamen Osnabrücker Zeit Dimensionen in der grammatischen Modellierung gefaßt hat. Literat und orat. Grundbegriffe 105 ______________________________________________________________________ Dieses Schema wird durch die beiden Dimensionen der Argumentation von Teil I aufgespannt: • die Kommunikation (Feld I), die einerseits mit den interaktiv zugänglichen Vorgaben operiert, andererseits aber die Äußerung in den konzeptuellen Strukturen des Wissens verankert, • die Darstellung (Feld II), die die Äußerung mit synsymbolischen Ressourcen (denen der Grammatik / Syntax) organisiert und so die Strukturen von Propositionen aufspannt, die ihrerseits ebenfalls in den konzeptuellen Strukturen des Wissens verankert werden. Auch die Interpretation grammatisch artikulierter Äußerungen (die also als Propositionen aufgebaut sind) verlangt ihre situative Verankerung: das ist die Rolle der satzmodalen Spezifizierungen, die gewissermaßen über den so differenzierten Feldern operieren, mit dem Satz als Einheit der synsymbolischen Struktur II. In Feld I sind die oraten Strukturen definiert, die mit den unmittelbar zugänglichen Ressourcen der Äußerung operieren. Dazu gehören insbesondere die leibnahen Ressourcen, mit denen die Prosodie operiert – wobei in einer ersten Näherung sprachliche und parasprachliche Ausdrucksformen ungeschieden sind. Der Grenzfall einer oraten Äußerung sind informative Versatzstücke, die durch eine prosodische Kontur in eine Äußerung integriert werden (bzw. von umgebenden Äußerungen abgegrenzt werden). Man kann das an beliebigen Beispielen mit unterschiedlichen Intonationskonturen durchspielen: ein Auto ↑ / ein Auto ↓ / ein AUto ↓ usw. Hans – ein Lügner ↑ u.dgl. Dabei können die entsprechenden Muster durchaus gelernt sein, also in ihrer Verknüpfung mit interpretativen Schemata konventionalisiert sein. Sie bleiben gebunden an eine spezifische Äußerungssituation, an die sie schon ihre leibnahe Artikulation bindet. Das macht den Unterschied zu Feld II aus, dessen Ressourcen ideale Strukturen sind, wie man in der phänomenologischen Tradition sagen kann. Allerdings können grammatisch artikulierte Äußerungen ausgesprochen und dann eben auch prosodisch artikuliert werden: dann "implementiert" die prosodische Artikulation in gewisser Weise die grammatische, wie es von den prosodischen Modellierungen im Rahmen der gängigen Grammatiktheorien definitorisch angesetzt wird, die der Prosodie allein zur Desambiguierung unterspezifizierter Satzstrukturen eine gewisse Autonomie einräumen. Das stellt die Fundierungsverhältnisse der Strukturierung von Äußerungen auf den Kopf. Für die Analyse orater Strukturen muß die Modellierung auf die Füße gestellt werden, was die Trennung der beiden analytischen Dimensionen wie hier mit Feld I und II voraussetzt. Sprachspezifisch können allerdings arbeitsteilige Verhältnisse zwischen prosodischer und segmentaler (grammatischer) Artikulation fest werden. Vereinfacht gesagt: wo lokale Markierungen z.B. für das syntaktische Parsing grammatikalisiert sind, braucht dieses nicht mit prosodischen Mitteln markiert zu werden. Die oben 106 Utz Maas ______________________________________________________________________ schon angesprochenen illokutiven Differenzierungen von Äußerungstypen sind ein Beispiel: der Unterschied zwischen Frage und Aussage kann "ikonisch" mit der entsprechenden prosodischen Kontur artikuliert werden (↓ für die Aussage, ↑ für die Frage). Wo, wie im Dt., dafür lokale Markierungen genutzt werden, z.B. die W-Fragewörter, werden die entsprechenden Äußerungen in der Regel mit der terminalen Default-Prosodie artikuliert (Wann kommt Hans ↓). Abgesehen von solchen holistischen Strukturen ist das ein bisher noch sehr unzureichend exploriertes Feld der Sprachtypologie: seine Bearbeitung setzt die entsprechende prosodische Aufbereitung der Daten voraus, was weitgehend noch ein Desiderat ist (s.u.). 4.2.5. Die Nutzung der (grammatischen) Strukturen des Symbolfelds, die in (II.2.) exemplarisch für das Deutsche skizziert ist, spielt auf einer von den oraten Beschränkungen unabhängigen Ebene. Orate Strukturen können mit den Vorgaben des Symbolfelds artikuliert werden – oder auch nicht. Dadurch ergibt sich die dort entwickelte Skala literater Komplexitätsstufen: so gehören Attribute (bzw. ausgebaute Nominalgruppen) nicht in orate Äußerungen – sie sind bei Auszählungen gesprochener Sprache auch relativ selten (s. etwa Bibers Grammatik für das Englische, 1999). Literate Strukturen homogenisieren das syntaktisch aufgespannte Feld: es kann an jeder Stelle ausgebaut und mit deskriptiven Termen bestückt werden. Das ist der vielleicht gewichtigste Unterschied zu oraten Strukturen, gravierender als die Differenzierung des syntaktischen Netzes (des Nexusfeldes), die auch orat solange relativ problemlos ist, wie sie nicht mit zu viel Information belastet wird. Entsprechend sind ausgebaute Nexusfelder, die nur minimal mit konzeptueller (neuer) Information bestückt sind, in der gesprochenen Sprache durchaus häufig – und werden ggf. auch beim Spracherwerb früh genutzt, also Strukturen wie (a) Wenn er kommt, gehe ich, (b) Ich hoffe, er kommt, die formal zwei Prädikationen aufweisen (also das Nexusfeld i.S. von 2.3 ausbauen), aber außer den Verben keine weiteren semantischen Prädikate enthalten: bei (a) zudem noch durch den Parallelismus beim zweiten Verb ohnehin eine erwartbare, also nur bedingt neue Information; bei (b) stellt sich die Frage, ob das formale Matrixprädikat überhaupt als Artikulation einer eigenen Proposition anzusehen ist und nicht vielmehr als satzmodaler Operator (s.u.). Insofern ist die Skala des syntaktischen Ausbaus, die in (II.2.) definiert wurde, nicht direkt auf die Differenz von oraten vs. literaten Strukturen umzulegen – und erst recht nicht mit der Differenz von gesprochenen vs. geschriebenen Texten gleichzusetzen. Die syntaktischen Muster von (II.2.) geben aber sprachliche Infrastrukturen vor, die entsprechend dem, was mit den Äußerungen an Inhalten artikuliert werden soll, unterschiedlich zu nutzen sind. Entscheidend für literate Strukturen ist das, was Chafe die Verdichtung der Information nennt, die für die kommunikative Sprachpraxis eine Hürde bildet. Entsprechend weisen gesprochene Texte oft eine größere Anzahl Propositionen auf als ihr geschriebenes Gegenstück – weil gesprochen / orat jede neue Information im Grenzfall propositional artikuliert Literat und orat. Grundbegriffe 107 ______________________________________________________________________ wird, während sie schriftsprachlich in eine komplexe syntaktische Konstruktion gepackt werden kann. Der entscheidende Punkt bei dieser Modellierung ist die Unabhängigkeit der Dimensionen: die syntaktische Struktur (das grammatische Symbolfeld), die semantische Aufladung (Informationshaltigkeit der Äußerungseinheiten) und schließlich in der gesprochenen Sprache: die prosodische Artikulation. Eine Harmonisierung der Artikulationsformen auf diesen drei Ebenen kann als "idealer" Grenzwert extrapoliert werden, auf den hin die konkrete Äußerungsanalyse kalibriert werden kann. Schriftliche Äußerungen brauchen prinzipiell keine Rücksicht auf die prosodischen Vorgaben mündlicher Äußerungen zu nehmen – (maximal) literate Formen sind völlig frei davon. Eine einfache Umlegung solcher quasi in einem Katalog definierten Indikatoren auf die Auswertung gesprochener Sprache ist allerdings nicht möglich, weil hier noch andere Faktoren ins Spiel kommen. Derartige Beschränkungen sind definiert für die Sprachplanung – betreffen also Äußerungen, die mit den grammatischen Ressourcen "generiert" werden. Ein erheblicher Teil des Gesprochenen bezieht seine Ressourcen aber von der Stange, als vorfabrizierte Versatzstücke, deren interne syntaktische Struktur unerheblich ist, die also gewissermaßen lexikalisch genutzt werden. Ausdrücke wie der alte Mann, eine Flasche Bier, ebenso wie analytische Prädikatsausdrücke (Auto fahren) sind in dieser Hinsicht nicht komplex (i.S. von: die kognitiven Prozesse der "Sprachverarbeitung" belastend). 4.2.6. Bei Sprachen wie Deutsch kann man in einer ersten Näherung einen solchen Filter für das Nexusfeld definieren. Im Defaultfall ist das deskriptiv volle Element auch fokussiert (mit dem Satzakzent artikuliert am rechten Rand), bei transitiven Verben das direkte Objekt: er gibt ihm ein BUCH Das Subjekt ist entweder thematisch (vorerwähnt oder dgl.), und wird dann wie in diesem Beispiel anaphorisch mit einem Pronomen ausgedrückt, oder aber es wird mit einem deskriptiven Inhalt bepackt und bildet dann auch eine eigene prosodische Einheit: der LEHrer | gibt ihm ein BUCH Allerdings kann die anaphorische Wiederaufnahme auch in der Wiederholung (oder Paraphrasierung) eines lexikalischen Terms erfolgen, der dann ebenfalls keine neue Information vermittelt und als thematischer Ausdruck auch prosodisch integriert werden kann. Prädikatsausdrücke können ihrerseits syntaktisch komplex sein und ggf. isolierbare Lexeme aufweisen, ohne daß diese damit jeweils eine neue (deskriptive) Information einführen: Funktionsverbgefüge: er bringt das Stück zur Aufführung idiomatische Ausdrücke: das schlägt dem Faß den Boden aus 108 Utz Maas ______________________________________________________________________ Solche syntaktisch aufwendigeren Ausdrücke belasten die Produktion der Äußerung nicht und können daher auch prosodisch problemlos integriert werden. Berücksichtigt man diese Differenzierungen, so zeigen die jetzt reichlich vorliegenden Protokolle spontan gesprochener Sprache tatsächlich, daß sich die eventuelle grammatische Artikulation propositionaler Strukturen bis auf ein lexikalisch volles Element weitgehend auf deskriptiv leere Pro-Formen beschränkt (vom Typ /un wenn se donn in=n lade noi is/ "und wenn sie dann in den Laden 79 hinein ist" /die is dämm total verfalle/ "die ist dem total verfallen/) . Im Deutschen ist das sehr deutlich an der orat weitgehend festen Artikulation eines deskriptiv vollen Topiks als prosodischer (= orater) Einheit: Hans | der war gestern noch im Kino zwei informative Einheiten ~ zwei orate Einheiten. 4.2.7. Auf dieser Linie sind nun auch die Differenzierungen bei den Ausbauformen des Symbolfelds (bzw. ihre orate Nutzung) zu sehen: was formal als komplex erscheint, kann eine relative Festigkeit haben, die es orat einfach zu verarbeiten macht. Das ist u.U. auch bei syntaktisch komplexen Satzstrukturen der Fall. So sind Strukturen wie |ich hoffe, |(daß) er kommt| in der gesprochenen Sprache ausgesprochen häufig und in der Regel auch ohne eine prosodische Abgrenzung der beiden syntaktischen Konstruktionen; sie sind auch in der Sprachentwicklung bei Kindern sehr früh vorhanden, bevor weitere grammatische Differenzierungen im Einfachsatz gemeistert werden. Das zeigt, daß grundsätzlich zwischen formalen Ausbauformen (syntaktischer Komplexität) und Habitualisierung bzw. Häufigkeit im Gebrauch zu unterscheiden ist – und auf das letztere abgestellt: zwischen struktureller Komplexität und Schwierigkeiten im Erlernen u.dgl. zu unterscheiden ist. Strukturanalysen können eben nicht "usage based" reduziert werden. Auf der strukturellen Ebene (in semantischer Hinsicht) handelt es sich in Fällen wie ich hoffe,( daß) er kommt ja auch nicht um die Darstellung von zwei unabhängigen Sachverhalten, sondern die Matrix artikuliert eine Einstellung des Sprechers: sie ist formal gesehen eine Art Operator über der Proposition |daß er kommt|, vgl. auch 80 weitgehend synonym: hoffentlich kommt er. 4.2.8. Die Unabhängigkeit der prosodischen (> oraten) Gliederung von der syntaktischen (> literaten) Gliederung zeigt sich gerade auch da, wo im Gespräch elaborierte syntaktische Strukturen artikuliert werden. Prosodisch findet sich dann bei komplexen Sätzen eine quasi parataktische Abgrenzung mit eher kataphorischen 79 Beispiele wieder aus dem in dieser Hinsicht sehr ergiebigen Mannheimer StadtsprachenCorpus, wie in I.2.7. 80 Es gibt eine ganze Reihe solcher Pseudo-Konstruktionen, in denen eine komplexe Syntax gewissermaßen orat recycled wird; vgl. etwa Pseudofragen wie Weißt du was, wir gehen jetzt in die Kneipe. Dabei wird mit Weißt du was keine Frage gestellt, sondern die Äußerung ist in etwa synonym zu Los, wir gehen jetzt in die Kneipe. Entsprechend sind solche scheinbar komplexen Ausdrücke in der Regel auch prosodisch in eine Intonationseinheit integriert. Literat und orat. Grundbegriffe 109 ______________________________________________________________________ Markierungen im Gegensatz zum hypotaktischen Aufbau der Syntax, vgl. das 81 folgende Beispiel (markiert nur für die hier interessierende Stelle): syntaktisch prosodisch naja || aber das heißt ja nicht [daß alle fünf Stellen ausgenutzt werden]S naja || aber das heißt ja nicht daß | alle fünf Stellen ausgenutzt werden Der Subjunktionsmarker daß, der in jüngeren syntaktischen Theorien sogar als Kopf der subjungierten Proposition behandelt wird, wird prosodisch als Bestandteil der Matrix artikuliert, in der er kataphorisch darauf verweist, daß der Komplementsatz (prädikativ zu heißen) sich anschließt, der aber zu viel an Information enthält (mit vier schweren Silben als jeweils lexikalischen Köpfen: alle fünf Stellen ausgenutzt), um noch prosodisch integriert zu werden (s. unten 4.2.10. zur Zeitsteuerung in diesem Beispiel). 4.2.9. Elemente, die in diesem Sinne Einstellungen und dgl. artikulieren, sind nun aber ausgesprochen charakteristisch für die gesprochene Sprache (weil kalibriert auf Faktoren der Gesprächssituation und daher nicht auf den "generalisierten Anderen" transferierbar). Rein formal betrachtet machen sie gesprochene Äußerungen oft komplexer als ihre schriftsprachlich edierten Gegenstücke, wie wir alle noch aus dem Schulunterricht erinnern: entsprechende Elemente, die die normative Grammatik "Füllwörter" nennt, müssen aus einem Schulaufsatz herausgestrichen werden. Ihre Analyse (in der deutschen Grammatik Abtönungspartikeln, im Englischen mit einem nicht auf Partikeln eingeschränkten Terminus hedges) ist inzwischen relativ weit 82 entwickelt, vgl. etwa Das geht eben nicht anders. Der fährt aber schnell ... Der hat noch Drakula gekuckt Analysiert man solche Elemente, so sind sie tatsächlich nicht auf der propositionalen Ebene der Sachverhaltsdarstellung definiert (sie gehören also nicht zu dem Symbolfeld der Darstellung), sondern auf der kommunikativen Äußerungsebene. Sie operieren auf unterstellten Erwartungen, geteilten Voraussetzungen (Du kennst ja den Heinz) und dgl. Diese Elemente machen insofern nur Sinn in einer spezifischen Gesprächssituation, in Hinblick auf ein konkretes Gegenüber. Insofern sind sie auch früh als orat erkenntlich – und für junge Sprachlerner Gegenstand früher explorativer Bemühungen, vgl. oben in (I.1.) Tülays Edition in dem letzten Beispiel (noch ist in der schriftlichen Version ausgelassen). Abgebildet auf die Skala des syntaktischen Ausbaus in (II.2.) sind diese Elemente weder auf der Schiene des Nexus noch der Junktion definiert: die Grammatik des Deutschen (in allen mir bekannten Sprachen ist es ähnlich) stellt charakteristischerweise auch keine grammatisierten Fokussierungsformen zu Verfügung: keine W-Fragewörter wie für die Nexusergänzungen (wer, wen, womit …) 81 Wieder aus Stock (1996), das durch die zugehörigen Tonaufnahmen für eine Einführung gut nutzbar ist. Die Beispiele hier stammen aus Seminarübungen. 82 Zum Deutschen, s. etwa den Überblick bei Hentschel / H.Weydt (1990), bes. S. 280 – 288. 110 Utz Maas ______________________________________________________________________ oder die Junkturen (welche …). Sie sind auch nicht negierbar – nur weglaßbar bzw. austauschbar gegen andere ähnliche Elemente. Sie sind eben auf einer Operatorenebene definiert, die über dem propositionalen Ausbau und auch seiner 83 Situierung (wann, wo) operiert. In anderen Sprachen bzw. Sprachkulturen ist das Repertoire solcher Markierungen um einiges differenzierter als im Deutschen. Ein Beispiel dafür ist das Mongolische, für das Nyamaa (2009) die Verhältnisse von literat und orat in 84 mündlichen und schriftlichen Texten exploriert hat. Im (interaktiv) gesprochenen Mongolischen sind solche Markierungen geradezu dominant: jede Informationseinheit einer Äußerung wird entsprechend markiert, u.a. auch mit einer Sequenz solcher "mediativer" Markierungen, sodaß längere Äußerungen von ihnen geradezu punktiert werden. Um die Dinge an einem Beispiel etwas anschaulicher zu machen, müssen wenigstens einige Grundstrukturen des Mongolischen angesprochen werden. Auch im spontan gesprochenen Mongolischen können satzförmige (abgeschlossene) Äußerungen erheblich komplex sein, mit einer Kette von sekundären Prädikationen, möglich gemacht durch einen verkettenden Satzbau, der beliebige propositionale Sequenzen von links nach rechts zu schachteln erlaubt, wobei jede rechts adjungierte Einheit die voranstehenden spezifiziert. Am rechten Rand steht dann das Satzabschlußelement, das die satzsemantischen Markierungen aufweist, schematisch also [[[[Propn] Propn-1] Propn-2] … Prop1]SATZ In jeder Proposition steht das syntaktisch regierende Prädikat am rechten Rand, bei abhängigen Propositionen markiert durch ein reiches Spektrum von sekundären Prädikatsformen der Verbalflexion (Konverben, Verbalsubstantive, die jeweils ihre verbale Rektionsfähigkeit bewahren) – komplementär zu den maximal finiten Formen des Kopfprädikats: wenn "infinite" Verbformen im Kopfprädikat genutzt werden, werden sie mithilfe von Auxiliaren zu semantisch finiten komplexen Prädikaten ausgebaut. Die Mediative des Mongolischen, die die Verantwortlichkeit des Sprechers für das Gesagte modulieren, sind Partikeln, d.h. sie sind morphologisch nicht variabel; dabei sind sie aber durchweg homophon mit syntaktisch "regulären" Elementen (auf die sie wohl auch etymologisch zurückzuführen sind). Abgesehen von der Semantik 83 Bemerkenswerterweise sind sie auch im ausgebauten Lexikon nicht als eigene Formklasse lexikalisiert – sie werden als "Umfunktionierung" anderer Formen genutzt (aber > Konjunktion, ja > "Satzwort" u.dgl.). Das steht nicht gegen ihre "Salienz", die sich gerade auch in der Ontogenese zeigt. Solche Elemente werden von Kindern früh in ihrem Spracherwerb genutzt – im Deutschen auch, weil sie strikt lokal artikuliert sind, als frühe Markierung illokutiver Selbständigkeit ihrer Äußerungen, bevor sie das grammatisch komplexe Feld der Finitheitsmarkierungen meistern. Früh finden sich Äußerungen wie macht’n die Mama↓ wo das n eine reduzierte Form der Abtönungspartikel denn ist, hier aber die illokutive Spezifizierung der Frage leistet (~ was macht die Mama?), s. dazu etwa Gretsch (2000). 84 Es handelt sich um eine explorierende Arbeit, da ohnehin die Strukturen des gesprochenen Mongolischen noch kaum erforscht sind. Erst in der neueren typologischen Diskussion kommen solche Strukturen in den Blick, wo sie u.a. als Mediativ diskutiert werden (s. z.B. Feuillet (2006), bes. S. 333- 337). Literat und orat. Grundbegriffe 111 ______________________________________________________________________ unterscheiden sie sich von diesen durch ihre syntaktischen Vorkommensbedingungen. Nyamaa (2009) hat drei solcher Partikeln in ihrem Corpus untersucht: jum, bol und geʒ, die jeweils eine "Abtönung" der so modifizierten (ggf. sekundären) Prädikationen artikulieren. Syntaktisch kommen sie komplementär zu den homophonen nicht-mediativen Formen vor: • jum entspricht einem Nomen mit der Bedeutung "Ding", das Argumente im Vorfeld des jeweiligen Prädikats artikuliert; als Mediativ steht es nach der so modifizierten Verbform, also ggf. auch am rechten Rand eines Satzes; • bol entspricht dem Stamm eines Verbs mit der Bedeutung "werden" (in der üblichen Zitierform der Verben als Verbalnomen bol-ox), häufig ist es vor allem auch kopulativ mit einem nominalen Prädikativ sowie als Auxiliar; außerdem ist es lexikalisiert als Subjunktor (und steht dann nach der so angeschlossenen Proposition). Als Mediativ steht es im Vorfeld eines Prädikats, ggf. vor dem so modifizierten Element; • geʒ entspricht einer konverbalen Form des Verbs ge-x "sagen", die vor allem als Quotativ-Marker häufig ist; als solche steht sie nach der so deklarierten Proposition. Als Mediativ steht geʒ ebenfalls im Vorfeld eines Prädikats, ggf. vor dem so modifizierten Element. Während die "regulären" homophonen Formen selbstverständlich in literaten wie in oraten Strukturen vorkommen, sind mediative Formen auf eine kommunikative Konstellation festgelegt. In dem Experiment von Nyamaa haben die Schreiberinnen denn auch diese Formen bei der Verschriftung nicht aufgenommen, wie an einem 85 Beispiel verdeutlicht werden kann (grau markiert die Mediative, glossiert MED): sar n‘ bol taar-aad Monat REFL MED übereinstimm:-KONV 86 "Der Monat aber stimmt überein" baj-dag jum sei:-VN MED Verschriftet erscheint dieser Satz als sar n‘ goldɷɷ taar-aad Monat REFL meistens übereinstimm:-KONV "Der Monat aber stimmt überein" baj-dag sei:-VN Die Mediative der mündlichen Äußerungen werden hier durch das "objektiver" quantifizierende goldɷɷ "meistens" (das als adverbiales Element auch syntaktisch enger integriert ist) ersetzt. 85 Beispiele aus Nyamaa (2009), mdl. S. 70, schr. S. 92; die Transliteration von dort. REFL = Reflexivmarkierung; KONV = Konverb; VN = Verbalnomen. 86 Aus einer Diskussion über die unterschiedliche Zeitrechnung in der Mongolei und in Deutschland. 112 Utz Maas ______________________________________________________________________ 4.2.10. In diesem Sinne erweist sich die in (II.3.) skizzierte Skala des literaten Ausbaus tatsächlich als eine Art Blaupause für das mehr oder weniger komplexe Zuschalten des Symbolfelds zu kommunikativen Äußerungen. In der gesprochenen Sprache ist keineswegs die Hypotaxe eine Hürde (wie man oft liest), sondern im Chafeschen Sinne die Verdichtung von informativen Strukturen, also der Ausbau von Nominalgruppen. Wie die inzwischen vorliegenden Auszählungen zeigen, sind Attribute im Schnitt tatsächlich eine größere Hürde als der Ausbau komplexer Sätze, bei dem die verschiedenen Propositionen ja auch als unabhängige Intonationseinheiten artikuliert werden können. Das gilt erst recht für Relativsatzkonstruktionen, die in der gesprochenen Sprache ausgesprochen selten sind – jedenfalls als abhängige Relativsätze, im Gegensatz zu anaphorisch verbundenen Satzkonstruktionen, die am rechten Rand angehängt werden, vgl. mein Vater | der hat jetzt ein Auto | das hat ein Navi Hier sind drei propositionale Einheiten verknüpft, die prosodisch autonom sind – die letzte ist ein mit einem anaphorischen Element angeschlossener regulärer (Haupt-) Satz, wie die Wortstellung zeigt. Vgl. damit eine literate Struktur, die die drei vollen Prädikate in eine Satzstruktur integriert, dabei eine sekundäre Prädikation propositional ausbaut (als Relativsatz) und einbettet: mein Vater hat jetzt ein Auto, das ein Navi hat, gekauft. Das oben in (II.2.8.) angesprochene Problem der Kohäsion syntaktischer Konstituenten operiert ebenfalls auf dieser Ebene. Durch den Satzrahmen können komplexe Prädikate unterbrochen werden; orat ist das nur minimal möglich: durch eng an den infiniten Prädikatsteil gebundene Konstituenten (syntaktisch etwa das direkte Objekt, auch prosodisch durch "schwache", vor allem klitisierte Elemente [pronominale Formen]) – ansonsten folgen die Ergänzungen auf den Prädikatsausdruck (was aus dem Blickwinkel der schriftsprachlichen normativen 87 Grammatik als "Ausklammerung" bezeichnet wird). Weiterführend sind hier Arbeiten zur Informationsstruktur, die gerade auch im Chafeschen Arbeitskontext unternommen worden sind, etwa von Knud Lambrecht (Lambrecht 1994). Auch wenn Lambrecht literate Strukturen analysiert, die er durch ihre grammatische Struktur als noch unterbestimmt behandelt und so in Mengen von "Allosätzen" bündelt, deren pragmatische Differenzierung (gekoppelt mit der entsprechenden prosodischen Artikulation) er untersucht, sind die dabei gewonnenen Kategorien für die oraten Strukturen zu nutzen. Zu erwarten ist, daß im Aufbau einer oraten Äußerung die Artikulation eines vollen deskriptiven Elements mit der Fokusmarkierung zusammenfällt – also entweder am rechten Rand als Fokus artikuliert wird, oder (vor allem kontrastiv) am linken Rand. Auch das bestätigt sich bei der Auswertung der vorliegenden Corpora gesprochener Sprache. 87 Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht das Jiddische, also eine erst spät schriftsprachlich kodifizierte Form des gesprochenen Deutschen, in dem die nur sehr eingeschränkte Rahmenbildung fest ist, wo es also heißt Hans hot getrunken a flaš bir "Hans hat eine Flasche Bier getrunken". Literat und orat. Grundbegriffe 113 ______________________________________________________________________ Die Strukturen des Symbolfelds bilden nicht einfach einen Gegenpol zur gesprochenen Sprache, sondern sie können, da sie einen Horizont für erwartbare Strukturen aufspannen, dieser geradezu Wege bahnen. Da eine angefangene Äußerung mit ihren grammatischen Formen ihre Fortsetzung weitgehend projiziert, gibt sie dem Gegenüber die Möglichkeit, sie fortzuführen. So erweist sich tatsächlich ein erheblicher Teil von Gesprächen als in diesem Sinne koproduziert (nicht nur 88 kooperativ, sondern u.U. auch antagonistisch). Letztlich muß es darum gehen, aus solchen Überlegungen eine formale Konzeptualisierung zu entwickeln, die für die empirische Forschung verifizierbare Hypothesen zu entwickeln erlaubt. Die Chafeschen Minimalismus-Annahmen für orate Strukturen sollten sich dabei mit den strukturalen Überlegungen von (II.2.) verknüpfen lassen, insbesondre denen von der größeren Ausbauhöhe der Junktion gegenüber einer Koppelung von Nexusstrukturen. Auf der Textebene läßt sich das als Verhältnis der Anzahl der syntaktischen Prädikate [P] zu der der deskriptiv artikulierten "nominalen" Ergänzungen [N] fassen. Bei einem oraten Text ist das Verhältnis n P / m N > 1, bei einem literaten ist n P / m N < 1 (orat, aber nicht literat sind viele Propositionen mit einem Prädikat ohne deskriptive nominale Ergänzung zu erwarten). Das wird in Hinblick auf die oben in (II.3.) entwickelten weiteren Faktoren nicht in jedem Fall zu verifizieren sein (es finden sich ja in der spontan gesprochenen Sprache nicht wenige einfache Äußerungen mit mehr als einem N). Aber eine solche Hypothese zwingt in den Fällen, die sie nicht bestätigen, dazu, nach erklärenden Zusatzannahmen zu suchen. An einer solchen formaleren Modellierung geht kein Weg vorbei – wenn das Unternehmen einer Analyse des Sprachausbaus denn ernsthaft als Sprachwissenschaft betrieben werden soll. 4.2.11. Gewissermaßen in Reinkultur zeigen sich diese Beschränkungen bei Sprachen, die ohne den Ausbau einer Schriftkultur praktiziert werden. Die oben schon angeführten Analysen von Chafe zum Seneca wie die (in III.5. weiter diskutierten) von Heath zu den australischen Sprachen im Arnhem Land exemplifizieren den Grenzfall von Sprachstrukturen, die auf eine orate Praxis kalibriert sind. Soweit die prosodisch integrierten Äußerungseinheiten in diesen Texten eine grammatische Binnenstruktur aufweisen, insbesondere ein (verbales) Prädikat, erfolgt dessen Bekleidung in der Regel durch modifizierende Elemente, die keine prosodische Prominenz haben: klitisierte Funktionselemente oder auch (wie vor allem beim Seneca) durch die Inkorporation lexikalischer Elemente. Die referenzielle Spezifizierung etwa der Argumente des Prädikats erfolgt in eigenen Äußerungen: als eine Art Nachtrag oder ggf. auch als vorangestelltes Topik. Für die von Heath analysierten Erzählungen im Nunggubuyu sind dabei Sequenzen charakteristisch, die auch den (vorangestellten) prädikativen Komplex mit der (pronominalen) Registrierung der Argumente gewissermaßen völlig von deskriptiven Prädikaten entlasten und mit dummy-Verben (etwas tun, oft auch ein affines Element zu einem 88 S. dazu etwa schon (auch aus dem Chafe-Umfeld) Ono / Thompson (1995). Zur Projektion grammatischer Strukturen und ihrer Nutzung in der Interaktion auch Auer (2000). 114 Utz Maas ______________________________________________________________________ nominalen dummy, also so etwas wie dingens im Deutschen); als Nachtrag wird dann in separaten Äußerungen das dingens-Prädikat spezifiziert, schließlich dann die Referenz der Argumente, z.B. (Heath 1980: 114 /16.16 – die Umschrift in IPA überführt, die Glossierung modifiziert): wiŋi-jamaː || wuː-maɲʤa-ma-ɲʤiː-ni || they-did.that.IPF they-got.each.other.IPF 1 2 "The people gathered themselves together" wuː-maɲʤa-ma-ɲʤiː-ni they-got.each.other.IPF 3 wara-wuruʤ || people 4 In (1) ist jamaː das dummy-Verb (hier mit einem phonologisch absorbierten imperfektiven Suffix); (2 – wiederholt in 3) spezifiziert das dummy durch das lexikalisch spezifizische maɲʤa. In (4) wird die pronominale Aktantenmarkierung (wiŋi in (1), wuː- in (2) bzw. (3)) deskriptiv spezifiziert (wuruʤ). Die von Heath notierten prosodischen Zäsuren (||) zeigen die orate Gliederung mit jeweils einem neuen informativen Element: (3) ist eine anaphorische Wiederholung, insofern keine neue Information, sondern mit (4) zusammen eine Einheit. 4.2.12. Die mediale Seite hat strukturelle Konsequenzen: gesprochene Sprache nutzt die prosodischen Gliederungen, die definitionsgemäß in der geschriebenen Sprache nicht gegeben sind. Grundsätzlich sind die Prosodie und die Syntax als unabhängige Dimensionen zu betrachten: Im Sinne der Ontogenese (und systematisch vielleicht auch: des Sprachausbaus im allgemeinen Sinne) ist die prosodische Integration (als die leibnähere) die grundlegende: prosodisch integriert (~ Intonationseinheiten) können beliebige informationelle Versatzstücke werden, auf die der Hörer sich einen interpretierenden Reim machen muß. Die syntaktische Integration (mit den Strukturen des Symbolfelds) wird dieser grundlegenden Ebene der sprachlichen Artikulation zugeschaltet – in der Skala von orat / literaten Ausbaustufen. Allerdings kann das Verhältnis von Prosodie zu Syntax umkippen, wie es bei literaten Strukturen der Fall ist. Literate Strukturen sind durch einen Grenzwert definiert, der keine prosodische Artikulation hat, die ja auch schriftlich nicht kodiert wird. Dieses Verhältnis wird allerdings in der Schultradition durch die oft "rhetorisch" genannte Sichtweise der Interpunktionszeichen verdeckt; diese steht in der Tradition der Ausbildung zum Vorlesen, in der bis heute in der Schule die Interpunktionszeichen als Instruktionen zur Stimmführung verstanden werden – und nicht als "Parsinghilfen" für das Literat und orat. Grundbegriffe 115 ______________________________________________________________________ (stumme!) Erlesen komplexer Texte. Auch bei der Interpunktion stellt die in der Schulgrammatik bzw. –didaktik verbreitete Vorstellung von der phonographischen Funktion der Schrift die Verhältnisse auf den Kopf, deutlich bei dem nach wie vor gerne genutzten Topos "Schreib wie du sprichst!". Gegenüber solchen Reduktionen sind die beiden sprachlichen Artikulationsformen: syntaktisch-grammatisch und prosodisch in der Analyse getrennt zu halten; empirisch können sie in unterschiedlicher Weise die Sprachpraxis bestimmen, mit einer Harmonisierung beider Artikulationsformen auf einer medianen Achse, auf der schließlich die prosodische Struktur zunehmend als zusätzliche Ausdrucksform syntaktischer Strukturen genutzt wird. Das ist der Fall bei mündlich präsentierten (maximal) literaten Strukturen – kann aber nicht in der Architektur des theoretischen Modells festgeschrieben werden, wie es in den neueren (vor allem generativistisch orientierten) Arbeiten zur Informationsstruktur der Fall ist, für die die Prosodie, etwa Fokusstrukturen, die Interpretation der "logischen Form" der Sätze ist. Das obige Schema stellt das Feld empirischer Analysen dar, dessen Extrempole auch als solche analysiert werden sollten: einerseits harmonisierte Äußerungen, die auf der syntaktischen Ebene komplex ausgebaute Sätze zeigen, deren Auseinanderfallen mündlich durch prosodische Integrationsformen (kein Neuansatz der Intonationskontur u.dgl.) verhindert wird, andererseits disharmonische, orate Äußerungen, bei denen die prosodische Gliederung "asyntaktische" Elemente integriert, erst recht da, wo die Prosodie die syntaktische Gliederung überschreibt. Grundsätzlich sind in diesem Sinne disharmonische Verhältnisse bei Syntax und Prosodie Indikatoren für orate Strukturen. 4.2.13. Solche Analysen müssen typologisch kontrolliert werden, da die sprachbauspezifischen Vorgaben für die syntaktische Integration sehr unterschiedlich sind (s.o.). Bei der prosodischen Analyse sind die verschiedenen Parameter grundsätzlich unabhängig und ist ihre Nutzung dissoziierbar. Charakteristisch für das Deutsche ist die Ausrichtung und Bündelung der prosodischen Gliederung, mit einem eindeutigen Konturmaximum ("Satzakzent"), dem alle anderen Elemente untergeordnet werden (soweit sie aufgrund ihrer lexikalischen Ausstattung eine Akzentuierung erwarten lassen, erfolgt diese als "Nebenakzent"). Im Deutschen "interpretiert" die Prosodie ggf. auch eine Rede mit ausgesprochen elaborierten literaten Satzstrukturen – als harmonische Ausbalanzierung im Sinne des Schemas. Bei dem oben schon angeführten Beispiel einer komplexen Satzkonstruktion mit einer zur Syntax inkongruenten prosodischen Segmentierung erfolgt die Integration in einen Satz vor allem auch auf der Ebene der Zeitsteuerung, vgl. den Zeitverbrauch 89 der prosodischen Segmente: syntaktisch prosodisch Dauer 89 naja || naja || 414ms aber das heißt ja nicht [daß aber das heißt ja nicht daß | 934ms Nach der Tonbandaufnahme in Stock (1996). alle fünf Stellen ausgenutzt werden]S alle fünf Stellen ausgenutzt werden 2.318ms 116 Utz Maas ______________________________________________________________________ Die Matrix (aber das heißt ja nicht daß) wird offensichtlich als Anakrusis einer größeren Einheit artikuliert (mit einer Durchschnittsdauer von 130ms für jede seiner sieben Silben), während der zweite Teil rhematisch artikuliert wird (mit einer Durchschnittsdauer von 230ms für jede seiner zehn Silben). Dahinter steht, daß die Realisierung der Quantitäten im Deutschen prosodisch gebunden ist: nur in der Silbe mit Satzakzent sind die Quantitätenkontraste des Vokalismus robust (soweit man sie überhaupt als phonologisch werten will), im Vorfeld (= anakrustisch) sind sie zugunsten der nicht-"gedehnten" Vokale neutralisiert. Andere Sprachen zeigen diese Ausrichtung nicht, sondern zeigen ein sehr viel bewegteres Bild prosodischer Teilstrukturen, deren Integration in eine Makroeinheit weniger robust erscheint. In diesem Feld liegen noch zu wenige Analysen vor, als daß 90 hier abschließende Aussagen möglich wären. 4.2.14. Als Fazit läßt sich zur Rolle der prosodischen Strukturen festhalten: wo diese die syntaktischen Strukturen nur interpretieren, gehören sie nicht zur oraten Artikulation – anders ist es da, wo sie die syntaktische Struktur überschreiben: dadurch wird die Interpretation an die konkrete Sprechsituation gebunden. Allerdings ist auch hier eine typologische Kontrolle erforderlich: "überschreiben" meint in diesem Sinne: als nicht grammatikalisierte prosodische Struktur – andernfalls ist diese ja ein Moment der grammatischen Strukturierung. 90 Ein Beispiel aus dem arabischen Raum kann die Bandbreite deutlich machen (das Beispiel verdanke ich Dina El Zarka, zu der Konstruktion s. auch Maas 2008b: 37 – 38 mit einem entsprechenden marokkanischen Beispiel): ana | ich il-jom-eːn DF-Tag-DU doːl DEM-PL li-ɣaːjit bis-Ende ma REL? ti-fuːt 3SF-vorbeigeh: is-sanawijːa bitaʕt-u | ʃ-ʃahrə kida DF-Jahrestag von-3SM DF-Monat so "Diese Tage, bis sein Todestag vorbei ist, ein Monat oder so". Prosodisch werden hier drei Passagen segmentiert (markiert mit |). Das mittlere Stück artikuliert die propositionale Aussage: es geht um die Zeit der Trauer, bis zum Jahrestag des Todes. In einem Nachtrag wird dieser Zeitraum spezifiziert (etwa ein Monat). Voran steht ana "ich", das keinerlei syntaktische Bindung in der propositionalen Struktur hat (also auch nicht als Herausstellung o.dgl. behandelt werden kann). Prosodisch ist es als abgeschlossene Einheit artikuliert: mit tief fallender Intonation und folgender Pause (es handelt sich also auch nicht um einen Abbruch). Hier liegt eine hochgradig konventionalisierte Struktur vor, mit der im arabischen Raum im Gespräch ein Sprecher für sich einen Redeplatz markiert, um etwas darzustellen, das ihn persönlich betrifft. Die Integration in die Makrostruktur der Äußerung erfolgt indirekt dadurch, daß mit dem auf ana "ich" unmittelbar folgenden Element die prosodische Kontur (die Grundfrequenz) nicht wieder neu einsetzt, sondern in einer mittleren Lage eine Fortsetzung artikuliert. So wie hier werden im spontan gesprochenen Arabischen (in Marokko nicht anders als in Ägypten) mehr oder weniger grammatisch markierte semantische Versatzstücke prosodisch in eine Äußerung integriert und von den Hörern entsprechend interpretiert. Literat und orat. Grundbegriffe 117 ______________________________________________________________________ 4.3. Orate Strukturen als Reduktion der sprachlichen Artikulation? 4.3.1. Die gängigen Vorstellungen von oraten vs. literaten Strukturen sind am Schulunterricht abgelesen, in dem die schriftkulturelle Erziehung (> Aufsatzunterricht) als Kampf gegen die Gewohnheiten der "gesprochenen" Sprache aufgezogen wird – in nicht selten schizophrener Koppelung mit einer Natürlichkeitsmaxime für den guten Stil: "schreib, wie du sprichst!". Ausgehend von den entsprechenden Übungen, die im schulischen Übungskanon seit 200 Jahren fest sind, erscheint die gesprochene Sprache als Negativbild zu den schriftkulturellen Ausbauformen: als ihnen gegenüber reduzierte Form sprachlicher Artikulation, in einschlägigen Darstellungen oft auch als "elliptischer" Charakter der gesprochenen 91 Sprache angesprochen. Das nimmt zwar die oben in (II.2.) entwickelte Konzeption der literaten Zuschaltung der Ressourcen des Symbolfelds auf, stellt sie aber auf den Kopf, indem es die gesprochene Sprache an literaten Normalformen mißt: Statt im Sinne der Bühlerschen Markiertheitskonzeption literate Formen als aufwendiger und daher markierter zu betrachten, werden die kommunikativ produzierten weniger aufwendigen, tendenziellen Default-Varianten sprachlicher Äußerungen als defektiv behandelt. Nicht zuletzt unter den prozessualen Bedingungen mündlicher Äußerungen sind diese vergleichsweise knapper ausgestattet, als es in der Regel schriftliche sind (anders ausgerichtete Schriftkulturen machen deutlich, daß das nicht notwendig so ist). Das gilt für die lokale konzeptuelle Elaboration nicht anders als für die Makrostrukturen des Textaufbaus: unter kommunikativen Bedingungen wird eben der Aufwand minimiert, sodaß das für die interaktive Verständigung Erforderliche als Verbalisierung ausreicht. Gesprächstransskripte, die den kommunikativen Kontext nicht repräsentieren, sind daher oft unverständlich: baut man sie in eine literate Form um (eine probate Übung, um sich die Differenz von oraten und literaten Strukturen zu verdeutlichen), müssen tatsächlich laufend Ergänzungen zugefügt werden. Daraus folgt aber eben nicht, daß diese in den oraten Äußerungen fehlen (daß diese also elliptisch wären): einerseits fehlt diesen im Kontext nichts, andererseits sind die einzufügenden Ergänzungen nicht eindeutig (wie es bei Ellipsen zu verlangen ist, s.o.). Jede derartige Ergänzung projiziert ihrerseits einen interpretativen Kontext, der mit dem Gesprächstransskript nicht vorgegeben ist, der aber mit einer literaten Form festgelegt werden muß. 4.3.2. Die Spannung von mehr oder weniger expliziten Formen findet sich auf allen sprachlichen Ebenen, wobei sie in der (Satz-) Phonologie auch als Verhältnis von Reduktionsformen gegenüber den Explizitformen gefaßt wird: in der ganzen Bandbreite von Klitisierungen, Verschmelzungen bis hin zu "verschluckten" Formen, die sich in der einschlägigen Diskussion findet. Durch den dominierenden 91 Die kulturgebundenen Prämissen dieser Wertung, der das hochkulturelle Ziel einer lakonisch-minimierten Sprachform in ostasiatischen Kulturen gegenübersteht, ist oben schon angesprochen worden. 118 Utz Maas ______________________________________________________________________ normativen Blick werden dabei aber oft Entwicklungen ("Reanalysen") übersehen, bei denen derartige Reduktionsformen grammatikalisiert werden. So behandelt die normative Grammatik meist am als Fusion aus an + dem, analog etwa zu auf’m < auf dem. Aber nur für das letztere gilt die semantisch-syntaktische Äquivalenz. Dagegen ist Der Apfel wächst am Baum eine generische Aussage, die nicht die Frage: an welchem Baum? provoziert; diese wiederum ist bei einer diskurs-definiten Markierung mit dem bestimmten Artikel zu erwarten, wie bei Dieser Apfel wächst an dem Baum. Hier besteht ein weites Feld solcher Grammatikalisierungen von Reduktionsformen, die damit in Opposition zu (nur noch etymologisch als Entsprechung faßbaren) "expliziteren" stehen. Das ist denn auch das Feld von "verdeckten" grammatischen Kategorien, bei denen semantische Faktoren grammatisiert sind, die die Schulgrammatik nicht vorsieht. Ein Beispiel sind "elliptische" Strukturen bei transitiven Verben. Eine Äußerung wie Hans kauft würde man in einem Gesprächsprotokoll als Abbruch klassifizieren (S* in der Notierung von I.2.5.) – die Vervollständigung mit einem direkten Objekt (Hans kauft ein Auto) ist im Nexusfeld definiert (gefordert). Anders ist es aber bei Äußerungen wie Hans kauft bei Lidl Hans kauft und kauft Das Nicht-Vorhandensein eines direkten Objekts führt in solchen Konstruktionen zu einer intransitiven (Re-) Analyse eines Tätigkeitsausdrucks mit der grammatischen Bedeutung einer habituellen Tätigkeit (wie sie in anderen Sprachen ggf. mit einer morphologischen Markierung am Verb für Habitualis markiert würde). Daraus folgt, daß die Annahme von Reduktionsformen als "Implementierung" einer oraten Struktur an die Überprüfung gebunden ist, daß diese nicht funktional grammatikalisiert sind. 5. Der literate Ausbau: vorläufiges Fazit Mit den vorausgehenden Überlegungen sollte eine Ausgangsposition für eine vor allem auch empirisch angelegte Arbeit in diesem Feld gegeben sein, die die genannten Beschränkungen zu überwinden versucht. Die vorausgehenden Definitionsansätze sollten eine Arbeitsbasis liefern. Ausgangsbasis ist die Grunddefinition in (I.7.): Literat sind Äußerungen, die in der grammatischen Form von Sätzen artikuliert sind und eine Darstellungsfunktion haben. Dabei ist diese Definition in empirischen Analysen ggf. noch auf den erreichbaren schriftkulturellen Horizont zu kalibrieren (s. I.6.). Die grammatische Form ist mit den Definitionen in Abschnitt (II.2.) als Ressource der Nutzung des Symbolfelds (i.S. von Bühler) differenziert, durch die literat als skalares Konzept definiert ist, polarisiert durch satzförmige Strukturen als Schwellenwert: • obligatorisch ist der Satzfilter für den Bau von Texten, Literat und orat. Grundbegriffe 119 ______________________________________________________________________ • fakultativ ist die Integration von propositionalen Strukturen (Ausbau des Nexus), • fakultativ ist die Verdichtung der Information (Ausbau durch Junktionen). Die fakultativen Ausbaustrukturen markieren eine Skala des Literaten. Über die Diskussion in (II.2.) hinaus sind allerdings in eine solche Modellierung des Symbolfeldes noch die morphologischen Aspekte des Sprachbaus hinzuzunehmen. Die formale Seite faßt aber nur eine Dimension der Sprachpraxis, zu deren Modellierung auch die funktionale Dimension gehört, die in der Definition mit dem traditionellen Begriff der Darstellung gefaßt wird. Auch hier ist eine skalare Konzeptualisierung geboten, die oben in (I.2.) mit den Beispielanalysen nur angedeutet ist: von interaktiven Gesprächszügen, die eine mehr oder weniger artikulierte grammatische Struktur, aber keine Darstellungsfunktion haben, über narrative Texte, die eine szenische Inszenierung eines Sachverhalts (Ereignisses) entfalten (der als außersprachliche Vorgabe sprachlich repräsentiert wird), bis hin zu expositorischen Texten, die ihren Gegenstand mit seiner sprachlichen Artikulation überhaupt erst konstituieren. Auf der Ebene der sprachlichen Artikulation ist orat als Gegenpol zu literat definiert (s. II.4.): Orat sind Äußerungen, die nicht in der grammatischen Form von Sätzen artikuliert sind und ggf. sprachliche Elemente aufweisen, die auf die konkrete Gesprächssituation kalibriert sind. Für die Definition von orat genügt der Rückgriff auf die Struktur der formalen Artikulation – orat ist negativ definiert in Hinblick auf das Ausmaß, in dem die Ressourcen des Symbolfelds genutzt werden. Die syntaktische Grundkategorie Satz bildet dabei die Achse der syntaktischen Argumentation: • Satz ist die formale Basis literater Artikulation: die satzförmige Zerlegung eines Textes ist eine notwendige Bedingung für eine literate Struktur – aber keine hinreichende, wie die Diskussion um die inhaltliche Seite (die Darstellungsdimension) gezeigt hat; • nicht-satzförmige Strukturen sind orat – aber auch in oraten Texten können satzförmige Strukturen genutzt werden. Schließlich sind die funktionalen Aspekte der Darstellung noch weiter zu differenzieren, die im Vorausgehenden ausgeklammert wurden. Die formalen Strukturen definieren gewissermaßen Randbedingungen des Sprachausbaus, für den die Dimension von literat/orat zentral ist. Letztlich geht es also um eine Modellierung der Sprachpraxis in einem vierdimensionalen konzeptuellen Raum, wie er im 92 Vorausgehenden sehr grob skizziert ist. Diese Verhältnisse lassen sich in einem polarisierten Feld darstellen, das einerseits eine soziale Dimension aufweist (mit den Polen einer kommunikativen 92 Anzumerken bleibt, daß gerade auch die funktional orientierten jüngeren Arbeiten in diesem Feld den skalaren Charakter der funktionalen Darstellungsdimension oft übersehen und Strukturen generalisieren, die sie aus narrativen Texten extrapolieren, die in der Ethnographie vorwiegend erhoben werden. Das führt dazu, daß die Ausbaudimension der Sprachpraxis übersehen wird. 120 Utz Maas ______________________________________________________________________ Orientierung vs. Dezentrierung), andererseits eine inhaltliche Dimension mit der evtl. Ausrichtung auf die Darstellung. Die idealtypischen Felder des Oraten und Literaten liegen dann auf einer Diagonalen: TEIL III – HISTORISCHE ANMERKUNGEN 1. Fachgeschichtliche Anmerkung zu den Vorgaben der Tradition Jenseits der terminologischen Differenzierung sind diese Dinge alles andere als neu. Liest man die großen enzyklopädisch angelegten Werke der antiken griechischen Philosophen, findet man vieles heute wieder neu zu Entdeckende schon als selbstverständliche Topoi. In fachgeschichtlichen Darstellungen wird meist übersehen, daß sich historisch zwei Diskurse überlagern, sodaß rein chronologische Reihungen von Zitaten mystifizierend sind. Der seit der Antike dominierende Diskurs war finalisiert: er war an praktische Zielsetzungen gekoppelt, die Ausbildung zum "Redner", also der qualifizierten Partizipation an den politischen und juristischen Aktivitäten in der gesellschaftlichen Geschäftsführung, und dem vorgängig: der elementaren schulischen Bildung. Entsprechend dem gesellschaftlichen Selbstverständnis, der Imago einer oralen Kultur, war Schriftliches hier subsidiär – Sprache ist demnach eigentlich mündlich, wie es von Quintilian bis zur modernen 93 Sprachwissenschaft ein Gemeinplatz ist. In diesem Bildungsdiskurs ist Sprache letztlich sekundär: was zählt ist das andere – die sprachlich erzielte Wirkung in der Rhetorik i.e.S. oder das sprachlich Dargestellte in der Literatur, bei der Sprache als mimesis ("Abbild, Nachahmung") 93 Diese Imago, losgelöst von einer gesellschaftlichen Praxis, die ohne Schriftkultur nicht möglich ist, ist ebenso befremdlich, wie sie in unterschiedlichen Gesellschaften Parallelen hat. Auch die arabische Hochkultur, die nicht zu trennen ist von der Schaffung einer arabischen Schriftsprache, dem sog. "Klassischen Arabischen" im 8. – 9. Jhd. (durch Sibawayh u.a.), spiegelte sich in dieser Imago, bei der jeder Grammatiker einen analphabeten Gewährsmann (Beduinen) als Garanten für seinen Normierungsvorschlag einführen mußte – und das Modell für die klassische Sprache schlechthin, der Koran, als mündliche Offenbarung des Propheten galt, der sich als Analphabeten inszenierte. Eine ganz andere Konzeption findet sich bei der chinesischen Hochkultur, die explizit auf eine Schriftsprache gegründet ist. Literat und orat. Grundbegriffe 121 ______________________________________________________________________ gefaßt wurde (mit der leitenden Frage nach dem falschen Bild …). Aber neben diesem Diskurs stand ein anderer: der der systematischen Reflexion in der Philosophie: einerseits der Naturphilosophie, die der Sprache als den Voraussetzungen der conditio humana nachging, die biologischen Voraussetzungen damit immer auch im Lichte des dadurch möglich Gemachten betrachtete, andererseits den Grundstrukturen des Denkens, das in der Sprache eine Form fand, um Sachverhalte zu klären, die ohne diese Form nicht zugänglich waren (bei denen die Frage der mimesis sich nicht stellt). Mit der systematischen Entwicklung der Logik kamen früh auch schon die sprachspezifischen Schranken für diese kognitive Arbeit in den Blick – und die Bemühungen zu ihrer Überwindung in Formen der Symbolisierung, für die die schriftliche Fixierung eine notwendige erste Stufe bildete. In diesem Diskurs macht die Auszeichnung des Mündlichen keinen Sinn. Dabei war mit dem aristotelischen Werk (insbesondere seinen "Analytica") schon in der Antike ein Lehrkanon vorgegeben, an dem sich jede systematisch intendierte Reflexion seitdem messen lassen muß. Das war auch bis zum Anfang des vorigen Jahrhunderts akademischer Konsens, ist aber inzwischen außer Mode gekommen, wie die üblichen Konfusionen zeigen, die inzwischen auch die modernen Übersetzungen der aristotelischen Texte prägen. Bei Aristoteles, den nicht nur das europäische Mittelalter sondern z.B. auch das muslimische nur als den Philosophen anführte bzw. benannte, sind die im Vorausgehenden anvisierten Verhältnisse schon ausgesprochen klar formuliert – erschreckend klar, muß man sagen, wenn man sich die spätere Konfusion ansieht. Bei ihm findet sich schon eine systematische Reflexion auf das Verhältnis von geschriebener zu gesprochener Sprache, wenn es z.B. heißt: ἔστι µὲν οὖν τὰ ἐν τῇ φωνῇ τῶν ἐν τῇ ψυχῇ παθηµάτων σύµβολα, καὶ τὰ γραφόµενα τῶν ἐν τῇ φωνῇ (de interpretatione, 16a 3 – 4) esti ist men aber patheematoon Empfundenen oun nun ta die sumbola Symbole en in teei der kai und ta die phooneei Stimme toon der graphomena Geschriebenen toon der en in teei der en teei in der psucheei Seele phooneei Stimme "es ist aber das, was in der Stimme enthalten ist, ein Symbol für das, was im Verstand wahrgenommen wird, – und das Geschriebene ist ein Symbol für das, was in der Stimme enthalten ist" Den entscheidenden Punkt habe ich hervorgehoben: das ist keine naturalistische Konzeption, die gesprochene Sprache in die geschriebene abbildet; heute würden wir sagen: es handelt sich um eine kognitivistische Modellierung (s. I.2.). Bezugsgröße für die Analyse sind die kognitiven Operationen: das, was im Verstand vorhanden ist, nicht die Beobachtungsdaten (mündlich oder schriftlich): es geht um das, was in dem Lautlichen (der "Stimme") enthalten ist, in diesem einen Ausdruck findet – und indirekt dann auch in der Schrift. Lautliches und Schrift stehen nebeneinander als unterschiedliche Ausdrucksformen ggf. des gleichen kognitiven Inhalts. 122 Utz Maas ______________________________________________________________________ Den Hintergrund für diese Bestimmung bildet das Konzept der notwendigen Artikulation alles dessen, was kognitiv zugänglich bzw. bearbeitbar sein soll: Artikulation (oder wie es früher gelegentlich auch eingedeutscht wurde: 94 "Gliederung") ist die von kognitiven Operationen vorausgesetzte Formgebung. Diese über 2000 Jahre alten Grundbestimmungen können uns nach wie vor als Ausgangspunkt für eine sprachtheoretische Fundierung dienen: Gegenstand ist nicht die gesprochene Sprache, wie es auch nicht die geschriebene ist. Den medialen Differenzen sind die darin ausgedrückten Strukturen (weniger objektivierend: das Wissen um diese Strukturen) gegenüberzustellen – also das Konzept, das ich oben in (I.2.) entwickelt habe; schematisch: In einer solchen Modellierung lassen sich auch Praktiken wie die von Tülay (I.1.) fassen: ein solches Wissen steuert ihren editorischen Umgang mit der eigenen mündlichen Erzählung. 2. Die institutionalisierte Sprachreflexion Die so tradierten Einsichten wurden aber überdeckt von den Mechanismen, die die institutionelle Ausdifferenzierung der Sprachwissenschaft bestimmt haben (daher fielen sie später unter eine fachgeschichtliche Amnesie). Die institutionalisierte Sprachreflexion steht in der Tradition der Schule: orientiert auf den Kanon der schriftlich tradierten (vor allem auch religiösen) Texte und der Vermittlung der (fremden) Sprache, in der diese verfaßt sind – und darauf bezogen: in der auch die gesellschaftliche Geschäftsführung artikuliert ist. Schule muß(te) den Zugang zu dieser Schriftkultur herstellen: in unserer europäischen Gesellschaft bis ins hohe Mittelalter war das eine Sache einer kleinen professionellen Schicht (den litterati), mit der Demotisierung der Schriftkultur in der bürgerlichen Gesellschaft wurde es eine Sache aller, der die Volksschule dienen sollte. Die traditionelle Sprachwissenschaft war auf diese Konstellation ausgerichtet: Sprachreflexion war 94 Dieses Konzept und auch die Terminologie bestimmten insbesondere auch die neuzeitlichen Bemühungen um eine Sprachtheorie, etwa bei Humboldt. Das wird bei diesem gerade auch da deutlich, wo er von Fragen der Lautstruktur handelt, vgl. z.B. in seiner nachgelassenen Arbeit "Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues" (1827-29: 192): "Die Articulation beruht auf der Gewalt des Geistes über die Sprachwerkzeuge, sie zu einer Behandlung des Tons zu nöthigen, welche der Form seines Wirkens entspricht". Der kritische Punkt war für Humboldt aber der Rückkoppelungseffekt dieser artikulatorischen Bindung: die Fähigkeit zur Artikulation wird mit einer jeweils bestimmten Sprache gelernt, ist also in gewisser Weise auch sprachgebunden. Literat und orat. Grundbegriffe 123 ______________________________________________________________________ Philologie, die Bewahrung der schriftlichen Tradition – auf der elementaren Ebene auch die Reflexion auf den Zugang zur Schrift: Phonologie als Reflexion auf die Bedingungen in der gesprochenen Sprache, in denen die kognitiven Strukturen der Schrift zu verankern waren (so wurden die Phoneme in der mittelalterlichen Lateinschule definiert als dasjenige im Lautlichen, also einem physikalischen Gegenstand, was geschrieben werden kann [quae scribi potest], s. Maas 1986). Grammatik war, wie schon der Terminus zeigt, das Wissen darum, wie man schreibt (gr. gramma, Gen. grammat-os "Geschriebenes" < graph-ma zu graphein "schreiben"). Weitergeführt wurde diese Konzeptualisierung im Wissenschaftsbetrieb der 95 europäischen Neuzeit in den philologischen Disziplinen. Diese schlossen mit dem Kern bei der Klassischen Philologie in ihrem Lehrgebäude bei dem an, was von der Antike überliefert war, wozu nicht nur die sprachtheoretische Reflexion (die grammatica speculativa der Philosophen) gehört, sondern vor allem auch die Rhetorik, die bereits ein differenziertes Begriffssystem für die Analyse der Sprachpraxis entwickelt hatte, zu dem insbesondere die Differenzierung von verschiedenen Sprachregistern gehörte. In diesem Rahmen wurden selbstverständlich auch die Unterschiede gesprochener und geschriebener Sprache reflektiert, wobei in der klassischen Rhetorik (quasi kanonisiert in Quintilians Institutio oratoria) die Schrift in einer hierarchisch verstandenen Vorstellung von der Registervariation der virtuosen mündlichen Praxis untergeordnet war (bei Quintilian dient das Schreiben technisch der Vorbereitung einer Rede). Die Registervariation gehörte so immer schon zu den Grundbegriffen der Sprachreflexion – in der universitären Philologie und grundlegender noch: auf dem humanistischen Gymnasium. Praktisch im Curriculum umgesetzt wurde diese Reflexion in dem, was den Kern der sprachlichen Ausbildung auf der Schule wie der Universität ausmachte: die Stilanalyse (gewissermaßen kanonisch so bei Boeckh 1877). Diese Konstellation änderte sich im letzten Drittel des 19. Jhds. mit dem Ausbau der philologischen Seminare und ihrer Indienstnahme für die (gymnasiale) Lehrerausbildung. Die unmittelbare Folge war eine erhebliche Erweiterung des Lehrpersonals und damit verbunden dessen neu zu definierende Arbeitsteilung, auf die die junge Trennung von Literatur- vs. Sprachwissenschaft zurückgeht. Die Ausdifferenzierung der neueren Sprachwissenschaft war verbunden mit der Reklamation eines eigenen Gegenstandes, mit dem die Sprachwissenschaft aus dem Dienstbotentrakt der Philologien herausgeführt werden sollte: die nicht-normierte (Umgangs-) Sprache, die im Sinne des damaligen (und heutigen!) Positivismus als natürlich angesprochen und damit einer systematischen Modellierung zugänglich wurde (damals sagte man meist noch Organismus statt System). Die Konsequenz davon war (und ist!), daß im sprachwissenschaftlichen main stream die gesprochene Sprache als ganz anders verstanden wird – wie es um die Wende vom 19. zum 20. 95 Außereuropäische Traditionen, etwa in China, sind in ihren Besonderheiten zu analysieren – was hier ausgeklammert wird. Grundsätzlich gilt aber auch dort Analoges, da überall Sprachreflexion an die Bewahrung einer schriftlichen Tradition gebunden ist. Hinzu kommt, daß auch in der Frühzeit kulturelle Wechselbeziehungen selbstverständlich waren, z.B. die Rezeption der griechischen Tradition im arabischen Raum ... 124 Utz Maas ______________________________________________________________________ Jhd. in zahllosen programmatischen Schriften junggrammatischer Observanz nachzulesen ist (z.B. neuerdings wieder gerne zitiert Behaghel 1899). Ihre Analyse soll sich vom Blick auf die geschriebene Sprache frei machen. Für die empirische Umsetzung ergaben sich allerdings praktische Barrieren. Die neue Grundlagendisziplin Phonetik war, soweit sie apparativ betrieben wurde, mit einer erheblichen Einschränkung des Gegenstandsbereichs verbunden: in der Regel isolierte Worte, die unter Bedingungen einer mittelalterlichen Folterapparatur im Labor zu produzieren waren – weshalb es eine Gegenreaktion im Insistieren auf einer "Ohrenphonetik" gab (E.Sievers), die auch schon Fragen der Registerdifferenzierung nachging (sog. Satzphonetik, Reduktionsformen in Allegrosprechweise ... wie bei dem Sievers-Schüler J.Winteler u.a.). Das war die Domäne der neueren Mundartforschung und ihrem Äquivalent in der Feldforschung in exotischen Regionen, bei denen ohnehin Sprachen untersucht wurden, die nicht verschriftet waren (in den Kolonien, früh auch schon mit dem Blick auf die Diglossie jenseits der etablierten Schriftsprachen wie in der arabischen Welt (wobei der Sachverhalt im Sinne der traditionellen Registerdifferenzierung ohnehin nicht neu zu entdecken war). Im Sinne des kanonischen junggrammatischen Handwerks war dabei der methodische Horizont die Morphologie: das Wort war die genuine Domäne der Analyse, die Syntax wurde eher sekundär als Kontrolle der Vorkommensbedingungen von Wortformen verstanden. Das markierte denn auch die Trennlinie zur traditionellen Philologie, die auf die überlieferten Texte ausgerichtet war und insofern ein umfassendes sprachwissenschaftliches Gegenstandsverständnis hatte (das etwa dem entspricht, was heute "Diskursanalyse" heißt). Darauf reagierte zu Beginn des 20. Jhds. eine breite Front der Jüngeren, die sich emphatisch auch Neu-Philologen nannten und das umfassende Konzept der Stilanalyse auch für die gesprochene Sprache angingen. Gerade auch im Kielwasser der strukturalen Neuformulierung des sprachwissenschaftlichen Unternehmens in der ersten Hälfte des 20. Jhds. waren diese Fragen dominant. Das gilt z.B. für den Saussure-Schüler Charles Bally, der sich schwerpunktmäßig hier engagierte, und für dessen Arbeiten der Unterschied der "Sprache fürs Ohr" und der "Sprache fürs Auge" zentral ist. Insofern lohnt bei ihm eine neue Lektüre (etwa Bally 1932). Ähnliches gilt für die Arbeiten des Prager Linguistenkreises (Mathesius, Vachek u.a.), die ganz selbstverständlich eine strukturale Analyse als Instrument in ihrem umfassenden Versuch einer Analyse und 96 Modellierung der Sprachkultur ansahen. Ein Problem für diese frühen Arbeiten war allerdings die empirische Datenbasis: Bis neuere Dokumentationstechniken verfügbar wurden, konnten sich solche Arbeiten praktisch nur auf die Analyse inszenierter Mündlichkeit stützen. So gibt es eine ganze Reihe von deskriptiven Arbeiten seit dem Ende des 19. Jhds., die explizit die Umgangssprache im Deutschen, Italienischen, Spanischen ... auf dem Titel haben, in der Sache aber (gedruckte) Theaterstücke analysieren (etwa Wunderlich 1894, Spitzer 1922 u.a.). So eingeschränkt aber der empirische Zugang bei diesen älteren 96 Eine Bibliographie würde hier zu weit führen. Sie erübrigt sich aber auch, da sie anderswo leicht zu finden ist. Literat und orat. Grundbegriffe 125 ______________________________________________________________________ Arbeiten auch war – sie waren bestimmt von einem relativ klaren Gegenstandsverständnis, das Sprache nicht als homogenen Gegenstand hypostasierte. Insofern war es für die Altvorderen vor 100 Jahren auch selbstverständlich, daß der traditionelle Satzbegriff nicht ohne weiteres zur Beschreibung der Verhältnisse der gesprochenen Sprache taugt – sie steckten ihn denn auch dahin, woher er stammt: in die Reflexion auf schriftsprachliche (literate) Strukturen. Die disziplinäre Dynamik, mit der sich seit dem Ende des 19. Jhds. eine professionelle Sprachwissenschaft herausbildete, hat diese konzeptuelle Klarheit weitgehend wieder zugedeckt. Mit der Emphase auf einem genuinen (eigenen) Gegenstand der Sprachwissenschaft in Abgrenzung zur Philologie wurde der Blick auf die konstitutiven Bedingungen dieses Gegenstands in der Sprachpraxis zunehmend versperrt. Das war im übrigen noch weniger bei den operational verfahrenden (frühen) Strukturalisten der Fall als bei den jüngeren Spielarten: Bloomfield operierte mit der sehr viel offeneren Kategorie einer Konstruktion und nahm Satz als problematische Kategorie, die eben durch den operationalen Begriff der Konstruktion zu definieren ist (besonders deutlich Bloomfield 1926). Als mit der Generativen Grammatik die formale (zunächst ja explizit automatentheoretisch konzipierte) Modellierung in den Vordergrund rückte, wurde der Status der analysierten Sprachformen (also der Horizont der Registervariation) uninteressant: die bearbeiteten Formen wurden zu reinem Spielmaterial degradiert. Faktisch wurde auf schulgrammatische Konzepte zurückgegriffen (angefangen bei dem Grundkonzept Satz), wie ja auch die Beispiele ganz naiv einfach hingeschrieben (und dann elektronisch weiterverarbeitet) wurden. Unterschwellig trat damit eine erneute Naturalisierung des Gegenstands auf den Plan: Das schriftsprachliche (schulisch vorgegebene) Sprachverständnis wurde unter der Hand zur zweiten Natur. Eine praktische Folge davon war auch die zunehmende Subsumption der Sprachwissenschaft unter die Psychologie, die gewissermaßen eine "natürliche" Konzeptualisierung sicherstellen sollte – die sich in dem heute dominierenden kognitionswissenschaftlichen Selbstverständnis fortsetzt (bei den Chomskyanern sogar explizit als Biolinguistik reklamiert). Die theoretisch mißliche Folge davon ist, daß auf diese Weise die methodologische / theoretische Grundlagenreflexion der Tradition verdrängt wurde – und zwar gerade auch die, die eng mit den Anfängen der Kognitiven Psychologie verbunden war (s.o. zu Karl Bühler). Der sich selbst gerne auch so bezeichnende "harte Kern" der neueren Sprachwissenschaft reduziert seinen Gegenstand denn auch auf die sprachlichen Aspekte, die gewissermaßen als Software unserer biologischen (neurologischen) Hardware zu verstehen sind – er betreibt also eine enggeführte Grammatiktheorie. Gerade weil die grundlegenden Fragen bei dieser disziplinären Entwicklung ausgeblendet wurden, werden bis in die jüngsten Entwicklungen ungeklärte Prämissen mitgeschleppt. Eine solche Prämisse verbindet sich mit der prozeduralen 97 Modellierung, die die generative Tradition von Anfang an prägte. Die Plausibilität dieser Konzeption, auch in den heutigen "minimalistischen" Versionen, rührt von 97 In den Anfangsjahren der "Transformationsgrammatik" versuchte man sogar, den Zeitbedarf für die Transformationen zu messen. 126 Utz Maas ______________________________________________________________________ ihrer anschaulichen Entsprechung zur Praxis des Schulunterrichts her: der Standardaufgabe des elementaren Aufsatzunterrichts, aus einem stereotyp reihenden Text durch die Integration der einfachen Sätze in komplexe Satzgefüge einen "literaten" Text zu machen. Das grammatiktheoretische Grundkonzept ist daher die Integration von elementaren in komplexe Strukturen. Das ist auch die Argumentationslinie in (II.2.), für die auch der Begriff der syntaktischen Integration grundlegend war. Dabei ist allerdings Integration ein rein struktureller Begriff, der seinerseits in den Strukturen gründet, die eine solche Integration zulassen. Das ist zu unterscheiden von der empirischen Frage an die Sprachpraxis, wie die komplexeren Strukturen erlernt (oder in actu praktiziert) werden. Daß komplexe Strukturen nicht auf die Genese komplexer Äußerungen (also ggf. eine prozedurale Integration) reduziert werden können, von dieser vielmehr vorausgesetzt werden, war das Grundaxiom für die grammatiktheoretische Diskussion um die Wende des 19. zum 20. Jhd., auf der 98 Bühler seine Überlegungen gründete. Das Symbolfeld (nicht anders als die Saussuresche Zeichentheorie) hat keine zeitliche Dimension. Seine Strukturen entstehen im Sinne der angesprochenen Grundlagendiskussion von vor 100 Jahren nicht in einem Lernprozeß, sondern sie werden entdeckt. Insofern sind Fragen des Spracherwerbs und der Sprachpraxis (mit all ihren pathologischen Erscheinungen) von der Klärung von Strukturproblemen zu unterscheiden – und insoweit steht Chomsky in dieser Reflexionstradition. Aber auch wenn man die notorischen Probleme der skalaren Akzeptabilität von Äußerungen ausblendet, ist die Modellierung nicht auf einfache kategorische Aussagen reduziert – hier stellen sich ähnliche Probleme, wie sie auch in der gestalttheoretischen Grundlagendiskussion mit "flauen Gestalten" verhandelt wurden (werden), s. (I.5.): da die syntaktischen Strukturen in einem mehrdimensionalen Raum unterschiedlicher syntaktischer Parameter definiert sind, ist die Frage der "Integration" jenseits eines harten syntaktischen Kerns skalar zu fassen: die Integration in einen Satz kann eben auch durch (Ad-) Junktion erfolgen, ohne daß eine syntaktische Variable der Kernstruktur ausgebaut würde, wie es ja auch den Ausdifferenzierungen in (II.2.) 99 entspricht. Gibt es insoweit auch direkte Entsprechungen der hier versuchten Argumentation zu dem, was in der derzeitigen Grammatikforschung diskutiert wird, so liegt ein grundlegender Unterschied auf der Hand: die hier behandelten Fragen 98 Es ist hier nicht der Ort, diese Diskussionen im einzelnen nachzuzeichnen. Es war eine breite Diskussion, die sich (schon damals!) gegen den endemischen Psychologismus in der Sprachreflexion verwahrte. Einer der wichtigsten Vertreter war Edmund Husserl, dessen Arbeiten ihre Spuren in den verschiedenen strukturalistischen Spielarten des frühen 20. Jhds. hinterlassen haben. Auch die Saussuresche Grundlagenreflexion ist in diesem Zusammenhang zu sehen. 99 Das wird z.B. in den jüngeren Arbeiten zur Syntax des Deutschen (auch in diachroner Sicht) mit einem relativ offenen Feld mit strikter Subordination und loser Koordination diskutiert, wobei Wortstellungsfragen, klammernde Elemente (Korrelate, ana- bzw. kataphorische Elemente), unabhängige informationsstrukturelle Domänen, in der gesprochenen Sprache prosodische Strukturen u.dgl. diskutiert werden; für einen Überblick über die Diskussion s. z.B. Ehrich (2009) mit reichen Literaturverweisen. Literat und orat. Grundbegriffe 127 ______________________________________________________________________ stehen gewissermaßen quer zu dem, was in der grammatiktheoretisch orientierten Diskussion infrage steht; sie gehen von den beobachtbaren sprachlichen Praktiken aus, bei denen die formalen Ressourcen (und ihre grammatiktheoretische Modellierung) instrumentell sind. Damit gehören sie zu dem breiten Feld von empirisch orientierten, aber theoretisch kontrollierten Ansätzen, die die Dynamik des gegenwärtigen Faches bestimmen (vgl. etwa auch die neueren Arbeiten zum Codeswitchen bzw. generell zur Mehrsprachigkeit). 3. Semiotische Modellierung 3.1. Um die Wende vom 19. / 20. Jhd. gab es in Reaktion auf die positivistische Herausforderung, die die Sprache auf vor- bzw. außersprachliche Erscheinungen reduzieren wollte (nicht nur, aber insbesondere in der damals jungen experimentellen Psychologie) eine ganze Reihe theoretischer Bemühungen, die sprachwissenschaftlichen Grundlagen in einem semiotischen Bezugsrahmen zu 100 klären, wofür meist Saussure angeführt wird. Diese fachgeschichtlichen Zusammenhänge brauchen hier nicht nachgezeichnet zu werden. Hinzuweisen ist allerdings auf Karl Bühler, der mit anderen theoretischen Prämissen diese Reflexion aufrollte: denen der damals jungen kognitiven Psychologie. Sein Grundkonzept des Symbolfelds ist für die Argumentation hier grundlegend (s. schon II.1.). In seiner "Sprachtheorie" (1934) macht Bühler den damals vor allem in der Gestaltpsychologie entwickelten Feldbegriff nutzbar, der auch hinter den früheren semiotischen Reflexionen bei Saussure u.a. stand, und entwickelt das Konzept eines Symbolfeldes, das mit sprachlichen (symbolischen) Mitteln aufgespannt wird: sprachliche Handlungen nutzen dieses Symbolfeld in unterschiedlichem Maße – abhängig davon, wieweit sie kommunikativ artikuliert sind, also als Momente einer situativ bestimmten Interaktion (Bühler spricht von empraktischen Äußerungen, die auch in der Form eine Funktion der Äußerungssituation sind und daher die Strukturen des Symbolfelds nur wenig nutzen [müssen]). Bühler entwickelte diese Konzeptualisierung in einer (onto- wie phylo-) genetischen Sichtweise. Das Symbolfeld wird als eine weitere Stufe symbolischer Praxis von einer einfacheren aus gebootet: mit strukturell den gleichen Mitteln, die auch die Verweismöglichkeiten im Zeigfeld (im Umgang mit der äußeren Situation) zu bewerkstelligen erlauben: anaphorische Beziehungen operieren eben im Text (siehe oben ...) – mit den Mitteln, die eine Deixis in der Situation erlauben (diachron daher auch die plausible Herleitung von anaphorischen Pronomina, Definitheitsmarkierungen u.dgl. aus deiktischen Elementen). Die grammatischen Strukturen (Kontrollbeziehungen zwischen Sätzen) werden so verständlich als 100 Der wirkungsmächtige "Cours", den Saussures Schüler posthum veröffentlichten, zeigt die Radikalität von dessen Versuch nur sehr eingeschränkt, weil zu offensichtlich um didaktische Anschaulichkeit bemüht. Daß es Saussure um eine Modellierung von Sprache als einem Phänomen sui generis ging, wird aus seinen inzwischen wieder aufgetauchten Manuskripten ersichtlich, s. Bouquet / R.Engler (2002). 128 Utz Maas ______________________________________________________________________ Umnutzung situativ-gebundener Ressourcen (in Bühlers Redeweise von der deixis ad oculos zur deixis ad phantasma). Vor allem die Schriftsprache erlaubt es, die Potentiale des Symbolfelds ganz auszureizen, weil sie im Grenzfall den situativen Kontext der Produktion der Äußerung ganz ausblendet und damit vollständig auf die Ressourcen des Symbolfelds setzt. Der Rang von Bühlers Unternehmung ist dadurch gegeben, daß er seine Modellierung bis zur Entwicklung der einzelnen grammatischen Kategorien durchzieht – und so zu einer differenzierten Grammatiktheorie kommt, bei der Satz eben keine kommunikative Grundkategorie ist, sondern als "geschlossenes und wohlbesetztes Symbolfeld" den Extrempol sprachlicher Artikulation bezeichnet, mit dem die Potentiale der symbolischen Praxis ausgereizt werden. Daran schließt die Skizze analytischer Grundbegriffe in (II.2.) an. 3.2. Bühler entwickelte seine Überlegungen im Rahmen der frühen kognitiven Psychologie. Ein Gegenstück haben sie in den frühen Versuchen, sprachtheoretische Grundlagen aus den Erfahrungen ethnographischer Forschungspraxis zu entwickeln. Dafür steht vor allem Malinowski (1923). Bei ihm findet sich eine systematische funktionale Modellierung, bei der er verschiedene Dimensionen der Sprachpraxis trennt: die situativ eingebundene des sprachlichen Handelns (mit Bühler als empraktische Dimension zu bezeichnen) gegenüber der konzeptuellen, repräsentativen Dimension, die an die symbolische Artikulation gebunden ist. Empirische sprachliche Akte sind in dem von diesen Dimensionen aufgespannten Feld definiert: Die Pfeile deuten an, was bei Malinowski als skalare Charakterisierung angesprochen ist: bei jeder Äußerung ist es eine Frage des Mehr oder Weniger der Spezifizierung auf jeder dieser beiden Dimensionen. Entsprechend seinem Gegenstand in engerem Sinne ("primitive" = nicht-verschriftete Sprachen) kommt Schrift bei Malinowski nicht vor. Seine Überlegungen lassen sich aber generalisieren, wenn man das in den Blick nimmt, was er als Grenzfälle definiert, bei denen eine Dimension gewissermaßen auf 0 gesetzt wird: • [repräsentativ: 0] kommunikative Interaktionen, die sich in der sozialen Praxis erschöpfen, • [empraktisch: 0] sprachlich artikulierte reflexive Akte. Bei [repräsentativ: 0] betrachtet er besonders diejenigen Akte, bei denen die konkreten Handlungen durchaus eine sprachliche (konventionelle) Form haben, die Literat und orat. Grundbegriffe 129 ______________________________________________________________________ aber nicht in ihrer repräsentativen (semantischen) Funktion genutzt wird: im mehr oder weniger ritualisierten Austausch sprachlicher Formeln – von ihm phatische Kommunikation genannt. Im Bühlerschen Sinne werden bei der phatischen Kommunikation zwar Formen einer Sprache genutzt, aber deren symbolische Potentiale (die des Symbolfelds) werden nicht genutzt. Der Gegenpol [empraktisch: 0] definiert gewissermaßen den "Prototyp" literater Praktiken: mit einem Maximum auf der repräsentativen Dimension: [repräsentativ: MAX] reizen sie die Ressourcen des Symbolfelds aus. Für die jüngere sprachwissenschaftliche Diskussion ist Malinowskis Modellierung vor allem durch Roman Jakobson (1960) einflußreich geworden, der an sie (und vor allem auch an Bühler) direkt anknüpfte. Daran schließe ich in meinem Buch (2008a) explizit an, indem ich diese Modellierung als Basis für ein dynamisches Verständnis der Sprachpraxis nehme (die Dimension des Sprachausbaus): orate Strukturen sind solche, die kommunikativ gebunden sind ([empraktisch: MAX]), literate Strukturen solche, die im bühlerschen Sinne das Symbolfeld ausreizen ([repräsentativ: MAX]). Das (ausgereizte) Symbolfeld entspricht der maximalen Dezentrierung der Sprachpraxis: bei ihr löst sich die sprachliche Artikulation von der Mitteilung an ein konkretes Gegenüber (also ([empraktisch / kommunikativ: 0]). Falls man überhaupt noch an der kommunikativen Konzeptualisierung festhalten will, stellt eine literate Äußerung auf ein generalisiertes Gegenüber ab (s. I): sie kann also keine spezifischen (zwischen Sprecher und Hörer geteilten) Voraussetzungen machen – außer eben denjenigen, die mit der sprachlichen (grammatischen) Form verbunden sind. 3.3. Mit einer solchen Modellierung ist zunächst einmal ein Wechsel in der Perspektive gegenüber dem dominierenden deskriptiven Reflexionsstrang der Sprachwissenschaft verbunden: nicht die formalen Indikatoren (der gesprochenen / geschriebenen Sprache) bilden den Fixpunkt, sondern die Art der sprachlichen Praxis, die allerdings mit solchen Formen artikuliert wird – daher eben orat / literat und nicht gesprochen / geschrieben. 4. Grundbegriffe der Analyse der sprachlichen Form (Grammatik) 4.1. Auch für die Formanalyse ist an die ältere Tradition anzuschließen, die schon versuchte, allgemeine Analyse-Kategorien jenseits der Ausdifferenzierung in orat / literat zu finden, nicht zuletzt auch in dem Bemühen, die Fesseln der schulgrammatischen Begrifflichkeit abzulegen. Das gilt insbesondere für Otto 101 Jespersen, auf dessen Arbeiten ich oben schon in (II.2.) hingewiesen hatte. 101 Die schon angesprochene Anlehnung an Jespersen ist in neueren typologisch orientierten Arbeiten ein Topos. So finden sich die Kategorien Nexus und Junktion insbesondere auch bei Foley / van Valin (1984); weitergeführt in Robert van Valins Role and Reference Grammar (1997), wo diese Termini allerdings formaler gehandhabt werden: mit Junktion wird dort jede Verzweigung eines Nexusknoten bezeichnet, auch da, wo sie im semantischen Sinne nicht als 130 Utz Maas ______________________________________________________________________ Jespersen (1924, 1937) entwickelte die syntaktischen Strukturen in zwei Dimensionen: der Integration (bei ihm Nexus) und der Anreicherung (bei ihm Junktion), die denn auch in den jüngeren typologisch orientierten Arbeiten aufgenommen worden sind. Das Feld syntaktischer Strukturen bei Otto Jespersen Im europäischen typologischen Forschungskontext (weniger im US-amerikanischen bzw. englischsprachigen) ist es auch üblich, an diese Traditionen anzuschließen. Eine wichtige Arbeit hat in diesem Sinne Wolfgang Raible (1992) vorgelegt, der mit seinen Grundbegriffen Aggregation und Integration recht gut greifbar macht, was in der Mündlichkeit / Schriftlichkeits-Diskussion als orate Fragmentierung vs. literate Integration von Texten bzw. Textsegmenten ("Sätzen", s.o.) angesprochen wird – bei ihm exemplifiziert in den romanischen Sprachen (vor allem auch Kreol-Sprachen). In dem von Raible geleiteten früheren Freiburger Sonderforschungsbereich über Schriftlichkeit waren viele der sprachwissenschaftlichen Arbeiten im engeren Sinne 102 an diesen Konzepten orientiert. Diese Differenzierungen sind auf Grundstrukturen des Sprachbaus zu beziehen, die dem literaten Ausbau unterschiedliche Schranken entgegenstellen können. Pionierarbeit hat hier D.Biber mit seinem Buch (1995) geleistet, auf das oben schon hingewiesen wurde. 4.2. Die Konzeptionen von literaten Strukturen sind in der Diskussion zumeist an den klassischen Schulsprachen ausgerichtet, bei denen eine reiche / fusionierende Morphologie, die prominent auf das komplexe Wort ausgerichtet ist, mit einem tief "verschachtelnden" Satz- (bzw. Perioden-, s.o.) Bau zusammengeht. Damit werden offensichtlich große Barrieren für den Sprachausbau in den formellen Registern aufgebaut, die in vielen solcher Sprachen auch mit einer als Diglossie angesprochenen sprachsoziologischen Konstellation zusammengehen (nicht nur im Arabischen, wo das ausgiebig beschrieben ist) – in diesen Sprachen sind die Strukturen im informellen Register entsprechend sehr anders. Traditionell schon viel diskutiert (s.o. zu Bally) sind hier die Verhältnisse im Französischen, wo in der strukturalistischen Diskussion auch zwei (typologisch verschiedene) Sprachen für das informationelle Anreicherung verstanden werden kann wie z.B. bei komplexen Prädikatsstrukturen ("nuclear junction"), die ggf. lexikalisiert oder doch grammatikalisiert sein können (Kausative wie laufen lassen, Resultative wie aufmachen u.dgl.). Ich halte mich hier an Jespersens Konzept. 102 S. die von Raible seit 1987 hg. Reihe ScriptOralia (Tübingen: Narr Verlag). Literat und orat. Grundbegriffe 131 ______________________________________________________________________ gesprochene und das geschriebene Französische postuliert wurden. Bei einem anderen Sprachbau ist der Registerwechsel, d.h. der Ausbau zur Artikulation formaler, maximal integrierter und verdichteter Strukturen, offensichtlich sehr viel durchlässiger, s. oben Biber (1995) und in Maas (2008b) die Hinweise zum Mongolischen und Mandarin. 4.3. Einen neuen Ansatzpunkt bieten hier die typologischen Arbeiten zur Fundierung der grammatischen Kategorien, vor allem die Diskussion um Finitheit, die auch oben in (II.2.) zugrundegelegt wurde. Unterscheidet man semantische Finitheit, mit der eine Äußerung interpretierbar wird, von den sprachspezifischen grammatischen Markierungen der Finitheit (und damit der ebenfalls sprachspezifischen Frage, welche semantischen Bestimmungen in einer Sprache grammatisiert sind), ergeben sich ganz neue Fragestellungen auch für die Differenzierung von orat / literat. Für ostasiatische Sprachen ist es charakteristisch, daß selbständige Äußerungen im sozialen Beziehungsfeld spezifiziert werden (davon meist herausgegriffen und häufig diskutiert die Dimension der Respektmarkierungen). In Sprachen wie Chinesisch, Koreanisch, Japanisch u.a. dienen dazu mehr oder weniger agglutinierte / klitisierte Partikeln, besonders sogenannte "Satzabschlußelemente", die den selbständigen Satz markieren (im Gegensatz zu abhängigen Propositionen). Ein besonders differenziertes und strikt grammatikalisiertes System weist das Koreanische auf, das solche (Respekt-) Markierungen auf zwei Ebenen hat: auf der propositionalen Ebene als Kongruenzmarkierung von Subjekt und Prädikat (auch in der abhängigen Proposition), sowie auf der Satzebene als Markierung des Verhältnisses zum Angesprochenen (mittels eines Satzabschlußelementes, ggf. als Markierung der Integration des komplexen Satzes). Gleichzeitig ist diese Respektmarkierung dort die einzige obligatorische grammatische Markierung des Satzes (es gibt keine Personmarkierung am Prädikat und z.B. auch keine Tempusmarkierungen) – insofern kann man im Koreanischen Finitheit über die Respektmarkierung definieren. Nun sind solche Respektmarkierungen aber nur in Hinblick auf eine gegebene soziale (Gesprächs-) Situation definiert – sie sind also per definition nicht literat, weil sie nicht auf ein generalisiertes Gegenüber abstellen. Das führt zu einem Dilemma, das aus der Sicht der Literalitätsdiskussion in den europäischen Sprachen paradox erscheint: die maximale grammatische Spezifizierung in diesen Sprachen ist mit der Artikulation literater Texte unverträglich. Tatsächlich sind im literaten Koreanisch (berichtende Passagen in Tageszeitungen u.dgl.) die paradigmatischen Oppositionen bei diesen (Adressaten-) 103 Respektmarkierungen neutralisiert. Hier zeigt sich ein grundlegendes Problem, das hinter dem derzeitigen Fokus auf der Beschreibung kleiner (bedrohter) Sprachgemeinschaften sichtbar wird: die dort dominante Grammatisierung von kommunikativen Strukturen, die auch nicht den Charakter von Schaltern in der Sprachstruktur zur Verankerung ihrer Interpretation haben (s. II.2.). Die neuere typologische Diskussion erweitert durch solche 103 Das hat Yousik Moon in seiner MA Arbeit (2007) gezeigt; s. auch das dem Koreanischen gewidmete Kapitel in Biber (1995). 132 Utz Maas ______________________________________________________________________ Beschreibungen kontinuierlich ihren Horizont der möglichen Grammatisierungen – wobei die Vereinigungsmenge aller in einer dieser Sprachen grammatisierten Faktoren so etwas wie ein deskriptives Inventar für Grammatikanalysen liefert, demgegenüber die schulgrammatisch gesetzten Vorgaben zunehmend blaß aussehen. Andererseits verdeckt dieser Reichtum an potentiellen Markierungen die sortale Differenz von [± literaten] (bzw. für den literaten Ausbau nutzbaren) Kategorien. Spiegelverkehrt zeigt sich das auch in verdeckten Kategorien in europäischen Schriftsprachen, die in literaten Praktiken nicht genutzt werden (nutzbar sind), weil sie auf eine konkrete interaktive Praxis kalibriert sind. Ein Beispiel dafür ist die Kategorie des Mirativs, den ich im Maltesischen eher durch Zufall als Artikulation einer speziellen Gesprächskonstellation gefunden habe – der dort in schriftsprachlichen Texten aber nur zitiert (oder in spezifischer Stilisierung etwa in 104 Kinderbüchern) vorkommt und daher in den Grammatiken fehlt (Maas 2007). In dieser Hinsicht ist es bemerkenswert, daß es anscheinend eine Dynamik in der Sprachentwicklung gibt, die mit der gesellschaftlichen Entwicklung zunehmend Kategorien grammatisiert, die absolut (also nicht als Schalter) interpretiert werden, die aber etymologisch aus solchen Schaltern grammatikalisiert worden sind: anaphorische Markierungen aus Deiktika, absolute Tempora aus deiktischen (äußerungsgebundenen), wie z.B. spezifische narrative Tempora (Aorist) aus deiktischen – ggf. mit einer zyklischen Erneuerung der deiktischen Formen. In dieser Hinsicht ist die Forschung noch sehr in den Anfängen – nicht zuletzt weil die traditionelle Homogenisierung sprachlicher Erscheinungen hier die nötigen Differenzierungen nicht bereitstellt. 4.4. Auf dem anderen Pol der typologischen Forschung stehen die Konzeptualisierungen der syntaktischen Bindung im Satz. Ausgehend von dem Grundschema der Prädikation ist oben (II.2.) der propositionale Kern des Satzbaus definiert: als fest geknüpftes Feld von syntaktischen Bindungen, erweitert um ein lose geknüpftes Feld einer Peripherie von Adjunkten. Auf diese Struktur läßt sich auch die Semantik der Sachverhaltsdarstellung projizieren. Offensichtlich ist aber keineswegs der syntaktische Bau aller Sprachen linear auf eine entsprechend festgeknüpfte Struktur ausgerichtet. Hier hat ohnehin die neuere syntaktische Forschung zur Informationsstruktur den Analysehorizont verschoben. Die syntaktischen Bindungen (entsprechend dem Nexusfeld mit seinen Erweiterungen in Junktionen) erscheinen nur als eine Dimension der Artikulation, deren andere so etwas wie das Sichtbarmachen von Faktoren des Geäußerten ist: das kann syntaktisch 105 integrierte Konstituenten betreffen, aber auch "asyntaktische" Konstituenten. In Sprachen mit einer strikten Satzstruktur als Option erscheint das letztere zwangsläufig als orate Struktur (vgl. aber auch das marokkanische Beispiel einer Depiktiv-Konstruktion in Maas 2008b: 36 – 38 und 2008c). In anderen Sprachen sind die satzförmigen Strukturen in dieser Hinsicht sehr viel loser geknüpft, sodaß das 104 Die albanische Grammatikschreibung, die diese Kategorie kennt (dort Admirativ), tut sich entsprechend schwer damit – und beschreibt vor allem die Einschränkungen im Gebrauch. 105 S. jetzt z.B. zum Koreanischen Kwon / A.Zribi-Hertz (2008). Literat und orat. Grundbegriffe 133 ______________________________________________________________________ Symbolfeld mehr den Charakter von vorgegebenen Optionen als von zu belegenden Variablen hat. So zeigt sich die vieldiskutierte Topik- (und nicht: Subjekt-) Prominenz des Mandarin auf der Ebene der Textverknüpfung darin, daß pronominale Markierungen nur in dem Maße artikuliert werden, wie sie sich nicht aus dem Kontext erschließen lassen. Eine Folge für die Analyse ist, daß man entweder "Sätze" akzeptiert, die die semantisch anzusetzenden Argumente nicht zeigen (sie dort auch nicht in der Morphologie des Prädikatsausdrucks registrieren), oder daß man den Bau großer Perioden ansetzt, bei denen ggf. eine Kette von Propositionen in einer Art syntaktischer Klitisierung an eine voll spezifizierte "Matrixproposition" angehängt wird, in der sie sich ihre erforderlichen Argumente suchen. Hier sind noch weitere Analysen nötig, die systematisch Textstrukturen aufbereiten. Vorläufige Arbeiten (wie die Osnabrücker Arbeit von Y.Hong, s. hier Kap. 4) zeigen, daß gerade auch bei editorischen Bearbeitungen spontaner mündlicher Texte solche Strukturen nicht nur nicht explizitierend "aufgefüllt" werden, sondern ggf. sogar in diesem Sinne "redundante" Pronomina getilgt werden. Die neuere typologische Diskussion trägt solchen Fragen Rechnung, indem sie nicht direkt nach "Universalien" sucht, die eine transkulturell konstante Interpretation haben, sondern davon ausgeht, daß Sprachstrukturen als Differenzialmarkierung vor dem Hintergrund von kulturell spezifischen Defaults zu 106 verstehen sind. In diesem Sinne sind aber nicht nur orate Strukturen sprachspezifisch, sondern auch deren literater Ausbau. 4.5. Bei den jüngeren systematischen Arbeiten wird deutlich, daß die gerne als analytische Grundbegriffe genommenen Konzepte in dem oben definierten Koordinatensystem der Sprachpraxis definiert sind: Satz und Wort sind literate Kategorien, die in Hinblick auf das Maximum auf der repräsentativen Dimension definiert sind (s. oben zu Bühler, der sie in diesem Sinne im Symbolfeld verankerte) – nicht aber auf der oraten (kommunikativen) Dimension. Von hier aus steht es an, das gesamte Inventar an Beschreibungskategorien neu zu kalibrieren. Bei der empirischen Arbeit mit Aufzeichnungen gesprochener Sprache ist nicht nur Satz eine (problematische) analytische Kategorie der Makro-Segmentierung von Texten, sondern auch die Grundkategorie der Mikro-Segmentierung, das Wort. Daß es sich hier um ein Begriffsamalgam handelt, bei dem inhomogene Konzepte verquickt werden (lexikalisch-enzyklopädische Symbolisierungen vs. Textelemente, grammatische vs. phonologisch-prosodische Strukturierungen u.dgl.) ist im Grunde immer schon klar gewesen, wird aber jetzt erst in der neueren typologischen Diskussion wieder thematisch, bei der die inkongruenten Analysen mit solchen Kriterien deutlich werden, s. Dixon / Aikhenvald (2002). Hier wird dann auch ein Grundproblem gerade der funktionalistisch orientierten Ansätze in der Sprachtypologie deutlich, die nicht nur den Blick auf 106 So läßt sich die inzwischen recht umfangreiche Diskussion um das "Argument-Linking" verstehen, das ausgehend von Paul Kiparsky in jüngerer Zeit im Sinne einer strikten Markiertheitstheorie expliziert worden ist (von D.Wunderlich u.a.), s. dazu oben die Bemerkungen zu Bühler. 134 Utz Maas ______________________________________________________________________ funktionale Leistungen der grammatischen Kategorien richten (wie eben mit der Finitheitsproblematik angedeutet), sondern im radikalen Fall bemüht sind, die Strukturen darauf zu reduzieren. Dabei fällt dann leicht unter den Tisch, daß mit dem Sprachbau Strukturen stabilisiert werden, die sich unter dem Aspekt der Sprachverarbeitung als handhabbar erwiesen haben – ohne deswegen an eine semantische Transparenz (im Sinne der Grammatisierung von Kategorien der Interpretation der Äußerung) gebunden zu sein. Das ist nicht auf Fragen des Sprachausbaus beschränkt: viele grammatische Markierungen sind funktional als Parsinghilfen zu sehen – im Gegensatz zu den in schuldidaktischer Tradition meist gesuchten semantischen Motivierungen (so diskutiert z.B. Heath 1984 auch die Funktion der Nominalklassenmarkierungen im Nunggubuyu – gegen deren immer wieder versuchten semantischen Deutungen). Die Notwendigkeit solcher formaler Ressourcen potenziert sich aber in literaten Texten, insbesondere wenn die schriftliche Fixierung als "externer Speicher" genutzt wird: der Ausbau der schriftsprachlichen Syntax im Deutschen nach dem Modell des lateinischen Periodenbaus wurde im 17. Jhd. erst möglich, als mit der grammatikalisierten satzinternen Majuskelsetzung ein graphisches Strukturäquivalent zu den reichen morphologischen Kongruenzmarkierungen der lateinischen Syntax als Parsinggrundlage geschaffen war (s. Maas 2007b). Diese Dynamik prägt viel von den literaten Strukturen, die mit ihrer komplexen Explikation und zugleich Verdichtung von Inhalten die Anforderungen an die Sprachverarbeitung erhöhen. Dabei kommen letztlich kontingente 107 Sprachbauressourcen zur Geltung. In diesem Sinne sind auch die oben in den Blick gekommenen Probleme der Kohäsion komplexer syntaktischer Konstituenten zu sehen. Wie es ein Topos in der Grammatik des Lateinischen ist, ist das dort gerne an literarischen Beispielen (Horaz ... und anderen manieristischen Dichtern) vorgeführte extreme "scrambling" komplexer Konstituenten ein weitgehend literarisches Artefakt, das sich in Texten, die sich näher an der gesprochenen Sprache bewegen (z.B. bei Plautus), nicht findet. Andererseits sind solche disjunkt gestreuten komplexen Konstituenten aber gerade in rein gesprochenen Sprachen wie den australischen üblich (ausführlich dokumentiert 108 für die Pama-Nyunga-Sprachen) – und im Russischen charakterisieren sie die normativ sanktionierten Varietäten der Sprechsprache im Gegensatz zur "Hochsprache" (s.o. zu Miller / Weinert, die derartige Beispiele an gespaltenen NPs 107 Psycholinguistische Forschungen auf diesem Feld sind noch eher selten. Eine wichtige Pionierarbeit war hier Hawkins (1994), der letztlich die Äquivalenz von grammatikalisierten Abfolgebeziehungen (VSO, SVO, SOV …) für die Sprachverarbeitung nachwies (wäre die nicht gegeben, wäre ja auch kaum zu erwarten, daß solche Abfolgen in einer Sprache grammatikalisiert werden könnten); die typologischen Probleme resultieren aus der Harmonisierung der Abfolgebeziehungen in den verschiedenen grammatischen Domänen (Adpositionen, Attribuierung, adverbiale Modifikation u.dgl.). Das Auspendeln eines Sprachbautyps erfolgt offensichtlich im Sinne von monotonen (habitualisierten) Erwartungen bei der Sprachverarbeitung. 108 Wo sich allerdings die Frage stellt, ob hier eine Konstituentenanalyse mit dem Satz als syntaktisch integrierender Makroeinheit überhaupt zu rechtfertigen ist (Heath stellt das mit plausiblen Argumenten in den oben und in III.5 erwähnten Arbeiten infrage). Literat und orat. Grundbegriffe 135 ______________________________________________________________________ diskutieren). Sieht man hier genauer hin, zeigt sich, daß die in einigen Sprachen orat möglichen diskontinuierlichen Konstituenten jeweils reiche morphologische 109 Markierungen haben, die rein lokal ihre syntaktische Funktion repräsentieren. Einmal mehr erweisen sich orate Strukturen als gelernt, in Abhängigkeit von dem vorgegebenen Sprachbau: die (sprach-) spezifische Artikulation des Symbolfeldes geht eben nicht in den oben in (II.2.) entfalteten satz-syntaktischen Strukturen auf, sondern zu ihr gehört ggf. auch die (wort-) interne Syntax. 5. Forschungen jenseits der philologischen Schranken: Ethnographie der Sprachen (typologische Perspektiven: Literate Strukturen und Schriftkultur II) Unabhängig von der philologisch-grammatischen Tradition entwickelte sich im 19. Jhd. eine Forschungspraxis, die sich um eine Dokumentation kultureller Praktiken bemühte, für die vollständige Texte den selbstverständlichen Gegenstand bildeten – nicht anders als andere kulturelle Manifestationen (Werkzeuge, Rituale ...). Die Pioniere auf diesem Feld wie Franz Boas gingen ohne philologischen Ballast an dieses Unternehmen heran (Boas war von der Ausbildung her Physiker) - ihre Gegenspieler waren vor allem Missionare, die von den "primitiven" Kulturen nur das vorzeigten, 110 was sie durch die Brille ihrer Übersetzungsversuche als deformierte Sprache sahen. Dazu gehörte die Dokumentation lautlicher Strukturen, die sich den schulischen Vorstellungen von Laut und Schrift im lateinschriftlichen Alphabetsystem verweigerten (etwa bei Boas die komplexen Silbenstrukturen der von ihm früh untersuchten Sälisch-Sprachen), vor allem aber die Aufzeichnung von ethnologisch interessanten Texten und deren grammatische Analyse, die es erforderlich machte, grammatische Kategorien zu definieren, die nicht zu den lateinisch-griechischen paßten (bei Sprachen ohne grundlegende lexikalische Wortartenzerlegung wie im 109 So besonders deutlich bei den daher auch extensiv möglichen Depiktiv-Konstruktionen in den Pama-Nyunga-Sprachen, vgl. auch im Russischen nicht nur die "starke" Markierung attributiver Adjektive, sondern vor allem auch die Instrumental-Markierung der Prädikative). Demgegenüber macht die Annahme einer eigenen grammatischen Kategorie Depiktiv in den nordafrikanischen (afroasiatischen) Sprachen wenig Sinn, trotz deren reicher Morphologie, s. Maas (2008c). 110 Hier muß man allerdings differenzieren. Das gilt so vor allem für Laienmissionare – während theologisch ausgebildete über den Unterricht in den Klassischen Sprachen (wozu damals in der Regel auch Hebräisch gehörte) die selbstverständliche Erwartung hatten, daß Sprachen sehr unterschiedlich gebaut sein können. Am deutlichsten ist die "Professionalisierungsspanne" bei der vermutlich spannendsten Grammatik des 19. Jhds. überhaupt nachzuvollziehen, Kleinschmidt (1851). Kleinschmidt war als Sohn von Laienmissionaren in Grönland mehrsprachig aufgewachsen, wurde aber, um in einem dänisch verwalteten Gebiet als Apotheker arbeiten zu können, für die Ausbildung nach Deutschland geschickt, wo er zwangsläufig erst mal Latein und Griechisch lernen mußte. Der brillante typologische Abriß im Anhang zu seiner Grammatik, in dem er den ergativen Sprachbau erläutert, zeigt, wie ein solches Studium genutzt werden konnte. 136 Utz Maas ______________________________________________________________________ Nootka; mit "transkategorialen" Markierungen der grundlegenden grammatischen Dimensionen: z.B. temporal "konjugierte" nominale Konstituenten im von Boas analysierten Kwakiutl / Kwa'kwala; evidenzialen Spezifizierungen der Äußerungen statt schulgrammatische Finitheitskategorien u.dgl.). Da es diesen Altvorderen (Boas, Sapir & Co.) darum ging, in einem Sprachmuseum den untersuchten Gemeinschaften zu einem symbolischen Recht zu verhelfen, stand im Vordergrund immer die Dokumentation praktizierter Sprache – sie betrieben vorrangig die Publikation von Textsammlungen. Der systematische Fluchtpunkt war hier zwangsläufig die Syntax der gesprochenen Sprache – mit ihren Registervariationen im Feld zeremonialer Texte, alltagspraktischer Texte in Erklärungen von Techniken, Gerätschaften, aber auch elementaren Formen der Kommunikation u.dgl. Dafür gab Boas auch ein explizites Forschungsprogramm 111 vor. Als Schranke für die Dokumentation wie die Analyse fungierte damals allerdings die Aufnahmetechnik: zugrunde liegen diesen Beschreibungen Texte, die den Sprachforschern diktiert wurden – also in einer mehr oder weniger formisolierenden Lento-Diktion, die zwangsläufig in Richtung eines formelleren Registers geht. Zwar gibt es schon vor der Wende des 19. / 20. Jhds. Tonaufnahmen – aber die aufwendige und extrem anstrengende Technik (Sprechen / Singen in einen großen Trichter, Aufnahmen auf zeitlich begrenzten Wachswalzen u.dgl.) machten nur eine relativ künstliche Sprache zugänglich (i.d.R. wurden so auch nur zeremoniale Gesänge u.dgl. registriert). Diese Schranken waren den Altvorderen aber bewußt: Boas, Sapir & Co. bildeten ihre wichtigsten Gewährsleute (bei Boas: George Hunt, Ella Deloria u.a.) so aus, daß diese selbst ihre Texte verschrifteten (und z.T. auch eigene Analysen durchführten). Aber ein solches Verschriften bringt zwangsläufig eine Verschiebung in ein formelles Register mit sich, das der (physischen und kognitiven) Anstrengung beim Schreiben entspricht. Dergleichen wird zwar schon früh diskutiert, ist aber erst in den letzten Jahren systematischer reflektiert worden (s. vor allem Silverstein / Urban, 1996). In diesem Sinne ist es aufschlußreich (und auch noch nicht gemacht!), die Verschriftung dieser "nativen" Feldforscher in den frühen Projekten (z.B. Ella Deloria, George Hunt u.a. bei Franz Boas) unter solchen Aspekten systematisch zu untersuchen. Heute leben wir in technischer Hinsicht in einer ganz anderen Welt (jedenfalls sollten SprachwissenschaftlerInnen es tun!): Tonbandaufnahmen sind möglich, ohne 111 S. insbesondere Boas (1911). Sieht man genauer hin, zeigt sich dann aber auch hier, daß die philologische Sprachreflexion nur mit Schaden zu überspringen war. Als Boas von seiner ersten Forschungsexpedition auf die Baffin-Inseln 1885/86 zurückkam, holte er sich bei dem erfahrenen dänischen Eskimoforscher Hinrich Rink Hilfe für die Analyse schwieriger Textpassagen (Rink war im übrigen auch kein Philologe, sondern wie Boas physikalischer Geograph). Der wies ihn darauf hin, daß die von Boas aufgezeichneten Gesänge in ein zeremoniales Register gehören, bei dem auch die Sänger / Hörer den Wortlaut nicht notwendig verstehen ... – und daß man für einen Zugang zur Sprache bei den trivialeren Alltagspraktiken ansetzen sollte. NB: Genaueres zu diesen fachgeschichtlichen Zusammenhängen in den jeweiligen Artikeln, etwa zu Boas, Sapir, Spitzer u.a. in Maas (2010) und auch Maas (2009b). Literat und orat. Grundbegriffe 137 ______________________________________________________________________ groß mit der sozialen Situation zu interferieren (man kann seinen Gewährsleuten das 112 Aufnahmegerät mitgeben, ohne die Situation als Fremder zu verzerren u.dgl.). Als 113 SprachwissenschaftlerInnen leben wir heute in der Welt der Sprachdokumentation. Und so lassen sich heute diese Fragen systematisch explorieren. Die entsprechenden Beobachtungen machen zwangsläufig alle Feldforscher, die mit ihren Gewährsleuten nicht nur in Form von Abfragen zu einem vorgegebenen Fragebogen arbeiten – aber ein systematisches begriffliches Raster für diese Analyse fehlt noch, das die Verschriftung nicht nur als negativen Filter für den Reichtum der gesprochenen 114 Sprache betrachtet, sondern als einen genuinen Forschungsgegenstand. Immerhin liegen inzwischen eine Reihe von Beschreibungen / Analysen vor, die die in die Beobachtungsdaten eingeschriebenen Registerstrukturen systematisch in den Blick nehmen und so die Grundlagendiskussion weiterbringen. Der entscheidende Punkt ist es dabei, Anhaltspunkte zu haben, die von literaten Strukturen unabhängig sind – das spricht eben dagegen, schon in der Beschreibung mit amalgamierten Konzepten wie den "kommunikativen Minimaleinheiten" zu operieren, die z.B. in neueren germanistischen Arbeiten zugrundegelegt werden, die Äquivalenzklassen von (grammatisch integrierten) Sätzen und anderen Äußerungen 115 definieren sollen. Statt dessen bietet es sich an, mit prosodischen Gliederungen zu operieren, wie es auch Chafe in seinen Arbeiten mit der Grundeinheit der Segmentierung in Intonationseinheiten tut (s.o. II.4.2.). Zu den wenigen Arbeiten, die ich kenne, die in dieser Hinsicht konsequent vorgehen, gehört die Arbeit von Tao (1996), die aus dem Chafeschen Umfeld stammt. Tao gleicht seine prosodisch ausgegliederten Einheiten sekundär mit ihrer grammatischen Binnenstruktur (und der eventuellen grammatischen Bindung an den Kontext) ab – und findet in seinen stark interaktiv strukturierten Gesprächsaufzeichnungen erwartungsgemäß nur eine geringe Passung: es handelt sich dort um orate Strukturen, eben keine literaten. Aus typologischer Sicht bleibt anzumerken, daß solche Arbeiten bisher vor allem aus Sprachen vorliegen, die eine 112 So habe ich selbst auch Aufnahmen von Gesprächen unter Frauen im marokkanischen Hinterland, die Männern, nicht nur fremden Feldforschern, grundsätzlich verschlossen sind. 113 S. dazu jetzt Gippert u.a. (2006). Dazu insbes. auch die Arbeiten im Rahmen des Forschungsschwerpunktes "Dokumentation bedrohter Sprachen" (DobeS) bei der VolkswagenStiftung, Hannover, seit 2002, s. http://www.volkswagenstiftung.de/foerderung/ . Die Dokumentation (der Aufbau eines Archivs) erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Max Planck Institut für Psycholinguistik, Nijmegen, unter der Leitung einer internationalen Forschungsgruppe (derzeitiger Vorsitz: Prof. Dr. Ulrike Mosel, Kiel), s. http:///www.mpi.nl/DOBES. 114 Bei der DGfS-Tagung im März 2009 in Osnabrück hielt Marianne Mithun einen faszinierenden Vortrag über "kleine" Formen in ihren indianischen Aufnahmen, die die Sprecher auch schon bei der Wiederholung einer Passage für die Forscherin weglassen. Sie konnte zeigen, welche Fülle an Funktionen Partikeln wie das von ihr extensiv behandelte né(né) haben können. Dabei wurde sehr deutlich, daß diese immer auf die konkrete Sprechsituation bzw. den Gesprächspartner kalibriert sind – und daher eben in einer förmlichen Situation mit der Forscherin keinen Sinn machen. Als Analysedimension hatte sie diesen Aspekt nicht vorgesehen … 115 S. z.B. Zifonun u.a (1997); vgl. auch oben den Hinweis auf die neue DUDEN-Ausgabe und Schwitalla (1996). 138 Utz Maas ______________________________________________________________________ geringe morphologische Komplexität haben – wozu in gewisser Weise auch das 116 Englische gehört. Wie wenig es aber bringt, hier mit einer holistischen Typologie zu operieren, 117 machen die Arbeiten von Heath zu australischen Sprachen deutlich. Aus dem Blickwinkel unserer Schulsprachen (und den damit verbundenen literat ausgerichteten Konzepten) erscheinen die in diesen Sprachen beobachtbaren Textstrukturen als äußerst fragmentiert. Zusammengehalten werden sie durch semantische Indikatoren, auf der Basis von relativ differenzierten morphologischen Markierungen der Wortformen (Kasusmorphologie), die gewissermaßen lokal wortgruppenübergreifende Zusammenhänge kodieren. Ein grammatischer Satzfilter besteht hier nicht: definiert man eine literate Textstruktur durch ihre Zerlegbarkeit in Sätze, handelt es sich hier nicht um literate Strukturen. 5.1. Arbeiten wie die von Heath (oder die von Chafe, s.o.) zeichnen sich dadurch aus, daß sie die verschiedenen deskriptiven Ebenen als unabhängig behandeln: die Segmentierung eines Textes unabhängig von der Kategorisierung des so Segmentierten, und damit insbesondere auch spezifische Indikatoren mündlicher Sprache wie die Prosodie gegenüber medial indifferenten grammatischen Strukturierungen. Die australischen Sprachen weisen eine reiche Morphologie auf, die es insbesondere erlaubt, Wörter zu isolieren und syntaktisch zu Wortgruppen zu bündeln. Aber solche Gruppierungen sind nicht (notwendig) auf eine Makrostruktur Satz ausgerichtet. Auf der lexikalischen Ebene findet sich in diesen Sprachen zumeist eine morphologisch eindeutig kodierte Zerlegung in Elemente, die den prädikativen Kern einer Proposition bilden können und die daher in der Regel als Verben klassifiziert werden: sie binden durch Klitisierung (pronominale) Aktantenmarkierungen zusammen mit "satzmodalen" Spezifizierungen (s. Teil II). Weitere deskriptive Elemente stehen aber neben solchen, u.U. recht komplexen Ausdrücken, wobei die (ko-) referenziellen Verhältnisse zumeist nur durch semantische Defaults bestimmt sind – und bei komplexeren Texten u.U. auch 118 Ein reiches System von (nominalen) verwirrende Ambiguitäten lassen. Klassenmarkierungen erlaubt es allerdings, zwischen appositiven (nominalen) Ausdrücken das Verhältnis von sekundären Prädikationen zu etablieren, womit vor allem eine Textperspektive von Vorder- und Hintergrund aufgespannt werden kann – aber es gibt keine syntaktische Homogenisierung der so gereihten Ausdrücke als Verkettung von Sätzen. Auf der deskriptiven Ebene operiert Heath denn auch mit der Kategorie von Wortfolgen (string), die er prosodisch segmentiert – ähnlich wie Chafes Intonationseinheiten. 116 S. dazu die ausführliche Darstellung in Biber (1999). Ein Beispiel dafür ist Heath (1978) und (1984). In dem letzteren findet sich eine detaillierte Textanalyse, S. 589 – 619 (der analysierte Text findet sich in Heath 1980: 108 - 118); s. auch zu dem hier besonders interessierenden Problem Heath (1985). Damit sind die oben angeführten Arbeiten zum Seneca von Walace Chafe zu vergleichen. 118 S. z.B. die konträren Interpretationen bei dem von Heath 1984 ausführlich analysierten Mythos und anderen Deutungen, s. Heath 1980: 118. 117 Literat und orat. Grundbegriffe 139 ______________________________________________________________________ Es ist deutlich, daß die traditionelle Satzkonzeption, die den Satz als eine unabhängig interpretierbare Äußerung versteht, die eine Stellungnahme ermöglicht, hier nicht weiterhilft: dieses Kriterium trifft auch auf viele der von Heath isolierten strings zu. Der typologische Unterschied, der hier auf dem Spiel steht, ist auf der Ebene der formalen Strukturierung definiert: die Vorgabe eines formalen Filters für die Zerlegung eines Textes in Makrostrukturen, an die (in kulturspezifischer Setzung) die Artikulation der Indikatoren für eine solche Interpretation gebunden ist (auf der Ebene des Symbolfeldes) – das ist es, was mit dem literaten Satzbegriff gefaßt wird und was umgekehrt aber auch Satz zu einer literaten Kategorie macht, die nur in einem entsprechenden (förmlichen) Register als Filter fungiert. Insofern ist es bemerkenswert, daß das von Heath verglichene archaischere Ngandi in dieser Hinsicht grammatischer ist, u.a. mit einem spezialisierten Subjunktionsmarker (=ga, der allerdings nur eine fakultative Ressource ist), als das diachron gesehen weiterentwickelte (und heute noch relativ lebendige und expandierende) Nunggubuyu. Das spricht dafür, daß in diesen Sprachgemeinschaften jedenfalls für die indigenen Sprachen kein Bedarf an derartigen literaten Strukturen besteht. Das charakterisiert eben das Register, in dem diese Sprachen genutzt werden: wo die Notwendigkeit zu einer literaten Artikulation besteht, wird dort eben Englisch 119 genutzt. Trotz der weitgehenden Zweisprachigkeit spielt hier offensichtlich auch keine Notwendigkeit zum Transfer von Strukturen des Englischen zu den indigenen 120 Sprachen herein. Faktisch ist es so, daß auch da, wo die grammatischen Ressourcen zu einer syntaktischen Integration vorhanden sind, sie von den Sprechern dazu nicht genutzt werden, die sich ihrer allerdings für die Profilierung von Hintergrund / Vordergrund einer Erzählung u.dgl. zu bedienen wissen. 5.2. Da diese Fragen in der typologischen (oder auch deskriptiven) Forschung bisher keinen systematischen Stellenwert haben, müssen solche Überlegungen weitgehend spekulativ bleiben bzw. können nur als Hypothesen entwickelt werden. Dabei sind die oben eingeführten Registerdifferenzierungen in Rechnung zu stellen. Oben in (2.4) wurde die Grundunterscheidung orater vs. literater Strukturen durch die Bindung an die Interaktion (bzw. die Freisetzung davon) eingeführt. Das entspricht der Schwelle von den informellen zum formellen Register. Orate Strukturen sind in interaktiven Konstellationen insofern auch bei "exotischen" Sprachen zu erwarten. Anders ist es im förmlichen Register: bei zeremonialen Texten oder auch bei der 119 Dafür spricht auch der Abbau weiterer potentiell desambiguierender grammatischer Markierungen, etwa die Neutralisierung der Kasusdifferenzierung Rektus / Obliquus im Nunggubuyu im Gegensatz zum Ngandi, das sie aufweist (wie die meisten australischen Sprachen, die sie meist noch weiter ausdifferenzieren). 120 Hier sind offensichtlich genauere empirische Analysen erforderlich. Das gilt insbesondere für die Sprachgemeinschaften, die in dieser Hinsicht weniger fossiliert sind, wo Schreiben extensiv genutzt wird (z.B. durch Schreibwettbewerbe wie bei den Pitjantjatjara, Hinweise von H.Bowe), in bilingualen Erziehungsprojekten, auch in Übersetzungen, bei denen die Angemessenheit an die Sprachstrukturen zu fortlaufenden Revisionen führt u.dgl. Systematisch analysiert werden müssen in dieser Hinsicht auch die Strukturen von interaktiv produzierten Texten mit solchen, die quasi monologisch in zeremonialen Kontexten produziert wurden u.dgl. 140 Utz Maas ______________________________________________________________________ Reproduktion von Mythen wie in dem von Heath im Nunggubuyu analysierten Text. Wenn auch hier keine literaten Strukturen vorliegen, weil offensichtlich auch diese Texte in Hinblick auf einen sehr spezifischen Horizont mit seinen die Interpretation steuernden Erwartungen und kulturspezifischen Vorannahmen artikuliert sind, zeigt sich die Kategorie des Literaten an Strukturen des Sprachausbaus gebunden, die in diesen sozialen Konstellationen nicht gegeben sind. Hier können nur entsprechende empirische Forschungen weiterführen. Es ist offensichtlich, daß wir für die Typologie ein sehr viel größeres Spektrum an sprachbaudifferenten Fällen brauchen; dabei ist es auch nötig, Sprachen mit einer reichen fusionierenden Morphologie zu untersuchen (nicht agglutinierenden wie bei den australischen Sprachen), mit prominent im Lexikon verankerten syntaktischen 121 sortalen Formatierungen (Wortarten) u.dgl. Vor allem aber müssen solche Analysen in eine Rekonstruktion der jeweils zugrundeliegenden Registerarchitektur eingebettet werden. Grammatische Strukturen können in gewisser Weise (genetisch) als Habitualisierung von Strategien zur Artikulation von Äußerungen verstanden werden, literate Strukturen als solche der festen Knüpfung von Äußerungen / Texten. Die Zusammenhänge mit den kulturellen Randbedingungen der Sprachpraxis sind hier allerdings sehr komplex und machen eine einfache Korrelation nicht möglich. Die Syntax des Chinesischen zeigt ausgesprochen lose geknüpfte Strukturen – und schriftsprachliche Editionen gesprochener (orater) Texte ändern daran nicht viel: sie eliminieren vor allem die lokalen Kodierungen von Verweisungszusammenhängen, auf die Hörer in der "on-line"-Verarbeitung angewiesen sind (so der Befund der Arbeit von Y.Hong, s. Kap. 4). Die gleiche Charakterisierung von (literaten) Texten im Chinesischen und (oraten) Texten im Nunggubuyu verweist darauf, daß eine mehrdimensionale Modellierung erforderlich ist. Systematische Forschungen, die solche Fragestellungen aufnehmen, stehen noch aus. In der typologisch orientierten Forschung zu schriftkulturellen Fragen nehmen daher Forscher wie Chafe eine prominente Stellung ein, der wenigstens auf der Ebene der gesprochenen Sprache systematischer die Differenz von interaktiv produzierten gegenüber zeremonialen Texten untersucht hat – und insofern eine analytische Ausgangsbasis für die Rekonstruktion der Differenz von oraten gegenüber literaten Strukturen gewonnen hat. 121 Heath hat seine entsprechenden Forschungen (jeweils mit detailliert auch prosodisch annotierten Texten) inzwischen auf typologisch anders ausgerichtete Sprachen ausgedehnt: so u.a. auf das Twareg mit reicher Morphologie (2005), oder auch auf eine Niger-Kongo Sprache in Mali (2008), bei der prosodische Strukturen auf der Äußerungsebene mit Tonstrukturen auf der lexikalischen Ebene interferieren. Ich selbst bin seit einiger Zeit dabei, dergleichen für das marokkanische Arabische zu tun – auf der Basis eines großen Corpus auch von spontanen Gesprächsaufzeichnungen. Das ist insbesondere auch die Zielsetzung des oben schon erwähnten gemeinsamen Forschungsprojekts mit dem Kollegen S.Procházka (Wien), finanziert mit Mitteln des österreichischen FWF, das auch den Rahmen für studentische Arbeitsvorhaben bieten soll. Literat und orat. Grundbegriffe 141 ______________________________________________________________________ 5.3. Vor dem Hintergrund dieser Forschungslage ist es nicht erstaunlich, daß diese 122 Fragen in der Sprachtypologie noch sehr wenig exploriert sind. Vor allem die Handbuchdarstellungen sind noch weitgehend geprägt von der Vorstellung homogener Sprachen (sie blenden die Registerdifferenzierung der Sprachpraxis aus). Erst in jüngerer Zeit wird beim "Sampling" auch der Faktor [± verschriftete] Sprachen berücksichtigt (ohne in der Regel daraus aber schon methodische Konsequenzen zu ziehen). In den Projekten zur Sprachdokumentation ist dieser Faktor zwar in gewisser (negativer) Weise im Vordergrund – er spielt aber in Hinblick auf die dabei in der Regel dokumentierten Sprachen keine große Rolle. Die bisher ausführlichste Arbeit in diesem Feld stammt von Miller und Weinert (1998, vgl. auch Miller / Fernandez-Vest 2006). Bei ihnen werden detailliert Daten aus Corpora gesprochener Sprache (vor allem Englisch, Russisch, Deutsch) diskutiert, kontrastiert mit Hinweisen auf andere Sprachen (z.B. auch australische). Im einzelnen sind die Analysen durchaus weiterführend – aber eine systematische Modellierung fehlt auch hier aus den angesprochenen Gründen: auch bei ihnen ist von dem Gegensatz von gesprochener vs. geschriebener Sprache die Rede. Einer systematischen Modellierung steht dort vor allem die fehlende Unterscheidung von normativen und funktionalen Strukturen entgehen: den Gegenpol zum Oraten bilden dort schriftsprachliche Strukturen, die, wie es bei ihnen explizit heißt: von der normativen (Schul-) Grammatik zugelassen sind – und entsprechend erscheinen orate Strukturen natürlich und daher universal. Das sind zwar weitgehend obiter dicta in diesem ausgesprochen materialreichen Buch – sie machen aber die theoretischen Defizite umso deutlicher. Universal sind nicht die oraten Strukturen selbst, sondern allenfalls die Bedingungen, unter denen sie sich ausbilden: als spezifische Formen des Umgangs mit den (sprachspezifischen) Ressourcen des Symbolfelds. Auch orate Strukturen sind immer gelernte Strukturen – und insofern eben auch selbst sprachspezifisch. Das machen im übrigen auch die Detailanalysen bei Miller / Weinert sehr deutlich: wenn sie z.B. in ihrem Kap. 4 am Beispiel von "gespaltenen" NPs im gesprochenen Russischen im Vergleich mit dem Englischen (oder auch Deutschen) zeigen, daß dort die "starke" Adjektivflexion die syntaktischen Potentiale einer (sekundären) Prädikation in einem solchen Ausmaß hat (im etymologischen Sinne: bewahrt hat), daß sie problemlos als Prädikate in einer eigenen oraten Äußerungseinheit fungieren können. Das ist ein Beispiel dafür, daß orate Strukturen sich als (allerdings eingeschränkte) Nutzung des Symbolfelds erweisen. 5.4. Die literate Dimension hat auf der Strukturseite ein Gegenstück in der Grammatisierung von interpretativen Kategorien, wodurch diese in der Form verankert werden – und damit aber auch zu überschüssigen Kategorisierungen führen (obligatorische grammatische Markierungen, wie etwa die temporale Spezifizierung beim finiten Verb im Deutschen, müssen auch da vorgenommen 122 Zu den jüngeren typologischen Arbeiten in diesem Feld, inbes. auch zur Einbeziehung prosodischer Analysen, s. Himmelmann (2000); Schultze-Berndt (2002). 142 Utz Maas ______________________________________________________________________ 123 werden, wo sie semantisch sinnlos sind); pragmatischer gebaute Sprachen ersparen sich diese Probleme. Insofern besteht eben eine Bindung des Sprachbaus an die kulturelle Praxis: die schriftkulturelle Basis der gesellschaftlichen Reproduktion ist eine Randbedingung von Grammatisierungsprozessen. Wo die schriftkulturelle Basis fehlt, etabliert sich auch kein entsprechend differenziertes grammatisches (literates) System. 6. Corpuslinguistik vs. Grammatik der gesprochenen Sprache Seitdem es computergestützt die Möglichkeit zur Bearbeitung von Großcorpora gibt, hat sich die Forschungskonstellation hier grundlegend geändert. Auch hier war die erste Phase von den materiellen Randbedingungen her definiert – die maschinenlesbaren Texte wurden zusammengefaßt und ausgewertet (vor allem die so verfügbaren Zeitungen u.dgl.). Nicht in vergleichbarer Weise vorgegeben sind Corpora gesprochener Sprache, die zu diesem Zweck erst erstellt werden müssen. 124 Anfänge gibt es seit dem Ende des zweiten Weltkriegs. Inzwischen gibt es für alle 125 größeren Sprachen solche Corpora und auch ein entsprechendes Analysewerkzeug. Ergebnis einer systematischen Auswertung ist hier, daß der medialen Differenz von geschrieben / gesprochen keine strukturale (i.s. von literat / orat) entspricht. Das verlangt eben ein sehr viel differenzierteres Raster, für das die medialen Faktoren nur eine Variable sein können. In deskriptiver Hinsicht hat hier Douglas Biber 126 Pionierarbeit geleistet (einflußreich war sein oben schon erwähntes Buch 1988). Bei ihm geht es um die Operationalisierung von Variablen, die in eine automatische Textanalyse überführt werden kann. Insofern findet sich bei ihm keine direkte Modellierung von literat / orat, wie sie oben avisiert wurde – wohl aber eine deskriptiv sehr reiche Differenzierung, die eine Reduktion vermeiden hilft. Demgegenüber schreiben die meisten sprachwissenschaftlich ambitionierten Arbeiten in diesem Feld die in Abschnitt 2 skizzierte Entwicklungslinie fort und bemühen sich um eine mehr oder weniger induktiv entwickelte Isolierung der 127 gesprochenen Sprache als eigenem Gegenstandsbereich. 123 Eine präsentische Spezifizierung des Verbs wie bei die Erde ist rund erlaubt eben nicht die Frage: wann ist die Erde rund? 124 Eine Pionierrolle hatte Fries (1952), auf der Basis von 50 Std. aufgenommener Telefongespräche. 125 S. jetzt das neue Handbuch Corpuslinguistik 2 Bde., Berlin: de Gruyter 2008; D.Biber u.a. Corpus linguistics, Cambridge: Cambridge univ. pr. 1998. 126 Instruktiv ist insbesondere auch sein Versuch, auf der Basis einer solchen Differenzierung eine systematische Beschreibung des Englischen vorzulegen, s. seine oben schon erwähnte Grammatik von 1999. 127 Zum Deutschen jetzt etwa Fiehler (2006); s. auch Schwitalla (1997); sowie den älteren Literaturüberblick: Hoffmann (1998). Zum Französischen etwa noch Blanche-Benveniste u.a. (1990). Literat und orat. Grundbegriffe 143 ______________________________________________________________________ Tatsächlich ist auf diese Weise inzwischen eine beachtliche Menge von Beobachtungen zur gesprochenen Sprache zusammengetragen – was aber von einer theoretischen Modellierung zu unterscheiden ist. 7. Ausblick Die deskriptive Sprachwissenschaft steht weiterhin vor dem Problem, sich von den Fesseln der schulgrammatischen Vorgaben zu lösen. Deren normative Ausrichtung zwingt dazu, von literaten Strukturen (Sätzen!) auszugehen und in oraten Strukturen deren Reduktion (unvollständige Realisierung u.dgl.) zu sehen. Die verbreitete Reaktion auf diese schulgrammatische Hypothek der sprachwissenschaftlichen Tradition besteht im Fach darin, die Frage des literaten Ausbaus zu verdrängen und spiegelverkehrt zu dieser traditionellen Sicht in oraten Strukturen das "Natürliche" und damit das für die Sprachwissenschaft allein zu Untersuchende zu sehen. Demgegenüber muß es darum gehen, die Registerdifferenzierung der Sprachpraxis in die theoretische Modellierung hineinzunehmen, in deren mehrdimensionalem Raum orat und literat als idealtypische Konzepte definiert sind. Wie bei allen Strukturen handelt es sich um ideale Objekte (so wie die Mathematik es mit idealen Objekten zu tun hat) – sie gehören zur Analyse – nicht zum Analysierten. Orate oder literate Strukturen sind nicht in der Anschauung zu finden (im Gegensatz zu den Indikatoren, mit denen die Analyse gesprochener und geschriebener Sprache arbeitet, s. I.2.). Aber Sprachstrukturen (wie orat und literat) weisen eine Familienbeziehung auf, die das Feld des Sprachausbaus ausmacht. Die empirische Aufgabe besteht darin, solche (idealen) Konzeptualisierungen bei der Analyse des in einer Sprachgemeinschaft Beobachtbaren zu nutzen – um dieses in seiner Besonderheit maximal zur Geltung zu bringen (was Foley 2003 eine dichte Beschreibung genannt hat). Das hat nun methodische Konsequenzen. In der Sprachwissenschaft geht es im professionellen Sinne (also im Sinne der wissenschaftlichen Arbeitsteilung mit den anderen Disziplinen) darum, einen Ansatzpunkt bei der sprachlichen Form zu finden, die als Faktor der sprachlichen Praxis in sprachwissenschaftlichen Modellierungen im Vordergrund steht. Das gilt selbstverständlich auch bei einem auf Sprachpraxis erweiterten Gegenstandskonzept. Wie auch die umfangreiche neuere Forschung im Feld der gesprochenen Sprache zeigt, liegt der Schlüssel hier bei dem Satzbegriff. Hier lohnt sich eine Neulektüre der Altvorderen, die im Horizont einer selbstverständlich in Rechnung gestellten Registerdifferenzierung der Sprachpraxis nach Möglichkeiten zur strukturalen Kontrolle der Analyse suchten. In dieser Tradition steht letztlich vor allem die Familie von Ansätzen, die unter "funktionalistisch" laufen, mit der auch das hier skizzierte Forschungsprogramm vieles gemeinsam hat. Dieses Feld ist in den fachgeschichtlichen Anmerkungen in III nicht systematisch berücksichtigt – es zu bibliographieren, ginge über den Rahmen hier hinaus, ist aber wohl auch nicht nötig. Der Hinweis soll genügen, daß eine Auseinandersetzung mit dieser Forschungstradition, in der die Registerdifferenzierung selbstverständlich ist, sich lohnt: gerade weil hier zumeist 144 Utz Maas ______________________________________________________________________ spiegelverkehrt zu den strukturalen ("formalistischen") Ansätzen die Autonomie des 128 Symbolfeldes ignoriert wird. Andererseits zeichnet sich gerade auch in umfassenden Referenzwerken der modernen Schulsprachen durch die Hereinnahme solcher Fragen ein eklektisches Vorgehen ab, das einerseits solchen Überlegungen Rechnung zu tragen versucht, andererseits doch an der schulgrammatischen Tradition festhält. Praktisch führt das dazu, daß die konkreten Analysen so eher schwammig werden, s. (III.6.) für Hinweise auf diese dominierende Linie in der germanistischen Forschung zur gesprochenen Sprache. Auf der theoretischen Seite des Fachs gehen die Blockierungen durch die "biolinguistische" Engführung der neueren Sprachwissenschaft im übrigen weit über deren harten (generativistischen) Kern hinaus. Zwar werden in jüngster Zeit zunehmend deskriptive Arbeiten in eine ethnographische (oder auch soziologische) Analyse der beschriebenen Gemeinschaften eingebettet, aber die Prämissen der sprachwissenschaftlichen Arbeit im engeren Sinne bleiben davon unberührt. Das gilt sogar da, wo ausdrücklich die Dynamik sprachlicher Systeme in den Blick genommen wird, wie bei der aktuellen Diskussion um sprachliche Komplexität, die 129 auf formale Indikatoren ausgerichtet bleibt. Hier ist eine radikale Änderung der Blickrichtung erforderlich. Sprachstrukturen sind zu beschreiben in Hinblick auf die damit ermöglichte sprachliche Praxis: Sind die Äußerungen nur lose geknüpft, mit lokal kodierten Indikatoren, die den Hörern im Rückgriff auf ihr außersprachliches Wissen eine Interpretation ermöglichen, oder sind sie mit grammatischen Strukturelementen fest geknüpft, sodaß die Interpretation an die Form, nicht aber auch in Hinblick auf die Textorganisation an außersprachliches Wissen gebunden ist. Nur wenn solche Fragen als Bestandteil der Analyse gesehen werden, ist hier weiterzukommen – und vor allem auch der Anschluß an die Forschungen in anderen Disziplinen zu finden, die schriftkulturelle Fragestellungen verfolgen, dabei aber, wie es der disziplinspezifische methodische Zugang vorgibt, solche strukturanalytischen 130 Fragen ausblenden bzw. überspringen. Wenn für die Sprachwissenschaft bisher 128 Eine genauere Lektüre z.B. von Talmy Givón kann hier aufschlußreich sein, der bei seinen Überlegungen immer auch die Registervariation im Blick hat und seine deskriptiv intendierten Vorgaben mit den unterschiedlichen Anforderungen an die sprachliche Praxis (eben auch der Differenz orat / literat) abzugleichen versucht hat, s. etwa Givón (1979), und dann ausführlich in Givón (2001). 129 S. z.B. Sampson u.a. (2009). In diesem Band bzw. der darin präsentierten Diskussion ist auch eine gekürzte Fassung meines Beitrags in GLS 2008 enthalten. Spuren in den anderen Beiträgen hat er nicht hinterlassen – die dominierende Frage dort ist einerseits die Modellierung der Sprachentwicklung als selbstorganisierendes System, andererseits der regressive Blick auf einfache Sozialformen (ohne konstitutive Schriftkultur), der Grundstrukturen der Sprache sichtbar machen soll. Die Diskussion mit Vertretern dieser Ansätze läuft schnell ins Leere, weil unter deren Prämissen eben auch Sprachen wie das Nunggubuyu mit ihrem reichen morphologischen Inventar als "komplex" beschrieben werden – jenseits der oben mit Rückgriff auf die Arbeiten von Heath deutlich gemachten oraten Grundstrukturen. 130 Darauf regieren nicht zuletzt mehrere auf schriftkulturelle Fragen ausgerichtete Sonderforschungsbereiche der DFG wie z.B. der inzwischen ausgelaufene, oben schon erwähnte Freiburger, der sich explizit in das Spannungsfeld von Schrift als einer erweiterten Literat und orat. Grundbegriffe 145 ______________________________________________________________________ nur festzustellen ist, daß die Dimension des literaten Sprachausbaus im Fach noch systematisch zu erschließen bleibt, dann markiert das auch ein systematisches wissenschaftspolitisches Defizit. 8. Literatur Ágel, V. & Hennig, M. (Hgg.) (2006). Grammatik aus Nähe und Distanz. Tübingen: Niemeyer. Anderson, Benedict (1983). Imagined communities. London: Verso. Auer, Peter (2000). On-line-Syntax – oder: was es bedeuten könnte, die Zeitlichkeit der mündlichen Sprache ernst zu nehmen. Sprache und Literatur, 85, 43-56. Bally, Charles (1932). Linguistique générale et linguistique française. Bern: Francke (Neubearbeitung 1965). Beckemeyer, Rita & Tophinke, Doris (1986). Eine empirische Untersuchung zu den schriftsprachlichen Leistungen türkischer Schulkinder. In Rita Beckemeyer u.a. (Hgg.), Narrative Kompetenz. 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