Literat und orat. Grundbegriffe der Analyse

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Literat und orat. Grundbegriffe der Analyse
Grazer Linguistische Studien 73 (Frühjahr 2010); S. 21-150
Literat und orat. Grundbegriffe der
Analyse geschriebener und
gesprochener Sprache
Utz Maas
Universität Graz
Vorbemerkung ..............................................................................................................................23
TEIL I – HEURISTIK: INFORMELLE KLÄRUNG.................................................................23
1. Heuristische Vorüberlegung: die alltagsnahe Begrifflichkeit .........................................23
2. Erste Annäherung an eine Modellierung: die kommunikative Begrifflichkeit vs.
Schulgrammatik ...........................................................................................................................25
3. Die funktionale Betrachtung - Registerarchitektur ..........................................................37
4. Register / Textsorten / Literarische Sprache ......................................................................42
5. Funktionale vs. normative Analyse: literate vs. "gute" Sprache ....................................48
6. Sprachausbau I: die ontogenetische Perspektive (und didaktische Konsequenzen) ..54
7. Sprachausbau II: Typologische Perspektiven - Literate Strukturen und
Schriftkultur I................................................................................................................................65
8. Zwischenfazit: (vorläufige) Definition des Literaten .......................................................69
TEIL II – ELEMENTE EINER FORMALEN MODELLIERUNG.........................................71
1. Literate Strukturen als Strukturen des Symbolfelds.........................................................71
2. Formstrukturen: die syntaktische Basis für die Analyse orater und literater
Strukturen (Satz als Grundkategorie) ......................................................................................78
2.1. Proposition und Nexus...................................................................................................78
2.2. Propositionale Ausbauformen (Adjunkte) .................................................................83
2.3. Komplexe Propositionen I: Satzgefüge .......................................................................84
2.4. Junktion I: Koordination ................................................................................................86
2.5. Junktion II: Attribution ..................................................................................................86
2.6. Das Segmentierungsproblem: propositionale und Satzgrenzen ............................87
2.7. Komplexe Propositionen II: Nominalisierte Prädikationen....................................89
2.8. Komplexe Prädikate........................................................................................................90
3. Literate Strukturen und propositionaler Ausbau ..............................................................92
3.1. Literat als skalare Kategorie..........................................................................................92
3.2. Die Differenzierung des Modells .................................................................................93
3.3. Literate Strukturen jenseits der Satzförmigkeit? ......................................................93
3.4. Das Lexikon......................................................................................................................94
3.5. Grammatik vs. Konventionalisierung.........................................................................95
4. Kommunikative Analyse: Der Gegenpol zum Literaten: orate Strukturen.................97
4.1. Kommunikation vs. Artikulation im Symbolfeld.....................................................97
4.2. Empirische Analysen zu oraten Strukturen ..............................................................98
4.3. Orate Strukturen als Reduktion der sprachlichen Artikulation? ........................117
5. Der literate Ausbau: vorläufiges Fazit...............................................................................118
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Utz Maas
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TEIL III – HISTORISCHE ANMERKUNGEN...................................................................... 120
1. Fachgeschichtliche Anmerkung zu den Vorgaben der Tradition................................ 120
2. Die institutionalisierte Sprachreflexion............................................................................ 122
3. Semiotische Modellierung ................................................................................................... 127
4. Grundbegriffe der Analyse der sprachlichen Form (Grammatik) .............................. 129
5. Forschungen jenseits der philologischen Schranken: Ethnographie der Sprachen
(typologische Perspektiven: Literate Strukturen und Schriftkultur II)........................... 135
6. Corpuslinguistik vs. Grammatik der gesprochenen Sprache ....................................... 142
7. Ausblick................................................................................................................................... 143
8. Literatur................................................................................................................................... 145
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Vorbemerkung
Teil I dient einer konzeptuellen Klärung der Differenzierungen, die mit dem
Begriffspaar literat / orat gefaßt werden. Teil II entwickelt ein deskriptives Raster für
die Analyse von Äußerungen in den Polen literat / orat, wobei die Kategorie Satz als
1
Basis literater Strukturen näher bestimmt werden muß. Teil III stellt diese
Überlegungen in einen fachgeschichtlichen Zusammenhang, vor allem auch in
Hinblick auf die Blockierungen gegenüber diesen Fragen im Fach.
TEIL I – HEURISTIK: INFORMELLE KLÄRUNG
1. Heuristische Vorüberlegung: die alltagsnahe
Begrifflichkeit
Geschriebene Sprache ist (bis auf den professionellen Sonderfall phonetischer
Transkription) keine Abbildung gesprochener Sprache. Das muß man nicht erst
wissenschaftlich entdecken, sondern gehört zu dem sprachlichen Wissen, das in
unserer Gesellschaft unwillkürlich erworben wird. Kinder bringen es in der Regel in
die Schule mit, und zwar auch Kinder aus sog. bildungsfernen Elternhäusern, wie ein
Beispiel zeigt, das ich seit 20 Jahren immer wieder gerne anführe (P = mündlicher
2
Text, S = schriftlicher Text):
1P
S
2P
S
3P
S
4P
S
1
un d̥a maɪnə ˈmʊtɐ ʊnt maɪnə ˈʃvɛstɐ
und dann ist meine (korr. aus Meine) Mutter und meine Schwester
diː vɑːn ˈglaʊb ɪç bɪs ʊm ˈtsvœlf
bis (gestr. um) 12.00 Uhr geblieben.
ʊnt maɪnə ˈfɑːtɐ diː vɑː bɪs ˈtsvaɪ
Und meine Vater war bis 2.00 Uhr
diː hat nɔχ ˈdʁakula gəˈkʊkt
und der hat Dracola gekuckt.
Zur Illustration der elementaren Argumentation nehme ich weitgehend die Beispiele aus dem
Deutschen, die ich auch in den einführenden Lehrveranstaltungen genutzt habe (aus leicht
zugänglichen Werken wie Kallmeyer 1994, Stock 1996), in Hinblick auf typologische Fragen
ergänzt vor allem durch Beispiele aus den in diesem Rahmen entstandenen Abschlußarbeiten.
Systematischer werden diese Dinge auf der Grundlage des laufenden Forschungsprojekts zum
marokkanischen Arabischen entwickelt werden, das ich gemeinsam mit meinem Wiener
Kollegen Stephan Procházka durchführe (gefördert durch den österreichsichen FWF, Projekt
Nummer P 21722-G20); dort werden insbesondere auch spontane Gespräche von analphabeten
Sprechern ausgewertet.
2
Aus einer studentischen Arbeit im Rahmen der seinerzeitigen Osnabrücker
Deutschlehrerausbildung, Beckemeyer / Tophinke (1986).
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Die Schreiberin, ein 10jähriges türkisches Mädchen (Tülay), hatte ihren zuvor frei
3
produzierten Text vom Tonband abgehört und dann verschriftet. Dabei hat sie ihn
offensichtlich ediert: die Bearbeitung eines Textes beginnt in solchen Fällen schon
beim Abhören, das bereits eine Segmentierung des Gehörten in Hinblick auf die
schriftlich auszugliedernden Einheiten vornimmt: beim Abhören werden in der Regel
Textsequenzen des Gesprochenen segmentiert, die Kandidaten für Sätze im
Schriftlichen sind. Der mündliche Text ist in prosodisch abgegrenzte und integrierte
Textblöcke (Intonationseinheiten), gegliedert, die jeweils um eine informationell
reiche (lexikalische) Texteinheit gruppiert werden (markiert durch %):
%und da meine Mutter und meine Schwester% die waren <glaub ich> bis um
zwölf% und meine Vater% die war bis zwei% die hat noch Dracula gekuckt%
In diesem Fall ist die spezifisch mündliche Gliederung in prosodische Einheiten
kongruent mit der in informationellen Einheiten (Informationseinheiten), die aber in
Hinblick auf die zugrundeliegenden Kriterien als Gliederungsstrukturen unabhängig
sind. Dabei können in beiden Dimensionen, der prosodischen (phonologischen) wie
der interpretierenden (informationellen) die Ausgliederungen feinkörniger sein:
Informationseinheiten können minimal sein (aus einem Wort bestehen) oder wie hier
komplexer sein: |Mutter & Schwester| und |Dracula-kucken|. Insofern verlangt die
Begrifflichkeit noch eine genauere Klärung.
Der schriftliche Text integriert die Einheiten des mündlichen in kompakte
syntaktische Strukturen (Sätze). Dabei wird der reihende syntagmatische Aufbau im
Mündlichen durch hierarchische Strukturierungen "überschrieben", hier besonders
deutlich durch die Rahmenstellung des komplexen Prädikats (schriftlich ist ...
geblieben vs. mündlich waren). Elemente der mündlichen Textgliederung wie das
reihende und (3) fallen weg, ebenso wie lokal markierte Textverweise, die einen
Zusammenhang herstellen (etwa noch in (4)).
Hinter solchen formalen Editionsprozessen steht offensichtlich eine andere
Ausrichtung der sprachlichen Praxis im Sprechen gegenüber dem Umgang mit der
Schrift, der sich nicht auf die Praxis des (Auf-) Schreibens beschränkt, das
gewissermaßen das mündlich Produzierte nur graphisch repräsentiert (transkribiert).
Bei ihrer Edition richtet Tülay den vorher einer Zuhörerin erzählten Text auf einen
anderen Horizont als den des Gesprächs aus: der schriftliche Text hat kein solches
konkretes Gegenüber mehr, und insofern werden die Orientierungsmarkierungen für
den Hörer getilgt, wie z.B. die sog. Topikalisierung durch die Linksherausstellung
4
und Markierung mit einem nachgestellten Quasi-Artikel (Mein Vater, die war...).
3
Mit einem solchen Untersuchungsverfahren sind seit über 20 Jahren an der Universität
Osnabrück Seminar – und Abschlußarbeiten entstanden, die zum erheblichen Teil auch die
empirische Grundlage für diese Überlegungen liefern. Die letzte "Kohorte" dieser Arbeiten ist
im Laufe des Jahres 2009 als MA-Abschlußarbeiten schon auf der Grundlage einer früheren
Fassung dieses Textes entstanden (auf sie verweise ich auch gelegentlich im Folgenden): Dunst
(2009) , Hong (2010), Nyamaa (2009), Propp (2009).
4
Daß von der Schreiberin hier die statt mit der hochdeutschen Genuskongruenz der verwendet
wird, spiegelt die bei türkischen Lernern des Deutschen häufige Neutralisierung der
Genusopposition im Deutschen, die es im Türkischen nicht gibt.
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Ebenso ist es bei allen anderen Elementen, die nur in einer situierten
Gesprächssituation mit einem konkreten Gegenüber Sinn machen: auch Partikeln wie
noch stellen auf den Erwartungshorizont eines Zuhörers ab und werden von Tülay
getilgt, nicht anders als modulierende Elemente, die ihre Einstellung artikulieren (wie
glaub ich). Der entscheidende Punkt ist hier nicht das Schreiben, an das solche
Veränderungen gebunden wären, sondern der zugeschaltete Horizont des Lesens für
den produzierten Text: anders als beim Transkribieren geht es um ein Schreiben für
einen Leser, der sich einen Reim auf das Geschriebene machen soll.
Im Folgenden soll es darum gehen, das in Praktiken wie der von Tülay ins Werk
gesetzte sprachliche Wissen systematischer zu explizieren. Das verlangt die
Abklärung der begrifflichen Grundlagen für eine solche Modellierung (das ist Ziel
von Teil I). In Teil II werden die Grundstrukturen für eine beschreibende Analyse
definiert: mit einer Dimension literat des Sprachausbaus und komplementär dazu zu
oraten Strukturen in der Kommunikation. Die besonderen Probleme einer
typologisch orientierten Analyse kommen schon in Teil I zur Sprache (Kap. 4); die
Abklärung der methodischen Schritte in Teil II erfolgt dann vorwiegend mit Bezug
auf das Deutsche, da so die Prämissen der Argumentation transparenter sind. In Teil
III folgt ein Abriß des wissenschaftlichen Hintergrundes für eine solche Modellierung
(nicht nur der sprachwissenschaftlichen Fachgeschichte i.e.S.).
2. Erste Annäherung an eine Modellierung: die
kommunikative Begrifflichkeit vs.
Schulgrammatik
2.1. Wie das Beispiel in (1.) zeigt, sind Differenzierungen über die medial faßbaren
Unterschiede von gesprochener und geschriebener Sprache hinaus in
Alltagspraktiken solide verankert. Darauf zielt auch die institutionelle
Sprachreflexion seit der Antike, deren Horizont ohnehin durch die Schule als primär
auf die Schriftaneignung ausgerichtetem Ort bestimmt war (s. dazu III.1.). Die neuere
Sprachwissenschaft arbeitet sich zwangsläufig an dieser Vorgabe ab, zunehmend
auch mit dem Bemühen, von einer rein negativ definierten Abgrenzung von den
schulgrammatischen Vorgaben loszukommen und einen archimedischen Punkt für
einen eigenständigen Ansatz zu finden. Dafür steht seit 50 Jahren das, was vor allem
im Rahmen der Generativen Grammatik Chomskys eine kognitionswissenschaftliche
Modellierung genannt wird. Diese bildet auch den Horizont für das Folgende, der
aber nicht auf die spezifischen Annahmen der neueren Grammatiktheorie beschränkt
ist. Vielmehr wird hier das aufgenommen, was bereits zu Beginn des 20. Jhds. mit
einer breiten wissenschaftstheoretischen Neuorientierung einsetzte, zu der die
Phänomenologie (Husserl) und die verschiedenen Spielarten der "Denkpsychologie"
(insbesondere die Gestaltpsychologie) gehörten – die damalige strukturalistische
Reartikulation der Sprachwissenschaft war nur eine Version dieser Neuformierung
(s. III.3.). Konstitutiv für diese Modellierung ist es, Sprachstrukturen als etwas
grundsätzlich ("ontologisch") Anderes zu verstehen gegenüber den materiellen
(sinnlichen) Formen, in denen wir sie erfahren – oder in anderer Perspektive: in
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denen wir sie praktizieren. Für ein strukturales Verständnis von Sprache (da
unterscheiden sich Saussure und Chomsky nicht) ist diese nicht an die Materialität
von Sprechen oder Schreiben (bzw. Hören oder Lesen) gebunden: diese setzen
vielmehr Sprache voraus. Das ist strikt zu trennen von der Frage, wie Sprache
empirisch gegeben ist (anders gesagt: wie sie gelernt wird): hier ist in der Ontogenese
(im nicht-pathologischen Fall) das Sprechen primär (und vor dem Sprechen: das
Kommunizieren, das soziale Interagieren ...).
In einer groben Vereinfachung ist also bei jeder Art der Modellierung von zwei
5
begrifflichen Reihen auszugehen:
Diese Unterscheidung ist in der vortheoretischen Begrifflichkeit nicht deutlich,
weshalb hier terminologische Präzisierungen nötig sind, in speziellen Fall also
empirisch: mündlich / schriftlich
analytisch: orat / literat
Ein grundlegendes Problem ist es immer, wie theoretische Begriffe zu verstehen sind.
Um zirkulärer Argumentation vorzubeugen, behandle ich sie hier als Größen eigener
Ordnung. Das ist davon zu unterscheiden, wie sie in der beobachtbaren Welt
verankert werden können, bzw. wie ihr empirisches Gegenstück in die Welt kommt,
also im Fall der Sprache: wie diese gelernt wird. In unserer Kultur ist der erweiterte
Sprachausbau gebunden an den Erwerb der Schrift (an das Lernen, mit Schrift
umzugehen). Von daher auch die terminologische Festlegung: ausgebaute Strukturen
werden als literate Strukturen bezeichnet (< lat. lit(t)era "Buchstabe").
2.2. Aber auch die strukturelle Analyse amalgamiert noch recht Verschiedenes:
Praxisformen sowohl wie Eigenschaften, die sich an den Spuren der Praxis ablesen
lassen (an ihrer Objektivierung in Texten wie bei sprachlichen Handlungen). Auf der
Seite der Sprachpraxis ist die kommunikative Dimension grundlegend – jedenfalls in
der Ontogenese: das Kind erwirbt Sprache in der Kommunikation. Jede Art von
sprachlicher Handlung ist sozial verankert, kann insofern auch auf ihre
kommunikativen Aspekte abgeklopft werden. Von diesem grundlegenden
Kommunikationskonzept muß ein spezifischer Kommunikationsbegriff unterschieden
werden: die interaktive Kommunikation. Im Folgenden benutze ich Kommunikation
(bzw. kommunikativ) in diesem eingeschränkten Sinne - hier liegt die gleiche
begriffliche Unterbestimmtheit wie bei vielen Dimensionsbegriffen vor, vgl. etwa
5
Den Terminus der Artikulation benutze ich hier in dem weiten (und systematischen) Sinne
der älteren Begrifflichkeit im Gegensatz zu der sprachwissenschaftlich meist üblichen
Einschränkung auf artikulatorische Phonetik u.dgl., s. dazu III.1.
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Größe als (skalare) Dimension und groß als Wert auf dieser Dimension (auf die Frage
wie groß ist Hans? (groß ~ Dimension) kann die Antwort sein: er ist klein (klein /
groß als Werte auf der Dimension).
Ausgehend von dieser Differenzierung läßt sich eine literate Praxis als nicht
(dominant) kommunikativ ausgerichtet verstehen, wie es bei Tülays Editionen in
dem Beispiel oben deutlich wird. Als Gegenpol zu kommunikativ kann Darstellung
6
verwendet werden, also die Dominanz des mit den Äußerungen Ausgedrückten,
schematisch also:
Eine schriftsprachliche Edition, wie sie auch von Tülay ins Werk gesetzt wird, ist
nicht kommunikativ. Sie optimiert die sprachliche Form in Hinblick auf die
Darstellung des Inhalts. Sie erfolgt unter dem Aspekt, daß es kein Gegenüber mehr
gibt, das man kennt / sieht, keine gemeinsame Situation, in der man erzählt, keine
begründeten Annahmen darüber, was der andere weiß. Im Gegensatz zu den oraten
Strukturen im frei erzählten Text operiert ihre schriftliche Edition mit literaten
Strukturen.
Es ist offensichtlich, daß mediale Aspekte eine Rolle spielen. In einer
schriftsprachlichen Fixierung stehen spezifisch mündliche Ressourcen zur
Vereindeutung unbestimmter Ausdrucksweisen nicht zu Verfügung: die Prosodie,
parasprachliche Markierungen bzw. nonverbale Ausdrucksmittel in Mimik und
7
Gestik u.dgl., die in einer situierten kommunikativen Praxis genutzt werden.
Werden orate Texte in schriftlicher Form präsentiert, schafft man ihre Interpretation
nur, wenn man sie sich vorliest – sie also medial ins Mündliche überführt und dabei
entsprechende Markierungen einführt. Insofern gehören Strukturierungsmittel, die an
das mündliche Medium gebunden sind (wie auch parasprachliche und nonverbale
Mittel, die an die interaktive Konstellation von Angesicht-zu-Angesicht gebunden
sind) definitionsgemäß nicht zum Literaten. Für die literate Edition ist das
Herausfiltern solcher Momente eine Art Basislinie – zu unterscheiden von den
spezifischen literaten Strukturen.
6
Darstellung ist in dieser Hinsicht der traditionell schon verwendete Begriff, letztlich so schon
in der antiken griechischen Sprachreflexion, griech. apophasis (bei Aristoteles der logos
apophantikos, gebildet mit logos, dem medial unspezifischen Terminus für einen sprachlichen
Ausdruck); auch Bühler benutzt diesen Terminus, s.u. in III.1 zu den historischen
Zusammenhängen.
7
Entsprechend einem mehr technischen Umgang mit diesen Termini unterscheide ich hier und
im Folgenden zwischen nonverbalen Ausdrucksmitteln (Mimik, Gestik u.dgl.) und
parasprachlichen, die die formalen sprachlichen Strukturen überlagern (Stimmlage,
"lautmalerische" Differenzierungen, sprachliche Mimikry u.dgl., die etwa bei einer akustischen
Analyse von den sprachstrukturellen Indikatoren physikalisch nicht getrennt sind).
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2.3. Ein Problem für eine systematische Modellierung besteht darin, daß solche
Unterscheidungen immer schon zum festen Bestand der Schule (Sprachdidaktik)
gehört haben. Aus dieser stammt aber auch eine aporetische Konstellation, die in die
jüngere Sprachtheorie vererbt ist. Entsprechend der primären Ausrichtung der Schule
auf die Schriftkultur wird hier die Schriftsprache als primär gesetzt: Sprache wird
durch die schriftsprachlich gesetzte elaborierte Form definiert (also auch eng
gekoppelt an normative Vorgaben), denen gegenüber die alltäglich beobachtbare
gesprochene Sprache als minderwertige, reduzierte Form erscheint: im
Unterrichtskontext als Quelle von Fehlern und insofern zu unterbinden – bei einer
etwas systematischeren Reflexion als Resultante von kommunikativen Zwängen, die
die ideale Form vorgeblich nicht erreichbar machen (so in der jüngeren
Reflexionstradition der Generativen Grammatik als "Performanz"-Probleme
verbucht). Dem steht nun der für die moderne Volksschulpädagogik grundlegende
Gedanke von den natürlichen Faktoren als den primären gegenüber. Das Prädikat
natürlich kommt in diesem Sinne nur der gesprochenen Sprache zu, der gegenüber
die Schriftsprache (mit ihrer Dominanz von Normen, am greifbarsten in der
Orthographie) als künstlich und daher sekundär erscheint. In der Didaktik drückt
sich das z.B. in der paradoxen Maxime des "Schreib, wie du sprichst!" aus.
Es ist offensichtlich, daß beide Aspekte, die hier aporetisch verknüpft
erscheinen, an schulisch Anschaulichem abgelesen sind. In dem Maße, wie das
schulisch Ansozialisierte aber zur zweiten Natur wird, erscheinen diese Denkfiguren
selbstverständlich – die auch bei Sprachwissenschaftlern zumeist nur in der
Anschauung der Beobachtungsdaten eine Bestätigung finden. In der neueren
Sprachwissenschaft, in erheblichem Maße definiert durch einen anti-schulischen
Affekt (s. auch III), wird denn auch Schriftsprachliches strukturell vor allem negativ
definiert: in einer kommunikativen Betrachtung durch das Fehlen einer interaktiven
Rückkoppelung, einer situativen Vergewisserung; auf der materialen Seite durch das
Fehlen der expressiven Elemente des Sprechens: parasprachliche Ausdrucksformen
(ggf. auch verlängert in der grammatikalisierten Prosodie), das Fehlen non-verbaler
Formen (Mimik, Gestik, Körperhaltung) u.dgl. Die Einführung einer formalen
Terminologie: literat vs. orat, die an ihre analytische Definition gebunden ist, soll
helfen, diesem begrifflichen Dilemma zu entkommen.
2.4. Orat und literat sind insofern strukturelle Konzepte. Das widerspricht nicht ihrer
genetischen Herleitung aus dem Umgang mit materiellen Bedingungen der
sprachlichen Praxis, durch die solche Strukturierungen möglich werden. Diese
Zusammenhänge stehen bei der jüngeren empirischen Forschung auch im
Vordergrund – wobei das Problem auftritt, daß sie damit u.U. auch an die Stelle einer
begrifflichen Klärung treten können. Geht man im Sinne der neueren
kognitionswissenschaftlichen Konzeptualisierung von den kognitiven Anforderungen
und Reaktionen auf eine extern definierte Problemkonstellation aus (versteht man
kognitive Leistungen als Lösungen von Aufgaben, ggf. aufgrund ihrer
Habitualisierung in Lösungsmustern), unterscheidet sich schriftliche Praxis von einer
(nur) mündlichen durch die Verfügbarkeit eines externen Speichers, der die
Sprachverarbeitung beim Lesen entlastet (und auch dem Schreiber für seine
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Selbstkontrolle zugänglich ist) – während der Hörer seine Strukturierung notwendig
on-line im quantitativ extrem beschränkten Arbeitsspeicher vornehmen muß. Im
Standardfall "scannt" der (kompetente) Leser einen Text in der zweidimensionalen
Fläche des Blattes, auf dem er geschrieben / gedruckt ist – während der Hörer nur
auf die Formen zugreifen kann, die er im Arbeitsspeicher vorhält (was schon bei
längeren Sätzen Probleme bereiten kann).
Umgekehrt beschränken die gleichen materiellen Bedingungen auch die
Sprachproduktion: jedenfalls bei kommunikativ produzierten Äußerungen, die ein
Management der Sprechsituation implizieren, bei denen der Sprecher seine
Redeposition behaupten muß, muß die Sprachplanung synchron mit der
Sprachproduktion verlaufen – wo Probleme auftreten, die ein Mehr an Planungszeit
erfordern, müssen die dadurch zwangsläufig entstehenden Pausen überbrückt
werden (durch die vielen ähm u.ä. in der gesprochen Sprache, die dem Zeitgewinn
dienen, ggf. auch durch die Produktion einer Art sprachlicher Makulatur ohne
weiteren Informationsgehalt, die dem gleichen Ziel dient). Schon für komplexe
literate Satzkonstruktionen reicht den Sprechern oft die verfügbare on-line
Planungszeit nicht, was häufig Konstruktionsbrüche zur Folge hat. Schriftliche Texte
haben demgegenüber in der Regel keine solche on-line Bindung: die vielfältigen
Editionsvorgänge sind in der ggf. allein sichtbaren Reinschrift unsichtbar geworden
(bzw. bei den jetzt üblichen korrigierten Versionen eines computer-produzierten
Textes).
Es liegt auf der Hand, daß die spezifischen oraten bzw. literaten Strukturen auf
den Umgang mit diesen Möglichkeiten bzw. auch Beschränkungen zurückgehen. Sie
können aber nicht darauf reduziert werden, weil sie ihnen gegenüber die Autonomie
von gelernten Strukturen haben, die eben auch von Sprache zu Sprache verschieden
sind. Das definiert sie eben als Zeichenstrukturen – was in Teil II durch das
Bühlersche Konzept des Symbolfelds weiter expliziert wird.
2.5. Die mediale Ebene verdeckt eine grundlegende Differenz im sozialen Horizont
der beiden Praktiken. Mündliche Äußerungen sind im Regelfall an ein Gegenüber
gerichtet, das sich als Hörer einen Reim auf sie machen muß. Wieweit das gelingt, ist
in der interaktiven Kommunikation für den Sprecher mehr oder weniger direkt
nachvollziehbar und als Kontrollinstanz für seine Artikulation der Äußerung nutzbar
– das charakterisiert eben orate Strukturen. Allerdings ist das mündliche Medium als
solches auch nicht kommunikativ beschränkt: bei einer Rede oder einem Vortrag vor
einem großen Publikum ist die interaktive Rückmeldung nur noch sehr
eingeschränkt. Entsprechend der offenen Adressierung stellt dabei dann auch die
Form nur noch marginal (beschränkt auf rhetorische Versatzstücke) auf interaktive
Reaktionen ab. Dem entspricht auch ein Gefälle bei der strukturalen Artikulation: mit
zunehmender Allgemeinheit der Adressierung wird auch in mündlichen Praktiken
die Artikulation zunehmend literater.
Bei schriftlichen Praktiken kehrt sich dieses Verhältnis um: nur in
Ausnahmefällen sind diese in direkte Interaktionen eingebunden (etwa, wenn
Sitznachbarn im Unterricht mit herübergeschobenen Zetteln heimlich
kommunizieren o.dgl. – und in solchen Fällen zeigen die schriftlichen Mitteilungen in
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der Regel auch keine literaten Strukturen). Die Unterscheidung von orat / literat ist
also sozial fundiert – im sozialen Horizont der jeweiligen sprachlichen Praxis. Das
wird von den meisten Arbeiten auf diesem Feld unterschlagen, die gewissermaßen
einen monadischen Ansatzpunkt beim Sprecher (und spiegelverkehrt dann auch:
beim Schreiber) suchen. Die grundlegenden Klärungen sind schon in der ersten
Hälfte des 20. Jhds. erfolgt, insbesondere durch Karl Bühler (1934), auf den ich im
Folgenden immer zurückgreife. Bühlers immer zitiertes Organonmodell hatte nicht
(wie es irreführender Weise meist heißt) eine kommunikative Grundlegung der
Sprachreflexion zum Ziel, sondern eben die Abklärung der verschiedenen
Dimensionen und die Verdeutlichung von deren Nichtreduzierbarkeit, vgl. Bühler
(1934: 28), schematisiert:
Die spezifisch kommunikative (interaktive) Konstellation hat die Sprachpraxis mit
nonverbaler Interaktion gemeinsam – ontogenetisch wird sie von dieser aus auch
gebootet (s.u.). Aber sprachlich ist sie nur, weil sie eine Form hat (durch Zeichen
artikuliert wird), die sich weder auf den Ausdruck von Befindlichkeiten des "Senders"
(Sprecher / Schreibers) reduzieren lassen, noch auf die interaktiv ausgelösten
Reaktionen beim "Empfänger" (Hörer / Leser). Diese Form ist der Interaktion
vorgängig – für das die Sprache lernende Kind ist sie schon da: bei den anderen, den
Bezugspersonen, mit denen es interagiert. Als vorgegebene, sozial definierte Form
wird sie in der Sprachpraxis reproduziert – gewissermaßen mit den auszudrückenden
Befindlichkeiten beim Sender aufgeladen, und dann vom Empfänger als Reaktion auf
das so Präsentierte verarbeitet. Die kommunikativen Strukturen bleiben
selbstverständlich auch in der symbolischen Praxis vorhanden – und sind u.U. sogar
bestimmend; aber sie erklären diese nicht.
Diese symbolvermittelte Grundstruktur der Sprachpraxis wird durch die
Ressourcen der Schriftsprache weiter entfaltet. Im Gegensatz zur Adressierung an
einen Hörer in der interaktiven Kommunikation erfolgt die Adressierung an einen
Leser in einem virtuellen kommunikativen Raum: die Grundmaxime für die
Artikulation schriftlicher Texte läßt sich als: schreib, wie du gelesen werden willst!
explizieren. Da das Lesen vom Schreiber aber im Regelfall nicht kontrolliert werden
kann (seine interaktive Nutzung ist eine Ausnahme, s.o.), steht das Schreiben im
Regelfall in einem offenen Raum unterschiedlichster Lesekontexte. Kommunikative
schriftliche Praktiken (der Brief an einen engen Freund z.B.) schränken diesen Raum
ein, lassen beim Leser bestimmte Einstellungen und Vorwissen erwarten – sie
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repräsentieren insofern auch nicht den Idealtypus des Literaten. Die literate
Artikulation ist also skalar: der Idealtypus minimiert diese Erwartungen – mit ihm
sind nur die strukturellen Faktoren der Artikulation vorausgesetzt, nicht aber darüber
hinausgehende spezifische Erwartungen. Das gilt insofern unabhängig von dem
Medium: will man bei der üblichen Redeweise von einer Kommunikation bleiben, so
adressieren literat artikulierte Texte einen generalisierten Anderen und keine
konkrete Person (kein Gegenüber) – unabhängig davon, ob im mündlichen oder im
8
schriftlichen Medium. Daraus folgt im übrigen auch, daß eine Analyse literater
Strukturen (also denen, die auch die editorische Praxis von Tülay in Abschnitt 1
bestimmt haben) nicht mit einer Analyse der Schreibprozesse gleichgesetzt werden
können: deren genaue Beschreibung, wie sie in der letzten Zeit vor allem auch mit
den sophistizierten Techniken der Auswertung von elektronisch erstellten
Schreibprotokollen (beim Schreiben am Computer) unternommen werden, blenden
9
diese soziale Formbestimmung des Literaten aus.
2.6. Die Dimension literater / orater Artikulation wurde oben in Hinblick auf den
Unterschied von gesprochener und geschriebener Sprache eingeführt, der auch im
Weiteren im Vordergrund steht. Sie ist aber nicht darauf beschränkt, sondern
grundsätzlich unabhängig von dem Medium, in dem sie erfolgt. Das wird noch
deutlicher, wenn man die Verhältnisse in der nativen Gebärdensprache betrachtet,
10
bei denen weder Lautliches noch Schrift im Blick sind. Grundsätzlich ist davon
auszugehen, daß (native) Gebärdensprache unter den gleichen kognitiven
Bedingungen praktiziert wird, die auch die Lautsprache bestimmen (bzw.
beschränken), daß sie aber aufgrund der anderen medialen Voraussetzungen
(Artikulation im dreidimensionalen Raum) dazu ein anderes strukturelles Design
entwickelt. Das unterscheidet auch native Gebärdensprachen von den aus der
Lautsprache übersetzten gebärdenden Hilfssprachen, mit denen sich "Lautsprachler"
ein Verständigungsmittel mit Taubstummen geschaffen haben: die funktionale
Äquivalenz zur Lautsprache (und auch zur Schriftsprache) geht hier nur bis zu den
unabhängig interpretierbaren Äußerungseinheiten ("Sätze"), während die syntaktisch
feinkörnigeren Gliederungen inkongruent sind, wobei die lautsprachlich sequenziell
(durch funktionale Wörter bzw. Morpheme) repräsentierten Strukturelemente in der
Regel als Modifikation der Zeichen im dreidimensionalen Raum des Gebärdens
11
artikuliert werden. So benötigen native Gebärder für "Sätze" im Durchschnitt die
8
Diese Argumentation greift zurück auf Grundbegriffe des symbolischen Interaktionismus,
wie er in der Tradition von George Herbert Mead entwickelt wird (grundlegend dessen postum
veröffentlichte Vorlesung "Mind, self, and society", 1934).
9
Weiter unten werde ich darauf zurückkommen. Ein Beispiel dafür ist Strömqvist (2004).
10
Einen gewissen Einblick in diese Fragen verdanke ich Gesprächen mit Ronnie Wilbur und
schließlich Andrea Lackner, die dazu in Seminaren in Graz Materialien aus ihrem
Dissertationsprojekt vorgestellt hat. Die folgenden Bemerkungen sind nur als Überlegungen
für künftige Untersuchungen zu verstehen, ausgehend von ersten Arbeiten, die Ronnie Wilbur
schon unternommen hat.
11
Für eine systematische Darstellung s. z.B. Liddell (2003); speziell zu den strukturellen
Differenzen zwischen nativer und sekundärer Gebärdensprache (am Beispiel der American
Sign Language vs. Signed English), s. Wilbur (2000). Die in letzter Zeit häufig zu findende
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gleiche Zeit wie native Lautsprachler, ohne daß sich auf der Ebene der Konstituenten
Entsprechungen herstellen lassen. Bei der Artikulation der Gebärdensprachen sind
die manuellen Zeichen, die insbesondere die lexikalische (konzeptuelle) Information
kodieren, von den nicht-manuellen (Mimik, Körperhaltung u.dgl.) zu unterscheiden,
mit denen satzmodale Spezifizierungen kodiert werden, aber auch die referenzielle
Verankerung (ggf. auch die Kontinuität über eine längere Äußerungsstrecke hinweg)
und vor allem auch die Integration mehrerer propositionaler Einheiten ("komplexe
Sätze").
Gebärdensprachen werden spontan z.B. in Familien von Taubstummen
entwickelt. Wo sie darauf beschränkt bleiben, auch bei einem erweiterten Horizont
der Verständigung mit vertrauten Personen, bleiben sie kommunikativ gebunden,
sind sie also orat strukturiert. Zunehmend werden Gebärdensprachen aber auch in
einem offeneren kommunikativen Raum genutzt, zur Darstellung von Sachverhalten,
die nicht vertraut bzw. von den Adressaten nicht erwartet werden (z.B. im Unterricht
an höheren Lehranstalten), sodaß also literate, d.h. kommunikativ dezentrierte
Äußerungen zu erwarten sind. Die Untersuchung solcher Fragen hat erst begonnen –
sie setzt die Klärung der verschiedenen Artikulationsebenen der Gebärdensprache
voraus, die allerdings auch noch sehr im Fluß ist. Es gibt aber schon erste
Untersuchungen, die insbes. die Struktur von dialogisch gebärdeten Erzählungen mit
der vergleichen, die sich zeigt, wenn der / die ErzählerIn gebeten wird, die Erzählung
nochmal "für die Kamera" zu produzieren, wobei sich ggf. der aufnehmende
Kameramann in ein transparentes Medium transformiert (also nicht mehr die mehr
oder weniger vertraute Person ist, der etwas erzählt wird). Dabei werden eine ganze
Reihe der "oraten" Strukturelemente ausgeblendet, in die sonst die grammatischlexikalischen
Artikulationsformen
eingebettet
werden,
die
als
Kontextualisierungshinweise dienen, vor allem aber auch der Segmentierung und
dem Zusammenfassen von segmentalen Abschnitten zu größeren Einheiten. Diese
Strukturelemente stehen offensichtlich in einem fließenden Übergang zu expressiven
Formen der Körperhaltung, dem Gesichtsausdruck, die die interpersonale
Konstellation aufnehmen (ähnlich wie es in der gesprochenen Sprache bei dem
Verhältnis von Prosodie und parasprachlichen Ausdrucksformen ist, s.u.). Bei einer
literaten Artikulation werden sie offensichtlich zugunsten der formaler kodierten
symbolischen Gesten zurückgefahren. Die Parallele zur Differenz orater / literater
Artikulation geht aber noch weiter: Solche auf einen generalisierten Anderen
orientierten Gebärdentexte zeigen offensichtlich auch eine erhebliche Verdichtung in
der Kodierung gegenüber den interaktiv-kommunikativ ausgerichteten.
Das sind allerdings nur sehr vorläufige Überlegungen aus zweiter Hand, die
nach konkreteren Untersuchungen verlangen. Sie sollen deutlich machen, daß die
Dimension des Sprachausbaus nicht mit ihren medialen Aspekten verwechselt
Subsumption der Gebärden unter die mediale (oft: "modale", engl. modality) Dimension
blendet diesen grundlegenden Unterschied aus. Mündlich / schriftlich sind mediale
Realisierungsformen der Sprache bei lautsprachlicher Ontogenese. Medial kann das Gebärden
als "Zweitsprache" hinzukommen – aber bei nativen Gebärdensprachlern sind die Gebärden
orthogonal dazu, wie sich insbesondere eben darin zeigt, daß es auch hier Sinn macht, mit
einer Differenzierung nach orat / literat zu operieren.
Literat und orat. Grundbegriffe
33
______________________________________________________________________
werden darf. Daß literate Strukturen in der Regel mit der Aneignung der
Schriftsprache entfaltet werden, impliziert eben nicht, daß sie mit dieser identifiziert
werden können, s. auch unten (I.5.) zum Aufbau protoliteraten Wissens vor der
Schule bzw. vor dem Erwerb der Schriftsprache. Bei der weiteren Argumentation
beschränke ich mich aber auf die Verhältnisse in der gesprochenen und
geschriebenen Sprache, mit dem Schwerpunkt bei Fragen der strukturellen
Artikulation.
2.7. Die strukturelle Artikulation der sprachlichen Praxis ist an ihren Spuren (am
"Text") abzulesen. Das ist der traditionelle Gegenstand der grammatischen Analyse,
die, wie der Terminus (etymologisch) auch besagt, instrumental für den Erwerb der
Schriftsprache ist, also den Ausbau des sprachlichen Wissens mit literaten
12
Strukturen. In der schulgrammatischen Tradition steht dafür die Integration einer
Äußerung mit den grammatischen Strukturen eines Satzes. Das ist offensichtlich
auch die Fluchtlinie für die Edition, die Tülay an ihrem mündlichen (oraten) Text
vornahm. Ein Großteil der sprachwissenschaftlichen Diskussion dreht sich um die
Klärung des schwierigen Grundkonzepts Satz, was in den folgenden Abschnitten ein
Stück weit entwickelt werden soll. Hier kann der Begriff mit einer
schulgrammatischen Anschaulichkeit zunächst für die Entwicklung der
Argumentation dienen. Daß Satzstrukturen nicht aus den funktionalen Zielsetzungen
der Kommunikation abzuleiten sind, machen Gesprächsmitschnitte sehr schnell
deutlich, vgl. das folgende Beispiel (aus einem Gespräch mit vier Beteiligten in
13
Mannheim: SAbine, MOnika, WErner, PEter):
(1)
SA
isch war wie / # weesch ja wie er donn is
(2)
SA
MO
un DIE # do drauß geschdonne un ALS gschännd
jaja ↓
(3)
SA
ALS gschännd ↓
(4)
SA
MO
haww=isch gsachd geh doch mol nau:s ↓
ah die is doch eifersischdisch is die doch donn ↓
(5)
SA
MO
WE
PE
weeschd↑
jaja sie
haww=isch gsachd geh
donn hawwe=se do drauße widder #
is eifer /
is klar
Die Darstellung in modifizierter Partiturschreibweise (simultanes Sprechen wird in
einem Block dargestellt) macht deutlich, daß die jeweiligen Äußerungen nicht Sätze
12
Der Terminus Grammatik ist abgeleitet von dem griechischen Partizipialstamm gramma <
graph-ma, zu graph-ein "schreiben".
13
aus: Kallmeyer (1994), Bd. 1, S. 135.
34
Utz Maas
______________________________________________________________________
sind. Um eine sprachliche Praxis wie hier analysieren zu können, brauchen wir eine
Konzeptualisierung in drei Dimensionen:
- medial kann sie mündlich oder schriftlich sein,
- funktional kann sie kommunikativ oder darstellend sein,
- strukturell kann sie grammatisch integriert (satzförmig) sein.
Das läßt sich in einem dreidimensionalen Schema repräsentieren:
Dieses Schema soll die Unabhängigkeit der drei Dimensionen verdeutlichen, die man
formal auch als Attribute MEDIUM, FUNKTION und STRUKTUR fassen kann, für
die bei jeder Äußerung die Werte festgelegt werden müssen, hier in einer ersten
Näherung mit binären Werten: MEDIUM m/s; FUNKTION k/d; STRUKTUR S-/S+.
Spielt man das an dem Mannheimer Beispiel durch, wird deutlich, worum es geht –
wobei ich zur Vereinfachung das Attribut {MEDIUM m/s} auslasse, da es hier
konstant (m) bleibt. Jedem Gesprächsauszug kann ein entsprechender Vektor
{FUNKTION k/d; STRUKTUR S-/S+} zugeordnet werden:
(1)
SA
isch war wie {d, S-} / # weesch ja wie er donn is {k, S-}
(2)
SA
MO
un DIE {d, S-} # do drauß geschdonne un ALS gschännd {d, S-}
jaja ↓ {k, S-}
(3)
SA
ALS gschännd ↓ {d, S-}
(4)
SA
MO
haww=isch gsachd geh doch mol nau:s ↓ {d, S+}
ah die is doch eifersischdisch is die doch donn ↓ {k, S+}
(5)
SA
MO
WE
PE
weeschd↑
jaja sie
haww=isch gsachd geh {d, S-}
donn hawwe=se do drauße widder # {d, S-}
{k, S-}
is eifer /
{k, S-}
is klar
{k, S-}
Literat und orat. Grundbegriffe
35
______________________________________________________________________
Oder mit zwei Abschnitten aus diesem Gespräch in der schematischen Darstellung:
Die Isolierung der Dimensionen hat ihre Probleme. Auf der medialen Ebene wird das
für die hybriden Medien diskutiert: darstellende schriftliche Texte werden eben auch
in einer sozialen Aktivität produziert, und, wie sich noch zeigen wird, ist auch die
grammatische Strukturiertheit eher eine skalare Angelegenheit als eine binäre. Hier
kommt es mir zunächst nur darauf an zu verdeutlichen, daß jede Äußerung auf jeder
der drei Flächen unabhängig spezifiziert sein kann.
2.8. Auf der funktionalen Ebene sind die Werte kommunikativ und darstellend nicht
disjunkt. MO (4) die is doch eifersischdisch ist offensichtlich eine darstellende
Äußerung, die hier aber keine neue Information in das Gespräch einführt, sondern
als Bestätigung der Hauptsprecherin SA in dieser Passage das von dieser zuvor
Dargestellte noch mal auf einen allgemeinen Nenner bringt. Insofern sind diese
beiden Attribute relativ unabhängig – sie können überlappen, schematisch:
kommunikativ
darstellend
{k+,d-}
{k-,d-} ist offensichtlich nicht definiert.
{k+,d+}
{k-,d+}
36
Utz Maas
______________________________________________________________________
Auch auf der syntaktischen Ebene ist die Klassifizierung {S±} zu grob. Hier ist
grundsätzlich danach zu unterscheiden, ob unvollständige Satzstrukturen geäußert
wurden, weil die Äußerung abgebrochen wurde, deren Planung aber offensichtlich
auf eine vollständige Struktur abzielte, oder ob die Äußerung in einer nicht
satzförmigen Struktur abgeschlossen wurde. Nur im zweiten Fall wird man von
oraten Strukturen sprechen. SA (1) isch war wie ist vermutlich ein Abbruch.
Allerdings sind solche Transkripte ohne detailliertere Informationen nicht eindeutig.
Solche Abbrüche können auch konventionell sein, etwa als euphemistische
Auslassungen tabuisierter Ausdrucke (das ist zum … das ist zum <Kotzen o.ä.>);
nur in solchen Fällen liegt {S-} vor. In einer groben Näherung können Abbrüche als
{S*} kodiert werden. Wie feinkörnig man ein solches Raster differenziert, hängt von
der deskriptiven Zielsetzung ab.
Ein weiteres Problem stellt sich bei der Domäne solcher Wertungen. Geht man
von den Einheiten der gesprochenen Sprache aus (den Intonationseinheiten), sind
diese oft inkongruent zu der syntaktischen Integration, die über mehrere solcher
Intonationseinheiten spannen kann – wie auch umgekehrt die prosodische
Integration über mehrere (kürzere) Sätze gehen kann. In Hinblick auf die Zielsetzung
einer solchen Analyse, die die Nutzung der literaten Potentiale der Sprache aufzeigen
soll, empfiehlt sich die Trennung der beiden Ebenen:
• die prosodische Gliederung (Pausen, Intonationskontur, Hervorhebungen
u.dgl.) werden lokal notiert mit der Ausgliederung von Intonationseinheiten,
• Segmente, die eine syntaktische Integration zeigen, werden am rechten Rand
mit einer entsprechenden Klassifizierung versehen – ggf. auch innerhalb von
Intonationseinheiten, oder aber auch erst im Anschluß an eine Folge von
Intonationseinheiten, wodurch indirekt dargestellt wird, daß prosodische
Segmente innerhalb einer solchen Strecke keine eigene syntaktische
Integration aufweisen.
Mit dieser Verfeinerung kann das Beispiel von oben differenzierter aufbereitet
werden:
(1)
SA
isch war wie {[k+,d+], S*} / # weesch ja wie er donn is {[k+,d+], S-}
(2)
SA
MO
un DIE {[k-,d+], S-} # do drauß geschdonne un ALS gschännd {[k-,d+], S-}
jaja ↓ {[k+,d-], S-}
(3)
SA
ALS gschännd ↓ {[k-,d+],S-}
(4)
SA
MO
haww=isch gsachd geh doch mol nau:s ↓ {[k-,d+], S*}
ah die is doch eifersischdisch {[k+,d+], S+} is die doch donn ↓ {[k+,d-], S-}
(5)
SA
MO
WE
PE
weeschd↑
jaja sie
haww=isch gsachd geh {[k-,d+], S*}
donn hawwe=se do drauße widder # {[k-,d+], S-}
{[k+,d-], S-}
is eifer /
{[k+,d+], S-}
is klar
{[k+,d-], S-}
Literat und orat. Grundbegriffe
37
______________________________________________________________________
3. Die funktionale Betrachtung Registerarchitektur
3.1. Für die neuere Sprachwissenschaft ist in einer Verlängerung ihrer disziplinären
Verselbständigung eine Art ontologischer Überhöhung ihres Gegenstandes als
natürlich charakteristisch: die Fixierung auf die gesprochene Sprache wird damit
gerechtfertigt, daß diese natürlich sei – im Gegensatz zur geschriebenen Sprache.
Nun macht aber bei der Sprache die Rede von "Natürlichem" wenig Sinn, wenn sie
nicht auf die Randbedingungen zielt, unter denen Sprache zustande kommt (wenn
"unsere Natur" nicht mehr funktioniert, können wir tatsächlich nicht mehr sprechen /
hören ...). Sprache ist etwas, das wir aus unseren natürlichen Ressourcen machen –
und insofern ist sie nicht mit diesen gleichzusetzen; sie ist durch eine soziale Praxis
definiert, in die jedes Kind hineinsozialisiert wird – als Sprache der Anderen (s. Maas
2008: Kap. II.1): Sprache wird gelernt. Bei diesem Lernprozeß öffnen sich
unterschiedliche soziale Horizonte: die Praxis wird dezentriert – und literate
Strukturen bezeichnen die Rationale des dabei erschlossenen Ausbaus der gelernten
sprachlichen Ressourcen.
Auf einer allgemeinen Ebene wird man Sprache bestimmen als Ressource, die
die körperlich-situative Gebundenheit des Verhaltens überwinden kann. Diese
Ressource ist an biologische Voraussetzungen gebunden, aber nicht mit diesen auf
eine biologische Art gegeben: sie muß in einem langen Lernprozeß entwickelt
werden – die biologischen Ressourcen müssen ausgebaut werden (das ist ein aus der
handwerklichen Praxis vorgegebener Terminus: so, wie z.B. ein Winzer den
vergorenen Traubensaft zum Wein ausbaut). Ein sprechendes Bild dafür bietet der
inzwischen alltägliche Umgang mit Computern: Sprachstrukturen müssen von
14
einfacheren aus gebootet werden – literate Strukturen von kommunikativen aus.
Das definiert einen theoretischen Raum, in dem die Modellierung der
Sprachpraxis zu bewerkstelligen ist: Es geht nicht um ein Entweder / Oder von
literaten / oraten Strukturen, sondern um die Frage danach, wie die in einer sozialen
Gemeinschaft genutzten (von den einzelnen gemeisterten) Ressourcen praktiziert
werden. In jedem Fall handelt es sich um gelernte Strukturen – und zwar gelernt in
einem spezifischen sozialen Sinn: sprachliche Strukturen (anders als naturhafte,
unserer Körperlichkeit geschuldete) sind notwendig sozial spezifisch – das gilt für
orate wie für literate Strukturen. Aber mit Äußerungen sind zwangsläufig
Bedingungen verbunden, die unserer Körperlichkeit bzw. den physikalischen
Bedingungen der Kommunikation geschuldet sind – die in diesem Sinne denn auch
überall zu finden ("universal") sind: soweit in kommunikativen Strukturen
vorsprachliche Ressourcen genutzt werden, sind sie sprachübergreifend.
14
Zu diesen Fragen der Konzeptualisierung, insbesondere auch zu der aus der
Computerlinguistik stammenden Metapher des Bootens, s. Maas 2008. In der generativistischen
Literatur wird er allerdings mit universalgrammatischen Prämissen verwendet: gebootet wird
dort in der frühen Sprachentwicklung das genetisch vorinstallierte Sprachprogramm – diese
Prämisse mache ich mit meiner Argumentation ausdrücklich nicht.
38
Utz Maas
______________________________________________________________________
3.2. Um den Blick auf die funktionalen Zusammenhänge der Sprachpraxis frei zu
bekommen (und von dort aus die Konsequenzen für die strukturelle Artikulation in
den Blick zu nehmen), ist ein begriffliches Koordinatensystem nötig, in dem die
Sprachstrukturen zu verorten sind. Dazu kann auf das schon in der antiken Rhetorik
etablierte Raster der verschiedenen Sprachregister zurückgegriffen werden. Register
können etwas formaler als Paare von Domänen der Sprachpraxis und strukturellen
Eigenschaften, die diese artikulieren, verstanden werden:
Register = df (Domäne, Sprachstruktur)
Wie schon in der antiken Rhetorik kann man von drei Grundregistern ausgehen,
deren Domänen unterschiedlich weite soziale Horizonte öffnen:
REGISTER
intim
informell – öffentlich
formell
DOMÄNEN
Familie, enge Freunde ...
Straße, "Markt", Arbeitsplatz ...
Institutionen
Diese Register markieren auch Etappen der Sprachbiographie:
• das Kind wird in ein personales Beziehungsgeflecht hineingeboren: die
Sprache, die es lernt, ist die Sprache dieser Personen (im intimen Register),
• dieses Verhältnis bei der Aneignung der Sprache der anderen kehrt sich mit
der weiteren Sozialisation um: im informell-öffentlichen Register ist die
erworbene Sprache eine Ressource, um Beziehungen zu anderen herzustellen
(gleichaltrigen Freunden, später Arbeitskollegen ...),
• im förmlichen Register verschwindet die Bindung der sprachlichen Form an
Personen bzw. überhaupt an die Artikulation einer bestimmten Situation: die
sprachliche Form dient hier dazu, prinzipiell situationsungebundene
Äußerungen zu ermöglichen. Hier greift die oben schon eingeführte
Redeweise in der üblichen Kommunikationsbegrifflichkeit: im förmlichen
Register ist der Adressat ein generalisierter Anderer – keine spezifische
Person.
Damit ist die soziale Dimension der Registerdifferenzierung gefaßt, die noch in
weiteren Aspekten auszudifferenzieren ist. Soziale Horizonte implizieren immer auch
Formen der Kontrolle, die als Normen verstanden werden können. Das ist
offensichtlich im förmlichen Register, für das solche Normen oft auch kodifiziert
vorgegeben sind (z.B. bei der Orthographie). Die soziale Kontrolle beschränkt sich
aber nicht auf solche kodifizierten Normen. Gerade auch im intimen Register sind
derartige Vorgaben extrem restriktiv: der "Akzent", mit dem gesprochen wird,
markiert die Zugehörigkeit zum WIR – Außenstehende werden ihn nie adäquat
erwerben. In dieser Hinsicht weisen die öffentlichen Register sogar noch tolerantere
Schwellen auf, s. auch unten (II.3.4.) zum literaten Lexikon.
Die systematische Modellierung der Register muß aber auch noch andere
Dimensionen aufweisen. Ihre strukturelle Seite läßt sich als domänenadäquate
Beschränkungen der sprachlichen Form fassen. Hier sind funktionale Aspekte von
Literat und orat. Grundbegriffe
39
______________________________________________________________________
rein formalen zu trennen. Funktional gilt für das förmliche Register, daß hier die
sprachlichen Einheiten prinzipiell ihre kontextfreie Interpretation ermöglichen. Das
ist grundsätzlich unabhängig von Formvorgaben (die den oben angesprochenen
normativen Aspekt betreffen). Formvorgaben ohne funktionale Ausrichtung auf die
Erweiterung des Horizontes, anders gesagt: auf die Darstellung von Neuem, sind kein
Moment des Sprachausbaus, den sie vielmehr blockieren können. Unklarheiten in
dieser Hinsicht belasten die einschlägigen Diskussionen, vor allem durch die
Engführung auf literarische Praktiken im weiten Sinne. Formale Vorgaben bis hin zur
Metrik definieren zunächst einmal eine rein reproduktive Sprachpraxis, wie sie auch
für vieles von dem definierend ist, was als förmliche Praxis anzusprechen ist:
zeremoniale Praktiken sind oft gerade durch den Zwang zur Reproduktion eines
Wortlauts definiert – mit fließenden Übergängen zur Literatur, etwa dem Vortrag
von Epen, Mythen … Auch wenn diese dann verschriftet werden, gehören sie einer
reproduktiven Praxis an, die bei den Adressaten mit formorientierten Erwartungen
korrespondiert – die also gerade nicht die Mittel zu Interpretation von Neuem
artikuliert. Die artistische Wertschätzung beruht auf dem virtuosen Umgang mit
diesen Vorgaben (ggf. auch beim Ausloten von Variationsmöglichkeiten im Rahmen
dieser Vorgaben). Das ist offensichtlich etwas anderes als die Darstellung von
Sachverhalten, die im Vorfeld so nicht erwartet bzw. einsichtig waren. Im förmlichen
Register werden die Erwartungen im Sinne der Ausrichtung auf den generalisierten
Anderen minimiert.
In diesen funktionalen Zusammenhängen sind die strukturellen Anforderungen
verankert: das förmliche Register (im Sinne der Ausrichtung auf den generalisierten
Anderen) ist der Ort für satzförmige Strukturen bzw. für die Zerlegung komplexer
Äußerungen (Texte) in Sätze, während das für die informellen Register nicht gilt, für
die orate Strukturen adäquat sein können. Das förmliche Register ist insbesondere
der Ort der Schriftkultur, worauf die strukturellen Anforderungen der Schriftsprache
abstellen, insbesondere die Satzgliederung.
3.3. Die Registerarchitektur ist prinzipiell unabhängig von ihrer medialen
Artikulation – faktisch allerdings in großem Maße mit ihr gekoppelt. Die
Schriftsprache wird in der Regel erst institutionell zugänglich (in der Schule), und ist
in den meisten Gesellschaften (historisch auch in unseren europäischen
Gesellschaften) an institutionelle bzw. professionelle Praktiken gekoppelt. Von daher
die Plausibilität einer Argumentation, die Schriftliches aus dem Horizont einer
allgemeinen Sprachreflexion ausblendet. Gerade aber die jüngeren Entwicklungen in
den literaten Gesellschaften, in denen die Partizipation, ob nun am Arbeitsplatz, im
öffentlichen Raum (bei der Nutzung von Verkehrsmitteln) oder in der häuslichen
Freizeit, ohne schriftliche Praktiken nicht mehr möglich ist, sodaß hier Analphabeten
als pathologischer Fall gelten, zeigen die orthogonale Architektur dieser Dimensionen
der Sprachpraxis.
Für die derzeitigen Verhältnisse ist charakteristisch, daß das informelle Register
zunehmend durch skribale Praktiken bestimmt ist: Notizzettel für den Kollegen am
Fließband, Einkaufslisten für den Gang in den Supermarkt, Geldabheben am
Bankautomaten, Kontrolle der Kontoauszüge, SMS auf dem Handy,
40
Utz Maas
______________________________________________________________________
Internetrecherchen und Chatten am häuslichen Computer … Im Sinne der
vorausgehenden Differenzierungen sind diese Praktiken nur z.T. als kommunikativ
zu bestimmen (so das SMS-en oder Chatten) – der Umgang mit den komplexen
Kodierungen an Bank- oder Fahrscheinautomaten ist es dagegen nicht, genausowenig
wie das Aufstellen einer Einkaufsliste. Zwar können solche Praktiken auch
darstellende Elemente enthalten (etwa beim SMS-en oder Chatten), aber die
Modellierung der dargestellten Sachverhalte bleibt dann rudimentär, auf das
interaktiv erforderliche Minimum beschränkt. Vor allem gilt für die sprachliche Form
dieser Praktiken nicht die Bedingung der notwendigen Satzförmigkeit, die so auch
hier ex negativo ihren zentralen Status zeigt.
Das herauszustellen, ist gerade auch vor dem Hintergrund der derzeit
modischen Beschäftigung mit solchen informellen schriftlichen Praktiken in der
Schule notwenig. Es ist offensichtlich, daß die Schule ihre Selektionsfunktion mit
dem Messen schriftkultureller Leistungen erfüllt – vor dem Hintergrund der für die
gesellschaftliche Partizipation geforderten Kompetenzen auch unvermeidlich. Nun
zeigt es sich, daß Schüler, die in den informellen Praktiken durchaus eine gewisse
Virtuosität entfalten können (im sprachlichen Feld etwa im Codeswitchen bei
zweisprachigen Jugendlichen mit Migrationshintergrund), sich damit keineswegs
einen Zugang zur entfalteten Schriftkultur erschließen – ebensowenig wie sie es mit
anderen virtuosen Fertigkeiten (etwa im Fußballspielen) tun. Die schriftkulturelle
Artikulation des formellen Registers bildet hier die Barriere: Sieht man die
Sprachentwicklung im Horizont der Registerarchitektur als eine fortschreitende
Öffnung weiterer Horizonte (s.o.), zeigt sich eben auch, daß schriftliche (skribale)
Praktiken für sich genommen diese Barriere nicht beseitigen:
Barrieren in der Registerarchitektur
Wenn die sprachliche Bildungsarbeit auf die Förderung gerade auch bei den Lernern
abstellen soll, die eine solche Unterstützung benötigen, dann sind eben begriffliche
Differenzierungen wie hier (insbesondere zwischen medialen Ausdrucksformen:
schriftlich / skribal, vs. strukturellen: literat) unverzichtbar.
Literat und orat. Grundbegriffe
41
______________________________________________________________________
3.4. Der Ausgangspunkt bei funktionalen Überlegungen bestimmt das deskriptive
Handwerk der Sprachwissenschaft. Hier geht es nicht darum, die richtige, wirkliche,
natürliche ... Sprache zu beschreiben (also mit einer dogmatischen Vorentscheidung
Scheuklappen aufzusetzen), sondern entlang der Registerdifferenzierung die Familie
der lokalen Sprachpraxen zu dokumentieren. Das charakterisiert vor allem die
jüngere Diskussion um die Aufgaben der Sprachdokumentation bei bedrohten
Sprachen, z.B. das "Endangered languages project" an der School of Oriental and
15
African Studies der Universität London (Leitung Prof. Dr. Peter Austin).
Nun werden die bedrohten Sprachen überwiegend in kleinen Gemeinschaften in
Reliktzonen gesprochen, bei denen ein literater Ausbau nicht ansteht. In ihnen kennt
jeder jeden, haben Äußerungen vor allem kommunikative Funktionen und sind im
lokalen Kontext empraktisch definiert; ein inzwischen als Gemeinplatz gehandeltes
Beispiel sind die Pirahã im Amazonasbecken, s. Everett (2005). Ist man nicht fixiert
auf die in solchen Fällen praktizierte "bedrohte" Sprache (oder die Bewahrung von
deren Spuren), wird man feststellen, daß die Registerdifferenzierung in solchen
Gemeinschaften in der Regel mehrsprachig artikuliert ist (die Pirahã erscheinen als
ein pathologischer Fall, der noch genauer zu klären ist): der literate Ausbau erfolgt in
einer anderen Sprache als der im intimen Register genutzten. In dieser Hinsicht sind
die Erfahrungen bei Projekten aufschlußreich, die sich um die Verschriftung als
16
(sozial praktizierte) Form des Spracherhalts bemühen.
Sprachwissenschaftliche Arbeiten isolieren zu oft eine Sprachform, die in der
jeweiligen Registerarchitektur nur arbeitsteilig beschränkt genutzt wird, auf die aber
in politischen Projekten das ganze Registerspektrum projiziert wird: so vor allem
auch im Bemühen um Spracherhalt, in entsprechenden Bildungsprojekten u.dgl.
Bilinguale Erziehungsprojekte, die in solchen Kontexten aufgebaut werden, haben
hier ihren Horizont. Für die ältere Generation in solchen Gemeinschaft geht es
zumeist darum, daß ihre Kinder die Sprache der Eltern soweit lernen, daß sie an den
kommunalen Praktiken (zeremonialen Aktivitäten, die an die traditionelle
Sprachform gebunden sind) partizipieren können. Das verlangt vor allem eine
relative Beherrschung der Lautform; dem ist ggf. auch der Schreibunterricht
17
untergeordnet, der dann auf "lautgetreues" Schreiben ausgerichtet ist. Dadurch
15
s. http:///www.hrelp.org/documentation/ , bei dem auf regelmäßigen Tagungen auch solche
methodischen / theoretischen Fragen diskutiert werden, s. die von Peter Austin hg. Bände
Language Documentation and Description, seit 2003, z.B. Foley (2003).
16
Einiges dazu findet sich bei der "Foundation for Endangered Languages" (basiert in Bath,
Großbritanien), die seit 1998 internationale Tagungen an wechselnden Orten durchführt, bei
denen über die Unternehmungen zum Spracherhalt referiert wird. Die jeweiligen
Tagungsakten können aufgerufen werden unter http://www.ogmios.org , (z.B. die 6. Konferenz
in Antigua, Guatemala 2002, mit einem solchen Schwerpunktthema).
17
Diese Konstellation ist aus allen traditionellen Schriftreligionen bekannt, deren
Überlieferung irgendwann von der gesprochenen Sprache der Gemeinde soweit dissoziiert
war, daß die "heiligen Texte" nicht mehr verständlich waren. Darauf reagieren phonetisierende
Hilfsnotationen, die das traditionelle Schriftbild unangetastet lassen, aber seine Aussprache
sichern, wie es systematisch früh im Islam mit den vokalisierenden Hilfszeichen (arab.
Taschkil) für die Koranhandschriften praktiziert wurde (und nach ihrem Modell dann auch in
42
Utz Maas
______________________________________________________________________
ergibt sich u.U. ein Konflikt zu dort engagierten Sprachwissenschaftlern, die für diese
Sprachen (und ihren Unterricht) ein Schriftsystem konstruieren, das für die
grammatische Struktur der Texte durchsichtig sein soll: solche auf kompetente Leser
zielende abstraktere (morphophonologisch ausgerichtete) Orthographien werden von
18
den Gemeinschaften meist abgelehnt.
In der Forschung sind die Konsequenzen aus diesem Sachverhalt noch längst
nicht gezogen. Für die jüngere, vor allem typologisch ausgerichtete Diskussion hatten
die Arbeiten zu den australischen Sprachen eine Schlüsselrolle, die tatsächlich in
vieler Hinsicht ungewohnte Strukturen vorgeben. Andererseits machen gerade die
Besonderheiten der Feldforschung bei den Aboriginees, die in den entsprechenden
Arbeiten immer herausgestellt werden, auch den begrenzten Horizont des dort zu
Analysierenden deutlich: wenn es nur noch möglich ist, bestimmte sprachliche
Formen zu elizitieren, wenn man die letzten Sprecher an ein Wasserloch begleiten
muß, an dem solche Formen in einem zeremonialen Kontext einmal praktiziert
worden sind, dann verweist das (ebenso wie das in Australien eine so große Rolle
spielende exklusive Recht einiger Personen, eine bestimmte Sprache zu gebrauchen)
darauf, daß diese Sprachen nicht als ausgebaute Sprachen fungieren – tatsächlich
sprechen diese Menschen im Alltag auch fast immer Englisch bzw. eine Art Pidgin.
Das spricht selbstverständlich nicht gegen die Erforschung dieser Sprachen (die
angesichts ihres drohenden Verschwindens eine hohe Priorität hat), es spricht nur
dafür, diese Registerspezifik sorgfältig bei dem zu berücksichtigen, was man dort
registriert (s.u. bes. III.5. zu den Arbeiten von J.Heath).
4. Register / Textsorten / Literarische Sprache
4.1. Im Sinne der angestrebten kognitiven Modellierung ist es sinnvoll, die
strukturelle Artikulation der Äußerungen deutlich von ihrer medialen Form (und der
damit induzierten sekundären Strukturierung) zu unterscheiden. In Hinblick auf die
medienspezifischen und auch kommunikativen Differenzen ist es sinnvoll, von einem
Feld auszugehen, das in medialer Hinsicht mündliche und schriftliche Formen zeigt,
in struktureller Hinsicht orate und literate Formen (die in jeder medialen Form
realisiert werden können, wie die Beispiele andeuten sollen):
der jüdischen Überlieferung des damals längst nur noch als tote Sprache tradierten Hebräisch).
Damit konnte der Text lautiert werden – auch ohne ihn zu verstehen.
18
Walace Chafe, der zu den wenigen Sprachwissenschaftlern gehört, die diese Fragen
systematisch bearbeitet haben, diskutiert diese Fragen in seinen Arbeiten zum Seneca (einer
irokesischen Sprache). Dieses hat eine ungemein komplexe Morphologie mit vielfältigen
Fusionen der Morpheme, die er in seiner eigenen Orthographie morphophonologisch
transparent macht – die aber von der indianischen Gemeinschaft als Grundlage für den
dortigen zweisprachigen Unterricht zugunsten einer oberflächlich-"lautgetreuen" Graphie
abgelehnt wurde, vgl. Chafe (1996), hilfreich dazu auch Chafe (1963), wo er in Richtung auf ein
solches sprachwissenschaftliches Laienpublikum die Schreibung als rein phonographische
Repräsentation definiert. Die Schriftkultur, die eine andere Art von Graphie verlangt, ist hier
fraglos englisch artikuliert.
Literat und orat. Grundbegriffe
43
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Damit werden die Alltagsbegriffe mündlich / schriftlich als komplexe konzeptuelle
Aggregate greifbar, die in einem mehrdimensionalen begrifflichen Feld aufgelöst
werden können. Das ist nun auch in der deskriptiven Praxis, vor allem da, wo sie
auch sprachdidaktische Zielsetzungen hat, eine schon lange geübte Praxis, die sich in
der Germanistik inzwischen einen eigenen terminologischen Apparat geschaffen hat,
die Textsorten. Einflußreich ist (nicht nur im deutschsprachigen Raum) für die neuere
Diskussion die romanistische Arbeit von Peter Koch und Wulf Österreicher (1985)
geworden, die allerdings nicht sehr glücklich mit einer Polarisierung von Sprache der
Nähe gegenüber Sprache der Distanz operieren. Für die von ihnen angestrebten (und
in ihrer Nachfolge auch unternommenen) Analysen ist das damit etikettierte Raster
entscheidend, in dem sich selbstverständlich auch die hier herausgestellten Momente
einer kommunikativen gegenüber einer darstellenden Dimension finden, heuristisch
umgesetzt in einer Vielfalt von heterogenen empirischen Aspekten. Die seitdem
verbreite polarisierte Klassifizierung nach Distanz- vs. Nähesprache ist allerdings,
gerade weil hier eine sprechende Terminologie gesucht wird, u.U. mystifizierend:
gerade alltagsnahe schriftliche Praktiken wie etwa Notizen (Einkaufslisten o.ä.) kann
man kaum sinnvoll als distanzsprachlich etikettieren – und auch für poetische
Praktiken, ob nun mündlich oder schriftlich, macht das nicht sehr viel Sinn.
Gravierender ist aber die mit der analytischen Explikation in ihrer Modellierung
gebahnte begriffliche Zirkularität: sie tragen der Differenz von medialen und
strukturellen Aspekten dadurch Rechnung, daß sie bei den letzteren mit einem
begrifflichen Präfix konzeptuell operieren (konzeptuelle Mündlichkeit /
Schriftlichkeit). Damit wird aber unterstellt, daß jenseits des medialen (anschaulich
gegebenen) Terminus des Mündlichen / Schriftlichen eine intentional darauf
gerichtete Reflexion (das meint ja wohl konzeptuell) auch einen anderen
Begriffsinhalt hätte. Wenn dieser aber nicht nur suggeriert werden soll, muß er
19
expliziert werden – insofern ist mit diesen Termini nichts gewonnen. Ich ziehe
daher die Kunsttermini literat / orat für die strukturellen Aspekte vor, die eine
formale Explikation verlangen, wie sie hier skizziert wird.
19
Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß die mit solchen Etiketten operierenden
Arbeiten empirisch reiches Material aufbereiten, wie etwa bei Ágel / Hennig (2006), die dort
ein deutsches Corpus mit heterogenen Textsorten vom 17. Jhd. bis zur Gegenwart mit einem
weiter differenzierten Raster bearbeiten.
44
Utz Maas
______________________________________________________________________
Geht man von der Ausbaudimension der Sprachpraxis aus (insbesondere auch
aus der Perspektive der Sprachentwicklung), macht es Sinn, wie hier angedeutet, orat
und literat als Pole einer skalaren Dimension zu fassen – und nicht als jeweils
unabhängige Kategorien zu definieren: die spezifischen Sprachstrukturen sind
vielmehr Ressourcen, die es der Praxis erlauben, sich von der situativen Abhängigkeit
kommunikativer Strukturen zu emanzipieren. Ist das der Fall, liegen literate
Strukturen vor – bei oraten Strukturen ist das nicht der Fall: sie sind in dieser
Hinsicht negativ definiert. Erst wenn die Besonderheiten der mündlichen
Kommunikation (interaktiv: von Angesicht zu Angesicht ...) in die Überlegungen
hineingenommen werden, lassen sich auch positive Charakteristiken für orate
Strukturen definieren, s. dazu II.4.
4.2. Die hier anvisierte funktionale Modellierung verlangt es aber auch, den Inhalt
des sprachlich Artikulierten / Dargestellten in Rechnung zu stellen. Interaktive
Kommunikation ist im Grenzfall reflexiv: sie geht im interaktiven Geschehen auf,
sprachliche Interaktionen reduzieren sich dann auf kommunikative Gesten wie in
vielen Alltagsritualen. Das beschränkt sich nicht auf den Austausch von mehr oder
weniger ritualisierten festen Ausdrücken. Die inzwischen recht ausgedehnt
betriebene Gesprächsanalyse hat gezeigt, wie sehr solche kommunikativen
Strukturen auch in elaborierten sprachlichen Formen dominant sein können.
Analysiert man in diesem Sinne die Praxis von Cliquen (inzwischen extensiv so für
jugendliche Cliquen in den verschiedensten sozialen und sprachlichen Kontexten
praktiziert), so zeigt sich eben, daß auch extensive Narrationen nichts anderes sind
als eine damit reproduzierte Form, die Gemeinsamkeit zu bestätigen – insofern
werden sie meist auch nicht einfach monologisch produziert (auch wenn einem
dominanten Erzähler der entsprechende diskursive Raum eingeräumt wird), sondern
durch ein Ineinandergreifen der Äußerungsaktivitäten koproduziert (s. z.B. de Fina
2006). In einer Verlängerung der oben entwickelten Differenzierung der Dimensionen
einer expliziten Modellierung wird es so erforderlich, der Möglichkeit Rechnung zu
tragen, daß die traditionell gekoppelten Strukturen (wie z.B. narrativ und
monologisch) dissoziiert vorkommen.
Aber auch, wenn oft eine elaborierte sprachliche Praxis kommunikativ
gebunden ist, so ändert das nichts an der Grundbestimmung von Sprache als
Ressource, die es erlaubt, über kommunikative Praktiken hinauszugehen, die sich in
der Fluchtlinie gestischer Kommunikation analysieren lassen, die die Gemeinsamkeit
menschlicher Sprache mit tierischer Kommunikation ausmacht. Sprache ist eine
solche Ressource, wenn sie Sachverhalte in das Handeln einführt, die nur symbolisch
präsent sind: das ist die inhaltliche Seite der oben eingeführten Dimension der
Darstellung. Literate Strukturen potenzieren diese genuin sprachliche Ressource: sie
erlauben die Artikulation von Sachverhalten, die über das hinausgeht, was in
interaktiven Formen möglich ist.
In der Diskussion um diese Fragen wird gerne auf Literatur als Darstellung
fiktiver Sachverhalte verwiesen. Damit ist aber nicht der Kern getroffen, da fiktive
Sachverhalte zweifellos auch in der mündlichen Kommunikation produziert werden.
Es geht vielmehr um den Grad der analytischen Durchdringung der dargestellten
Literat und orat. Grundbegriffe
45
______________________________________________________________________
Sachverhalte, die in schriftlicher Form objektiviert und so auf einer neuen Ebene
bearbeitet werden können, indem vorher nicht zugängliche Implikationen aufgedeckt
und transparent gemacht werden: Literate Strukturen sind im Kern solche, die orat
nicht möglich sind – Schriftlichkeit zeigt ihre Potentiale da, wo der so fixierte Text
20
vorher nicht schon mündlich existierte. In einer kognitiven Modellierung fungiert
das Medium Schrift als externer Speicher für die kognitiven Operationen, für die die
literaten Strukturen Zugriffsmöglichkeiten auf den Speicher vorgeben.
4.3. Als besondere Form einer hybriden Sprachpraxis ist jede Art literarischer Praxis
im Rahmen einer Modellierung der Registervariation zu rekonstruieren, die bei
empirisch-deskriptiven Arbeiten auch mit der Frage von sprachlichen Gattungen im
Blick ist (in der germanistischen Tradition: Textsorten). In systematischer Sicht
handelt es sich dabei um Bündel von Erwartungen an einen Text, die gewissermaßen
als Kontextfaktoren (als Erwartungserwartungen bei Sprecher und Hörer bzw.
Schreiber / Leser) in Rechnung gestellt werden. In einer groben Näherung lassen sie
sich auch skalieren:
• mit einem Maximum bei empraktischen, situativ interaktiven Aktivitäten
(mit der Folge orater Strukturen),
• mit einem Minimum bei einem expositorischen Text, der sich wie in einem
philosophischen Traktat bemüht, alle Voraussetzungen explizit zu
artikulieren,
• dann mit der ganzen Skala von Zwischenstufen: von literarischen Texten, die
eine fiktive Welt als Interpretationsrahmen aufspannen, bis zu narrativen
Episoden in Gesprächen, bei denen ebenfalls situative Faktoren und
Referenten eingeführt und systematisch identifiziert werden müssen.
Diese Skala der Erwartungsbündelung ist invers zur Dimension Darstellung des
Sprachausbaus: mit expositorischen Texten sind im Grenzfall keine anderen
Erwartungen verbunden als die Kenntnis der Grammatik einer Sprache. Insofern
lassen sich Textsorten auch (extensional) über distributionelle Beschränkungen der
grammatisch vorgegebenen kombinatorischen Möglichkeiten explizieren, wie es in
21
der (computergestützten) Corpuslinguistik praktiziert wird. Rein statistisch lassen
sich aus größeren Corpora Korrelationen extrapolieren: in einem deutschen Text mit
einer überproportialen Häufigkeit der Personalpronomina der 1. und 2. Person (ich,
20
Das wird gerade bei der literaturorientierten Reflexion auf Schriftlichkeit meist ignoriert,
wenn die Anfänge der Literatur in Epen gesehen werden, die zwar in schriftlicher Form
überliefert wurden, dabei aber ihre Form durch den mündlichen Vortrag erhalten haben.
Demgegenüber sind diese begrifflichen Differenzierungen gerade auch im pädagogischen
Kontext immer schon verhandelt worden. Ein seinerzeit einflußreiches, inzwischen aber
offensichtlich weitgehend wieder vergessenes Werk ist Bereiter / M.Scardamalia (1987), die
dort das Verschriften von vorher fertigen Inhalten bzw. Texten als telling knowledge von der
Verschriftung als Mittel, um vorher nicht zugängliche Implikationen des "Inhalts" zu
erschließen und transparent zu machen, als knowledge transforming unterschieden.
21
S.u. zu den entsprechenden differenzierten Modellierungen, vor allem zu den Arbeiten von
Douglas Biber, etwa sein einflußreiches Buch Biber (1988).
46
Utz Maas
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du) finden sich unterproportional wenig Passivformen und als DefaultVergangenheitsmarkierung Perfektformen (präteritale Formen sind eingeschränkt auf
die funktionalen Elemente in komplexen Prädikaten); umgekehrt korrelieren häufige
Passivformen mit häufigen Nominalisierungen; überproportional häufige
Präteritalformen in einfachen Prädikaten korrelieren mit überproportional häufigen
Passivformen u.dgl. Solche Korrelationen definieren Texttypen, die sprachextern mit
bestimmten Textvorkommen (Briefen, redaktionellen Zeitungsartikeln, Märchen …)
verknüpft werden können.
Letztlich ist auch das in der sozialen Grundstruktur von Sprache begründet, die
als Sprache der anderen angeeignet wird – woraus folgt, daß jede sprachliche Praxis
22
in der Form andere Praktiken reproduziert. In der neueren Literaturwissenschaft
wird dem extensiv mit dem Etikett der Intertextualität nachgegangen – was aber auf
der Ebene literarisch artifizieller Praktiken nur das weiterverfolgt, was auch in
trivialen Alltagspraktiken zu finden ist, die eben auch in der Regel nicht aus
originellen, ad hoc "generierten" Äußerungen, sondern der Reproduktion von "ready
mades" bestehen. Auf der Seite der Sprachpraxis ist die konnotative Dimension
23
insofern gegenüber der denotativen grundlegender.
Es ist offensichtlich, daß solche Zuordnungen (bzw. Erwartungen) der
sprachlichen Praxis ein Wissen spiegeln, das kompetente Sprecher (Schreiber) mit der
Partizipation am sprachlichen Verkehr erwerben. Und so gibt es bei allen diesen
Gattungen mehr oder weniger konventionalisierte Elemente, die als Versatzstücke
fest sind und insofern zu den Erwartungen gehören bzw. auch als Deklaration eines
bestimmten Erwartungstypus dienen (etwa das Es war einmal ... bei Märchen). Mit
der Inventarisierung solcher Strukturelemente haben deskriptiv orientierte Arbeiten
wie die von Biber die Forschung erheblich weiter gebracht – vielleicht gerade auch,
weil bei ihnen die grundlegenden Fragestellungen zunächst ausgeblendet wurden.
Aber solche an Texten festgemachte Struktureigenschaften sind nur heuristische
Näherungen, die nur eine statistische Wahrscheinlichkeit haben. Zu dem erworbenen
Wissen um solche Zuordnungen gehört auch die Möglichkeit, damit kreativ
umzugehen, wie es Kinder schon früh in ihren Rollenspielen praktizieren. Das
Gegenstück dieser Gattungen ist denn auch ihre Hybridisierung in der Praxis: als
Spiel mit solchen wiedererkennbaren Versatzstücken – von der modernen Literatur
bis hin zum ironischen Spiel mit Sprachformen im Alltagsgespräch (gelobt als
24
"kreative" Praktiken der "Jugendsprache" ...). Das ist das Feld dessen, was
22
Das ist ein Topos der modernen Sprachreflexion, der zu Beginn des 20. Jhds. extensiv als
"Sprachkrise" literarisch artikuliert wurde; Hugo von Hofmannsthals "Brief des Lord Chandos"
(1902) ist dafür geradezu eponymisch geworden.
23
Darum rankt sich eine ausgedehnte semiotische Diskussion; für Hinweise und die
begrifflichen Grundklärungen, s. Maas (1985).
24
Ein weiteres Problem ist die Fenstergröße für solche Textsortenanalysen: die Sprachpraxis
operiert in dieser Hinsicht mit Collagen, ohne den Zwang zu einer strikten Homogenisierung;
Passagen mit einer reduzierten, interaktiv kalibrierten Sprachstruktur können sich mit
literaten, rein darstellenden Sequenzen abwechseln, im ironischen Spiel gewissermaßen als
Kontrapunkt mit Anspielungen auf Märchen u.ä. versetzt … Eine ganzheitliche
Charakterisierung von Texten hat nur eine recht unterschiedliche statistische Güte – sie
funktioniert allenfalls bei strikt institutionell gebundenen Sprachpraktiken.
Literat und orat. Grundbegriffe
47
______________________________________________________________________
traditionell als Stilanalyse vorgegeben war, was in neueren Arbeiten als
Diskursanalyse firmiert (so jedenfalls in der englischsprachigen Tradition dieses
Terminus). Es markiert gewissermaßen eine horizontale Ebene im Raum der
Sprachpraxis, bei dem der Sprachausbau (die Dimension des Literaten) eine vertikale
Ebene bildet.
4.4. Aufzunehmen ist allerdings die Verwirrung, die aus der partiellen Homophonie
des funktionalen Terminus literat für die ausgebaute Form sprachlicher Praxis auf
der einen Seite und dem schulisch auch normativ verwendeten Terminus literarisch
resultieren kann (in einigen Sprachen, vor allem den osteuropäischen, wird auch
Literatursprache als Bezeichnung für die normative Hochsprache verwendet). In der
Tradition der Schule wird die Sprachreflexion auf die Literatur ausgerichtet. Insofern
die literarische (künstlerische) Sprachpraxis deren Potentiale auf ihre Weise ausreizt
und als fiktive Darstellung (oder auch freies Spiel mit der Form) die Dezentrierung
voraussetzt, ist die damit verbundene Sichtweise auch nicht ganz falsch. Daß sie aber
nicht richtig ist, zeigen literarische Praktiken, die sich um Abgrenzung von den
(schul-) grammatischen Modellen literater Textintegration bemühen – wie es letztlich
die moderne Literatur durchgehend bestimmt, die sich damit von dem "klassischen"
Kanon abgrenzt. Hier gibt es eine lange und komplexe Geschichte, die mit dem
Vorführen auch orater Strukturen im Roman oder auf der Bühne (sorgfältig markiert
mit Anführungszeichen u.ä.) einsetzt, schließlich mit dem Verwischen der Grenze
von Vorführen und Vorgeführtem (der "erlebten Rede", frz. discours indirect libre) für
den neuen Roman seit dem Ende des 19. Jhds. geradezu kanonisch wird.
Damit entstehen aber in der modernen Literatur hybride Sprachformen, die die
analytischen Differenzierungen der funktionalen Modellierung nicht mehr ablesbar
machen. Autoren wie Thomas Bernhard produzieren hochkomplexe Texte, die sich
einer einfachen strukturellen Klassifikation verweigern. Seine Texte sind oft nur
interpretierbar, wenn man sie sich vorliest – also medial ins Mündliche überführt
und dabei Markierungen einführt, die bei schriftlichen Texten nicht repräsentiert
werden. Es soll genügen, dafür einen beliebigen Auszug als Illustration anzuführen:
Und er, Konrad, bringe dem Baurat, obwohl er sich mit dem Baurat überhaupt nicht
unterhalten will, denn er will ja nichts, als in sein Zimmer zurück, zurück zur Studie,
etwas zu trinken und Neinnein sage er, Konrad, auf die Frage, ob er, der Baurat,
Konrad in seiner Arbeit, tatsächlich soll der Baurat in Ihrer Studie gesagt haben,
gestört habe (Thomas Bernhard, Das Kalkwerk 56). Die Notwendigkeit, solche Texte
ins Mündliche umzusetzen, macht ihre Struktur aber nicht orat – sie zeigt nur, daß
die schriftliche Form auch hier unterbestimmt ist in Hinblick auf die von der
Interpretation geforderte Repräsentation.
In der modernen Literatur finden sich noch andere hybride Formen, die es nicht
weniger unmöglich machen, in ihr in einem generellen Sinn ein Modell für literate
Strukturen zu sehen. Nicht wenige Autoren setzen dialektale Formen ein (gerade
auch solche, die sich einem nostalgischen Bild der Mundartliteratur verweigern wie
etwa bei X. Kroetz), die definitionsgemäß einen beschränkten WIR-Horizont in die
sprachliche Form einziehen – gegen den unversalistischen Horizont der literaten
Sprache. Auch das gehört zu der modernen Textinszenierung, die den Leser stärker
48
Utz Maas
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einbezieht bzw. aus seiner klassischen Distanz zum Text herausholen will. Wie dem
im einzelnen auch sei, solche literarischen Erscheinungen machen deutlich, daß es
gilt, sich der Suggestion der Literatursprache zu entziehen: der analytisch notwendige
Begriff des Literaten ist funktional; er ist nicht durch die Anschaulichkeit der
literarischen Sprache definiert. Das erfordert allerdings auch, das Konzept des Oraten
präziser zu fassen.
5. Funktionale vs. normative Analyse: literate vs.
"gute" Sprache
5.1. Ein notorisches Problem solcher Analysen ist die Verquickung von funktionaler
Betrachtung und normativen Setzungen / Wertungen, die die Schulgrammatik
bestimmen – nicht zuletzt in der Perspektive der (antiken) Grammatiktradition, die
Grammatik als Ausbildung zum Schreiben der Hochsprache (der "guten" Sprache)
betrieb. Die im Folgenden (II.2.) explizierten Strukturen des Satzes und seiner
Ausbauformen sind, wie es der Dynamik einer "lebendigen" Sprache entspricht,
unterschiedlich robust. Ihre Festigkeit ist eine Funktion des Sprachwandels – insofern
gibt es hier auch das, was in der Gestalttheorie als unterschiedlich robuste (bzw.
"flaue") Strukturen bezeichnet wird: Strukturierungsmuster können sich
25
widersprechen und zu verschiedenen Deutungen führen.
Diese Fragen werden in der Diskussion um die normative Grammatik ausgiebig
abgehandelt, sodaß hier einige Hinweise genügen. Nötig ist aber eine Klärung des
Normbegriffs. Grundsätzlich läßt dieser sich aus den Formen der Erwartungen an die
Praxis entwickeln: überall da, wo Abweichungen vom Erwartbaren vorliegen, sind
normative Strukturen impliziert. Norm entspricht hier dem "Normalen", also dem,
was die Wiedererkennung sicherstellt und damit die soziale Zugehörigkeit ausdrückt.
Bei der Sprache entspricht das dem oben auch herausgestellten Aspekt der sozialen
Kontrolle als steuerndem Moment des Spracherwerbs. In diesem Sinne sind Normen
gleichbedeutend mit sozialen Lebensformen. Sie gehen allerdings nicht auf in der
praktizierten Konformität, gewissermaßen als einem statistischen Wert, der sich bei
der externen Beobachtung des Verhaltens ergibt, sondern sie sind definiert in einer
reflexiven Dimension des Verhaltens, in der dieses bewertet wird. In der
psychoanalytischen Begrifflichkeit entspricht das einer Imago: dem Bild, das sich die
Akteure von sich selbst und ihrem Verhalten machen – das in Auseinandersetzung
26
mit dem Bild entwickelt wird, das sich andere von ihnen machen. Der
entscheidende Punkt ist dabei, daß die Imago selbst eine kontrollierende /
regulierende Funktion im Verhalten hat.
25
Was für die Gestalttheorie etwa in der Wahrnehmungspsychologie grundlegend ist, wie dort
die Experimente mit Vexierbildern zeigen, wird in der Sprachwissenschaft erst jetzt theoretisch
aktuell – artikuliert in der Optimalitätstheorie. Der Markierungstheoretiker Bühler läßt
grüßen!
26
In der sozialwissenschaftlichen Diskussion ist diese Argumentation vor allem seit Anderson
(1983) etabliert.
Literat und orat. Grundbegriffe
49
______________________________________________________________________
In dieser reflexiven Dimension werden die Vorgaben für das Verhalten auch im
sozialen Leben direkt thematisch, wo es u.U. dazu einen eigenen Diskurs und
institutionelle Vorgaben gibt. Wo das der Fall ist, können solche Normen auch
kodifiziert werden. Bei der Sprache ist das in der Regel an die Schrift gebunden – wo
sich die Normierung unmittelbar im Schriftunterricht auswirkt. Dabei sind
unterschiedliche Praktiken in unterschiedlicher Weise im Fokus – die Normierung
der gesprochenen Sprache wirkt sich zwar sozial massiv aus (wie sich z.B. bei
Bewerbungsgesprächen zeigt, wo entsprechende Analysen gezeigt haben, daß
darüber die ersten sozialen Einordnungen der Bewerber laufen), ihre Kodifizierung
ist aber im Gegensatz zu den Rechtschreibbüchern, die in einer Gesellschaft wie der
deutschen fester Bestandteil der meisten Haushalte sind, eher verdeckt. Dabei muß
das, was in der Kodifizierung bzw. dem darauf ausgerichteten Diskurs Gegenstand
ist, sich nicht mit den faktischen Normen decken – wie nicht zuletzt die Debatte um
die Rechtschreibreform deutlich gezeigt hat.
5.2. Normen und funktionale Strukturen schließen sich nicht aus. Es geht nicht um
die Frage: normativ oder funktional, sondern um die Frage: sind vorgegebene
Normen funktional begründet (bzw. wieweit sind sie es). Anti-normative Affekte, die
sich nicht nur, aber eben auch in vielen sprachwissenschaftlichen Ansätzen finden,
können die Analyse blockieren. Ein nicht-sprachlicher Vergleich kann helfen, bei der
Abgrenzung klarer zu sehen. Es handelt sich zweifellos um eine normative Vorgabe,
wenn man bei einem Empfang nicht im "Adamskostüm" zugelassen wird. Unter den
vorherrschenden mitteleuropäischen Verhältnissen ist allerdings eine Bekleidung
funktional (ohne sie ist das Risiko einer Erkältung gegeben). Welche Form die
verlangte Bekleidung hat, ist dann aber (jedenfalls oft) nicht mehr funktional zu
erklären: Krawatten sind z.B. in diesem Sinne nicht funktional zu begründen.
Allerdings ist eine funktionale Analyse an ein definiertes Koordinatensystem
gebunden, in dem die Funktion definiert werden kann - bei diesem Beispiel sind das
letztlich die Körperfunktionen (Bewahrung der Körpertemperatur u.dgl.). Bei einem
anderen Koordinatensystem können auch andere Funktionen definiert sein – wenn
die Zielsetzung ist, die eigene Karriere zu fördern, kann eine "standesgemäße"
Bekleidung auf einem Empfang sehr wohl funktional sein.
Im sprachlichen Bereich sind Normen eng an institutionelle Einrichtungen
gebunden, insbesondere an die Schule. Dort werden Sanktionen verhängt, und
schulische Normen haben lebenspraktisch unmittelbare Wirkungen. Sprachunterricht
ist insofern zwangsläufig normativ. Aber daraus folgt nicht, daß alles, was dort
geschieht (bzw. vermittelt wird) nur normativ ist. Die Vorgaben des
Aufsatzunterrichts: einen kohärenten Text zu erfassen, in ganzen Sätzen zu
schreiben, nicht nur kurze Einfachsätze zu reihen, einen differenzierten
Wortschatz zu nutzen u.dgl. sind normativ – und werden in der Regel auch nur so
vermittelt. Das ändert aber nichts daran, daß auf diesem Wege funktionale
Ressourcen der Schriftpraxis erschlossen werden: für viele Schüler auch nur so –
ohne einen solchen Unterricht würden sie keinen Zugang zur Schriftkultur finden.
50
Utz Maas
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Aber auch hier muß im Einzelnen analysiert werden, wo die Grenze zwischen
27
funktional Erforderlichem und willkürlichen Schikanen verläuft.
5.3. Die Abklärung normativer Strukturen setzt insofern die Klärung ihres
Verhältnisses zu den spontan zugänglichen (und produktiven) Strukturen des
sprachlichen Wissens voraus. Dieses Verhältnis kann grundsätzlich positiv oder
negativ gepolt sein:
• positive Normen sind Vorgaben, die im spontan erworbenen sprachlichen
Wissen nicht vorhanden sind,
• negative Normen stigmatisieren Strukturen des spontan erworbenen
sprachlichen Wissens.
Positive Normen sind mehr oder weniger artifizielle Vorgaben wie sie etwa in
orthographischen Willkürlichkeiten gegeben sind (z.B. Thron mit initialem <Th>, das
sonst nur in einem Feld des [insbesondere griechisch fundierten] Bildungs- bzw.
Technikwortschatzes zu finden ist); negative Normen interferieren mit spontanen
Fundierungen (so, wenn z.B. die Wortbrechung im Deutschen an Silbengrenzen
ausgerichtet wird, in der älteren Orthographie aber die Trennung <ge-stern>
28
(entsprechend [ˈgɛs.tɐn]) sanktioniert war ("trenne nie st, denn das tut weh!"). Für
die Sprachpädagogik ist die Unterscheidung dieser beiden Seiten der Normierung
grundlegend, weil diese für die Lerner sehr unterschiedliche Folgen haben: positive
Normen belasten das Gedächtnis, interferieren aber nicht mit der Sprachpraxis,
während negative Normen zu erheblichen Verunsicherungen führen.
In diesem Rahmen kann es genügen, diese Verhältnisse an einigen Beispielen zu
illustrieren. Ein notorisches (viel beschriebenes) Problem ist z.B. die obsolete
Festschreibung von propositionalen Verknüpfungselementen wie weil, das in der
normativen Grammatik nur als Subjunktor (mit Nebensatzstellung) zugelassen ist:
Hans kann heute nicht kommen, |weil er krank ist|
*Hans kann heute nicht kommen, |weil er ist krank|
Aber die mit * markierte Form ist nicht einfach abweichend, sondern artikuliert mit
der "Hauptsatzstellung" der so eingeleiteten Proposition eine eigene satzmodale
Bestimmung (Indikativ), insofern handelt es sich hier um eine parataktische Fügung
(s. dazu weiter in Teil II).
Ähnlich ist es bei zahlreichen anderen Vorgaben der normativen Grammatik,
die mit dem gängigen Sprachgebrauch (nicht nur der "gesprochenen Sprache")
schlicht nicht übereinstimmen. Ein terminologisches Problem entsteht hier zusätzlich
durch literarische Texte, die im schulischen Kontext auch als Modelle dienen. Solche
Modelle (bzw. Leseerfahrungen) haben zweifellos eine Schlüsselrolle beim Ausbau
27
Noch wichtiger: wieweit dieser Unterricht so angelegt ist, daß die Lerner durch ihn
tatsächlich einen Zugang zur Schriftkultur finden – was bekanntlich bei vielen keineswegs der
Fall ist.
28
Die mögliche Fundierung in der älteren deutschen Schrifttradition mit einer spezifischen stLigatur ist seit den verschiedenen Schriftreformen im 20. Jhd. (letztlich auch schon bei der
Sütterlin-Schrift) weggefallen.
Literat und orat. Grundbegriffe
51
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literaten Wissens – sie sind aber von den u.U. auch in der Auseinandersetzung mit
ihnen entwickelten funktionalen (literaten) Strukturen zu unterscheiden.
So gehört es zweifellos zur (Makro-)Strukturierung eines erzählenden Textes im
Deutschen, daß die chronologischen Verhältnisse dabei durch die Tempusformen
artikuliert werden. Üblicherweise stellt eine Erzählung ein bereits geschehenes
Ereignis dar, was Vergangenheitsmarkierungen erfordert, ggf. mit einer Abstufung
von relativen Zeitverhältnissen; möglich ist dabei immer der metaphorische
Rückgriff auf Präsensformen, wie es didaktisch gerne heißt: zur "Verlebendigung" in
der Darstellung der Handlung (neben der Artikulation zeitloser Sachverhalte im
Hintergrund des Geschehens). Dafür sind nun aber die im gesprochenen Deutsch
inzwischen weitgehend allein üblichen periphrastischen Formen ("Perfekt") genauso
brauchbar wie die weitgehend obsoleten synthetischen Präteritumsformen:
der Junge ist mit seinem Hund in den Wald gegangen
ist funktional gesehen äquivalent mit
der Junge ging mit seinem Hund in den Wald
Wenn schon Grundschüler angehalten werden, die synthetischen Formen zu
verwenden, ist das eine normative Vorgabe, die sich an den üblichen Lesebuchtexten
orientiert, mit der funktionalen Analyse aber nichts zu tun hat.
5.4. Allerdings sind die Verhältnisse nicht immer so eindeutig wie hier.
Orthographische Vorgaben sind grundsätzlich funktional – im virtuellen Raum
möglicher Texte in einer Sprache. Sie werden aber überlagert durch eine Fülle von
Zöpfen der Kodifizierungstradition, die in diesem Sinne nicht ausgewiesen sind.
Diese Unterscheidung liegt allerdings nicht immer auf der Hand. Erklärt man die
literate Struktur eines Textes durch die funktionale Forderung, daß seine Kodierung
so erfolgen soll, daß seine Interpretation möglichst ohne Rückgriff auf textexterne
Annahmen möglich sein soll, erscheinen viele orthographische Vorgaben als
überflüssig. Das betrifft z.B. große Bereiche der Interpunktion, die daher auch unter
solchen Prämissen im Rahmen der letzten Reform bei der Kommatierung eine
weitgehende Freigabe durchsetzen wollte.
Nun ist eine Textpassage wie die folgenden auch ohne Interpunktion zweifellos
eindeutig zu interpretieren:
der Mann ging in den Wald
↑
um Holz zu sammeln
↑
dort traf er einen Jäger
↑
Die syntaktische Struktur gibt an den markierten Stellen eindeutige Zäsuren vor, die
drei Propositionen zeigen (die zweite ist elliptisch). Im strikten Sinne ist hier keine
interpungierende Markierung für das Erlesen erforderlich. Aber hier sind die
Horizonte des kompetenten Lesens maßgeblich: für das kursorische Lesen eines
längeren Texts sind interpungierende Markierungen (einschließlich der satzinitialen
Majuskel) starke orientierende Hinweise, und in diesem Sinne also funktional. Daher
normkonform und funktional:
Der Mann ging in den Wald, um Holz zu sammeln. Dort traf er einen Jäger.
52
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Vor allem aber ist die Funktionalität der Orthographie nicht auf die Probleme eines
Einzelfalls abgestellt, sondern auf den virtuellen Raum aller möglichen Texte. In
dieser Hinsicht ist die deutsche Orthographie optimiert, insbesondere durch die
weitgehende Grammatikalisierung ihrer Markierungen: durch das satzinterne Parsing
durch die Majuskelsetzung beim Kern nominaler Gruppen, das Parsing komplexer
Sätze durch die Kommatierung aller satzwertigen Konstruktionen (Propositionen)
u.dgl.
5.5. Belastet wird dieses Feld durch die Verunsicherungen durch die übliche
Grammatographie: Die Darstellungen in den verbreiteten Grammatiken des
Deutschen verdecken oft mehr von den (funktional auszuweisenden) Strukturen, als
daß sie sie zeigten. So ist z.B. als keineswegs nur der temporale Subjunktor eines
Adverbial- ("Neben-") Satzes – es kann auch als sequenzieller Verknüpfer genutzt
29
werden, also mit einer eher parataktischen Funktion, trotz der Nebensatzstellung:
Hans ging spazieren, |als Emma plötzlich vor ihm stand|
synonym mit: |(und) da stand Emma plötzlich vor ihm|
Strukturen wie diese erfüllen im Gegensatz zu dem in (II.2.) Abgehandelten alle
Bedingungen der (vollständigen) Artikulation durch das Symbolfeld, sind in diesem
Sinne also literate Strukturen. Die Frage der Wertung gehört in eine andere Art der
Betrachtung, die später noch in Teil (II.3.) diskutiert wird. Die in dieser Hinsicht
zentrale normative Rolle der literarischen Sprache (und die Verwirrungen durch die
"anti-schulische" Selbststilisierung in der modernen Literatur) ist im vorigen
Abschnitt (4.) angesprochen worden.
5.6. Da Schreiben in der Regel in der Schule gelernt wird, sind die Vorstellungen von
literaten Strukturen in der Regel eben auch an die schulisch hoch gesetzten
literarischen Modelle gebunden (zu unterscheiden von dem funktionalen Konzept des
30
Literaten). Historisch läßt sich nachvollziehen, daß diese Modelle in der Regel auch
aus einer ganz anderen (eben der in den mehrsprachigen Verhältnissen verankerten
anderen "Hochsprache") stammen, wie es vor allem auch bei den religiös
transportierten Schriftkulturen der Fall ist. Damit können artifizielle Muster
29
In der traditionellen, an der Rhetorik orientierten lateinischen Schulgrammatik war das ein
alter Hut: in den ausführlicheren Lateingrammatiken wurden solche Konstruktionen z.B. als
die eines cum inversum erörtert (umgekehrtes cum – cum entsprechend dem dt. als).
30
Das hat sehr handfeste Konsequenzen bei der Art, wie das Bildungssystem funktioniert. Die
Aneignung der schriftkulturellen Ressourcen ist für Kinder und Jugendliche, die das
entsprechende "kulturelle Kapital" nicht aus ihrer Familie mitbringen, nur in der Schule
möglich – die auch in der bürgerlichen Gesellschaft einen entsprechenden kompensatorischen
Auftrag hat. Die Art und Weise, wie in der Schule (insbesondere im Sprach- bzw.
Deutschunterricht) aber die funktionalen Dimensionen der Schriftkultur von literarisch
ausgerichteten normativen überlagert werden, bestätigt solche Lerner in der Regel darin, daß
sie dort nicht zuhause sind – und bestätigt sie in dem Prozeß der Selbstausschließung von der
Partizipation an den gesellschaftlichen Ressourcen, s. etwa Pieper (2004). Vieles von dem, was
die Forschung als "kreative" Aktivitäten der Jugendkultur herausstellt, dient dazu, diesen
Mechanismus zu überspielen.
Literat und orat. Grundbegriffe
53
______________________________________________________________________
vehikuliert werden, mehr oder weniger durchsichtig als Kalkierungen auf
fremdsprachige Modelle; es können durch die Sprachentwicklung überholte Muster
konserviert werden; es können aber auch einfach elitäre Distinktionen gegenüber der
Sprache "des Volks" vorgegeben sein. Dabei können in unterschiedlichen Kulturen
sehr unterschiedliche normative Konzepte Geltung haben.
In den europäischen Sprachen wirken die Modelle der alten Schul- bzw.
Kirchensprachen nach, die als hochwertig einen kompakten Periodenbau mit einer
tief geschachtelten Konstruktion von abhängigen, vor allem auch infiniten
Propositionen vorgaben, der Anreicherung auch der nominalen Konstituenten durch
attributiven Ausbau u.dgl., die in der Schule als das ganz Andere gegenüber der
spontanen Sprache geübt wurden und werden – und auf deren Konto die Ablehnung
der Beschäftigung mit geschriebener Sprache in der neueren deskriptiven
31
Sprachwissenschaft zurückgeht. In umgekehrter Blickrichtung geht darauf die
(ebenfalls schulisch transportierte) Vorstellung von der gesprochenen Sprache als
einer reduzierten Form der Sprache (d.h. also gegenüber der expliziten schriftlichen
Form) zurück. In Fernost ist das normative Feld dagegen konträr gepolt: literate
Sprache ist minimalistisch, in der Schule werden lakonische Schriftpraktiken geübt
(japanische Haikus, die gut zu den alten kaligraphischen Techniken passen ...),
32
mündliche Sprache gilt demgegenüber als "verbos", als redundant ...
Auch hier gilt es aber zu beachten, daß solche normativen Vorgaben immer
rittlings auf etablierten (in der alltäglichen Partizipation gelernten!) Sprachstrukturen
operieren. Sprachen wie das Chinesische, mit einer wenig ausgeprägten Morphologie,
machen andere Vorgaben für den Sprachausbau als solche mit reicher Morphologie
(wie z.B. Deutsch oder Russisch). Wie vorläufige explorierende Untersuchungen
33
zeigen, sind hier die Register in syntaktischer Hinsicht sehr viel durchlässiger, d.h.
die größere Integration literater Texte erfolgt strukturell mit den gleichen Mitteln, die
auch in der spontan gesprochenen Sprache genutzt werden (insbesondere die
Integration durch syntaktische Klitisierung, da die "Auffüllung" des kanonischen
Symbolfeldes Satz mit Proformen nicht grammatisiert ist), sodaß die
Registerabgrenzung vor allem mit konnotativen Mitteln des Wortschatzes erfolgt
(was als stilistische Ressource selbstverständlich auch in anderen Sprachen genutzt
wird). Insofern haben solche Analysen zwangsläufig einen typologischen Horizont.
Es ist klar, daß diese normative Dimension bei allen empirischen
34
Untersuchungen geschriebener vs. gesprochener Sprache isoliert werden muß,
Dabei gilt selbstverständlich, daß sich diese normativen Ausrichtungen auch in der
gesprochenen Sprache geltend machen können. Verkompliziert wird das ganze
dadurch, daß die moderne Literatur durch eine Gegenreaktion auf den
"akademischen" literarischen Stil bestimmt ist, durch die orate Formen literaturfähig
31
Zum lateinischen Periodenbau, der von Cicero nicht nur kultiviert, sondern in der
rhetorischen Lehre auch kanonisiert wurde, s. den Überblick bei Hofmann / A.Szantyr (1965).
32
Einiges dazu ist schon in der neueren Literatur zu finden, s. z.B. Li / Thompson (1982).
33
So in der MA-Arbeit von Y.Hong (s. Kap. 4).
34
Vgl. in diesem Sinne die russisch-deutschen Beispielanalysen in Maas 2008a: Kap. II.4 (zu
den konverbalen, d'ejepričast'e – Konstruktionen). Dazu auch die Befunde in der MA-Arbeit
von K.Dunst (2009).
54
Utz Maas
______________________________________________________________________
geworden sind: angefangen bei der zitierenden Einbettung im Naturalismus über das
Theater (gesprochen auf der Bühne, aber so auch gedruckt als Lesetext!) bis zum
roman parlant seit der ersten Hälfte des 20. Jhds. (Louis Fedinand Céline u.a.). Das ist
35
ein eigener Strang im Feld von orat / literat, der hier ausgeklammert bleiben soll.
6. Sprachausbau I: die ontogenetische Perspektive
(und didaktische Konsequenzen)
6.1. Hinter der bisher entwickelten Argumentation steht eine dynamische Sicht von
Sprache, die in ihr ein Moment der Entwicklung des Menschen in der
Auseinandersetzung mit seiner sozialen Umwelt sieht. Sprache, oder noch
allgemeiner: symbolische Praktiken können als Fortführung des Bestrebens nach
Autonomie gesehen werden, in dem sich die spezifisch menschliche Form von
Vitalität entfaltet: angefangen bei der motorischen Entwicklung, mit der das
Kleinkind sich autonome Bewegungsräume gegenüber der symbiotischen (und
zunächst ja auch körperlichen) Bindung an die Mutter bzw. den späteren weiteren
Bezugspersonen erschließt. Symbolisches Verhalten überwindet dabei letztlich die
physikalisch definierten Schranken des Verhaltens.
Sprachentwicklung ist insofern mit der biologischen Entwicklung verschrankt,
die bei der Geburt noch nicht abgeschlossen ist: das menschliche Neugeborene ist im
Vergleich zu anderen Tieren bei der Geburt noch nicht fertig: weder in der
körperlichen Entwicklung noch im Gebrauch seiner körperlichen Ausstattung (es
kann z.B. im Unterschied zu neugeborenen Rindern noch nicht einmal stehen oder
sich selbständig fortbewegen). Aus dieser Verklammerung der unkörperlichen (sozial
bestimmten) Sprachentwicklung mit körperlicher Entwicklung (oft auch als Reifung
angesprochen, insofern hier ein genetisch vorgegebenes Programm entfaltet wird)
resultiert ein großer Teil der Konfusion der einschlägigen Diskussion. Die frühe
Sprachentwicklung ist nicht zu trennen von der Aneignung der körperlichen
Ressourcen, angefangen beim "Brabbeln" Neugeborener, mit dem sie die Organe
ausprobieren, die sie später für die Artikulation sprachlicher Äußerungen betätigen
(der Mensch hat kein spezifisches Sprachorgan – für die sprachliche Artikulation
werden die Organe der Atmung und der Nahrungsaufnahme umfunktioniert). Es
liegt auf der Hand, daß sprachliche Leistungen, die an den kontrollierten Umgang mit
bestimmten körperlichen Funktionen gebunden sind, nicht erbracht werden können
(entfaltet werden können), bevor die organische Entwicklung und ihre kontrollierte
Nutzung gegeben ist.
Das macht die Probleme der landläufigen Sprachentwicklungsmodelle mit ihren
Stufen aus: es ist in der Regel nicht klar, ob es dabei um spezifische sprachliche
(symbolische) Verhältnisse geht – oder um ihre Fundierung in der körperlichkognitiven Ausstattung, die dazu vorausgesetzt ist. In einer groben Rasterung können
Entwicklungsphasen im Sinne einer implikationellen Ordnung angesetzt werden:
35
Nur zwei Hinweise zu dieser ausgedehnten Forschungsdiskussion: Betten (1985) und Maas
(2009).
Literat und orat. Grundbegriffe
55
______________________________________________________________________
• Sprachentwicklung setzt voraus, daß das Kind eine gewisse Autonomie in der
symbiotischen Bindung an die Bezugspersonen erworben hat: insofern setzt
sie ein, wenn das Kind auch im motorischen Bereich begonnen hat, sich von
der Mutter (dem Vater) zu entfernen, also in der Regel im zweiten
Lebensjahr. Die motorische Selbständigkeit wird weitergeführt, wenn das
Kind der Bestimmung seines Verhaltens durch die anderen einen eigenen
Willen entgegensetzt (der Psychoanalytiker Spitz setzt an den Anfang der
Sprachentwicklung das kindliche Nein, mit dem es seine Autonomie
symbolisch markiert – gewissermaßen als Replik auf das Nein, mit dem die
Bezugspersonen seinen motorischen Aktivitäten Schranken setzen, s. Spitz
1957);
• die weitere Entwicklung besteht in der Differenzierung der symbolischen
Artikulation: frühkindliche Äußerungen erhalten ihren Sinn in der sozialen
Konstellation mit den kontrollierenden Bezugspersonen (nicht nur den Eltern,
auch den älteren Kindern). Dadurch sind sie beschränkt auf eine nur
abhängige situative Teilaktivität, der von den anderen Sinn zugeschrieben
wird. Mit dem Erschließen der grammatischen Ressourcen der Sprache kann
das Kind selbst seinen Äußerungen einen Sinn geben – letztlich mit den
grammatischen Ressourcen, die Sätze zu selbstständig interpretierbaren
Äußerungseinheiten machen (formal gesprochen: die Finitheitsbestimmungen
eines Satzes, s. dazu II.1.);
• diese beiden Momente sind eng gekoppelt: in sozialer Hinsicht ist daher die
Selbstorganisation kindlichen Verhaltens im Umgang mit seinen peers
entscheidend, in dem es nicht mehr eine abhängige Rolle in fremdbestimmten
Situationen hat. Charakteristischerweise nutzen Kinder ihr Rollenspiel
(alleine oder auch mit anderen Gleichaltrigen) dazu, komplexe sprachliche
Strukturen auszuprobieren – wozu sie in der Kommunikation mit
überlegenen Älteren keine Chance haben. Diese Entwicklungsphase ist meist
im Alter von 4 – 5 Jahren erreicht;
• zu dem Gewinn an Autonomie gehört eine selbstreflexive Modellierung des
eigenen Ichs (in der psychoanalytischen Diskussion ausgiebig exploriert,
angefangen bei der sog. "Spiegelphase", in der das Kind sich selbst in dem
objektivierten Bild im Spiegel entdeckt) – im Gegensatz zu anderen Personen,
denen so ebenfalls die Autonomie eines Ichs zugeschrieben wird. Auch in
dieser
Hinsicht
haben
Rollenspiele
eine
explorierende
Funktion. In sprachlicher Hinsicht wird das in der Vielfalt von satzmodalen
Bestimmungen umgesetzt, mit denen vor allem virtuelles Verhalten
artikulierbar wird – ebenso wie Täuschungen, Lügen u.dgl. Komplexe
sprachliche Strukturen, etwa Matrixkonstruktionen mit kognitiven
Prädikaten und propositionalen Komplementen ebenso wie finite
Komplementsätze, adversative Konstruktionen u.dgl. können erst erschlossen
werden, wenn diese Entwicklung durchlaufen ist;
• das geht parallel mit der Differenzierung kognitiver Kontrollaktivitäten,
gebunden an die Erweiterung des Gedächtnisses (vor allem auch des
"Arbeitsspeichers"). Dabei gilt generell für diese differenzierte Entwicklung,
56
Utz Maas
______________________________________________________________________
daß mit ihr bzw. mit ihrer Entfernung von den rein biologischen Grundlagen
auch die unterschiedlichen personalen Ausbildungen, die man oft als
individuelle Lernerstile anspricht, zunehmen. Es spielt für die Entwicklung
offensichtlich eine große Rolle, ob das aktuelle Verhalten immer quasi
reflexartig als selbstverständlich aktiviert wird, oder ob es eine Entscheidung
für alternative Optionen voraussetzt. Das erklärt insbesondere auch die u.U.
anders ausgebauten Fähigkeiten bei von Anfang an zweisprachig
aufwachsenden Kindern als bei später erworbener Zweisprachigkeit. Diese
erfahren früh sprachliche Formen als Optionen im Horizont von alternativen
Artikulationsmöglichkeiten bzw. lernen, so damit umzugehen. Komplexere
syntaktische Strukturen (im Gegensatz etwa zu einer rein gedächtnismäßig
abzuspeichernden Wortschatzerweiterung) können nur auf einer
entsprechend differenzierten Grundlage erworben werden. Das
charakterisiert ein sprachliches Kompetenzniveau, wie es im Sinne der
"Schulreife", also der Voraussetzungen für den Schrifterwerb, in der Regel im
Alter von 5 – 7 Jahren in allen Gesellschaften auch angesetzt wird;
• die weitere Entwicklung, bestimmt durch die Aneignung der Schriftkultur, ist
eine weitergehende Entfaltung dieses Prozesses der Sprachentwicklung als
Gewinn von Autonomie. Schriftsprachentwicklung ist nichts ganz Anderes
als Sprechsprachentwicklung, sondern ihre Fortsetzung unter anderen,
komplexeren Randbedingungen – als Entfaltung dessen, was die spezifisch
menschliche Form von Vitalität ist. Jenseits der Möglichkeit, Schrift auch für
die Repräsentation von Gesprochenem zu nutzen (als telling knowledge i.S.
von Bereiter / Scardamalia), erlaubt sie es, die Bindung an empraktische
Kontexte zu überwinden. Das setzt voraus, daß die kognitiven
Voraussetzungen dafür gegeben sind: daß Schriftzeichen nicht als Bilder
gesehen werden (auch nicht als Bilder für etwas anderes), sondern als
diakritische Zeichen, die im Symbolfeld der Sprache ihre Funktion haben
(s. Teil II.1. zu diesem bühlerschen Konzept). Und das wiederum setzt voraus,
daß eine symbolische Praxis mit Zeichen gebootet wird – ausgehend von
einer Praxis, in der Sprachliches als Anzeichen für damit (denotativ, vor
36
allem aber auch konnotativ) Verbundenes fungiert. Die bescheinigte
Schulreife (bzw. die Einschulung) setzt das voraus – ohne daß diese
Voraussetzung damit schon bei allen Kindern hinreichend gegeben wäre;
• im
Gegensatz
zur
üblichen
didaktischen
Zerstückelung
der
Sprachentwicklung, die auf die verschiedenen Schulformen bzw. –stufen
abgebildet wird, gilt es deren Einheit zu sehen, die aber in einem
vieldimensionalen Raum artikuliert wird. Dazu gehört nicht nur, daß sie
nicht mit dem Schuleintritt abgeschlossen ist, von dem an etwas anderes
geschieht (wie es häufig in sprachwissenschaftlichen Arbeiten zur
Sprachentwicklung präsentiert wird, für die diese sich zwischen Geburt und
36
Die jüngere kognitive Psychologie ist dabei, diese Zusammenhänge aufzudröseln, bes. etwa
in den Arbeiten von E.Bialystok, die die fragliche Schwelle denn auch als eine der
symbolischen Repräsentation bestimmt, s. z.B. Bialystok /Senman (2004).
Literat und orat. Grundbegriffe
57
______________________________________________________________________
Schuleintritt abspielt), sondern daß der Sprachausbau, der in der Schule dann
als schriftkulturelle Fertigkeiten bewertet wird, in grundlegenderen
Sprachstrukturen verankert ist. Wenn Schrift nicht auf ihre mediale (skribale)
Seite reduziert wird, wie es allerdings gerade auch in didaktischen Ansätzen
des Anfangsunterrichts angelegt ist (die Schreiben kommunikativ bestimmen
und die Kinder im freien Schreiben dazu anhalten, Sprechsprachliches
graphisch umzusetzen u.dgl.), dann führt sie das auf einem entfalteteren
Niveau fort, was vorher schon im Gesprochenen angegangen worden ist: die
Modellierung von Sachverhalten im Horizont von Alternativen, wodurch
Implikationen erschlossen werden, die in der Anschauung nicht zugänglich
sind (im Sinne von knowledge transformation bei Bereiter / Scardamalia).
Das ist aber auch der Horizont, in dem das "kulturelle Kapital" aufgebaut
wird, das erfolgreiche Lerner in die Schule mitbringen – die anderen aber
nicht. In diesem Sinne ist eben die literate Artikulation eine Dimension in der
Sprachentwicklung: die des Sprachausbaus – und nicht eine späte "Stufe", die
37
auf etwas ganz Anderes draufgesattelt wird.
6.2. Bei der im Vorausgehenden entwickelten Argumentation war der Bezug auf das
Lesen zentral, als kontrollierende Instanz gegenüber der Äußerungsperspektive beim
Sprecher / Schreiber. Wenn dieser Bezug empirisch Sinn machen soll, verlangt das
noch weitere Differenzierungen. Lesen, also die Sinnentnahme bei einem
schriftlichen Text, ist offensichtlich ein idealtypischer Begriff, dem unterschiedliche
Praktiken entsprechen, nicht nur, aber insbesondere auch gebunden an
sprachbiographische Entwicklungsverläufe. Unklarheiten ergeben sich hier nicht
zuletzt durch die Überlagerung der strukturellen Reflexion mit sprachdidaktischen
Überlegungen, die ihrerseits meist mit den Scheuklappen der professionell
verankerten Zerlegung nach Schulstufen und ihren Lernzielen versehen sind. Beim
Lesen sind zwei Aspekte isolierbar, die aber wie zwei Seiten einer Medaille nicht
absolut gesetzt werden können:
• die graphische Form (der mediale Aspekt), in unserer Kultur also die
Alphabetschrift,
• die Inhalte, die in dieser graphischen Form kodiert sind (der
Bedeutungsaspekt).
Kompetentes Lesen wird zwangsläufig in einer Progression gelernt, bei der die
Kontrolle der graphischen Form am Anfang steht. Aber auch der elementare Anfang
eines Lernprozesses ist durch sein Ziel (hier: das kompetente Lesen) definiert. Den
Anfang bildet die Kontrolle der buchstäblichen Artikulation, zunächst als
Verknüpfung der graphischen Form mit einer lautlichen Interpretation. Auf dieser
elementaren Stufe drohen "Materialentgleisungen", wie man früher sagte:
37
Das ist nun auch der Tenor der jüngeren einschlägigen Forschung, s. etwa Leseman u.a.
(2007), die dort in diesem Sinne von oral literacy als den entsprechend vorskribalen Formen
der literat ausgebauten Sprache sprechen.
58
Utz Maas
______________________________________________________________________
• rein skribales Lernen der graphischen Form, wie es in analphabeten Praktiken
38
zu finden ist,
• die Fixierung auf die isolierten Buchstaben mit einer hyperlautierenden
Interpretation, die den Zugang zu semantisch interpretierbaren Textformen
39
blockiert.
Kompetentes Lesen nutzt diese mediale Grundlage, löst sich aber von ihr durch die
Projektion von inhaltlichen Interpretationen, die fortlaufend wieder kontrollierend an
die graphische Form rückgebunden werden (deutlich abzulesen an den
Augenbewegungen, die die neuere Leseforschung exploriert). So hat man denn auch
früh schon Lesen als einen hypothesengeleiteten kognitiven Prozeß definiert, so z.B.
Thorndike (1917).
Schematisch läßt sich das so darstellen, daß einmal Schrift als opake Barriere
erscheint (skribale Praktiken), ein andermal als transparentes Medium für das Lesen:
Die sprachbiographische Progression läßt sich als kontinuierliche Erweiterung des
Horizonts solcher interpretierender Hypothesen beschreiben:
• im elementaren Anfangsunterricht als lokale Hypothesen über die lautliche
Interpretation der Buchstaben, die als Skopus die Silbenstruktur haben, die
38
Und so auch als häufiges Ergebnis des Schreibunterrichts in Elementarschulen in nichtliteraten Gesellschaften, bei denen die literate Praxis für viele Schüler nicht den Horizont
bildet, s. dazu Maas (2008a) mit Beispielen aus Marokko, bes. das Beispiel der marokkanischen
Schülerin Houda, S. 495 - 496.
39
Das ist nach wie vor die Grundlinie der didaktisch üblichen Art des Anfangsunterrichts,
gegenüber der erfolgreiche Lerner selbständig einen Ausweg finden müssen – während die, die
das nicht schaffen, als Versager stecken bleiben (neuerdings gerne auch mit dem Stigma von
"Legasthenikern" versehen). Ausführlich zu diesem Komplex mit instruktiven Beispielanalysen
Röber (2009). Dort auch zu den grundlegenden konzeptuellen Barrieren in der didaktischen
Diskussion, die in einem Zirkel stecken bleibt, weil sie ihre Begrifflichkeit gewissermaßen an
den didaktischen Praktiken abliest – angefangen bei den Lautstrukturen, die sie als
"Aussprache" von (isolierten!) Buchstaben versteht, wodurch ein Verständnis der komplexen
Segmentierungs- und Kategorisierungsprobleme der Lerner blockiert wird.
Literat und orat. Grundbegriffe
59
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•
•
•
•
ihrerseits die wortprosodische Gliederung als Horizont hat: im Deutschen z.B.
die (vom Lautlichen aus gesehen:) Unterdifferenzierung der Vokalzeichen, die
nur über die überlokal zugängliche Anschlußkorrelation im Silbenbau
aufzulösen ist, z.B. bei <u> mit den Interpretationen [u] und [ʊ]: [u] bei gute
40
[guː.σtə], aber [ʊ] bei Hunde [hʊn.σdə]; oder die ansonsten vielfach
mehrdeutige Graphie <e>, die sich bei einer schulisch üblichen
Hyperlautierung [eː] (bzw. [ʔeː]) nicht erschließt, sondern nur im Rückgriff
auf die prosodische Gliederung, die ihren lokalen Ausdruck in
unterschiedlichen Silbentypen findet, wie bei der unterschiedlichen
Interpretation des <e> in der prominenten vs. der Reduktionssilbe in Esel
[ˈʔeː.σzəlσ];
die nächsten "Etappen" im Lernprozeß erschließen die Grundstruktur
schriftlicher Texte, zunächst ihre Artikulation durch Wortformen. Der
Skopus der Hypothesenbildung (und des entsprechenden Abtastens des
graphischen Textes beim Erlesen) sind hier die Buchstabenfolgen zwischen
Spatien und ihre Interpretation sowohl auf der Ebene des phonologischen
41
Wortes wie einer semantisch interpretierbaren Form;
auf einer weiteren Ebene werden Wörter in ihrem syntagmatischen
Zusammenhang interpretiert. <buddelt ein> anders bei
Lola buddelt |ein riesiges Loch|
als bei
42
sie |buddelt ihn ein|
entweder mit der Ausgliederung einer NG (ein als Artikel) oder eines
komplexen Verbs (ein als Verbpartikel);
darüber hinaus geht die Integration solcher Syntagmen in einen selbständig
interpretierbaren Satz, bei dem die Konstituenten (Prädikat mit seinen eng
gebundenen Objekten; Subjekt; adverbiale Adjunkte) auf ein interpretatives
Szenario (Prädikat mit seinen Argumenten; höhere Prädikate zur Situierung
der Proposition usw.) abgebildet werden;
schließlich die Projektion der Makrostruktur des Textes, z.B. eine Erzählung
mit einer chronologischen und motivationalen Grobstruktur, einem
Spannungsauf- und -abbau u.dgl.
Die Kompetenz eines Lesers mißt sich daran, wieweit er seine Hypothesenbildung
(sein Erlesen) auf den maximalen Skopus kalibrieren kann und den Rückgriff auf die
feinkörnigeren Strukturen nur noch zur Kontrolle einsetzt – offensichtlich auch eine
Frage des Lesetempos, maximal bei kursorischem Lesen der Tageszeitung, aber auch
der Fachliteratur, die ohne solche Strategien nicht zu bewältigen ist. Zum Erlesen im
40
[.σ] repräsentiert die Silbengrenze.
Christa Roeber (2009) hat in ihren Beispielanalysen aufschlußreiche Protokolle von
Leseanfängern – sowohl solchen, die an der Buchstabenorientierung kleben bleiben und damit
nur sinnlose Lautierungen produzieren, wie anderen, die mit möglichen Lautierungen
experimentieren, um solche wortphonologisch wie semantisch interpretierbare Formen zu
finden, die also im hypothesenbildenden literaten Raum agieren.
42
In Anlehnung an einen Beispielsatz der DUDEN-Fibel (Berlin: DUDEN PAETIC 2005).
41
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Utz Maas
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feinkörnigeren Modus wird dann nur noch als Reparaturmodus umgeschaltet, wenn
Unstimmigkeiten oder auch sinnlose Interpretationen entworfen werden und nach
einer Korrektur verlangen.
6.3. Ein Problem der dieses Feld bestimmenden didaktischen Reflexion ist es, diese
perspektivische Ausrichtung auf das kompetente Lesen mit dem Ziel der
Wissenserweiterung bzw. das Schreiben als Form der Wissensbearbeitung (also des
knowledge transforming, s.o.) auszublenden und die schriftsprachliche Erziehung auf
43
die elementaren Stufen mit einem engen Skopus auszurichten. Hinzu kommt hier,
daß bei dem die Didaktik bestimmenden Horizont die spezifischen
Aneignungsprobleme der Schrift von denen der Sprachentwicklung generell
überlagert werden. Bei Schuleintritt, also der Entwicklungsphase, in der im
Anfangsunterricht die Grundstrukturen der Schriftsprache vermittelt werden sollen,
sind auch im Mündlichen die sprachlichen Strukturen noch nicht "gebootet", die
komplexe literate Strukturen nutzen. Komplexe syntaktische Strukturen (komplexe
Sätze, aber auch die Verdichtung der syntaktischen Artikulation in einfachen Sätzen)
finden sich in der gesprochenen Sprache von Schulanfängern in Ausnahmefällen –
sie werden zugleich mit der Schriftsprache gelernt (auch wenn das nicht auf den
Unterricht beschränkt ist). Zugleich aber bedeutet der Zwang zur schriftlichen
Präsentation solcher Strukturen eine Schikane, die jedenfalls in freien schriftlichen
Texten die Nutzung komplexer sprachlicher Strukturen reduziert.
Das ist der Kontext für die z.T. widersprüchlichen Befunde in der Forschung zur
Schriftpraxis bei Grundschulkindern. Man kann davon ausgehen, daß Kinder schon
in der Vorschulzeit bewußt mit den erfahrenen Formen von sprachlicher Variation
umgehen: in ihren Rollenspielen geben sie oft solchen Unterschieden (präsentiert als
unterschiedliche Figuren) eine unterschiedliche Stimme. Aber die Mittel zur
Darstellung sind hier mimetisch, im Rückgriff auf parasprachliche Ressourcen (s.o.),
nicht symbolisch im engeren Sinne sprachlicher Ressourcen.
Wenn sie dann schreiben können, und man sie bittet, dergleichen zu
verschriften, fehlen ihnen die literaten Äquivalente – und heraus kommen
fragmentierte Texte, die meist auch nur bei entsprechendem Kontextwissen einen
Sinn machen. Das Bewußtsein davon, daß viele der mündlich genutzten Ressourcen
orat sind, bringt sie dazu, sie im Schriftlichen wegzulassen – mit einer literaten
Edition, wie sie oben in (1.) bei Tülay illustriert wurde. Erst im Verlauf der
Grundschulzeit, also der Entwicklungsphase von 6 – 10 Jahren eignen sie sich auch
im Mündlichen Ressourcen an, dergleichen auch literat zu repräsentieren, z.B. auch
im Lexikon ein differenziertes Inventar von Formen, die logophorische Bezüge
(s. dazu II.1.) zu artikulieren erlauben, unterschiedliche Typen von Äußerungen zu
differenzieren u.dgl. Die inzwischen auch im internationalen Vergleich
durchgeführten Untersuchungen auf diesem Feld zeigen, daß unabhängig von
43
Diese Kritik wird durchaus auch im Fach vorgebracht, s. etwa Haueis (2007) oder Enders
(2007) – soweit ich sehe, aber (bisher) ohne große Konsequenzen.
Literat und orat. Grundbegriffe
61
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sprachstrukturellen Besonderheiten solche Strukturen in vollem Sinne erst nach der
44
Pubertät (bei Erwachsenen) zu finden sind.
Bildet man die schulischen Aufgaben darauf ab, sollte es sich von selbst
verstehen, daß die Klärung der Zielsetzung bei dieser entfalteten Sprachpraxis
ansetzen sollte: bei dem, was kompetente Menschen mit ihren sprachlichen
Ressourcen zu machen vermögen. Das gilt für die mündliche Sprachpraxis, erst recht
aber für die schriftliche, die auf spezifisch literate Strukturen abstellen muß. Das
spezifisch didaktische Problem: die Lerner bei dem abzuholen, wo sie ihre Potentiale
schon entfaltet haben, markiert den anderen Pol in diesem Lernfeld und seiner
schulischen Unterstützung. Das Gegenteil davon ist es, sie auf diese schon
verfügbaren Ressourcen festzulegen – z.B. die Schriftsprache zu vermitteln als eine
Form, Mündliches (in oraten Strukturen) zu repräsentieren, wie es bei freiem
Schreiben in den ersten Klassen in der Regel geschieht. Vordergründig vermittelt das
zwar im Grundschulunterricht Erfolgserlebnisse, aber damit werden die
schriftkulturellen Zusammenhänge auf den Kopf gestellt.
Die institutionell verfestigte Zerstückelung der didaktischen Reflexion, mit
eigenen Berufsbildern für die Grundschule gegenüber der Sekundarstufe: den Grundund Hauptschullehrern gegenüber den Gymnasiallehrern u.dgl., führt dazu, daß
schulische
Vermittlungsprobleme
an
die
Stelle
von
systematischen
Begründungsfragen treten. An die Stelle einer Reflexion auf Schrift (auf literate
Ressourcen), die es ermöglicht, auch die Leistung der Schule zu beurteilen, tritt der
anschauliche Rückgriff auf die Anforderungen der Schule (in ihren verschiedenen
Formen). Das wiederum mündet dann gerade auch in der pädagogischen Diskussion
in die breite Kritik an der Schule: die Forderung nach der "Entschulung", nach der
Rückführung des Lernens auf "natürliche" Formen, der Aufnahme von
Alltagspraktiken und der Orientierung des Sprachunterrichts auf Kommunikation,
45
mit denen der Blick auf den schriftkulturellen Ausbau versperrt ist.
44
Auch hier kann der Hinweis auf den oben schon genannten Band von Verhoeven /
Strömqvist (2004) genügen, der die vorhandene Literatur anführt. S. dort insbesondere Berman
(2004). In der Didaktik kenne ich nur einen Ansatz, der diese Überlegungen konsequent
zugrundegelegt und umgesetzt hat: Leimar (1974) (auf deutsch nur in einer gekürzten und
systematisch eher verhunzten Version zugänglich, wie schon der irreführende Titel zeigt:
"Dialogisches Erstlesen", Frankfurt: Diesterweg 1979). Der didaktische Angelpunkt ist bei
Leimar, daß die Lehrerin sich von den Kindern Äußerungen diktieren läßt; die eigene Sprache
der Kinder ist zwar der didaktische Ansatzpunkt (daher der Titel ihres Buchs), aber sie
erfahren sie im Unterricht immer in der literaten Edition durch die Lehrerin. Am Anfang steht
der Leseunterricht: die Schriftsprache ist von vorneherein an literate Strukturen gekoppelt – im
Gegensatz zu dem heute in der Grundschule üblichen freien Schreiben, bei dem die Kinder
Schrift nur medial als Verschriftung von Gesprochenem erfahren. Ulrika Leimars Arbeit hat,
soweit ich sehe, auch in Skandinavien keine Fortsetzung erfahren, nachdem sie früh gestorben
ist (zuletzt hatte sie noch Materialien für den Unterricht mit Migranten entwickelt). Immerhin
geht jetzt Enders (2007) auf die deutsche Version (!) ein.
45
Die Konfusionen nehmen hier nur noch zu, seitdem internationale Evaluationen wie z.B.
PISA moralische Paniken auch im politischen Diskurs ausgelöst haben. Dabei kumulieren die
Unklarheiten vor allem auch im Bereich der migrationsbedingten Problemstellungen, mit
denen Fragen der Mehrsprachigkeit in den Vordergrund gerückt sind. Einflußreich waren und
sind hier die Arbeiten von Jim Cummins, der zweifellos das Verdienst hat, seit den 70er Jahren
62
Utz Maas
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6.4. Geht man von einem idealtypischen Begriff des Literaten aus, wird der maximale
Lesemodus unterstellt. Das ist bei der folgenden, strukturbezogenen Argumentation
impliziert. Bei empirischen Analysen wird eine literate Struktur immer auf den
erreichbaren Lesehorizont kalibiriert werden müssen: bei einem Grundschüler sind
literate Strukturen anders als bei kompetenten Erwachsenen – und auch bei diesen
wird man literate Strukturen nicht ohne weiteres mit dem Periodenbau der "Kritik
der reinen Vernunft" gleichsetzen können. Für die empirische Analyse kann also mit
einer Maxime operiert werden:
Eine Textstruktur ist literat, wenn sie die erreichbaren literaten
Ressourcen (im Sinne der folgenden Abschnitte) maximal ausreizt.
Der Horizont der Erreichbarkeit ist dynamisch zu verstehen: in einer literaten
Gesellschaft bestimmt die Schriftkultur die Sprachentwicklung von Anfang an –
nicht erst von dem Punkt an, wo im engeren Sinne die Schriftsprache erworben wird
(meist mit dem Schulbesuch gleichgesetzt). Ein Wissen um schriftstrukturelle
Verhältnisse erwerben Kinder zwangsläufig in der Konfrontation mit der literaten
Umwelt – um es von den spezifischen schriftsprachlichen Kenntnissen zu
unterscheiden, ist es üblich, von protoliteraten Wissensbeständen zu sprechen.
Um literate Wissensformen zu erheben, ist ein Untersuchungsdesign erprobt, bei
dem spontan erzählte und auf Tonband aufgezeichnete Geschichten von den
Sprechern anschließend verschriftet werden, was es ermöglicht, die von ihnen ins
46
Werk gesetzten literaten Editionsprozesse zu kontrollieren. Da für ältere Sprecher
die Konfrontation mit der eigenen Tonbandaufnahme oft unangenehm ist, läßt sich
dieses Verfahren modifizieren, indem ein solcher transkribierter spontaner Text einer
Gruppe von Sprechern gegeben wird, die ihn "literat" edieren sollen – was zugleich
auch eine direkte Kalibrierung auf eine größere Sprechergruppe erlaubt. Dieses
Verfahren ist schon in verschiedenen kulturellen (und sprachlich verschiedenen)
47
Kontexten erprobt.
des 20. Jhds. die systematische Unterscheidung zwischen den kommunikativen und den
schriftkulturellen Aspekten des Sprachausbaus etabliert zu haben. Indem er die letzteren (bei
ihm cognitive academic language proficiency = CALP) aber einfach an schulisch gesetzten
Anforderungen abliest, hat er der angesprochenen Konfusion Vorschub geleistet. Daß die
faktische Ausgrenzung eines Großteils der Schüler, nicht nur, aber insbesondere auch mit sog.
Migrationshintergrund, entlang dieser institutionell gesetzten Hürden erfolgt, ändert nichts
daran, daß nur mit einer systematischen Reflexion auf die schriftkulturellen Grundlagen
weiterzukommen ist. Zu diesem Feld und insbesondere auch den Arbeiten von Cummins und
der daran anschließenden Diskussion, s. Maas (2008a), bes. S. 640 – 641. Zur Konfusion gehört
auch die Übernahme von Cummins’ academic, das sich so auch in deutschen Texten findet
("akademische Sprachfertigkeiten") – wo es schlicht schulisch heißen muß (im Deutschen kann
man die Grundschule nicht als "akademisch" bezeichnen).
46
So z.B. in unseren Osnabrücker Forschungsprojekten mit marokkanischen Kindern in
Deutschland und Marokko, auch im Vergleich zu "muttersprachlich" deutschen, s. die
Hinweise / Beispiele in Maas (2008a).
47
S. z.B. Fernandez (1984). Die oben schon angeführten Osnabrücker MA-Arbeiten zu
erwachsenen Schreibern sind so verfahren.
Literat und orat. Grundbegriffe
63
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Auch im vorschulischen Feld läßt sich dieser Frage nachgehen. Dazu gehören
die praktizierten Registervariationen als Inszenierungsformen im kindlichen
Rollenspiel. In diesen wird der literate Sprachausbau angebahnt und werden
protoliterate Wissensstrukturen aufgebaut. Das protoliterate Wissen kann auch direkt
abgerufen werden, wenn man Kinder bittet, eine erzählte Geschichte nochmal zu
48
diktieren, um sie für sie aufzuschreiben. Dabei geht es nicht um den skribalen Akt
(der als solcher allenfalls die Sprachproduktion retardiert, aber keine spezifische
literate Perspektive eröffnet), sondern die Art der Adressierung des Textes: Beim
Diktieren soll nicht nur eine andere Form des Gesprächs mit dem Kind aufgerufen
werden, sondern das Kind muß den schreibenden Erwachsenen gewissermaßen als
Medium sehen, der seinen eigenen Text als einen aufnimmt, der dann anderen Lesern
(Zuhörern) zugänglich gemacht wird, die das Kind nicht kennt (bzw. nicht gegenüber
hat). Dadurch verschiebt sich der Horizont, auf den die Artikulation des Textes
abstellt, von der interaktiv bestimmten Gesprächssituation zur Ausrichtung auf den
generalisierten Anderen als Grundlage für eine literate Artikulation (s.o. I.3.). Es ist
erstaunlich, wie viele Kinder in unserer literaten Kultur auch schon vor der Schulzeit
einen solchen anderen Horizont (den eines generalisierten Anderen) in ihrem
Repertoire haben (verständlicherweise vor allem solche, die von zuhause das
Vorlesen von Geschichten gewohnt sind).
Wie weit eine solche Horizontverschiebung gehen kann, zeigt die Arbeit von
Propp (2009), wo ein dt.-russ. zweisprachiger Junge im Vorschulalter bei seinen freien
Erzählungen adressiert an eine ebenfalls zweisprachige Erwachsene durchgängig
deutsche und russische Formen mischte (also mit dem für diese Sprechergruppe in
Deutschland üblichen Codeswitchen). Als er die gleiche Erzählung der Studentin aber
mit der entsprechenden Aufgabenstellung eines Lesetextes nochmal diktierte, nutze
er das Codeswitchen nicht mehr: die Vorstellung von einem unbekannten Adressaten
(Leser) ließ es für ihn offensichtlich nicht zu, bei diesem die Fähigkeit zum
Codeswitchen zu unterstellen (die beim Gespräch mit der ebenfalls zweisprachigen
Studentin selbstverständlich war) – hier hatte der Junge ja entsprechende
Erfahrungen u.a. im Kindergarten gemacht. An diesem (literaten) Umschalten
änderte es auch nichts, daß die gleiche Studentin Adressatin seines Diktierens blieb.
Für das praktische Vorgehen gibt es bei einem solchen Vorgehen allerdings
Probleme. Kinder im Vorschulalter produzieren in der Regel auf Anhieb keine
elaborierte Geschichte – eine narrative Struktur kommt mit ihnen zumeist nur im
Gespräch mit einem Erwachsenen zustande, der gewissermaßen das strukturelle
48
S. Pontecorvo / Zucchermaglio (1989). Damit zeichnet sich in der pädagogischen Forschung
eine Trendwende ab, die allerdings noch weit davon entfernt ist, verallgemeinert zu sein. Die
Stereotypen der älteren Handbücher, nach denen die Überwindung des "egozentrischen"
Denkens erst mit der Pubertät möglich wird, sind weiter im Umlauf und blockieren die
Forschung, s. Jechle (1992) für eine Diskussion, der seine eigene Untersuchung von Kindern ab
12 Jahren in diesem Sinne auch als Pionierarbeit versteht. Es kann nicht darum gehen, das
Datum solcher postulierter Schwellen zu bestimmen, sondern es geht um eine empirisch
offenere Sicht, wie Kinder sich die von Anfang an sozialen Strukturen sprachlichen Handelns
aneignen – und von Formen der Koordination ihres Handelns mit anderen aus schließlich die
literaten Ressourcen der Sprache booten.
64
Utz Maas
______________________________________________________________________
Raster bereitstellt, in das hinein die Kinder Erlebtes füttern, meist nur mit reichlich
lakonischen Antwortfragmenten. Auch ein zweiter Durchgang mit der Bitte um eine
zusammenfassende Darstellung im Diktat fällt dann meist relativ lakonisch aus – in
der Regel aber doch in der Form eines abgeschlossenen Satzes. Nicht zuletzt vor
diesem Hintergrund, und auch um eine größere Vergleichbarkeit der Daten bei einer
Untersuchung mit mehreren Kindern sicherzustellen, werden oft Bilderbücher als
Vorlage genutzt. Das Ergebnis sind dann aber keine Erzählungen (auch wenn zu
Tricks gegriffen wird, indem z.B. der Erwachsene das Bilderbuch nicht sieht [für
Kinder ist in der Situation aber als Prämisse selbstverständlich, daß der Erwachsene
das Bilderbuch kennt, das er ihnen ja vorlegt]), sondern Bildbeschreibungen – mit
49
Äußerungen wie "die sitzen", "der tut sich aufn Bauch legen" u.dgl., die ggf. auch in
der Wiederholung als "Diktat" stehen bleiben. Aus solchen Vorgaben kann aber eine
Erzählsituation geschaffen werden, die offen adressiert ist, wenn der Erwachsene
nicht in der künstlichen Zurückhaltung mit nur bewertenden Reaktionen ("hm",
"super" …) bleibt, sondern wie bei spontanen kindlichen Erzählungen auch seine
aktive (steuernde) Rolle übernimmt und z.B. nachfragt ("wer sind denn die?"). Der
interessante Punkt für die Erhebung protoliteraten Wissens ist es dann, ob die so
sozial (interaktiv) produzierte Erzählung in der diktierenden Wiederholung vom Kind
50
angeeignet und aktiv in eine literate Struktur gepackt wird.
Im übrigen sind gerade auch bei einem solchen Untersuchungsdesign relativ
enge Transkriptionen der kindlichen Äußerungen, die insbesondere auch die Prosodie
registrieren, aufschlußreich bzw. erforderlich. Die fehlende textuelle (literate)
Verdichtung zeigt sich bei kindlichen Erzählungen durch eine äußerungsextern
bleibende Verknüpfung (das propositional Geäußerte ist kursiv markiert):
- [die sitzen auf einer Wiese]
- und [dann erschrecken die sich]
- und [dann schlafen die ein]
- und [dann tun die aufwachen]
- und [dann haben die Fußball gespielt]
-…
und dann artikuliert hier eine metasprachliche Diskursorganisation gegenüber dem
propositional Artikulierten, äquivalent mit und jetzt sehe ich auf einem anderen Bild
…, und jetzt sage ich noch …. Dabei zeigt dieses Bespiel durchaus schon
grammatische Integrationsformen: das reihende dann ist in den Satzbau integriert,
belegt das Vorfeld des finiten Verbs (das Integrationsfeld ist durch die [ ] markiert).
Das ist etwas anderes als bei einer koordinierenden Verdichtung der propositionalen
Struktur wie bei dem zweiten (unterstrichenen) und in:
49
Die Beispiele hier gehen auf eine Präsentation von Claudia Müller (Dortmund) in der PH
Freiburg 2009 und die Diskussion zu ihrem Dissertationsprojekt zurück.
50
In der neueren Forschung gibt es auch andere Techniken, diesen Problemen beizukommen.
Leseman u.a. (s.o.) geben den von ihnen untersuchten Vorschul-Kindern (die also nicht lesen
können) Bilderbücher mit der Instruktion, einem anderen Kind das Buch vorzulesen – und
blockieren so die Bildbeschreibungen (vorausgesetzt, die Kinder haben Erfahrungen mit
Vorlesen).
Literat und orat. Grundbegriffe
65
______________________________________________________________________
und [dann hat der eine den Stein losgelassen und der andere wollte das auch
machen]
In solchen syntaktisch integrierten Strukturen haben die Verbindungselemente wie
und kein prosodisches Gewicht – während sie bei der metasprachlichen
Diskursorganisation zumeist prosodisch abgegrenzt werden, wobei bei und dann das
dann auch einen starken Akzent trägt. (Proto-) Literate Strukturen zeigen sich an
solchen Integrationsformen.
Schließlich ist hier, beim Wechsel der Perspektive von der individuellen
Sprachpraxis (wie bei der Edition) zum Ausbau einer Sprache auch die übliche
Mehrsprachigkeit der Registerdifferenzierung zur Geltung zu bringen. Weiter zu
diesem Feld Maas (2008a), II.2 – 3 (auch mit weiteren Literaturhinweisen).
7. Sprachausbau II: Typologische Perspektiven Literate Strukturen und Schriftkultur I
7.1. Aus der so skizzierten Blickrichtung ergibt sich ein anderer Zugang zu Fragen
der Sprachentwicklung / der historischen Betrachtung. Bei dem verbreitetsten Muster
von schriftkulturellen Verhältnissen werden die verschiedenen Register durch
unterschiedliche Sprachen artikuliert. Bei dynamischen Sprachgemeinschaften kann
mit der Demotisierung der Schriftkultur dagegen die intim genutzte Sprache
ausgebaut werden – wie es eben historisch in allen modernen "Nationalsprachen" der
Fall war, die am Modell einer zunächst ganz anderen Schriftsprache (in Europa
Latein) ausgebaut wurden.
Den Horizont dieser Diskussionen bildet der große Diskurs über die
Schriftkultur, der politisch im Kolonialismus aufgeladen wurde, als die "schriftlosen"
Völker zu rechtlosen Völkern erklärt wurden und die Eroberung ihrer Territorien als
terra nullius auch dadurch legitimiert wurde, daß über die Besitzverhältnisse dort ja
keine bindenden (schriftlichen) Verträge vorlagen. Der große wissenschaftliche
Diskurs über die Überlegenheit der Schriftkulturen, der sekundär dann auch noch
psychologisch angereichert wurde, liest sich über weite Strecken als
Legitimationsbeschaffung für den Kolonialismus (der auch jenseits der überholten
militärisch-imperialistischen Formen keineswegs erledigt ist). Ein Großteil der
empirischen, sprachwissenschaftlich betriebenen ethnologischen Arbeit verdankt
seine Motivation einer Gegenreaktion auf den Kolonialismus, mit dem Versuch, der
Vorstellung von den "primitiven Kulturen" (s. auch unten zu Malinowski, III.3.)
gewissermaßen eine stellvertretende symbolische Repräsentation in einem
Sprachmuseum entgegenzustellen (so bei den Gründervätern der modernen
deskriptiven Sprachwissenschaft Boas, Sapir u.a.). Faktisch belastet dieser Diskurs die
analytische Modellierung bis heute – weil die moralische Emphase hier die
51
analytische Distanz erschwert.
51
Für einige bibliographische Hinweise auf diesen Diskurs, s. Maas (2005, 2006); Olson (1994).
Mit einer anderen Fokussierung werden diese Fragen in der Alphabetisierungsdiskussion
bearbeitet, für Hinweise s. etwa Maas (2003); Olson / Torrance (1994). NB: Die Hinweise auf
66
Utz Maas
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Bei einer systematischen Modellierung steht auch hier wieder die Vorstellung
von dem Natürlichen (der gesprochenen Sprache) der Forschung im Wege. Das
betrifft die für die Analyse von zweisprachigen Verhältnissen zentrale Figur der
Übersetzungsäquivalenz, die hergestellt werden muß, wenn die Sprachen nicht auf
eine arbeitsteilige Registerdifferenzierung beschränkt bleiben sollen – anders gesagt:
wenn eine Sprache ausgebaut werden soll. Sprachstrukturen projizieren den
virtuellen Raum einer damit ermöglichten Sprachpraxis, der nicht in dem aufgeht,
was von den Sprechern tatsächlich realisiert wird. Unter diesem Aspekt sind eben
auch die Übersetzungsaktivitäten mit ihren zwangsläufigen Kalkierungen u.dgl. zu
sehen, die für die historischen Prozesse des Sprachausbaus in fast allen bekannten
Entwicklungsverläufen eine Schlüsselrolle hatten: Mit ihnen werden u.U. sprachliche
Potentiale ausgereizt, die in den bis dahin u.U. ausschließlich artikulierten
informellen Registern nicht zur Geltung kamen (s. z.B. Rabin 1958).
Das Gegenstück dazu ist die oft zu findende Herausstellung der sog.
"mündlichen Literatur" als "authentischem" Ausdruck solcher Kulturen. Was damit
gefaßt wird, sind in der Regel in hohem Maße feste Texte, die vom Inhalt über den
Textaufbau bis hin zu den weitgehend formularischen Ausdruckselementen
vorgegeben sind und tradiert werden – und von den Hörern auch in dieser festen
Form erwartet werden. Auch da, wo die Virtuosität eines Sängers / Erzählers
geschätzt und honoriert wird, zeigt diese sich in der Regel in der Variation auf festen
(und erwarteten) Schemata: mit Parallelismen im Aufbau bis hin zur metrischen
Form. Es liegt auf der Hand, daß solche Ausdrucksformen keine Ressourcen zur
Umgestaltung der Verhältnisse bieten, zur Bewältigung der rasch entwerteten
Lebensformen – sie sind keine Ressource zum knowledge transforming (im Sinne von
Bereiter / Scardamalia). Mit dem Blick auf den Sprachausbau in der literaten
Dimension geht es nicht um eine Wertung in der Fluchtlinie der kolonialistischen
Abwertung schriftloser Völker, sondern um ein so sichtbar gemachtes zentrales
Moment der einfachen Reproduktion ihrer Verhältnisse, das sie überwinden müssen,
um zu Subjekten der dynamischen Veränderungen in der Weltgesellschaft zu
werden.
Dieser Aspekt wird bisher viel zu wenig systematisch verfolgt: in der
typologischen Forschung steht ihm nicht zuletzt das orthodoxe Verdikt gegenüber
"nicht-authentischen" Texten entgegen, mit dem Nachdruck auf der "natürlichen"
Sprache, das den Blick auf die Sprachpraxis verstellt, bei der die (evtl. nicht
genutzten) Ressourcen mit Barrieren (auch strukturinkompatiblen Optionen)
abzugleichen sind. Aufschlußreich (weil auch in einem umfangreichen Corpus leicht
zugänglich) sind hier die Bibelübersetzungen, die da, wo sie in den großen
Schriftsprachen schon eine lange Tradition haben, auch einen sukzessiven
Revisionsprozeß zeigen, der die Übersetzungen auf die sprachspezifischen
strukturellen Ressourcen kalibriert. Dabei ist es gerade bei Übersetzungen nötig, nicht
mit einem holistischen Schriftkonzept zu operieren, sondern weitere (Register-)
Differenzierungen vorzunehmen, s. etwa am Beispiel der Bibelübersetzungen de
Arbeiten von mir dienen hier nur als Abkürzung, weil ich hier nicht alles wiederholen will,
was ich dort dazu sage – sie sollen nicht anzeigen, daß es primär um meine Auffassungen geht.
Literat und orat. Grundbegriffe
67
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Vries (2007). Grundsätzlich stellt sich hier die Frage nach einem "guten" vs.
"schlechten" Sprachausbau: i.S. der entwicklungssoziologischen Diskussion von
Theoretikern der Dritten Welt als autozentrierte Entwicklung, die die Ressourcen
einer gegebenen (informell praktizierten) Sprache ausbaut, vs. einer
heterozentrierten, die diesen fremde Strukturen überstülpt, und damit die
Partizipation großer Teile der Menschen an diesem Ausbauprozeß abblockt, s. für die
generellen Probleme Maas (2008b).
Schließlich ist hier auch die Frage der Erreichbarkeit der strukturellen
Ressourcen aufzunehmen, die unten in (I.5.) als Differenzierung des Lesehorizonts
expliziert wird. In schriftkulturelle Verhältnisse ist immer auch die gesellschaftliche
Organisation mit ihren Ausschließungsmechanismen eingeschrieben. Die Dynamik
der modernen Gesellschaft (ihr republikanisches Projekt, s. Maas 2008a) zeigt sich
hier als Demotisierung der Schriftkultur, die sie aus dem Arkanum einer professionell
beschränkten Praxis herausholt. Ein wichtiges Moment dabei war die Etablierung
einer Orthographie als Ressource für das Lesen. Andererseits erfolgte der Ausbau des
Deutschen zu einer (demotisierten) Schriftsprache aber in Auseinandersetzung mit
der Modellsprache Latein – mit der Folge einer Reihe von Kalkierungen, die die
frühen Übersetzungen und dann vor allem die Kanzleisprache geprägt haben. Der
selbstbewußte Ausbau des Deutschen zur Schriftsprache, wie er vor allem auch in
literarischen Spuren im Barock nachzuvollziehen ist, stützte sich auf die so
gewonnenen, vor allem auch orthographischen Ressourcen: insbesondere die
satzinterne Durchgliederung durch die grammatikalisierte Klein- und
Großschreibung auf der einen Seite, die Bildung komplexer (verdichteter!) Perioden
52
durch die grammatikalisierte Interpunktion auf der anderen. Die Frage, wieweit
solche Strukturen einen guten oder schlechten Sprachausbau des Deutschen
repräsentieren, ist in der Forschung noch offen – sie droht allerdings durch die
aktuellen Veränderungen in der Sprachkultur überholt zu werden. Orientiert am
englischen Modell, das mit der Abkehr vom Periodenbau eben auch am Ende des 18.
/ Anfang des 19. Jhds. die grammatische Klein- und Großschreibung abschaffte, wird
auch im Deutschen die komplexe Syntax inzwischen obsolet – und erhält die
Reformfraktion in der Rechtschreibdebatte Rückenwind, die Schreiber mit relativ
kleinem Leseskopus (bzw. schulische Lerner) als Orientierung nimmt. Die Frage nach
dem schriftkulturellen Ausbau der Sprachpraxis in einer Gesellschaft
(Sprachgemeinschaft) muß notwendig den Horizont auch einer formalen
sprachtypologischen Untersuchung bilden, wenn diese nicht blind für konstitutive
Fragen sein will.
7.2. Verständlicherweise stammen die meisten Arbeiten, die auf Fragen des
Sprachausbaus eingehen, aus den großen Schulsprachen (Englisch, auch Deutsch,
52
Zur Herausbildung der deutschen Orthographie in diesem kulturellen Spannungsfeld, s.
Maas (i.E.). Die Verklammerung mit dem Sprachausbau nach dem Modell des Lateinischen ist
bei der Interpunktion besonders sinnfällig: im 19. Jhd. wurde auch in Schulbüchern für die
Volksschule die Setzung des Semikolons geübt – das heute sogar manche LektorInnen in
wissenschaftlichen Verlagen nicht mehr kennen und aus Manuskripten zu tilgen fordern …
68
Utz Maas
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Französisch). Das erlaubt es nicht, die Sprachbaufaktoren des Symbolfeldes zu
isolieren, weil die Strukturen hier zu ähnlich sind. Empirische Analysen aus anders
gebauten, vor allem exotischen Sprachen stoßen schnell an die Grenzen dessen, was
für den Außenbeobachter zugänglich ist. Abgesehen davon, daß Fragen der
Registerdifferenzierung ohnehin nur eher selten thematisiert werden, haben die
einschlägigen Arbeiten in der Regel eine narrative Schieflage: schon wegen der am
ehesten zugänglichen Lento-Diktion sind narrative Texte in der Regel die
Datengrundlage – spontanes Gesprächsmaterial ist für einen Außenstehenden nicht
nur ausgesprochen schwer zu erhalten, sondern vor allem schwierig auszuwerten.
Aber auch da, wo derartige Aufnahmen untersucht werden, ist die Analyse
orater Strukturen in solchen Daten bisher ausgesprochen defizitär – weil in die
grammatische Analyse literate Prämissen gepackt werden (angefangen bei der
vorausgesetzten Satzstruktur). Statt von einem vorgegebenen Modell auszugehen, das
an einer bestimmten Sprache (und ggf. ihrer normativen Zurichtung) abgelesen ist,
muß der Ansatzpunkt unabhängig von solchen Modellen gesucht werden, letztlich
auf einer Metaebene zu den beobachtbaren Sprachstrukturen, die ggf. als deren
Verwaltung auf der Ebene der kognitiven Ressourcen zu verstehen ist – kontrolliert
durch das jeweils sozial Erwartete. Diese Verschiebung in der Betrachtungsweise ist
im übrigen auch ohne fachspezischen Vorkenntnisse intuitiv zugänglich, was es
möglich machen sollte, die Schranken der schulgrammatischen Konzepte zu
überwinden, die oft auch bei Sprachwissenschaftlern zur zweiten (Sprach-) Natur
geworden sind.
Bezugspunkt für den alltagspraktischen Umgang mit Sprache ist das, was man
damit macht, letztlich also gebunden an die Interpretation von Äußerungen. Die
Frage nach der Sprachstruktur läßt sich daher reformulieren: was an der
Interpretation einer Äußerung (ggf. komplex, also einem Text) liegt mit ihrer Form
fest, was beruht auf Inferenzen des Hörers (Lesers), die sich auf äußerungsexterne
Momente stützen. Ein einfaches Beispiel kann das verdeutlichen. Nehmen wir einen
Sachverhalt, der auf drei verschiedenen Weisen (a – c) beschrieben werden kann:
(a) Hans war krank. Er legte sich ins Bett.
(b) Hans war krank. Deswegen legte er sich ins Bett.
(c) Weil Hans krank war, legte er sich ins Bett.
Mit (a – c) wird der Sachverhalt jeweils anders kodiert, der Zusammenhang zwischen
den beiden Momenten des Krankseins und des Insbettgehens ist in unterschiedlicher
Weise in der Form repräsentiert: bei (a) bleibt er ohne formale Repräsentation; bei (b)
ist er lokal mit einem verweisenden (über die Satzgrenze hinausweisenden) Element
repräsentiert; bei (c) mit einer spezialisierten Konstruktion ("Nebensatz"), die es
erlaubt, zwei Propositionen in einer zu integrieren. (a) und (b) artikulieren den
Sachverhalt in zwei Sätzen, (c) in einem (komplexen) Satz. (a) und (b) zeigen insofern
eine fragmentierte Kodierung, (c) eine integrierte, die die aus (a) inferierbaren
Zusammenhänge explizit macht und damit auch ihre Repräsentation vereindeutigt.
Eine kausale Verknüpfung wie sie bei (b) und (c) expliziert wird liegt bei (a) nicht
fest. Hier sind auch andere Verknüpfungen denkbar, vgl. die Kodierungen (d – f)
eines anderen Sachverhalts:
Literat und orat. Grundbegriffe
69
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(d) Hans duschte. Dann ging er in die Kneipe.
(e) Hans ging in die Kneipe. Vorher duschte er.
(f) Bevor Hans in die Kneipe ging, duschte er.
Die fragmentierten (parataktischen) Artikulationen (a) und (d) repräsentieren den
komplexen chronologischen bzw. kausal verknüpften Sachverhalt ikonisch in der
Abfolge der Äußerung. Syntaktisch integrierte Strukturen sind frei davon – um den
Preis des größeren Aufwands der formalen Artikulation – mit rein formalen Mitteln.
Um für die weitere Diskussion eine terminologische Stütze zu haben, bleibe ich
in der etablierten textilen Metaphorik der Rhetorik (Text < lat. textus "das Gewebte")
und spreche bei Strukturen, die in der formalen (grammatischen) Form maximal
repräsentiert sind, als fest geknüpft (wie hier bei (c) und (f)), im Gegensatz zu lose
geknüpften Strukturen wie bei (a), (b), (d) und (e). Fest geknüpfte Strukturen
charakterisieren offensichtlich literate Formen – mit denen, wie oben angesprochen,
Zusammenhänge in artikulierten Sachverhalten explizit gemacht werden (s. Bereiter
/ Scardamlias knowledge transformation). Diese Charakterisierung von konkreten
Textstrukturen läßt sich auf den jeweiligen Sprachbau übertragen, wenn die dort
verfügbaren
Strukturierungsmöglichkeiten
betrachtet
werden.
Sprachen
unterscheiden sich offensichtlich erheblich danach, in welchem Umfang sie formale
Ressourcen der festen Verknüpfung verfügbar machen – oder eben die Herstellung
solcher interpretierender Zusammenhänge den Inferenzen der Sprecher / Hörer
überlassen, die ggf. auf lexikalische Mittel (lokale Kodierungen) zur Vereindeutigung
zurückgreifen müssen.
7.3. Interferieren schon bei der Analyse von intuitiv zugänglichen
Sprachverhältnissen (wie den unseren) schulgrammatische Konzepte, so ist die
Gefahr da noch größer, wo die Analyse nicht im gleichen Sinne intuitiv zu
kontrollieren ist, wie bei der deskriptiven Arbeit mit exotischen Sprachen. Hier muß
die Analyse entsprechend strikt bei der mündlichen Äußerung ansetzen – mit
deskriptiven Kategorien, die verhindern, daß die Analyse zirkulär wird. Es gibt
erstaunlich wenige Arbeiten, die diesen Ansprüchen entsprechen. Auf einige davon
wird in (III.5.) eingegangen. Bei den entsprechenden Analysen sind die in Teil II
genauer besprochenen unterschiedlich harmonisierten Verhältnisse zwischen Syntax
und Prosodie im Bau der verschiedenen Sprachen zu explorieren. Insofern ist es
sinnvoll, darauf erst später einzugehen.
8. Zwischenfazit: (vorläufige) Definition des
Literaten
Aus den Überlegungen bisher ergibt sich ein Fazit: literate Strukturen reizen
gewissermaßen die sprachlichen Potentiale aus und machen die Äußerungen damit
von den kommunikativen Zwängen frei. Die Voraussetzungen dazu schaffen die
grammatischen Strukturen der Äußerung, vereinfacht: Satzstrukturen – mit einem
noch zu klärenden Satzkonzept. Damit läßt sich eine vorläufige Definition der
70
Utz Maas
______________________________________________________________________
strukturellen Grundbegrifflichkeit geben: Literat sind Äußerungen, die in der
grammatischen Form von Sätzen artikuliert sind und eine Darstellungsfunktion
haben. Die mediale Seite ist demgegenüber nicht definierend: für sie gilt im
Gegenteil, daß literate Strukturen keinerlei medienspezifische Eigenschaften
aufweisen (also insbesondere nicht die mündlicher Äußerungen).
Eine solche Bestimmung definiert gewissermaßen einen Grenzwert für die
sprachliche Praxis: bei ihm ist die Interpretation aufgrund der Form allein gegeben,
fundiert in der Syntax der sprachlichen Form. Ein solcher Fall ist für die sprachliche
Praxis nur kontrafaktisch anzusetzen – er entspricht dem Umgang mit
mathematischen Formeln. Für die Sprachpraxis, die auch im förmlichen Register
immer situiert ist, fungiert dieser Grenzwert im Sinne einer Maxime: maximiere die
formale Strukturierung, sodaß formal nicht kodierte Interpretationsmomente
minimiert werden. Die grammatischen Anforderungen, die im Satzbegriff gefaßt
werden, binden die sprachlichen Elemente in ein symbolisch integriertes Feld (mit
arbeitsteilig differenzierten Formen). Semantisch wird damit ein Sachverhalt
dargestellt, weshalb nur partiell (in den Präsuppositionen) darstellende Äußerungen
(wie Fragen, Aufforderungen) einen sekundären Status haben.
Dabei ist es offensichtlich, daß eine solche Bestimmung nur bei komplexen
Sachverhalten und ihrer Darstellung relevant wird: einfache Sachverhalte und
entsprechende Äußerungen wie Am Baum hängt ein Apfel sind rein formal
betrachtet literat – aber in einem uninteressanten Sinne: der dargestellte Sachverhalt
stellt nur triviale Anforderungen an seine sprachliche Artikulation. Die gesetzte
Domäne für die Wertung als literat sind offensichtlich (komplexe) Texte, die im
syntaktischen Sinne vollständig in Sätze zerlegt werden (können) müssen.
Ausgeblendet ist dabei die konnotative Dimension (die von der
Registerdifferenzierung impliziert wird), also das, was traditionell als "Stilebenen"
gefaßt wird.
Im Folgenden wird es darum gehen, diese vorläufigen Bestimmungen expliziter
zu fassen. Dabei zeigt sich auch, daß die Terminologie nicht beliebig ist: literat ist mit
der Anspielung auf Schriftliches nicht nur eine Metapher für den Sprachausbau. Als
Maximierung der Nutzung der strukturellen Ressourcen wird eine literate Praxis
nicht nur faktisch (in der Regel) mit der Schrift gelernt (in der Schule), sondern wie
gerade auch der typologische Vergleich, soweit er sensibilisiert für diese Probleme ist
(s.u. III.5. zu den australischen Sprachen), zeigt, daß da, wo keine Schriftkultur
etabliert ist, also kein Bedarf an solcher Strukturmaximierung besteht, entsprechend
literat ausgebaute Sprachstrukturen auch nicht entwickelt (grammatisiert) werden
(s. auch Maas 2008b).
Literat und orat. Grundbegriffe
71
______________________________________________________________________
TEIL II – ELEMENTE EINER FORMALEN
MODELLIERUNG
1. Literate Strukturen als Strukturen des
Symbolfelds
1.1. Ergebnis der heuristisch angelegten Überlegungen in Teil I ist, daß mit den
Alltagsbegriffen mündlich / schriftlich konzeptuelle Aggregate vorliegen, die
mehrdimensional aufgelöst werden müssen, um zu einer analytisch tragfähigen
Begrifflichkeit zu kommen. Die Grunddimensionen der Modellierung sind dabei in
unterschiedlicher Weise begrifflich anschlußfähig. Während kommunikative
(interaktive) Strukturen auf allgemeine Bedingungen sozialen Handelns
zurückgeführt werden können, haben sprachliche Strukturen einen anderen Status:
sie sind eine unabhängige Größe, die der kommunikativen Praxis als Ressource
zugeschaltet werden kann. Geschieht das, handelt es sich um eine symbolische Praxis,
definiert durch ein Symbolfeld, in dem die einzelnen Elemente ("Zeichen") ihren Wert
erhalten.
Grundbegriffe der Zeichentheorie setze ich hier voraus. Außer dem Feldbegriff
gehören dazu Stufen der symbolischen Organisation. Symbole können mit einfachen
Strukturen expliziert werden, durch einfache Zuordnungen: etwas (ein Zeichen) steht
für etwas anderes (das Bezeichnete). Demgegenüber ist Sprache durch Symbole
zweiter Ordnung definiert: sprachliche Zeichen operieren über Symbolen, sie haben
ihren Wert im Symbolfeld. Damit verbunden ist die enorme Steigerung der
Leistungsfähigkeit sprachlicher Systeme verglichen mit einfachen Symbolsystemen.
Eine Folge davon ist, daß Sprachsysteme auch nur sprachspezifisch gelernt werden
53
können.
Anders als in den gängigen Einführungsdarstellungen erschließen sich die
Besonderheiten der Sprache als Zeichensystem nicht durch den Vergleich mit
einfachen Zeichensystemen (Verkehrszeichen, tierische Kommunikationsformen wie
z.B. die "Sprache" der Bienen u.ä.). Daher führt auch eine begriffliche Entwicklung,
die vom Kommunikationsbegriff als grundlegend ausgeht (insofern es sich nicht um
Fragen der Ontogenese u.dgl. handelt), in eine Sackgasse, wie schon in (I.2.)
entwickelt: weder ist Sprache als Ausdruck der Befindlichkeit eines Sprechers zu
fassen, noch erschöpft sie sich im interaktiven Geschehen zwischen Sprecher und
Hörer. Sie ist vielmehr als unpersönliche Struktur zu fassen, was einen Vergleich mit
anderen
ebenfalls
komplexen
Symbolsystemen
nahelegt,
insbesondere
mathematischen (algebraischen) Symbolstrukturen. Der traditionelle Terminus für
diese Struktur ist die Grammatik, wobei das Grammatikkonzept allerdings aus seiner
schulgrammatischen Engführung gelöst werden muß.
53
In der Ontogenese muß das sprachliche Symbolsystem von einfacheren Zeichenpraxen aus
gebootet werden – ein mühseliger und langwieriger Prozeß, der mehrere Jahre kindlichen
Sprachlernens in Anspruch nimmt, s.o. I.6.
72
Utz Maas
______________________________________________________________________
1.2. Aus dieser Verankerung im Symbolfeld ergeben sich Konsequenzen für die
Struktur des Literaten. Dieses ist auf die Überwindung lokaler Horizonte
ausgerichtet, wie es auch die Lernprogression in (I.6.) deutlich macht. Für das Lesen
ist eben nicht das definierend, was den Lernprozeß an seinem Anfang zwangsläufig
bestimmt: die lautliche Interpretation der Buchstaben, die lexikalische (kontextfreie)
Interpretation der Wörter u.dgl., sondern die Integration dieser Formelemente in ein
Ganzes: den Text mit seiner Interpretation. Die lokalen Struktureigenschaften sind
dadurch definiert, daß sie dieses Ganze artikulieren: sie müssen es dem Leser möglich
machen, die Textbedeutung zu erschließen. Die lokale Artikulation muß daher
kompatibel erfolgen, weil sonst ihre Integration in ein Ganzes nicht möglich ist. Die
Kriterien für eine literate Strukturierung sind daher Metakriterien relativ zu den
lokalen Strukturanforderungen. Die Konsistenz der lokal umgesetzten Kodierungen
ist daher eine Grundbedingung literater Organisation – ohne sie hätte ein Leser keine
54
Chance, den Text zu erlesen. Sie liegt in der Linie einer Verlängerung der
Skopuserweiterung des Hypothesenraums beim Lesen: in letzter Konsequenz als
Etablierung einer Orthographie für alle möglichen Texte (in einer bestimmten
Sprache).
1.3. In der Tradition der kognitiven Psychologie können die Strukturen des
Symbolfelds als Gestalten gefaßt werden: so wie geometrische Figuren Gestalten
sind, die die Wahrnehmung strukturieren – in relativer Unabhängigkeit von den
physikalischen Gegebenheiten (den "Wahrnehmungsreizen"). Die Wahrnehmung
einer runden Kreidefigur an der Tafel als Kreis ist robust gegenüber der physikalisch
meßbaren Verteilung von Kreidepartikeln, die nie die idealen geometrischen
Bedingungen eines Kreises erfüllen (gleicher Abstand aller Punkte auf der krummen
Linie von einem [zentralen] Punkt aus). Die Grundfigur der literaten Struktur ist der
Satz. Entsprechend ist eine Äußerung (ein Text) literat, wenn er (vollständig) in Sätze
zerlegt werden kann.
Das läßt sich auch i.S. der Markiertheitstheorie formulieren: literate Strukturen
sind der markierte Fall, orate (d.h. nicht-literate) sind der unmarkierte Fall. Das
findet sich so schon bei Karl Bühler, der in diesem Sinne ein radikaler
Markiertheitstheoretiker war: In der spontanen Gesprächssituation (also
kommunikativ) sind literate Strukturen nicht zu erwarten – hier treten überhaupt
sprachliche Äußerungen nur als markierter Fall auf (Bühlers Beispiele: bei der
54
Das so recht abstrakt Formulierte wird sehr deutlich, wenn man experimentelle
Schreibungen analysiert, wie wir es in Osnabrück bei unseren Projekten mit marokkanischen
Kindern getan haben. Als wir Kinder mit berberischer Familiensprache gebeten haben, ihre
mündlichen Erzählungen zu verschriften (wofür sie kein Modell kannten), mußten diese sich
gewissermaßen von Laut zu Laut durch ihren Text durcharbeiten und Verschriftungen suchen.
Migrantenkinder in Deutschland hatten dabei auch nur wenige Anhaltspunkte in den LautBuchstaben-Zuordnungen der deutschen Orthographie. Wie sehr solche Kinder in einer
literaten Welt zuhause waren (trotz z.T. erheblicher Probleme mit schriftkulturellen
Anforderungen in anderer Hinsicht), zeigte sich, wenn sie sich bemühten, ihre einmal
gewählten Verschriftungsoptionen im ganzen Text konsistent durchzuhalten; für ein
instruktives Beispiel s. Youssef in Maas (2008a): 487-495.
Literat und orat. Grundbegriffe
73
______________________________________________________________________
Bestellung im Café, in der Straßenbahn ... – also immer da, wo die Situationen in
hohem Maße die Optionen des kommunikativen Handelns einschränken). Aus der
Perspektive der (sprachlichen) Handlungen ist der Grundbegriff hier die Erwartung
an bestimmte (sprachliche) Verhaltensweisen: Situationen können als Typen von
solchen Erwartungsbündeln definiert werden. Solche Erwartungsbündel werden
gelernt und steuern damit auch das Verhalten der Sprecher: Im spontanen Gespräch
wird von den (grammatischen) Ressourcen des Symbolfelds nur soviel zugeschaltet,
wie kommunikativ erforderlich ist. Von der gegenteiligen Praxis, bei der das Reden
literat artikuliert ist, sagte Bühler: sie "leg[t] … d[as] konstruktive Mitdenken des
Hörers ans Gängelband" (Bühler 1934: 397).
Literate Strukturen sind in einer unabhängigen Dimension gegenüber der
Kommunikation definiert, letztlich damit auch: unabhängig von der Verständigung
zwischen Sprechenden. Verständigung funktioniert u.U. auch ohne sie, wie jedes
Gesprächsprotokoll zeigt. Umgekehrt können die Strukturen einer Äußerung den
Filter des Symbolfelds passieren (sie können grammatische Sätze sein), ohne daß
deswegen die Verständigung funktioniert – was ebenfalls eine Alltagserfahrung ist.
Die Strukturen des Symbolfelds sind also strikt zu unterscheiden von den
55
Bedingungen, die mit der Interpretation einer Äußerung verbunden sind.
Literate Strukturen erfüllen eine symbolische Funktion durch ihre Form.
Insofern haben die Strukturen des Symbolfelds hier ein Eigengewicht – während sie
in der (interaktiven) Kommunikation ein abhängiger Faktor sind. Andererseits
können die Formaspekte aber nicht absolut gesetzt werden: weder auf der materiellen
Seite, wie der Hinweis in (I.6.) auf rein skribale Praktiken zeigt, noch auf der genuin
sprachlichen Formseite, wie das Spiel mit Sprachformen zeigt, von kalauernden
Blödeleien bis hin zu poetischen Kunstwerken – auch als literarische Praxis erfüllen
diese nicht die Bedingungen des Literaten. Die beiden Seiten des Symbolfelds (Form
und Interpretation) sind bei den weiteren Klärungen im Blick zu behalten,
insbesondere auch bei der Frage nach dem Satz als der literaten Grundkategorie.
1.4. Das Symbolfeld und das im Rückgriff darauf definierte Konzept des Literaten
sind analytische Begriffe, die Aspekte an empirischen sprachlichen Gegenständen
isolieren. Insofern besteht hier kein Widerspruch zu der grundlegenden Verankerung
der Interpretation aller Äußerungen in der Sprechsituation. Sprache kommt
schließlich nur in der Form konkreter (situierter) Praktiken in die Welt – nicht anders
als auch der Mensch nur in sexuell bestimmten Formen (männlich oder weiblich) in
die Welt kommt. Das schließt aber für die systematische Modellierung nicht aus,
abstraktere Strukturen zu isolieren – Bestimmungen des Menschlichen nicht anders
als des Sprachlichen. Die Bedingungen solcher Abstraktionen müssen dabei
allerdings kontrolliert bzw. expliziert werden.
55
Das macht im übrigen auch eine Reduktion der Strukturen des Symbolfelds auf
kommunikative Strukturen unmöglich, wie sie in funktionalistischen Ansätzen immer wieder
versucht wird – das ist auch der harte Kern von Chomskys Argumentation, der von seinen
biolinguistischen Prämissen zu unterscheiden ist, die ihn dazu gebracht haben, diese
Strukturen deswegen als genetisch verankert zu postulieren.
74
Utz Maas
______________________________________________________________________
Strukturanalysen, wie sie im Vorausgehenden skizziert sind, explizieren
notwendige Bedingungen für die Interpretation von Äußerungen – nicht die
Interpretation selbst. Grammatische Strukturen, wie sie traditionell mit dem Konzept
Satz verbunden sind, liefern so etwas wie ungedeckte Schecks des sprachlichen
Verkehrs, die noch validiert werden müssen. Die Interpretation einer Äußerung
verlangt ihre außersprachliche Verankerung, in theoretischen Arbeiten als Referenz
expliziert: die referenzielle Interpretation der Aktanten im propositionalen Szenario,
sowie die referenzielle Interpretation des Szenarios als situiertes (situierbares)
Ereignis (in formellen Modellierungen seit Reichenbachs grundlegenden Arbeiten als
Ereignisvariable repräsentiert, über der das Szenario prädiziert wird). Bühler hatte
diesen Aspekt mit seiner Origo des sprachlichen Aktes expliziert. Damit wird die
Reflexion scheinbar an die Faktoren gebunden, die in den bisherigen Überlegungen
als das Spezifikum orater Strukturierung gefaßt waren: die Bindung an eine
Sprechsituation mit den damit gesetzten spezifischen Festlegungen in Raum und Zeit,
56
präsupponiertem Vorwissen bei Sprecher / Hörer u.dgl.
56
Diese Frage hat noch weitergehende Implikationen, die hier wenigstens angedeutet werden
sollen, da an ihnen ein Großteil einer verbreiteten Konfusion in der Diskussion um die Analyse
schriftkultureller Praktiken hängt (mit Emphase vor allem von Brian Street mit seinem
Konzept der social literacy vorgebracht, s. Street 1995). Das Symbolfeld ist definitionsgemäß
eine ideale, insofern also asoziale Struktur. Mit ihm wird aber eine soziale Praxis artikuliert:
ontogenetisch betrachtet ist es zuerst in der Sprache der anderen da – als solche wird diese
angeeignet und dann auch zur Sprache für mich. Das Symbolfeld kommt also in einer
intersubjektiven Praxis in die Welt, mit seiner Entfaltung wird aber die intersubjektive
Nabelschnur getrennt. Eine genaue (auch ethnographisch kontrollierte) Analyse
schriftkultureller sozialer Prozesse, wie sie sich z.B. in den Arbeiten von Street findet,
widerspricht also keineswegs einer systematischen ("abstrakten") Modellierung der literaten
Ressourcen, die dabei ins Werk gesetzt werden. Die in diesem Kontext oft zu findende
polemische Gegenüberstellung der beiden Herangehensweisen an das Problem behindert nur
ein Weiterkommen bei der theoretischen Klärung.
Bei empirischen Analysen sind beide Dimensionen zu trennen (und insofern auch: zu
berücksichtigen). Im sozialen Raum ist der Erwerb der Schriftsprache immer auch die
Initiation in eine bestimmte, gesellschaftlich determinierte Praxis – mit ihr wird der Lerner
Mitglied einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe (s. auch die Diskussion in I.5). Daher
führt auch die Suche nach formal ablösbaren Indikatoren nicht weiter, wie bei der etwas
hysterischen Diskussion über die Rolle des Vorlesens in den ersten Lebensjahren: dieses hat die
in der Forschung immer wieder herausgestellte positive Rolle als Teil einer sozialen Praxis, bei
der das Kind Mitglied einer literaten (privilegierten) Gesellschaftsschicht wird – deutlich schon
daran, daß es dabei auch eine aktive Rolle spielt und die fraglichen Geschichten nicht nur
passiv rezipiert, sondern diese mit den Erwachsenen ko-produziert. Der rein physische
Vorgang des Vorlesens, bei dem das Kind auf eine passive Rolle festgelegt wird (von den
Erwachsenen u.U. sogar entsprechend sanktioniert wird), unterscheidet sich auch in den
Konsequenzen nicht sonderlich von der Berieselung durch ein laufendes Fernsehgerät. Auf die
Struktur der Ko-Produktion in der Sprachpraxis komme ich unten in II.4 zurück.
Hier sind auch gesellschaftliche Makro-Horizonte zu berücksichtigen ("Kulturen").
Traditionelle Schriftkulturen sind ausgerichtet auf einen autoritativen Text, zumeist mit
religiösen Konnotationen. In diesen ist es (wie bei der traditionellen muslimischen Schule)
ausgeschlossen, daß ein "unreifes" Kind Fragen an einen ehrwürdigen Text stellt, den es noch
nicht fassen kann, den es aber als Initiationsritual auswendig lernen soll. In solchen Kontexten
werden die schriftkulturellen Potentiale sozial abgeblockt. Die Analyse setzt eben voraus, daß
Literat und orat. Grundbegriffe
75
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Ausschlaggebend für die Analyse des Sprachausbaus ist das Symbolfeld und
damit die Frage, ob dessen Struktur über die Ausdifferenzierung der
Sachverhaltsfaktoren auch derartige (referenzielle, illokutionäre …) Festlegungen
57
grammatisiert ausdrückt, statt sie nur mit "freien" Mitteln ausdrückbar zu machen.
Die Grenzlinie zwischen den beiden Bereichen war schon in der antiken rhetorischen
Tradition fest: die Sachverhaltsstrukturierung hat in den W-Fragen schon ein
58
traditionelles Gegenstück, während die satzmodalen Spezifizierungen keine
entsprechende Thematisierungsform haben: sie sind nur indirekt greifbar (durch
kontrastierende Äußerungen), und dadurch eben von der Äußerungssituation und
der Ausrichtung auf deren Akteure nur schwerer ablösbar als Sachverhaltsmomente.
Sinnfällig wird die Notwendigkeit einer solchen Unterscheidung bei
Aufforderungen; diese sind explizit auf die Gesprächssituation, auf ein konkretes
Gegenüber kalibriert, durch dessen Aktivität der mit ihnen artikulierte Sachverhalt
erfüllt werden soll. Demgegenüber ist ihre Grammatisierung in Imperativen eine
Form des Symbolfelds (wo sie z.B. zu indikativischen Formen in Opposition stehen) –
was es möglich macht, Äußerungen mit imperativischen Formen auch für andere
pragmatische Zwecke zu nutzen, nicht anders als Aufforderungen auch in nichtimperativischen Formen auszudrücken (du gehst da jetzt rein! ist grammatisch ein
indikativischer Satz). Dieser Hörerorientierung beim Imperativ entspricht die
Sprecherorientierung bei Optativen u.a. Für die gesprochene Sprache bestehen hier
durch den Rückgriff auf prosodische Markierungen noch größere Spielräume als für
die geschriebene (du kommst morgen ↑ ist ein indikativischer Satz, wenn man diese
Kategorie an der Wortstellung mit einem informationsstrukturell definierten Vorfeld
des finiten Verbs (Prädikats) festmacht – nimmt man die Prosodie zu den
grammatikalisierten Ausdruckselementen hinzu, kann die Klassifikation anders
aussehen). Grammatische Formen sind auf einen generalisierten Anderen kalibriert –
nicht auf den konkreten Gesprächspartner, auch wenn dieser die entsprechenden
Variablen in der Äußerungsstruktur erfüllt (und spiegelverkehrt auf ein
generalisiertes Ego / Sprecher).
Bei den grammatischen Strukturen geht es also um sprachspezifisch definierte
Symbolfelder. Die referenziell interpretierbaren Elemente sind darin im
Jakobsonschen Sinne Schalter: Strukturelemente sind sie nicht als interpretierte,
sondern als zu interpretierende (s. Jakobson 1957). Das Pronomen ich ist grammatisch
kein Index für den (konkreten) Sprecher / Schreiber (wie ein unübertragbarer
Personenindex, vergleichbar den Stimmeigenschaften, die zur Sprecheridentifizierung
führen können); solche Elemente sind Schalter in der Äußerungsstruktur, die nach
einer (situationsgebundenen) referenziellen Interpretation verlangen. Probleme gibt
sie daher zunächst einmal auch isoliert von der sozialen Praxis gefaßt werden. Hinweise zu
den verschiedenen sozialen / kulturellen Prägungen der Schriftkultur in Maas (2008a), Teil 2.
57
Zum Terminologischen: ich unterscheide (anders als in der ausgedehnten
Grammatikalisierungsdiskussion, die die sachliche Unterscheidung selbstverständlich auch
macht) terminologisch zwischen der Grammatisierung einer konzeptuellen Struktur und der
Grammatikalisierung einer Form (die etymologisch eine andere Funktion hatte) für den
Ausdruck dieser konzeptuellen Struktur.
58
In der antiken Rhetorik war das die inventio.
76
Utz Maas
______________________________________________________________________
es aber, wenn die grammatisierten Faktoren der Verankerung der Interpretation nicht
nur auf solche generalisierten Strukturmomente sprachlichen Handelns wie z.B. das
polarisierte Beteiligungsfeld der Bühlerschen Origo kalibriert sind:
beteiligt
+
-
Adressat
+
DU ICH
ER
S.u. für die Grammatisierung von Respektmarkierungen als Finitheitsmarker, die
Evidenziale u.dgl., die zwangsläufig auf eine spezifische Gesprächskonstellation
kalibriert sind.
1.5. Eine zentrale Dimension bei der Interpretation aller Arten von Äußerung ist die
Autorschaft (Übernahme der Verantwortung, Beglaubigung) für das Ausgedrückte.
Im Defaultfall wird der Sprecher / Schreiber für das von ihm Ausgedrückte haftbar
gemacht – nicht nur in der gesprochenen Sprache. Das muß aber nicht für alle
Äußerungen gelten: ein probates Mittel, diesen Default zu überschreiben, ist die
direkte Rede, bei der eine Äußerung nur angeführt und ihr Autor genannt wird: Hans
hat gesagt: "Emma spinnt". Formen der Markierung direkter Rede (Quotative) finden
sich wohl in allen Sprachen; sehr unterschiedlich in den Sprachen ist das Spektrum
der (grammatisierten) Mittel, die Autorverantwortung zu reduzieren: indirekte Rede,
59
generell logophorische Markierungen, Anspielungen …
Die Skala der syntaktischen Integration ist hier auch im Deutschen
einigermaßen groß:
(a) Hans sagte: "Ich komme morgen"
(b) Hans sagte, er kommt morgen
(c) Hans sagte, er komme morgen
(d) Hans sagte, er käme morgen
(e) Hans sagte, daß er morgen kommt
(f) Hans sagte, daß er morgen komme
(g) Hans sagte, daß er morgen käme
Bei (a) erfolgt die Integration nur indirekt über die vom Prädikat sagte geforderte
Artikulation eines Objekts. Bei (b) – (g) läuft die Integration über eine anaphorische
Referenz (mit potentieller Ambiguität). (b) – (d) sind asyndetisch, aber bei (c) und (d)
59
In der Sprachtypologie werden logophorische (< logos "Sprache, Rede", phor- "tragend", also
von einer Rede in eine andere transportierend, vgl. auch anaphorisch) Systeme in jüngerer Zeit
systematischer diskutiert, ausgehend von den reichen Markierungssystemen vor allem in
westafrikanischen Sprachen. In dem von Heath analysierten australischen Nunggubuyu
(s. 4.2.9) stehen offensichtlich gar keine indirekten Ausdrucksmittel zu Verfügung, nicht nur
keine indirekte Rede, auch keine andere Form als die direkte Rede für mentale Akte überhaupt.
Auf dem anderen Pol stehen Sprachkulturen wie beim Mongolischen, bei denen in der direkten
Kommunikation die Markierung der Verantwortlichkeit für das Gesagte geradezu dominant
ist. Darauf komme ich in 4.2.8. ausführlicher zurück.
Literat und orat. Grundbegriffe
77
______________________________________________________________________
mit einer subjunktiven Abhängigkeitsmarkierung (bei (d) mit der früher normativ
geforderten consecutio temporum). (e) - (g) haben eine explizite
Subjunktionsmarkierung. Die minimal markierte asyndetische Form (b) dürfte in der
gesprochenen Sprache als Default fungieren, ggf. auch mit einer einheitlichen
Intonationskontur. In der gesprochenen Sprache kommen hier die expressiven
(parasprachlichen) Mittel hinzu, eine fremde Stimme zu inszenieren.
Kinder experimentieren in ihren frühen Rollenspielen recht extensiv mit solchen
Mitteln. Das zeigt, wie fundamental diese Dimension der Sprachpraxis ist. Allerdings
sind die Ausdrucksmittel, die sie dazu nutzen, zunächst eher mimetisch: sie
reproduzieren lautmalerisch Geräusche, geben den unterschiedlichen Figuren im
Spiel unterschiedliche Stimmen (Auto – [brːːːm], oder: der Junge – [ʔɑʊːːː]). Die
spezifischen symbolischen Ressourcen, um solche Sachverhalte in der Darstellung zu
repräsentieren, erschließen sie sich relativ spät – in unserer Gesellschaft meist erst in
der Zeit, in der sie in der Schule auch schriftsprachliche Ausdrucksformen lernen
(s.o.). Dazu gehört es, jeden solchen Sachverhaltsaspekt mit einem Prädikat zu
belegen (also das Lexikon differenziert auszubauen) bzw. in einer propositionalen
Form zu artikulieren und ggf. als sekundäre Prädikation mit einer primären zu
verknüpfen (das Auto fuhr laut vorbei oder der Junge sagte, daß es ihm weh tut …).
Das souveräne Verfügen über solche Ressourcen erlaubt es dann später auch wieder,
mimetische Elemente entsprechend markiert als Collagen in einen literaten Text
einzubauen (der Junge schrie laut "Au"…).
In typologischer Perspektive ist keineswegs die schematische Markierung des
verantwortlichen Sprechers zu erwarten (wie es in Gesprächsprotokollen erfolgt –
oder auch in der traditionellen Form eines Dramenskripts). Die Architektur der
Sprachsysteme ist in der Regel von Ökonomieaspekten bestimmt, die nur den
markierten Fall, nicht den Default formal auszeichnen. Bei der Grammatisierung
solcher Markierungen, wie es in Sprachen mit Evidenzialitätssystemen als
Finitheitsmarkierung der Fall ist (z.B. verbreitet in südamerikanischen Sprachen) liegt
allerdings ein solcher u.U. überschüssiger Markierungszwang vor.
In der modernen Literatur sind solche Strukturen grundlegend für das zentrale
Problem, den "Autor" nicht gewissermaßen aus dem Text auszuklammern, wie es das
traditionelle Literaturkonzept tat. Daraus resultieren die differenzierten Formen der
erlebten Rede (frz. discours indirect libre), bei denen die Autorschaft wie ein
Weberschiffchen zwischen der inszenierten Figur, ggf. dem (literarischen) Erzähler
und dem Autor hin und her changiert. Diese Polyphonie der Sprachpraxis wird in
60
jüngerer Zeit zunehmend Gegenstand der Forschung.
Diese Fragen verlangen eine gründliche, sprachtypologisch kontrollierte
Diskussion: Insofern solche Markierungen in erheblichem Umfang expressiv gemacht
werden (dem Hörer / Leser Inferenzen abverlangen), gehören sie nicht zum
Symbolfeld im engeren Sinne (im Gegensatz zu den formalen Elementen, an denen
60
Ausgehend vor allem von der literaturwissenschaftlichen Diskussion, für die die Rezeption
der Arbeiten von M.Bachtin (seit den 20er Jahren) eine Schlüsselrolle hat; allerdings war die
Analyse der "erlebten Rede" in der sprachwissenschaftlichen Stilanalyse schon in den 20er
Jahren auch in Deutschland ein zentraler Forschungsgegenstand.
78
Utz Maas
______________________________________________________________________
solche logophorischen Verweise festgemacht werden). In einer ganzen Reihe von
Sprachen bilden sie aber die zentrale Achse der grammatisierten Satzmodalität, ggf.
auch von morphologischen Finitheitsmarkierungen am Prädikat (z.B. das erwähnte
reiche Spektrum an Evidenzialen in den südamerikanischen Indianersprachen).
Damit verbinden sich komplexe Fragen der kulturellen Vorgaben für solche
grammatischen Strukturen, die in der Regel eben nur auf die spezifische
Konstellation mit einem konkreten Adressaten kalibrierbar sind. In Sprachen der
australischen Aboriginees fehlen formale Mechanismen der Integration wie die
indirekte Rede z.T. völlig – hier ist nur eine zitierende Inszenierung der fremden
Rede, ggf. mit deklarierenden Zusätzen (so machte er …) möglich (s. z.B. Heath zum
Nunggubuyu, unten III.5.). In anderen Sprachen kann die Registerdifferenz den
Ausschlag geben. So hat Dunst (2009) bei den von ihr analysierten spontanen
russischen Gesprächen häufig sprachliche dummies in solchen logophorischen
Funktionen, etwa ein formal "erstarrtes" takoj, am besten mit "so" zu übersetzen (es
ist nur homophon mit dem Demonstrativ, SM.Nom), z.B.
on
mne
takoj
3SM.Nom
1S.Dat
so
"Er zu mir so ‚Sieben Euro‘"
sem‘
sieben
evro
Euro
Ihre Gewährsleute, die diese Texte verschrifteten, ließen diese Elemente entweder
weg oder ersetzten sie durch explizite (und lexikalisch differenzierte) Formen.
Sprachkulturen sind unterschiedlich tolerant gegenüber solchen Praktiken.
2. Formstrukturen: die syntaktische Basis für die
Analyse orater und literater Strukturen (Satz als
Grundkategorie)
2.0. Die Basis der Analyse ist auf der Formseite zu suchen. Den Kern bilden, wie oben
schon angesprochen, satzförmige Strukturen. Damit verbindet sich eine Fülle von
grundsätzlichen Problemen, die im Folgenden mit der Zielsetzung angesprochen
werden sollen, so ein Raster für empirische Analysen zu gewinnen. Um die
Argumentation zu entlasten, argumentiere ich dabei im Rückgriff auf das intuitiv
zugängliche Deutsche.
2.1. Proposition und Nexus
2.1.1. Ausgangspunkt muß das sein, was die lange Tradition der Schulgrammatik
vorgegeben hat, für die immer schon klar war, daß Sätze den Horizont der
Sprachpraxis definieren – daß dieser nicht auf das beschränkt ist, was in der Praxis
beobachtbar ist. Allerdings wird diese Annahme in der Schulgrammatik von
normativen Vorgaben überlagert, auf die unten zurückzukommen ist. Hier sind
zunächst einmal die Grundbegriffe festzuhalten, die mit einer solchen Analyse
verbunden sind (die auch Bühler in seiner "Sprachtheorie" zusammenstellte). Dabei
Literat und orat. Grundbegriffe
79
______________________________________________________________________
gibt es eine Reihe von terminologischen Unklarheiten, die eine Festlegung sinnvoll
machen – nur um diese geht es im Folgenden, da sonst hier die gesamte Sprach- und
Grammatiktheorie zu entwickeln wäre.
Dabei sind zu unterscheiden:
• die Formseite der Äußerung,
• die Interpretation der Form (außersprachlich).
Formen sind gelernt (also auch sprachspezifisch) – ebenso wie ihre Interpretation.
Dabei ist die Form im Sinne von oben als Gestalteigenschaft der Äußerung zu
verstehen: insofern ist die (empirisch beobachtbare) Äußerung von ihrer (evtl.
gegebenen) Struktur als Satz zu unterscheiden. Hier handelt es sich also um
sprachliches Wissen – das mit außersprachlichem (also nicht formgebundenem)
Wissen (oft als Weltwissen angesprochen) verknüpft ist. Dem entspricht eine
terminologische Differenzierung:
außer-sprachlich
Konzept
Sachverhalt
Sprache (Zeichen): Symbolfeld
Wort
Wortgruppe
(paradigmatische (syntagmatische
Abgrenzung:
Verknüpfung)
Wortfeld)
Proposition
Satz
Der Horizont dieser Begrifflichkeit ist die Syntax: Wort wird dabei als syntaktische
Grundeinheit genommen – die weiteren Begriffe sind syntaktische Konstruktionen
mit Wörtern (morphologische Fragen sind erstmal ausgeklammert). Die
Differenzierungen sind hier semantisch: Wort wird primär als konzeptuelle
Artikulation verstanden (was Probleme mit sich bringt – und traditionell nur den
Autosemantika entspricht). Eine syntaktische Schwelle wird da angesetzt, wo die
syntaktische Konstruktion als Ausdruck eines Sachverhalts interpretiert werden
kann: also als Proposition.
Ein Satz ist demgegenüber in einer ersten Näherung eine Konstruktion, die als
eigene Äußerung fungieren kann: als Äußerung, zu der eine Stellungnahme möglich
ist, die Handlungskonsequenzen hat. Das ist jedenfalls das traditionelle Verständnis,
das vor allem in der neueren Sprachphilosophie / Logik etabliert ist (seit Frege und
Wittgenstein), wo ggf. von der Proposition auch als vom Satzradikal gesprochen
wird, der im Satz noch weiter satzmodal bestimmt wird. Im Rahmen der
Finitheitsdiskussion wird eine satzmodal bestimmte Proposition als semantisch finit
gefaßt – Propositionen können auch semantisch nicht-finit vorkommen, s.u. Dieses
traditionelle Konzept blendet die Strukturbedingungen des Symbolfelds aus; s.o. zur
reflektierten theoretischen Klärung bei Bühler (Satz als "geschlossenes und
wohlbesetztes Symbolfeld") und weiter in (III.3.). Die Notwendigkeit einer solchen
konzeptuell klareren Definition ergibt sich nicht zuletzt auch in Hinblick auf
sprachtypologische Befunde (s.o. I.4. und weiter in III.5.).Für eine Abklärung literater
Strukturen ist daher ein restriktiveres Konzept von Satz erforderlich, als es hier in
Anlehnung an die schulgrammatische Tradition zunächst aufgenommen wird.
80
Utz Maas
______________________________________________________________________
EXKURS ZUR Terminologie (Proposition vs. Satz)-----------------------------------Um begriffliche Unklarheiten zu vermeiden, ist ein Exkurs in die Logiktradition
nützlich.
Die
logische
Sprachreflexion
war
traditionell
eine
Art
Argumentationsanalyse, die sich um die Analyse von Urteilen drehte, also um die
Frage, was ein Urteil (mit anderen Worten: einen Satz) wahr oder falsch machte. Aus
diesem Kontext stammt auch der Terminus Proposition und damit auch die
Unterscheidung von Proposition und Satz, wobei der letztere durch seine
satzmodalen Bestimmungen definiert ist, die den w.u. besprochenen
Finitheitsbestimmungen der Grammatiktheorie entsprechen.
In der Logiktradition bezeichnet eine Proposition die Prämisse bei einem Schluß.
Eine Proposition wird interpretiert durch einen Sachverhalt, z.B. |Hans sieht fern|.
|Hans sieht fern| ist nur eine Proposition für Sprecher des Deutschen, die das
vorausgesetzte sprachliche Wissen haben: die Wörter (Hans, sieht, fern) müssen
bekannt sein, ebenso die Grammatik, die die Konstruktion |Hans sieht fern|
ermöglicht. Der Kern der Proposition ist eine Prädikation: ein Prädikat (hier: sieht
fern) wird prädiziert über einem Argument (Subjekt : Hans). Eine solche Prädikation
kommt aber nur zustande, wenn das Subjekt identifizierbar ist – was auf
außersprachliches Wissen zugreift: z.B. daß der Referent (Hans) bekannt ist.
Die Unterscheidung von Proposition und Satz wird verdeckt, wenn ein Satz nur
aus einer Proposition besteht wie bei |Hans sieht fern|. Unmittelbar einsichtig wird
die Unterscheidung aber bei komplexen Sätzen, die mehr als eine Proposition
beinhalten:
[[wenn Hans fernsieht]Prop [dann schläft er meistens ein]Prop ]Satz
In der Logiktradition wurde die Unterscheidung, daß eine Proposition wie |Hans sieht
fern| kein Satz ist (kein Urteil, bei dem sich die Frage nach wahr oder falsch stellt),
daran festgemacht, daß sie als Prämisse eines Urteils fungieren kann:
|wenn Hans fernsieht| (dann schläft er meistens ein)
Hier liegt keine Behauptung ( Satz) von |Hans sieht fern| vor. Behauptet wird nur
die Implikation |wenn Hans fernsieht, dann schläft er meistens ein|. Diese
Behauptung (Implikation) ist auch wahr, wenn Hans (gerade) nicht fernsieht. Wird
aber die Proposition |Hans sieht fern| als Satz geäußert (behauptet), stellt sich die
Frage nach ihrer Wahrheit: dieser Satz ist wahr, g.d.w. ("genau dann, wenn") Hans
fernsieht.
In der grammatischen Redeweise ist die Terminologie nicht einheitlich. In der
deutschen (und französischen ...) Tradition wird Proposition auch dort benutzt, in der
angelsächsischen Tradition steht dafür clause (im Deutschen nicht möglich, wegen
der anderen Assoziationen bei "Klause(l)"); manchmal wird hier von Satzbasis
gesprochen, auf der die Finitheitsbestimmungen (die Satzmodalität) operieren. Für
die grammatische Analyse sind hier Äquivalenzrelationen in der
Konstituentenanalyse ausschlaggebend, schematisch etwa:
Literat und orat. Grundbegriffe
81
______________________________________________________________________
ENDE DES EXKURSES-------------------------------------------------------------------Die logische Tradition zielt auf die Interpretation von Äußerungsstrukturen – das ist
gerade nicht das, was das Symbolfeld definiert. Dieses ist ein Feld von Relationen
zwischen Formen, die unabhängig von ihrer Interpretation (auch: von ihrer
Interpretierbarkeit) definiert sind – umgelegt auf die Sprachproduktion und
-rezeption entspricht das auf Seiten der Äußerungen gewissermaßen Mechanismen
der Gestaltschließung. Insoweit, aber auch nur insoweit ist das Symbolfeld rein
formal definiert: es entspricht i.S. der üblichen sprachwissenschaftlichen
Unterscheidungen der Syntax. Aber als Symbolfeld ist es an seine symbolische
Funktion gebunden.
Geht man von der in vielen Darstellungen zugrundegelegten kommunikativen
Konzeption aus, ist die Frage des Zuschaltens des Symbolfelds eine Frage der
kommunikativ geöffneten Horizonte: in dem Maße, wie der Kontext und die
spezifischen wechselseitigen Erwartungen der Gesprächsbeteiligten die Interpretation
nicht sicherstellen, wächst die Rolle der formalen Strukturen bei der Artikulation der
Äußerung: literate Strukturen, die auf einen generalisierten Anderen abstellen, sind
daher an die formale Artikulation (im Kern: die Satzförmigkeit) gebunden. Im
Gegensatz zum konkreten (sozial situierten) Äußerungsakt impliziert die Ausrichtung
auf einen generalisierten Anderen die Sicherstellung der Interpretierbarkeit unter
allen möglichen Rezeptionsbedingungen – und damit eben die Maximierung des
Formaspektes. Im Gegensatz zu Symbolsystemen erster Ordnung (s.o. Abschnitt 1)
folgt daraus nicht die Interpretierbarkeit jedes Formelementes: die Strukturen des
Symbolfelds sind vor allem solche der zweiten Ordnung, die in kognitiven
Modellierungen weitgehend auf das Konto der Sprachverarbeitung gehen.
2.1.2. Ausgehend von der traditionellen Begrifflichkeit entspricht eine Proposition
einer syntaktischen Konstruktion, wobei die Syntax die Vorgaben für eine
Durchgliederung der in einer Konstruktion integrierten (Wort-) Formen liefert.
Insofern ist die Grundstruktur der logischen Analyse, die eine Proposition in ihr
61
Subjekt und das darüber prädizierte Prädikat zerlegt, zu grob. Statt von einer
61
Auch typologisch ist eine analoge Konstituentenstruktur mit einer VP und einem "externen
Argument" problematisch und kann nicht "universalgrammatisch" postuliert werden, wie die
Diskussion um "nicht-konfigurationelle" Sprachen deutlich gemacht hat. In der jüngeren
deutschen Grammatiktradition hat man die ältere logische und zugleich neuere
generativistische Zerlegung z.T. als die in ein Subjekt und einen Prädikatsverband repliziert,
der seinerseits als Kopf ein Verb hat – also mit einer Verquickung von syntaktischen und
Wortartenkategorien, die ich im Folgenden vermeide.
82
Utz Maas
______________________________________________________________________
solchen Zerlegung gehe ich im Folgenden von der Struktur aus, die auch schon die
mittelalterliche Grammatik ansetzte: mit einem syntaktischen Kopf im Prädikat, von
dem alle anderen Elemente direkt oder indirekt abhängig sind (als seine "Satelliten").
Auch für die feinere Analyse ist es wieder möglich und sinnvoll, auf die ältere
Tradition zurückzugehen. Gerade auch "Vorstrukturalisten" bemühten sich,
analytische Kategorien zu finden, die gewissermaßen quer zu den fest gewordenen
Konzepten der Schulgrammatik (also stereotypen literaten Strukturen) waren.
Grundlegend dafür war ein Verständnis von syntaktischen Strukturen als Netz von
Abhängigkeiten, bei denen das syntaktische Prädikat als Kopf fungierte – formal also
eine Halbordnung, wie sie inzwischen in Darstellungen mit Baumgraphen auch
62
üblich geworden ist. Um von der schulgrammatischen Vorgabe wegzukommen,
operierte Otto Jespersen mit der von ihm eingeführten Kategorie eines Nexus: das
bezeichnet das Feld der Abhängigkeiten von dem jeweiligen Prädikat (unabhängig
von den Wortarten, also auch bei Nominalsätzen mit einem nominalen Prädikat). In
Anlehnung an Jespersen werde ich im Folgenden von Nexus und komplementär dazu
63
von Junktion sprechen; der syntaktischen Proposition entspricht so ein Nexusfeld.
Das erlaubt es im übrigen auch, eine gewisse terminologische Ambiguität
zwischen syntaktischen und semantischen Begriffen aufzulösen, die aus der stark
semantisch orientierten älteren Grammatiktheorie resultiert, die nicht nur die
64
Proposition, sondern auch das Prädikat betrifft:
PRÄDIKAT
PROPOSITION
semantisch
deskriptiver Inhalt eines
Lexems
Sachverhalt
syntaktisch
Kopf eines Nexusverbands
(einer Proposition)
Nexusfeld eines Prädikats
Tatsächlich liegt hier auch nicht einfach eine irritierende Homonymie vor, sondern
ein systematischer Zusammenhang, der durch die schulgrammatische Fixierung auf
die Wortarten verdeckt wird. Jedes semantische Prädikat ist potentiell auch ein
syntaktisches, vgl. die elementaren Prädikationen:
semantisch
(lexikalisches Prädikat)
Haus ("Substantiv")
schnell ("Adjektiv")
laufen ("Verb")
geben ("Verb")
62
syntaktisch
(Kopf einer Prädikation)
das ist ein Haus
das ist schnell
er läuft
sie gibt es ihm
Die traditionellen Strukturen sind Dependenz- und keine (ungerichteten)
Konstituentenstrukturen. Diese grammatiktheoretischen Fragen gehen über das hier zu
Klärende hinaus.
63
Zum Verhältnis dieser Begrifflichkeit zu den Jespersenschen Kategorien, s. Teil III.
64
Auch in neueren Grammatiktheorien findet sich diese Begrifflichkeit, vgl. z.B. die
Terminologie der LFG.
Literat und orat. Grundbegriffe
83
______________________________________________________________________
Diese Entsprechungen bilden die strukturelle Grundlage für den minimalen
Grenzwert orater Äußerungseinheiten (eine neue Information pro Intonationseinheit,
s.u.). Die praktischen Probleme eines entsprechenden "Parsings" von Äußerungen
werden unten aufgenommen.
Die Relationen im Nexusfeld werden traditionell in der Grammatik als Valenz
diskutiert, worauf auch die Vorstellung von mehr oder weniger gesättigten solcher
Felder zurückgeht. Neben der quantitativen Valenz (0-, 1-, 2-, 3- ...-wertig) lassen sich
darüber noch weitere formale Filter (in der GG früher: Selektionsbeschränkungen)
definieren. Formal schließt hier dann das System der Markierungen solcher
Relationen, bzw. ihre Differenzierung an: Kasusmarkierungen in Sprachen mit
reicher
Morphologie,
Markierungen
mit
Partikeln
(Adpositionen),
65
Wortstellungsbeschränkungen u.dgl.
Das liefert die (vom Charakter des Prädikats abhängige) Basisstruktur eines
Nexusfelds: im Kern also die obligatorischen Konstituenten eines Prädikats. In der
traditionellen Grammatik des 19. Jhds. sprach man recht prägnant in solchen Fällen
vom nackten Satz – im Gegensatz zum bekleideten Satz, der Erweiterungen aufweist,
66
die auch noch möglich (aber nicht vom Symbolfeld gefordert) sind.
2.2. Propositionale Ausbauformen (Adjunkte)
Das Nexusfeld integriert eine Menge von syntaktischen Elementen, je nachdem mit
eigenem deskriptiven Inhalt (als Prädikate im semantischen Sinne, s.o.), in einer
arbeitsteiligen Funktionszuweisung: im Nexusfeld hat jedes Element in Bezug auf
jedes andere eine spezifische Funktion. Mit Ausnahme des Kopfes ist jedes Element
von einem anderen abhängig; dabei ist in einer transitiven Relation jedes Element
auch vom Kopf (dem Prädikat) abhängig (außer der Kopf selbst). Diese Struktur läßt
sich durch Adjunkte erweitern – klassische Beispiele sind die
Umstandsbestimmungen (Adverbiale): temporal, lokalisierend oder auch
modalisierend (in einen Szenariotypus einordnend). In semantischer Hinsicht ist
65
Das findet sich im übrigen auch schon bei Bühler (1934) recht differenziert aufgedröselt,
einschließlich seiner Systematisierung im Sinne einer Markiertheitstheorie, wie sie in jüngerer
Zeit erst von Kiparksy und Co. wieder auf die Tagesordnung gebracht worden ist: z.B. daß bei
einer ökonomisch optimierten Architektur wie in den ie. Sprachen mit einer akkusativischen
Ausrichtung eine offene Akkusativmarkierung im unmarkierten Fall eines unbelebten Objekts
unterbleibt (Neutrum mit der Neutralisierung von Nominativ und Akkusativ) und nur im
markierten Fall eines belebten Objekts erfolgt, u.a. mehr.
66
Im 19. Jhd. war diese Konzeptualisierung allgemein üblich, s. etwa Heyse (1838 – 1849).
Ähnliche Unterscheidungen finden sich heute verschiedentlich wieder in jüngeren Arbeiten,
z.B. in der Role and Reference Grammar (RRG), deren Unterscheidung von Kern (core) und
Peripherie dem allerdings nur teilweise entspricht. Auf diese Weise lassen sich recht elegant
auch die syntaktischen Strukturen beschreiben, die in der GG-Tradition als pro-drop
abgehandelt werden: in Sprachen ohne einen obligatorischen Subjekts-Ausdruck (die
semitischen Sprachen, die meisten romanischen Sprachen u.a.) gehört zum nackten Satz eben
kein Subjekt – weshalb sich diese Redeweise auch in den semitistischen Grammatiken gehalten
hat.
84
Utz Maas
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deutlich, daß es sich hier um komplexe Propositionen handelt, die auch entsprechend
mit komplexen Sätzen paraphrasierbar sind:
Letzte Woche ging Emma mit ihrem Dackel spazieren ~
Es war (passierte ...) letzte Woche, daß Emma mit ihrem Dackel spazieren ging.
Andererseits sind von der syntaktischen Struktur her für diese Erweiterungen
reguläre Nuten und z.T. auch spezielle Markierungen definiert: sie werden (nicht nur
im Deutschen) am Satzrand artikuliert, oft findet sich auch ein höheres Prädikat in
Form einer Adposition, das die einfache Proposition als eines seiner Argumente
nimmt, oder es finden sich spezielle morphologische Markierungen ("adverbiale
Kasusformen"):
Vor einer Woche ging Emma mit ihrem Dackel spazieren.
VOR (x,y) mit
x = (Emma ging mit ihrem Dackel spazieren),
y = (eine Woche)
Zu den Kasusmarkierungen s. etwa im Dt. Samstag vs. samstags u.dgl. Insofern ist es
sinnvoll, diese Erweiterung der Proposition als bekleideten Satz zu fassen, der eine
unmarkierte Struktur darstellt – während die Paraphrasen mit einem komplexen Satz
markierte Optionen darstellen, wie z.B. auch Spaltkonstruktionen:
Es war Hans, der mit Emmas Dackel spazieren ging.
2.3. Komplexe Propositionen I: Satzgefüge
Eine weitere Ausbaustufe liegt vor, wenn Elemente im Nexusfeld selbst propositional
ausgebaut werden. Eine der Propositionen bildet dann die Matrix, die andere ist
abhängig. Das ist prinzipiell bei jedem Satelliten möglich:
Subjekt: daß Hans ihr Blumen schenkt, gefällt Emma
Objekt: Emma glaubt, daß Hans mit dem Dackel spazieren geht
Adjunkt: Als Hans mit dem Dackel spazieren ging, schlief Emma
Die semantische Finitheit kommt dem ganzen (komplexen) Satz zu. Die
Prädikationen der einzelnen Propositionen können je nach Sprachbau abgestufte
Formen grammatischer Finitheit aufweisen:
• bei reicher Morphologie betrifft das u.U. die Form des Prädikats: mit der
Einschränkung der paradigmatischen Optionen, ggf. auch mit spezialisierten
Formen (Subjunktivformen, oft auch "Konjunktiv" genannt),
• ggf. in Verbindung mit eingeschränkten Möglichkeiten für die Artikulation
der Argumente, insbesondere des Hauptarguments ("Subjekt"): diskutiert
unter same / different-subject-Markierung (vs. freie Personmarkierung am
Hauptprädikat); im Deutschen z.B. als Grenzfall Infinitivkonstruktionen, die
keinen eigenen Subjekts-Ausdruck zulassen (also same-subject sind: Emma
hofft, (*Emma / *Hans) mit dem Dackel spazieren zu gehen,
Literat und orat. Grundbegriffe
85
______________________________________________________________________
• weitere grammatische Beschränkungen, z.B. die Wortstellungsfreiheit (im Dt.
die Endstellung des [grammatisch] finiten Verbs als Markierung der
Abhängigkeit vs. Zweitstellung mit einem Vorfeld für ein Topik als
Markierung der [semantischen] Finitheit),
• spezielle Subordinatoren, wie z.B. daß, ggf. auch mit einer semantischen
Artikulation im Sinne eines höheren Prädikats für Adjunkte, s. 3.1.2): als,
obwohl ...,
• allerdings sind sprachbauspezifisch solche Markierungen nicht obligatorisch.
Vgl. auch im Dt., wo bei bestimmten Verben, die eine propositionale
Ergänzung erwarten lassen, asyndetische Verbindungen eindeutig sind:
Hans sagt, er geht mit dem Dackel spazieren,
vgl. auch konditionale Gefüge:
Geht Hans mit dem Dackel spazieren, kommt er immer vergnügt zurück
(mit einem propositional ausgebauten adverbialen Adjunkt, vgl.
syndetisch wenn Hans ...).
Im Deutschen werden solche Markierungen oft kumuliert, vgl. bei
|wenn Hans fernsieht (fernsähe)|:
Subjunktor, Wortstellung, spezielle Verbformen ...
Zu den Valenzeigenschaften eines Verbs kann es gehören, daß es als Prädikat solche
propositional ausgebaute Ergänzungen verlangt (im Deutschen allerdings nicht):
• 1-wertiges Verb:
daß das Auto nicht anspringt, passiert schon mal (vgl. Ein Unfall passiert ...)
• bei 2-wertigen Verben ist die alternative Option oft ein Präpositionalobjekt:
Emma glaubt an sein Versprechen
Syntaktisch sind syndetische (mit explizitem Subjunktor markierte) und asyndetische
Subordinationen äquivalent. Charakteristisch für gesprochene Sprache (> orate
Strukturen) ist es, explizite Subjunktionsmarkierungen nur zur Desambiguierung zu
verwenden: Emma glaubt, daß Hans kommt ist mündlich nicht zu erwarten (dort
67
häufiger: Emma glaubt, Hans kommt). Die normative Grammatik der europäischen
Schulsprachen ist spiegelverkehrt dazu auf syndetische Konstruktionen getrimmt, mit
dem Modell des lateinischen Periodenbaus, s. (I.4.2.). Auf dem anderen Pol stehen z.B.
australische Sprachen, die nur in einem oraten Modus genutzt werden, bei denen die
Integration mehrerer Propositionen in eine größere textuelle Einheit ohne
syntaktische Subjunktionsmarkierungen erfolgt (wie ohnehin hier die Kategorie Satz
einen prekären Status hat, s. III.5. zum Nunggubuyu bzw. zu dessen Analyse durch
J.Heath).
67
Die normative Grammatik der westlichen Schulsprachen mißbilligt in der Regel
asyndetische Strukturen. Anders ist es dagegen z. B. im Chinesischen, dessen hochsprachliche
Kultivierung umgekehrt redundante Markierungen mißbilligt (s.u.). Zu den westlichen
Schulkulturen gehört im übrigen auch die arabische: asyndetische Subjunktionen sind
charakteristisch für alle gesprochenen arabischen Varietäten – sie fehlen dagegen im (normativ
geregelten) Klassischen Arabischen (an dem sich die moderne Schriftsprache orientiert) völlig.
86
Utz Maas
______________________________________________________________________
2.4. Junktion I: Koordination
Schließlich sind Ausbauformen möglich, die keine Abhängigkeit vom Kopf (dem
Prädikat) aufweisen. Jespersen hatte dafür den Terminus der Junktion, den ich hier
68
allerdings weiter fasse, als er es tat. Darunter fallen zunächst einmal alle Arten von
Koordinationen, die gewissermaßen eine syntaktische Nute mehrfach belegen:
Hans kam nachhause und Emma legte sich ins Bett.
Hier dient keine der beiden Propositionen als Matrix – beide bilden parataktisch
einen Satz, durch und verknüpft (es gibt semantische Optionen für solche
Verknüpfungen, die deutlich machen, daß mit ihnen gewissermaßen doch ein
höheres Prädikat artikuliert wird, das beide Propositionen integriert: aber, denn, ...).
Vgl. auch die Default-Interpretation bei einer und-Koordination als zeitliche Abfolge:
Emma und Hans heirateten und bekamen ein Kind
Emma und Hans bekamen ein Kind und heirateten
Wie auch bei diesem Beispiel erfolgt eine engere Integration über elliptische
Tilgungen, die die entsprechenden Koordinanten gewissermaßen syntaktisch
klitisiert:
Hans kam nachhause und (Hans, er > ∅) legte sich ins Bett.
Hans kam nachhause und Emma (kam > ∅) auch (nachhause > ∅).
Andere Integrationsmechanismen sind lokale Verweisungselemente:
Erst geht Hans mit dem Dackel spazieren, dann legt Emma sich ins Bett.
2.5. Junktion II: Attribution
Eine andere Art von Erweiterung ist die Einführung einer sekundären Prädikation,
die nicht (oder nur schwach) über den Prädikatskopf vermittelt ist. Noch an das
Prädikat gebunden (also als Moment des prädizierten Szenarios artikuliert) sind
Depiktive:
Hans kam müde nachhause
Hans ist nicht generell müde, sondern nur bei seinem Nachhausekommen
68
Hier gibt es ohnehin terminologisch-begriffliche Probleme. In der älteren
Grammatikreflexion, an die einige Autoren auch heute noch anschließen, bezeichnet Junktion
im etymologischen Sinne einfach eine Verknüpfung, steht also gegen eine reine Juxtaposition.
Insofern dient Junktion dort als Oberbegriff zu allen Arten grammatischer Verknüpfung: loser
Aggregation durch lokal artikulierte Verweise, parataktische Verknüpfung, ggf. mit expliziten
Markern auf der einen Seite, und syntaktisch integrierten Formen (Hypotaxe, nominale
Umkategorisierung u.dgl.) auf der anderen Seite. Jespersen beschränkte den Terminus auf eine
besondere Form der Verknüpfung: als Gegenbegriff zum Nexus, woran ich hier anschließe.
Zum begrifflichen Hintergrund und zu neueren terminologischen Spielarten, s. 6.2.
Literat und orat. Grundbegriffe
87
______________________________________________________________________
Emma trinkt ihren Kaffee schwarz
der Kaffee ist nicht grundsätzlich schwarz, sondern nur als Moment von
Emmas Trinken.
Völlig unabhängig sind sekundäre Prädikate, wenn sie eine nominale Konstituente
ausbauen, also als Attribute fungieren:
Der müde Hans wurde wieder munter, als er Emma sah
Schwarzer Kaffee gehört bei Emma zum Frühstück
Solche Attribute können auch propositional ausgebaut werden:
Hans, der fürchterlich müde war, wurde wieder munter, als er Emma sah
Kaffee, der schwarz ist, schmeckt bitter
Hier gilt wieder ähnlich wie bei (2.2.), daß es sich zwar um einen syntaktischen
Ausbau handelt, daß die daraus resultierende Komplexität aber relativ gering
erscheint – jedenfalls in den Grammatiken in der Regel nicht registriert wird. Vgl.
dazu aber unten bei (II.4.). Für eine solche Verdichtung durch sekundäre
Prädikationen gibt es aber Schwellen, die unter den Bedingungen mündlicher
Kommunikation offensichtlich nur schwer zu überschreiten sind.
2.6. Das Segmentierungsproblem: propositionale und
Satzgrenzen
2.6.1. Bei der Integration mehrerer Propositionen in eine syntaktische Konstruktion
ergeben sich Segmentierungsprobleme, an denen auch die Definition der
problematischen Kategorie Satz hängt. Um eine analytische Herangehensweise zu
finden, muß die Blickrichtung allerdings umgekehrt werden, entsprechend der
Aufgabenstellung für einen Hörer: Segmentierungsprobleme entstehen nur da, wo
eine vorgegebene Äußerung als komplex vermutet wird, also in ihr Kandidaten für
mehrere Propositionen (Sätze) gesehen werden. Der Verpackung von mehreren
Propositionen in einen Satz entspricht so das Aufdröseln einer Äußerung in ihre
propositionalen Bestandteile. Wo die Kohäsion der Elemente in einer vorgegebenen
Äußerung durch ihre grammatische Bindung (funktionale Arbeitsteiligkeit) groß ist,
stellt sich kein Segmentierungsproblem: bei einer Äußerung wie [ˌkɔm.tɐ.ˈmɔ͡ɐ.gŋ̥]
kommt er morgen? stellt sich die Frage nicht; anders bei Konstruktionen wie er sagt,
er kommt morgen.
Die Grundfigur der Argumentation in (II.2.) ist die syntaktische Integration, die
abgrenzbare Einheiten liefert: Propositionen bzw. mit der entsprechenden
satzmodalen Spezifizierung: Sätze. Diese syntaktischen Makroeinheiten können eine
unterschiedliche interne Komplexität aufweisen, für die in den vorausgehenden
Abschnitten die Möglichkeit in einem Feld mit den Dimensionen von Nexus und
Junktion skizziert ist. Sprachen sind aber dynamische Systeme, und so ist denn auch
die Segmentierung komplexer Texte keine triviale Angelegenheit – nicht nur in der
gesprochenen Sprache, bei der die Nutzung literater Strukturen zur Disposition steht
88
Utz Maas
______________________________________________________________________
(s. II.4.), auch in Hinblick auf die Umsetzung der grammatischen Strukturanalysen
von (II.2.).
2.6.2. Geht man von den Prädikaten als Köpfen einer Prädikation und damit einer
Proposition aus, sollte die Anzahl der Prädikate der Anzahl der Propositionen
entsprechen – und als Grenzwert für orate Artikulation auch entsprechend sogar der
Anzahl von Sätzen (s. dazu weiter in II.4.). Sekundäre Prädikationen, die in eine
propositionale Struktur integriert werden, verkomplizieren dieses Bild. Die
weitestgehende Integration solcher sekundärer Prädikationen erfolgt dadurch, daß sie
nicht alle Eigenschaften eines vollen Prädikats aufweisen, was in der Tradition der
Schulgrammatik, die ein Prädikat entsprechend der lateinischen Schulgrammatik an
eine verbale Form bindet, als Nominalisierung gefaßt wird (s. 2.7.); oder aber sie
werden als modifizierendes Element eines komplexen Prädikats integriert (s. 2.8.). In
diesen Fällen gibt es keine Segmentierungsprobleme (bzw. -optionen).
Problematischer sind die Fälle, wo die sekundäre Prädikation ihre propositionale
Struktur bewahrt, vor allem dann, wenn sie nicht in das Nexusfeld als Komplement
eingebunden, sondern nur adjungiert ist. Hier kann ggf. die reduzierte Finitheit
solcher sekundärer Prädikate, die sich nur indirekt über eine syntaktische Analyse
erschließt (keine oder doch keine unabhängige TAM-Markierung, Personmarkierung
u.dgl.), zu Segmentierungsproblemen führen. Unproblematisch sind solche
Konstruktionen nur dann, wenn dafür eigene (morphologisch markierte) Formen
genutzt werden, die wie z.B. Infinitive keine primären Prädikate bilden können. In
Sprachen, die keinen obligatorischen Ausdruck für die Aktanten verlangen, können
solche Propositionen ambig sein (s.u. zum Chinesischen).
2.6.3. Ein Grundproblem liegt bei der Passung der symbolisierten semantischen
Vorgaben für die Interpretation und den formalen (syntaktischen) Strukturen. Geht
man von der Interpretation einer (syntaktischen) Proposition durch einen Sachverhalt
aus (s. II.1.) aus, korreliert die geringere syntaktische Autonomie einer Konstruktion
mit ihrer nicht gegebenen unabhängigen Interpretation als Sachverhalt. Hier sind
syntaktische Tests einschlägig, etwa die mögliche unabhängige referenzielle
Spezifizierung der Aktanten:
Bei (a) hat die Matrix (scheinen) keinen unabhängigen Referenten: es als Subjekt ist
ein dummy, das die "Anhebung" des referenziellen Aktanten des untergeordneten
Prädikats ermöglicht. Damit ist hier von nur einer Proposition auszugehen, auch bei
der finit subjungierten Konstruktion. (c) zeigt Ähnlichkeiten damit: keine
unabhängige Spezifizierung der Refenten. Anders ist es bei (b), bei dem auch
unabhängige satzmodale Spezifizierungen möglich sind (vgl. Hans hofft heute (noch),
Literat und orat. Grundbegriffe
89
______________________________________________________________________
morgen zu kommen). Konstruktionelle Ähnlichkeiten verdecken hier die
Unterschiede und können zu Segmentierungsproblemen führen. Letztlich sind hier
die Analysen über ein Netz von syntaktischen Beziehungen abzusichern, zu denen
auch die Interpretation komplexer Strukturen gehört, vgl. die problematische
Interpretation von ihn als OBJekt bzw. SUBjekt in den folgenden Beispielen (d) und
(e):
2.7. Komplexe Propositionen II: Nominalisierte
Prädikationen
Sprachen wie Deutsch differenzieren nominale vs. verbale Strategien der Artikulation
des Nexus, die schon im Lexikon verankert werden (als Wortarten), was
komplementär dazu auch formale Mittel zum Wortartwechsel bedingt. Die nominale
Strategie bietet die Möglichkeit zum Ausbau mit sekundären Prädikationen, die
maximal in ein Nexusfeld integriert sind. Dazu dienen eine ganze Reihe janusartiger
Formen, die einerseits im Nexusfeld als nominale "Endknoten" fungieren,
andererseits selbst aber die syntaktischen Potentiale zum Aufspannen eines eigenen
Nexusfelds haben:
• Infinitive in substantivierter Form:
sein morgendliches den Berg Besteigen (vs. sein Besteigen des Berges)
• Partizipien:
den Kinderwagen schiebend ging er nachhause
Der adverbale Akkusativ beim Komplement dieser Formen markiert das verbale
Nexusfeld (zu den adnominalen Alternativen s.u.). Solche Konstruktionen sind
allerdings als ausgesprochen schriftsprachlich ("Kanzleistil") markiert. Die
Vermutung, daß sie auf den lange Zeit als schriftsprachliches Modell genutzten
lateinischen Periodenbau zurückgehen, bietet sich an.
Daß es sich um eine verkappte Junktion handelt, wird durch die (weniger
sperrige) Formulierungsalternative mit einer adnominalen Kasusmarkierung deutlich:
Genetiv wie bei sein Besteigen des Berges. In Weiterführung von (2.3.) gibt es also
eine Skala des Ausbaus (bzw. der Integration von sekundären Prädikationen: P* im
Gegensatz zum Matrixprädikt P):
• mit verbalen Prädikaten (adverbalen Kasusmarkierungen
Komplementen, ggf. adverbialen Adjunkten):
Emma sahP, [daß Paul schnell den Apfel vom Baum pflückteP*]
Emma sahP, [Paul schnell den Apfel vom Baum pflückenP*]
bei
den
90
Utz Maas
______________________________________________________________________
• mit nominalisierten Prädikaten (adnominalen Kasusmarkierungen bei den
Attributen, ggf. attributive und kongruierende adjektivische Formen):
?
Emma sahP [Pauls schnelles PflückenP* des Apfels (vom Baum)]
Während jedenfalls solche erweiterten Konstruktionen an der Grenze des
?
Akzeptablen sind (daher auch die Markierung (vom Baum)), wird die nominale
Strategie des Deutschen deutlich an der unproblematisch weitergedrehten Integration
durch die Inkorporation in ein Kompositum:
Emma sahP [Pauls schnelles ApfelpflückenP* ]
2.8. Komplexe Prädikate
2.8.1. Formal gesehen handelt es sich auch bei komplexen Prädikaten um einen
syntaktischen Ausbau:
Hans wird mit dem Dackel spazieren gehen
Hans will mit dem Dackel spazieren gehen
Hans ist mit dem Dackel spazieren gegangen
Aber von einem Ausbau kann in dem hier genutzten Sinn nur die Rede sein, wenn es
sich um (stilistische) Optionen handelt, die grammatisch äquivalent sind: Wo solche
Konstruktionen grammatikalisiert sind, sind sie keine freien Optionen mehr.
Synchron (im Gegensatz zu ihrer diachronen Herleitung) handelt es sich also nicht
um Ausbauformen. Anders ist es da, wo komplexe Prädikate mit "leichten Verben"
gebaut werden, wie bei den Funktionsverb-Gefügen des Deutschen: zur Aufführung
kommen / bringen / gelangen ... Darauf ist hier nicht weiter einzugehen.
In anderer Hinsicht produzieren allerdings komplexe Prädikate syntaktische
Komplikationen, die bei einfachen nicht auftreten: Relativ zu den rigiden
Wortstellungsregeln des Deutschen gibt es Probleme der Kohäsion. Bei analytischen
Prädikaten wird die Kohäsion gesprengt, vgl.
Hans hat zwei Flaschen Bier getrunken.
mit
Hans trank zwei Flaschen Bier.
Spiegelverkehrt ist es bei den Satelliten. Es macht durchaus Sinn, im Nexusfeld die
verschiedenen Ergänzungen nach der Enge ihrer Bindung ans Prädikat zu ordnen –
wobei das Subjekt (in Sprachen wie Dt., die eines aufweisen) wie auch in der
generativistischen Analyse als relativ peripher ("externes Argument", s.o.) behandelt
werden kann. Dafür spricht auch seine Sonderrolle bei den eng integrierten (nur
69
minimal finit ausgebauten) Infinitivkonstruktionen u. dgl. Das spiegelt sich auch in
den Zitierformen für Aussagsätze, bei denen das Subjekt tatsächlich extern, vor dem
"Prädikatsverband" steht:
69
Im Sinne der jüngeren generativistischen Rektions- und Bindungstheorie kann man sagen,
daß das Subjekts-Argument der Infinitivkonstruktion vom Subjekt der Matrix streng regiert
wird, und daß einer solchen strengen Rektion ein phonologisches ∅-Element entspricht (wie
auch in der Phonologie eine Synkope).
Literat und orat. Grundbegriffe
91
______________________________________________________________________
Hans trank zwei Flaschen Bier.
Aber diese Stellung ist im Deutschen (anders als im Englischen und Französischen)
nicht grammatikalisiert, vgl.
Gestern abend trank Hans zwei Flaschen Bier
Der kritische Punkt ist hier die unterbrochene Kohäsion der syntaktischen Bindung,
vgl.
RAHMEN
enge Bindung ans
PRÄDIKAT
SUBJEKT
gestern abend
trank
zwei Flaschen Bier
Hans
Bemerkenswerterweise bleibt die Kohäsion im abhängigen Satz gewahrt:
SUBJUNKTOR
SUBJEKT
RAHMEN
enge Bindung ans
PRÄDIKAT
weil
Hans
gestern abend
zwei Flaschen Bier
trank /
getrunken hat
Aus syntaktischer Perspektive ist die Struktur des Aussagesatzes also die markierte
Konstruktion – was als Ausdruck der semantischen Finitheit auch funktional sinnvoll
ist (während die Konstruktion einer abhängigen Proposition die entsprechenden
Strukturen nicht aufweist, z.B. kein eigenes Topikfeld).
2.8.2. So einfach wie in diesen Beispielen liegen die Dinge allerdings auch nur bei
relativ kurzen Sätzen. Die für den deutschen Aussagesatz charakteristische
Rahmenstellung mit der von rechts abnehmenden syntaktischen Bindung wird bei
umfangreicheren Strukturen nicht aufrechterhalten, worauf in (II.4.)
zurückzukommen ist.
Die Rahmenstruktur des deutschen Aussagesatzes läßt sich als Bindungsgefälle
explizieren, bei dem man die syntaktische Bindung als transitive Relation verstehen
kann:
Vfin > Vinf > dirObj ... > Subj
Schematisch:
70
70
Hier geht es nur um die Grundstruktur. Ein empirisch angenähertes Modell müßte die
syntaktische Integration skalar modellieren, mit Rückgriff auf unterschiedliche syntaktische
Parameter, s. III.4.
92
Utz Maas
______________________________________________________________________
3. Literate Strukturen und propositionaler Ausbau
3.1. Literat als skalare Kategorie
Vereinfacht gesprochen lassen sich die Ausbauformen der nackten Proposition in
(II.2.) als Komplexitätsstufen literater Artikulation fassen. Die Grundstruktur der
Artikulation einer Äußerung ergibt sich durch die Option, die Strukturen des
Symbolfeldes zuzuschalten. Auf den ersten Blick sieht das nach einer einfachen
Ja/nein-Frage aus:
Äußerung
+
-
literat
orat
Die Dinge stellen sich aber rasch als komplexer dar: das Zuschalten des Symbolfelds
kann in unterschiedlichem Ausmaß erfolgt sein, sodaß eben auch literate Strukturen
einen skalaren Charakter haben, vgl. (mit Verweis auf die Abschnitte von II.2.):
Äußerungen können, müssen aber nicht durch das Symbolfeld artikuliert sein. Sie
stehen unter den Bedingungen der Kommunikation: Bedingung für eine (geglückte)
Äußerung ist ihre Interpretierbarkeit. Diese kann, muß aber nicht an Artikulationen
mithilfe des Symbolfelds gebunden sein. Die Schwelle zur literaten Struktur wird
überschritten, wenn eine Äußerung (im umfangreichen Fall: ein Text) vollständig
durch das Symbolfeld artikuliert ist, also in Sätze zerlegt ist (II.1.). Die weiteren
Ausbauformen erweisen die literate Strukturierung als skaliert: Ausbaustufen, die
komplexer als die des nackten Satzes (II.1.) sind, sind literater.
Allerdings ist das hier schematisch vorgegebene Bild mit Sicherheit zu simpel.
Die Strukturen in (II.2.) müssen als Beschränkungen modelliert werden (die dadurch
zu symbolischen Ressourcen werden) – in etwa so, wie derzeit auch in der
Optimalitätstheorie Sprachstrukturen modelliert werden. Wie angedeutet, sind die
hier sehr grob formal gefaßten Strukturbedingungen an Sprachbauspezifika
gekoppelt, die Prognosen im Sinne von sprachlicher Komplexität sehr schwierig
machen. Das spricht aber nicht dagegen, in empirischer Absicht eine solche
Modellierung zu explizieren, s. u. (II.4.).
Literat und orat. Grundbegriffe
93
______________________________________________________________________
3.2. Die Differenzierung des Modells
Die Modellierung oben in (I.3.) kann / muß in Hinblick auf die deskriptive
Fragestellung verfeinert werden:
• anstelle von [mündlich] sind die Formen der prosodischen Integration in
Anschlag zu bringen, bei denen noch offen ist, ob sie sich auch skalar
darstellen lassen (s. II.4.);
• ebenso wird bei [schriftlich] nach den verschiedenen medialen Formen
(Briefe anders als SMS …) zu differenzieren sein;
• in der Dimension [kommunikativ / darstellend] müssen die Kategorien so
differenziert werden, daß auch die oben angesprochene Überlagerung der
funktionalen Nutzung darstellbar wird;
• am komplexesten sind die nötigen Differenzierungen auf der Ebene des
Symbolfelds, für die die Frage nach [± Satz] entsprechend (II.2.) zu
differenzieren ist, insbesondere mit den beiden Subdimensionen Nexus und
Junktion.
Das dreidimensionale Modell von (I.3.) müßte entsprechend in seinen Flächen eine
Schar von Optionen bieten, insbesondere auch in den in diesem Kapitel behandelten
syntaktischen Feld (der Satzförmigkeit):
3.3. Literate Strukturen jenseits der Satzförmigkeit?
Mit den grammatischen Vorgaben von (2.2.) sind allerdings nicht unproblematische
Prämissen verbunden, die ich hier nur ansprechen kann. Geht man von den
schulgrammatischen Klassifikationen aus, sind auch Aufforderungen mit
imperativischen Prädikaten Sätze – obwohl sie an den grammatischen Feldstrukturen
nur sehr eingeschränkt partizipieren:
Komm morgen zum Essen!
*Kommen morgen zum Essen!
*Kam zum Essen!
usw.
94
Utz Maas
______________________________________________________________________
(Scheinbar homophone Ausdrücke wie die hier mit * versehenen sind im
[elliptischen] "Telegrammstil" als Aussagen möglich, dazu s. II.4.)
Andere Personen als die zweite, andere Tempusmarkierungen als "aktuell"
(Nicht-Präteritum) u.dgl. sind nicht möglich. Wo bei Aufforderungen in diesem Sinne
variiert werden soll, muß eine nicht-imperativische Form gewählt werden: Schon die
"Höflichkeitsform" einer Aufforderung ist synonym mit einer indikativischen
Aussage:
Kommen Sie morgen zum Essen!
Vgl. auch die synonyme Form in einer thetischen Aussage als Einleitung einer
Erzählung:
Kommen die Meyers zum Essen, und was passiert ...
oder auch subjungiert in einer konditionalen Fügung (~ wenn sie zum Essen
kommen ...)
Kommen sie zum Essen, werde ich Kasseler machen.
Andererseits ist offensichtlich, daß die Struktur dieser Äußerungen rein mit Mitteln
des Symbolfelds artikuliert ist (vgl. auch Sprachen mit morphologischen
Markierungen des Imperativs wie im Russischen, also nicht nur reduzierten Formen
wie im Deutschen); die formalen Markierung sind in das morphologische Paradigma
integriert (im Plural ist die Form identisch mit der 2.Ps. Indikativ: kommt! ~ ihr
kommt). Da sie auf der satzmodalen Ebene als paradigmatische Kontraste zu anderen
Illokutionen anzusehen sind, werden solche Strukturen eben auch als (grammatische)
Sätze behandelt. Dem entspricht auch ihr (unmarkiertes) Vorkommen – gerade auch
in mündlicher Kommunikation sind sie häufig.
3.4. Das Lexikon
3.4.1. Orthogonal zum syntaktischen Ausbau ist der lexikalische. Da der Wortschatz
in der Schule explizit geübt wird, steht dieser Aspekt bei empirischen
Untersuchungen, die Sprecher- / Schreiberreaktionen bzw. -Bewertungen
einbeziehen, geradezu im Vordergrund: hier ist die Überlagerung mit normativen
Vorgaben bzw. den schulisch eingeübten "Korrekturpraktiken" besonders sinnfällig.
Daß diese Ebene unmittelbar zugänglich ist, wird ja auch bei den Editionspraktiken
im Beispiel von Tülays Text (s. I.1.) deutlich.
Auf der funktionalen Seite liegt auf der Hand, daß lexikalische
Differenzierungen eine kognitive Belastung darstellen, wenn man von der Interaktion
ausgeht, die sprachlich artikuliert werden soll. Hier sind unbestimmte Ausdrücke
Entlastungen, mit denen sich ein Sprecher dem Druck auf Explizitheit entziehen
kann:
Da kam so'n Mann ...
Derartige Ausdrücke (auch lexikalisiert: Ding, dingens …) entlasten die Sprecher
gegenüber der Erwartung, spezifische Aussagen zu machen: anstelle von so[lch ei]n
Mann einen deskriptiv angereicherten Ausdruck zu produzieren, der die
Literat und orat. Grundbegriffe
95
______________________________________________________________________
Identifizierung der erwähnten Figur ermöglicht hätte. Da beim Schreiben die
"Entschuldigung" durch den kommunikativen Stress entfällt, werden hier die
spezifischeren Ausdrücke erwartet. Derartige unbestimmte Markierungen auf der
Schwelle zu Abtönungspartikeln (II.4.3.) sind nicht nur schriftkulturell verpönt – sie
konnotieren eben die "intimere" kommunikative Gesprächssituation ggf. auch im
Geschriebenen (daher auch ihre Häufigkeit in informeller schriftlicher
Kommunikation: in persönlichen Briefen, beim Chatten im Internet u.dgl.).
3.4.2. Hier öffnet sich das weite Feld der lexikalischen Spezifizierungen, die in beiden
Dimensionen: der denotativen Spezifik (im Grenzfall fachsprachlich beschränkt) und
konnotativer Aufladung mit bereits erfahrenen sprachlichen Kontexten, bestimmt
sind. Heute morgen sprang die Kiste mal wieder nicht an enthält nicht nur einen
unspezifischen denotativen Terminus (Kiste), sondern konnotiert auch eine intime
Relation zwischen Sprecher und Hörer – und ist deswegen in beiden Dimensionen in
einem förmlichen Register nicht zu erwarten. Damit sind gerade auch in die
lexikalische Artikulation (und weitergehend: in die phonologische) die
sprachbiographisch partikulären Horizonte eingeschrieben, die in einer Spannung zu
dem prinzipiell universalen Horizont des Literaten stehen: der generalisierte Andere
ist als Bezugsgröße mit partikulären Horizonten unverträglich; das gilt insbesondere
für den WIR-Horizont des intimen Registers, der andererseits in der Regel emotional
stark besetzt bleibt und insofern auch eine gewisse Stabilität unabhängig von
anderen sprachbiographischen Entwicklungen bewahren kann (s. I.3.).
In diesem Feld sind nur recht allgemeine Hinweise möglich. Hier ist das
Zusammenspiel von Sprachbauspezifika (also typologischen Fragen im engeren
Sinne) und verschiedenen schriftkulturellen Vorgaben ausschlaggebend: bei ihrer
Untersuchung von muttersprachlichen Editionen spontansprachlicher Texte im
Mandarin hat Y.Hong (2010, s. Kap. 4) kaum syntaktische Editionseingriffe gefunden,
dafür aber durchgängig Veränderungen im Lexikon: den Austausch durch
"hochwertigere" (literarisch konnotierte) Wörter – während bei entsprechenden
muttersprachlich deutschen Texten das Bild spiegelverkehrt war: die größere
Toleranz im heutigen Deutschunterricht der Schule führt dazu, daß
umgangssprachliche Wortwahl den schriftsprachlichen Filter passiert, aber auf der
syntaktischen Ebene Verdichtungen und größere Einbettungstiefe angestrebt werden.
3.5. Grammatik vs. Konventionalisierung
Mit der vorausgehenden Argumentation öffnet sich das problematische Feld der
schwierigen Abgrenzung von grammatischen gegenüber nur konventionalisierten
Mustern. So ist es ein Spezifikum des Sprachbaus des Deutschen, daß (syntaktische)
Prädikate verbal sein müssen – Nominalsätze wie im Russischen oder den
semitischen Sprachen sind hier nicht grammatisch: in übersetzungsäquivalenten
Sätzen steht im Deutschen eine Kopula. Nun sind aber propositionale Ausdrücke wie
die folgenden problemlos:
|ich und Bier trinken?|
96
Utz Maas
______________________________________________________________________
Man kann sich darüber streiten ob hier das und als eine Art Kopula fungiert – aber
auf jeden Fall fehlt eine verbale Artikulation eines Prädikats. Solche Strukturen
mögen auf den ersten Blick marginal erscheinen (wie man in deskriptiven
Grammatiken meist noch eine Restkategorie von "minor [sentence] structures"
findet), bei genauerem Hinsehen wird die Grenzziehung aber zusehends schwieriger,
was eben auch die traditionelle, ungemein konfuse Diskussion um eine Definition
von Satz prägt (für die fleißige Menschen über 400 Definitionsvorschläge aus der
Literatur zusammengetragen haben).
Es findet sich eine Fülle von Äußerungen, die mit Ressourcen des Symbolfelds
artikuliert sind und für die die Interpretationen auch unproblematisch sind, die
grammatisch aber nicht der kanonischen Satzdefinition entsprechen. Die
Schulgrammatik klassifiziert sie immerhin als Ausrufesätze und die Orthographie
sieht ihre Markierung mit einem "Ausrufezeichen" vor. Das Spektrum der genutzten
syntaktischen Ressourcen streut sehr weit:
• Propositionen: Insubordination |daß du auch immer fernsehen mußt!|
• Syntagmen (< Proposition) |ein tolles Kleid!|
• Nennungen (Vokative ...): |Hans!|
71
Die Forschung ist auf diesem Feld noch nicht sehr weit gekommen. Ich belasse es hier
bei der traditionellen Sichtweise, die feststellt, daß derartige Strukturen nicht den
Satzfilter des Symbolfelds passiert haben. Kommen sie in einem ansonsten literaten
Text vor (werden sie nicht als Textcollage mit oraten Strukturen [in "direkter Rede"
oder dgl.] eingebaut), werden sie als elliptisch behandelt: die literaten Strukturen
erweisen sich als robust und operieren hier eine Gestaltschließung (s. II.2.1.):
• |daß du auch immer fernsehen mußt!| daß du (auch) immer fernsehen
mußt, geht mir auf die Nerven.
• |ein tolles Kleid!| du hast ein tolles Kleid an
• |Hans!| komm jetzt endlich!
• |Auto!| Vorsicht, bleib stehen!
u.dgl.
In einem oraten Kontext handelt es sich um vollständige Äußerungen; hier gibt es
72
keinen Grund zur Annahme von Ellipsen (wie sich ja auch formal daran zeigt, daß
eine wie hier angedeutete "Auffüllung" zu vollständigen Sätzen keineswegs eindeutig
71
In Hinblick auf die eher unübliche Markierung der Subjunktion in der spontanen
gesprochenen Sprache mit einem expliziten Default-Subjunktor daß wird dieser
gewissermaßen frei für andere Funktionen, wie hier die Insubordination.
72
Da Ellipsen in solchen Argumentationen eine zentrale Rolle spielen, ist eine begriffliche
Klärung angebracht. Von Ellipsen soll hier nur die Rede sein, wenn der fehlende Ausdruck
festliegt, nicht aber wo Ergänzungen / Spezifizierungen möglich sind. Das ist z.B. kontextuell
eindeutig und von der Grammatik in gewisser Weise sogar gefordert bei Koordinationen (Hans
trinkt Bier und Emma [trinkt > ∅] Wein). Insofern gehören auch euphemistische
Auslassungen hierher (Hans ist ein …!), bei denen zumindest ein eng umgrenztes Wortfeld für
die Feder in der Lücke definiert ist. Vgl. auch in (4.3) Ellipsen eines spezifischen Objekts bei
transitiven Verben zur Markierung von Habitualität (Hans trinkt > Alkoholisches).
Literat und orat. Grundbegriffe
97
______________________________________________________________________
ist, wie es für Ellipsen zu fordern wäre). Diese Fragen sind offensichtlich orthogonal
zu den Strukturen des Symbolfeldes: sie werden in Abschnitt (II.4.3.) wieder
aufgenommen.
4. Kommunikative Analyse: Der Gegenpol zum
Literaten: orate Strukturen
4.1. Kommunikation vs. Artikulation im Symbolfeld
Das Symbolfeld definiert Vorgaben für die Artikulation von Äußerungen, die in einer
Sprachgemeinschaft gelernt / erwartet werden, um Äußerungen ohne einen
spezifischen Kontext (ohne Adressierung an ein spezifisches Gegenüber) zu
artikulieren. In (2.1) waren orate Strukturen nur negativ definiert worden: orate
Äußerungen weisen die Strukturen von (II.2.) nicht auf (sie sind jedenfalls nicht
vollständig durch sie artikuliert), wobei die Schranken der (kommunikativ
gebundenen) Sprachverarbeitung als grundlegend angesehen werden können – und
literate Strukturen eben durch das Aufheben dieser Schranken definiert sind. Dem
steht gegenüber, daß die Interaktion in der Kommunikation ihrerseits besondere
orate Strukturen freisetzt (oben schon als Koproduktion der Äußerungen in der
Kommunikation angesprochen), die in literat strukturierten Texten definitionsgemäß
fehlen. Komplementär zu (II.3.) sollte es daher die Analyse der spezifischen
kommunikativen Bedingungen interaktiver Gespräche möglich machen, orate
Strukturen positiv zu definieren – das ist es wohl, was den derzeit modischen
Bemühungen um eine "Grammatik der gesprochenen Sprache" auch vorschwebt
(s.u.).
In einer ersten Näherung läßt sich der Raum orater Strukturen durch drei
Dimensionen definieren:
• die Interaktion mit einem konkreten Gegenüber: dem Angesprochenen,
• die Bedingungen einer on-line Sprachproduktion und -rezeption,
• die Vorgaben der Gesprächssituation.
In diesen Dimensionen sind weitere Differenzierungen einzuziehen:
• die Interaktion mit dem Gegenüber ist ein physischer Faktor, wenn dieser
dem Sprecher ins Wort fällt oder aber auch mit ihm kooperiert: das
Management des Rederechts / Redewechsels (engl. turn-taking) ist ein
komplexer Forschungsgegenstand vor allem auch der Mikrosoziologie (sog.
Konversationsanalyse). Schließlich dient ein Großteil der Äußerungen dem
sozialen Kontakt, der mehrstimmig die Äußerungen jenseits ihres
propositionalen Inhalts artikuliert (gerade auch mit phatischen Äußerungen,
s. III.3. zu Malinowski);
• on-line sind die sprachlichen Ressourcen offensichtlich beschränkt: das
Kurzzeitgedächtnis begrenzt den Raum des Wahrgenommenen und formal
Kontrollierbaren; die Sprachplanung ist ggf. nicht im Phasentakt mit der
98
Utz Maas
______________________________________________________________________
Äußerung, sodaß Pausen entstehen oder überbrückt ("gefüllt") werden –
verbunden mit interaktivem Stress, weil das Gegenüber sich dadurch das
Rederecht nehmen kann;
• die Gesprächssituation definiert in der Regel den thematischen Raum, das
Vorwissen der Beteiligten, das deiktisch / anaphorisch genutzt werden kann;
mit ihm sind bestimmte "Gattungsspezifika" der Äußerungsstruktur
verbunden (empraktische Interaktion als Moment kooperativer Aktivitäten
vs. narrative Konstellation); diese Vorgaben können in hohem Maße auch
konventionalisiert sein und insofern nicht zu Disposition stehen,
u.dgl. mehr.
Äußerungselemente, die derartige Faktoren symbolisieren, sind auch im positiven
Sinne orat: insofern gehören sie nicht in einen literaten Text. Es ist denn auch
charakteristisch, daß Kinder, die in unserer (literaten) Gesellschaft aufwachsen, diese
Zusammenhänge sehr früh entdecken. Bei den oben angesprochenen
Untersuchungen mit Vorschulkindern, die Texte zum Vorlesen diktieren sollen,
lassen diese sie oft weg, vgl. auch Tülays Edition oben in (I.1.). Das ist zu
unterscheiden vom literaten Ausbau, der die Ressourcen des Symbolfelds nutzt, um
die Artikulation des Gesagten zu maximieren.
Insofern läßt sich auch die Charakterisierung des Verhältnisses von orat / literat
nicht einfach auf die Ausbaudimension reduzieren. Ausgehend von der Definition
von literat in (I.7.) läßt sich für orat definieren: Orat sind Äußerungen, die nicht in
der grammatischen Form von Sätzen artikuliert sind und ggf. sprachliche
Elemente aufweisen, die auf die konkrete Gesprächssituation kalibriert sind.
Die (lineare) Dimension, die oben in der Definition von literat zugrundegelegt
wurde, ist auf der Ebene der Syntax definiert: des syntaktischen Ausbaus bzw. der
syntaktischen Integration; die spezifisch oraten Elemente sind Operatoren auf den
syntaktisch aufgespannten Strukturen; in syntaktischer Hinsicht sind sie in diese
einmontiert (was die notorischen Probleme einer Konstituentenanalyse dieser
"Partikeln" nach sich zieht). Dazu im Folgenden noch einige kursorische Hinweise.
4.2. Empirische Analysen zu oraten Strukturen
4.2.1. Das definiert inzwischen auch ein expansives Forschungsfeld zur gesprochenen
Sprache, bei dem rein beschreibende Arbeiten, die (mit entsprechend
unterschiedlichen terminologischen Angeboten) formale Strukturbeschreibungen mit
Registerdifferenzen korrelieren (mit weiteren Sortierungen wie "Textsorten"),
dominieren. Dabei wird z.T. auch nach einem fundierenden (funktionalen) Ansatz
73
gesucht. Nicht nur sind aber die dabei vorgenommenen Zuschreibungen
typologisch nicht geklärt (s.u.), vor allem wird durchgängig bei der Modellierung die
Dimension des Symbolfeldes nur unzureichend isoliert.
Forschungen in diesem Feld haben eine Tradition in den philologischen Fächern,
später dann erst recht in der deskriptiven (strukturalistischen) Sprachwissenschaft,
73
S. auch oben in I.4 den Hinweis auf die Arbeiten von Peter Koch und Wulf Österreicher und
daran anschließende Untersuchungen.
Literat und orat. Grundbegriffe
99
______________________________________________________________________
für die die Arbeit an gesprochenen Texten geradezu definierend war. Die neuere
Forschung (verstärkt in den letzten 20 Jahren) reagiert auf den Bruch mit dieser
Tradition, der im Kielwasser der Generativen Grammatik vollzogen wurde. Für deren
(frühe) Modellierung hatten solche "medialen" Fragen keinen Stellenwert – und so
wurde dort in der Regel mit schriftsprachlichen Beispielen (bzw. konstruierten
Artefakten) operiert. Darauf reagiert in der derzeitigen Forschungslandschaft ein
breites Feld von Untersuchungsansätzen, die demgegenüber die Besonderheiten
gesprochener Sprache (und damit von oraten Strukturen) zeigen wollen – und damit
ex negativo eben auch das, was den literaten Ausbau sprachlicher Ressourcen
ausmacht. Zu den wichtigsten gehören die Arbeiten aus dem Umfeld von Wallace
74
Chafe in Kalifornien (s. Chafe 1994 mit weiteren bibliographischen Verweisen).
Konkrete Forschungen zielen hier zumeist darauf, einzelne Dimensionen zu
isolieren, die die Analyse an der sprachlichen Form festmachen. Chafe bemüht sich
um eine Operationalisierung der extrapolierten Strukturmerkmale, wobei er vor
allem einen Faktor als zentral ansetzt: die orat beschränkte Verarbeitungskapazität,
die einen Grenzwert für den Informationsgehalt einer oraten Äußerung setzt: eine
neue Information je Äußerungseinheit. Von diesem Ausgangspunkt aus sind bei
ihm die Strukturen der Äußerung strikt prosodisch definiert – er spricht von den
75
oraten Einheiten als Intonationseinheiten, was im weiteren Sinne der Prosodie zu
verstehen ist. So geäußerte Einheiten können, müssen aber nicht syntaktisch
artikuliert sein – insbesondere brauchen sie keine (abgeschlossene) propositionale
Struktur zu haben. Entscheidend ist hier, daß der Ausgangspunkt bei der Prosodie
solche Strukturen unabhängig von der syntaktischen Gliederung definiert und es
auch erlaubt, sie in einer Signalanalyse zu operationalisieren:
• auf der Ebene der Zeitsteuerung etwa bei Grenzsignalen: dem dynamischen
Verlauf der Äußerungsintensität mit einem ggf. anakrustischen initialen
Aufbau (als "flacher", komprimierter Kontur) gegenüber einer Steigerung
gegen Ende (Dehnung der letzten betonten Silbe, oft als [imaginäre] "Pause"
wahrgenommen, u.dgl.),
• der Kontur der Grundfrequenz, vor allem der Markierung einer Zäsur durch
deren Neujustierung,
u.dgl.
4.2.2. Detaillierte Forschungen aus dieser Blickrichtung stehen noch aus; zur
Orientierung kann es helfen, sich die Grundverhältnisse schematisch klarzumachen.
Grundlage ist letztlich der physiologische Prozeß der Atmung, der in der mündlichen
74
Auch Chafe, auf dessen Arbeiten ich in vieler Hinsicht aufbaue, operiert letztlich unter den
Prämissen eines lautsprachlichen Grundverständnisses, das den schriftkulturellen Ausbau
nicht in den Blick nehmen kann. Das wird z.B. deutlich bei seinem Plädoyer für ein
phonographisches Verständnis der Interpunktion (allerdings bezogen auf die englische
Orthographie, die anders strukturiert ist als die deutsche), s. Chafe (1988). Das mindert nicht
seine Pionierleistung auf diesem Feld.
75
Diesen von ihm übernommenen Terminus hatte ich auch oben schon verwendet.
100
Utz Maas
______________________________________________________________________
Sprache (um-) genutzt wird. Die prosodische Grundfigur ist die (periodische)
76
Atmungseinheit:
Diese physiologisch fundierte Grundfigur ist die Basis für die Artikulation von
Äußerungen, die darauf gewissermaßen abgebildet werden, wobei die verschiedenen
Parameter der Äußerungsartikulation entsprechend ausgerichtet werden. Von daher
der Default-Fall einer abgeschlossenen Aussage:
Diese Grundfigur kann in unterschiedlicher Weise moduliert werden – ggf. auch mit
festen symbolischen Funktionen ("grammatikalisiert"). Wird die abfallende Kontur an
den rechten Rand verlagert, symbolisiert das das Nicht-Abgeschlossene der
Äußerung ("Frageintonation"). Der Fokus kann an den linken Rand verlagert werden
– mit kontrastierender Funktion u.dgl.
Für die Modellierung kann man einen Default mit der Harmonisierung der
Strukturierung auf den verschiedenen Ebenen definieren, hier mit einer groben
Zuordnung der Aspekte, die in der Forschung differenziert werden:
76
Auf einer noch grundlegenderen Ebene handelt es sich darum, daß in der Sprache vitale
leibliche Betätigungen umfunktioniert werden – wir haben im biologischen Sinne kein
"Sprachorgan". In der Sprachentwicklung werden elementare Körperfunktionen
umfunktioniert für symbolische Zwecke, bis mit dem Symbolfeld eine Ebene gebootet wird,
die von leiblichen Funktionen frei ist (wobei die darin artikulierten Formen für ihre
Interpretation wieder verankert werden müssen). Zu den spezifischen Formgebungen dieses
Entwicklungsprozesses gehört dabei die Auszeichnung der lautlichen (vokalen) Artikulation
mit ihrer Bindung an die lineare Strukturierung – andere körperliche Ausdrucksformen
(Mimik, Gestik, Körperhaltung …) werden sukzessive zu Begleiterscheinungen, die in literaten
Strukturen ganz weggefiltert werden (während sie bei oraten Strukturen u.U. für die
Interpretation steuernd sein können). "Native" Gebärdensprachen tarieren das Feld
körperlicher Ausdrucksformen offensichtlich anders aus – weil bei ihnen die vokalen Formen
wegfallen. Ein spannender Punkt ist die Frage, wieweit auch hier eine Freisetzung des
Symbolfelds, also literate Strukturen, möglich sind – bzw. wieweit Gebärdensprache mit ihrer
spezifischen Bindung an Körperlichkeit (wenn auch ohne die strikte Linearität sprachlicher
Äußerungen) einen solchen Ausbau zuläßt, s.o. I.2.6. Im übrigen kann auch hier wieder an
Bühlers grundlegende Überlegungen (1933) angeschlossen werden.
Literat und orat. Grundbegriffe
101
______________________________________________________________________
Zeitdimension
Zeitsteuerung
Informationsstruktur
Wortarten
(deskriptive Elemente
VOR
Anakrusis
(presto
Topik
(Präsupposition)
Funktionselemente
Ø
NACH
"reguläre" Artikulation
lento ~ allegro)
Fokus
"volle" Lexeme
+ )
Unharmonische Strukturen, die dieser Zuordnung nicht entsprechen, erfüllen damit
besondere Funktionen wie insbesondere beim Kontrast, bei dem die "markierten"
Formen / Funktionen im Vorfeld (vorne) artikuliert werden.
Schließlich muß die Figur nicht monoton sein, sondern kann intern Teilfiguren
aufweisen, z.B. mit zwei relativen Maxima (bei einem vollen thematischen Element
und einem rhematischen = Satzakzent). Bei solchen komplexeren Konturen stellt sich
die Frage der Abgrenzung zu mehreren Figuren. Die im Laienverständnis feste
Vorstellung von Pausen ist offensichtlich nicht entscheidend – eine Kontur kann sich
ggf. auch über eine Pausenunterbrechung fortsetzen, und ggf. können mehrere
prosodische Figuren ausgegrenzt werden, ohne daß im physikalischen Sinne eine
Pause vorliegt. Robust ist demgegenüber vor allem die Gliederung durch die
Grundfrequenz (weshalb Chafe auch von Intonationseinheiten spricht, was ich
übernehme). Die Grundfigur setzt jeweils auf der Basislinie der Grundfrequenz eines
Sprechers ein, wie es oben auch bei der idealisierten Kontur symbolisiert ist; im
Idealfall wird diese Kontur nach jeder Figur neu justiert. Innerhalb dieser holistischen
Kontur können gerade auch die F0-Verläufe recht bewegt sein, ohne dadurch
(notwendig) unabhängige Figuren (= Intonationseinheiten) auszugliedern,
Grundsätzlich gilt aber auch für die prosodischen Strukturen, daß es sich bei
ihnen um gelernte Muster handelt, daß insofern auch eine phonologische Analyse
gefordert ist, was eine direkte Reduktion auf phonetische Indikatoren ausschließt.
Ausschlaggebend ist die Wahrnehmung (Bewertung) einer solchen Gliederung durch
die (entsprechend sozialisierten) Sprecher, in Hinblick auf die phonetische
Indikatoren, wie sie z.B. die akustische Analyse zugänglich macht, ambivalent sein
können. Das ist ein recht komplexes, vor allem auch noch wenig erforschtes Feld, das
durch eine ganze Schar phonetischer Parameter aufgespannt wird, die in der
Wahrnehmung unterschiedlich gewichtet sein können, sich ggf. auch überlagern.
Dabei gilt hier wie bei allen sprachlichen Strukturmarkierungen: sie sind Optionen
für die Artikulation eines sprachlichen Inhalts, die nicht aktiviert werden müssen,
wenn dieser ohnehin auf der Hand liegt (bzw. wenn ein kulturell gesetzter Defaultfall
vorliegt), und nicht zuletzt: sie können fast immer auch überschrieben werden, wenn
besondere Bedingungen vorliegen. So ist denn auch der Neueinsatz bei der
Grundfrequenz nur robust in dem Sinne, daß er ein starker (hinreichender) Indikator
für eine neue prosodische Figur ist – er ist kein notwendiger Indikator, insofern
prosodische Figuren auch durch andere Parameter ausgegliedert werden können.
102
Utz Maas
______________________________________________________________________
Die Probleme einer solchen Analyse können an einem Beispiel illustriert
werden, einem Ausschnitt aus einem Gespräch zwischen zwei Freundinnen über ihre
77
Urlaubsplanung (mit | sind die wahrzunehmenden Segmentierungen markiert):
M
N
<weil> die Leute | es sind vielleicht auch nicht so viele Leute dann da
denke ich och | vielleicht machen die überhaupt zu | zwischen Weihnachten
und Silvester | meinst nich?
Die wahrgenommene Gliederung ist nicht unmittelbar an der akustischen
Signaldarstellung abzulesen, die verschiedene Parameter isoliert, wie die folgenden
Abbildungen zeigen (Oszillogramm / Energieverteilung, darunter: Spektrogramm,
darunter: F0-Kontur):
0.9999
0
-1
8.74095
0
Time (s)
5000
0
0
8.74095
300
Time (s)
0
0
8.74095
Time (s)
77
die
Leute
es sind
vielleicht
auch
nicht so
viele
Leute
dann
da
denke
ich
och
vielleicht
machen
die
überhaupt
zu
zwischen
Weihnachten
und Silvester
meinst
nich
A
B
C
D
E
F
G
H
Beispiel aus Stock (1996): dort Textbeispiel 5.23.
Literat und orat. Grundbegriffe
103
______________________________________________________________________
Die holistischen Figuren im Signal, die im Zeitsignal als Pausengliederung
interpretiert werden könnten, entsprechen nicht den wahrgenommen Einheiten bzw.
ihrer Integration für die Interpretation. Deutlich ist auch, daß die F0-Kontur nicht mit
jedem so segmentierten Abschnitt neu einsetzt – daß sie sogar über eine längere
Pause hinweg weitergeführt wird (denke ich och͡ vielleicht, Wechsel von C nach D).
Äußerungssegmente werden integriert, indem sie auf diese Weise an die
vorausgehenden akkomodiert werden, während umgekehrt auch das Abfallen der
Grundfrequenz am Ende eines solchen Segments kein Abschlußsignal sein muß. Das
ist bei der F0-Kontur für diesen Abschnitt deutlich: Die Basislinie der Grundfrequenz
wird am Ende von A (als "Topik" vorangestellt) erreicht, ebenso wie am Ende von G,
dem Abschluß der Äußerung der Sprecherin N – aber auch am Ende von E, also im
Innern einer ansonsten integrierten Äußerung. Vgl. damit den kleineren Ausschnitt
E – G:
200
70
0
2.86987
Time (s)
vielleicht machen.die.überhaupt
z u
zwischen Weihnachten und S i l v e s ter
Deutlich sind hier die beiden Makrosegmente der Äußerung: der anakrustische
Anfangsteil (vielleicht machen die überhaupt …, bei dem die Wörter, wie angedeutet,
akustisch z.T. nicht zu segmentieren sind) gegenüber dem rhematischen Teil, mit
dem Satzfokus auf zu. Die Teilkonturen zeigen auf den ersten Blick ein
fragmentiertes Bild, bei dem aber auch deutlich ist, daß keine der Teilkonturen
wieder auf der Basislinie der Grundfrequenz ansetzt, die am Ende des anakrustischen
Vorlaufs schon erreicht wurde. Dadurch sind diese Teilkonturen eben in eine
einheitliche Äußerungskontur integriert. Deutlich ist hier aber auch die Korrelation
dieser prosodischen mit der informationsstrukturellen Gliederung: der anakrustische
Vorlauf besteht zwar aus vier "Wörtern", enthält aber überhaupt kein autonomes
(neues) informationshaltiges Element: ein solches liegt erst mit der abgetrennten
Verbpartikel zu vor, die mit dem Satzfokus artikuliert wird – diese beiden Segmente
sind gewissermaßen ex negativo integriert, weil das erste kein Kandidat für eine
eigene Gliederungseinheit ist. Im Nachtrag folgen noch zwei eigene informationelle
Einheiten, artikuliert durch die beiden "vollen" lexikalischen Einheiten Weihnachten
und Silvester (bei und liegt offensichtlich ein Oktavsprung vor: hier gibt das Signal
ein verzerrtes Bild).
Dieses Beispiel soll hier nur zur Illustration der offensichtlich reichlich
komplexen Verhältnisse bei einer solchen Analyse dienen.
104
Utz Maas
______________________________________________________________________
4.2.3. Der physiologisch fundierten Gliederung steht die semantisch ausgerichtete
gegenüber. Dabei wird die Organisation orater Äußerungen vor allem durch den
Umfang der damit artikulierten NEUEN Information beschränkt – wobei NEU in den
oben skizzierten Dimensionen der Gesprächskonstellation definiert ist. Das verlangt
im einzelnen noch genauere Klärungen: Information ist hier vor allem in Hinblick
auf den damit aktivierten konzeptuellen Inhalt kalibriert; insofern ist der
prototypische Fall ein volles Lexem (deskriptives Prädikat, s.o.) je orater Einheit,
s. das Beispiel in 4.2.2. In diesem Sinne kann auch auf einer vorläufigen heuristischen
Ebene von den Informationseinheiten einer Äußerung die Rede sein, die im (oraten)
Grenzfall aus nur einer solchen Einheit besteht.
Die grammatischen Strukturen einer Sprache erlauben es aber, mehr
Information in eine Äußerung zu packen – das macht das Symbolfeld der Sprache
aus. Dabei erweist sich die oben in (II.2.1.) skizzierte Entsprechung syntaktischer zu
semantischen Strukturen als grenzwertige Harmonisierung der sprachlichen
Artikulation: (deskriptiv volle) Prädikate tendieren gewissermaßen danach, auch
syntaktische Prädikate (Köpfe von Prädikationen) zu sein; das ist der Grenzwert für
orate Äußerungen, der literat aber nahezu beliebig mit Strukturen des Symbolfelds
überschrieben werden kann (mit der Anreicherung einer syntaktisch integrierten
Struktur durch sekundäre Prädikationen).
4.2.4. Die grundlegende Ebene der strukturellen Modellierung von Äußerungen ist
die Integration von Informationseinheiten. Dabei lassen sich syntaktische
(grammatisch artikulierte) von allein synthetischen (a-grammatischen) Formen
78
unterscheiden: die letzteren werden vor allem mit prosodischen Mitteln artikuliert.
Um die Rolle der Prosodie in den Griff zu bekommen, muß die Modellierung
gewissermaßen auf einer Ebene hinter den grammatischen Strukturen von (II.2.)
ansetzen, wie eine grobe Schematisierung verdeutlichen kann:
78
Die Terminologie ist hier nicht fest. Mit der Differenzierung von syntaktischen und
synthetischen Strukturen folge ich Überlegungen von Wolf Thümmel, der damit in unserer
gemeinsamen Osnabrücker Zeit Dimensionen in der grammatischen Modellierung gefaßt hat.
Literat und orat. Grundbegriffe
105
______________________________________________________________________
Dieses Schema wird durch die beiden Dimensionen der Argumentation von Teil I
aufgespannt:
• die Kommunikation (Feld I), die einerseits mit den interaktiv zugänglichen
Vorgaben operiert, andererseits aber die Äußerung in den konzeptuellen
Strukturen des Wissens verankert,
• die Darstellung (Feld II), die die Äußerung mit synsymbolischen Ressourcen
(denen der Grammatik / Syntax) organisiert und so die Strukturen von
Propositionen aufspannt, die ihrerseits ebenfalls in den konzeptuellen
Strukturen des Wissens verankert werden.
Auch die Interpretation grammatisch artikulierter Äußerungen (die also als
Propositionen aufgebaut sind) verlangt ihre situative Verankerung: das ist die Rolle
der satzmodalen Spezifizierungen, die gewissermaßen über den so differenzierten
Feldern operieren, mit dem Satz als Einheit der synsymbolischen Struktur II.
In Feld I sind die oraten Strukturen definiert, die mit den unmittelbar
zugänglichen Ressourcen der Äußerung operieren. Dazu gehören insbesondere die
leibnahen Ressourcen, mit denen die Prosodie operiert – wobei in einer ersten
Näherung sprachliche und parasprachliche Ausdrucksformen ungeschieden sind. Der
Grenzfall einer oraten Äußerung sind informative Versatzstücke, die durch eine
prosodische Kontur in eine Äußerung integriert werden (bzw. von umgebenden
Äußerungen abgegrenzt werden). Man kann das an beliebigen Beispielen mit
unterschiedlichen Intonationskonturen durchspielen:
ein Auto ↑ / ein Auto ↓ / ein AUto ↓ usw.
Hans – ein Lügner ↑
u.dgl.
Dabei können die entsprechenden Muster durchaus gelernt sein, also in ihrer
Verknüpfung mit interpretativen Schemata konventionalisiert sein. Sie bleiben
gebunden an eine spezifische Äußerungssituation, an die sie schon ihre leibnahe
Artikulation bindet.
Das macht den Unterschied zu Feld II aus, dessen Ressourcen ideale Strukturen
sind, wie man in der phänomenologischen Tradition sagen kann. Allerdings können
grammatisch artikulierte Äußerungen ausgesprochen und dann eben auch prosodisch
artikuliert werden: dann "implementiert" die prosodische Artikulation in gewisser
Weise die grammatische, wie es von den prosodischen Modellierungen im Rahmen
der gängigen Grammatiktheorien definitorisch angesetzt wird, die der Prosodie allein
zur Desambiguierung unterspezifizierter Satzstrukturen eine gewisse Autonomie
einräumen. Das stellt die Fundierungsverhältnisse der Strukturierung von
Äußerungen auf den Kopf. Für die Analyse orater Strukturen muß die Modellierung
auf die Füße gestellt werden, was die Trennung der beiden analytischen
Dimensionen wie hier mit Feld I und II voraussetzt.
Sprachspezifisch können allerdings arbeitsteilige Verhältnisse zwischen
prosodischer und segmentaler (grammatischer) Artikulation fest werden. Vereinfacht
gesagt: wo lokale Markierungen z.B. für das syntaktische Parsing grammatikalisiert
sind, braucht dieses nicht mit prosodischen Mitteln markiert zu werden. Die oben
106
Utz Maas
______________________________________________________________________
schon angesprochenen illokutiven Differenzierungen von Äußerungstypen sind ein
Beispiel: der Unterschied zwischen Frage und Aussage kann "ikonisch" mit der
entsprechenden prosodischen Kontur artikuliert werden (↓ für die Aussage, ↑ für die
Frage). Wo, wie im Dt., dafür lokale Markierungen genutzt werden, z.B. die
W-Fragewörter, werden die entsprechenden Äußerungen in der Regel mit der
terminalen Default-Prosodie artikuliert (Wann kommt Hans ↓). Abgesehen von
solchen holistischen Strukturen ist das ein bisher noch sehr unzureichend
exploriertes Feld der Sprachtypologie: seine Bearbeitung setzt die entsprechende
prosodische Aufbereitung der Daten voraus, was weitgehend noch ein Desiderat ist
(s.u.).
4.2.5. Die Nutzung der (grammatischen) Strukturen des Symbolfelds, die in (II.2.)
exemplarisch für das Deutsche skizziert ist, spielt auf einer von den oraten
Beschränkungen unabhängigen Ebene. Orate Strukturen können mit den Vorgaben
des Symbolfelds artikuliert werden – oder auch nicht. Dadurch ergibt sich die dort
entwickelte Skala literater Komplexitätsstufen: so gehören Attribute (bzw.
ausgebaute Nominalgruppen) nicht in orate Äußerungen – sie sind bei Auszählungen
gesprochener Sprache auch relativ selten (s. etwa Bibers Grammatik für das
Englische, 1999). Literate Strukturen homogenisieren das syntaktisch aufgespannte
Feld: es kann an jeder Stelle ausgebaut und mit deskriptiven Termen bestückt
werden. Das ist der vielleicht gewichtigste Unterschied zu oraten Strukturen,
gravierender als die Differenzierung des syntaktischen Netzes (des Nexusfeldes), die
auch orat solange relativ problemlos ist, wie sie nicht mit zu viel Information belastet
wird. Entsprechend sind ausgebaute Nexusfelder, die nur minimal mit konzeptueller
(neuer) Information bestückt sind, in der gesprochenen Sprache durchaus häufig –
und werden ggf. auch beim Spracherwerb früh genutzt, also Strukturen wie
(a) Wenn er kommt, gehe ich,
(b) Ich hoffe, er kommt,
die formal zwei Prädikationen aufweisen (also das Nexusfeld i.S. von 2.3
ausbauen), aber außer den Verben keine weiteren semantischen Prädikate enthalten:
bei (a) zudem noch durch den Parallelismus beim zweiten Verb ohnehin eine
erwartbare, also nur bedingt neue Information; bei (b) stellt sich die Frage, ob das
formale Matrixprädikat überhaupt als Artikulation einer eigenen Proposition
anzusehen ist und nicht vielmehr als satzmodaler Operator (s.u.).
Insofern ist die Skala des syntaktischen Ausbaus, die in (II.2.) definiert wurde,
nicht direkt auf die Differenz von oraten vs. literaten Strukturen umzulegen – und
erst recht nicht mit der Differenz von gesprochenen vs. geschriebenen Texten
gleichzusetzen. Die syntaktischen Muster von (II.2.) geben aber sprachliche
Infrastrukturen vor, die entsprechend dem, was mit den Äußerungen an Inhalten
artikuliert werden soll, unterschiedlich zu nutzen sind. Entscheidend für literate
Strukturen ist das, was Chafe die Verdichtung der Information nennt, die für die
kommunikative Sprachpraxis eine Hürde bildet. Entsprechend weisen gesprochene
Texte oft eine größere Anzahl Propositionen auf als ihr geschriebenes Gegenstück –
weil gesprochen / orat jede neue Information im Grenzfall propositional artikuliert
Literat und orat. Grundbegriffe
107
______________________________________________________________________
wird, während sie schriftsprachlich in eine komplexe syntaktische Konstruktion
gepackt werden kann.
Der entscheidende Punkt bei dieser Modellierung ist die Unabhängigkeit der
Dimensionen: die syntaktische Struktur (das grammatische Symbolfeld), die
semantische Aufladung (Informationshaltigkeit der Äußerungseinheiten) und
schließlich in der gesprochenen Sprache: die prosodische Artikulation. Eine
Harmonisierung der Artikulationsformen auf diesen drei Ebenen kann als "idealer"
Grenzwert extrapoliert werden, auf den hin die konkrete Äußerungsanalyse
kalibriert werden kann. Schriftliche Äußerungen brauchen prinzipiell keine
Rücksicht auf die prosodischen Vorgaben mündlicher Äußerungen zu nehmen –
(maximal) literate Formen sind völlig frei davon.
Eine einfache Umlegung solcher quasi in einem Katalog definierten Indikatoren
auf die Auswertung gesprochener Sprache ist allerdings nicht möglich, weil hier noch
andere Faktoren ins Spiel kommen. Derartige Beschränkungen sind definiert für die
Sprachplanung – betreffen also Äußerungen, die mit den grammatischen Ressourcen
"generiert" werden. Ein erheblicher Teil des Gesprochenen bezieht seine Ressourcen
aber von der Stange, als vorfabrizierte Versatzstücke, deren interne syntaktische
Struktur unerheblich ist, die also gewissermaßen lexikalisch genutzt werden.
Ausdrücke wie der alte Mann, eine Flasche Bier, ebenso wie analytische
Prädikatsausdrücke (Auto fahren) sind in dieser Hinsicht nicht komplex (i.S. von: die
kognitiven Prozesse der "Sprachverarbeitung" belastend).
4.2.6. Bei Sprachen wie Deutsch kann man in einer ersten Näherung einen solchen
Filter für das Nexusfeld definieren. Im Defaultfall ist das deskriptiv volle Element
auch fokussiert (mit dem Satzakzent artikuliert am rechten Rand), bei transitiven
Verben das direkte Objekt:
er gibt ihm ein BUCH
Das Subjekt ist entweder thematisch (vorerwähnt oder dgl.), und wird dann wie in
diesem Beispiel anaphorisch mit einem Pronomen ausgedrückt, oder aber es wird mit
einem deskriptiven Inhalt bepackt und bildet dann auch eine eigene prosodische
Einheit:
der LEHrer | gibt ihm ein BUCH
Allerdings kann die anaphorische Wiederaufnahme auch in der Wiederholung (oder
Paraphrasierung) eines lexikalischen Terms erfolgen, der dann ebenfalls keine neue
Information vermittelt und als thematischer Ausdruck auch prosodisch integriert
werden kann.
Prädikatsausdrücke können ihrerseits syntaktisch komplex sein und ggf.
isolierbare Lexeme aufweisen, ohne daß diese damit jeweils eine neue (deskriptive)
Information einführen:
Funktionsverbgefüge: er bringt das Stück zur Aufführung
idiomatische Ausdrücke: das schlägt dem Faß den Boden aus
108
Utz Maas
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Solche syntaktisch aufwendigeren Ausdrücke belasten die Produktion der Äußerung
nicht und können daher auch prosodisch problemlos integriert werden.
Berücksichtigt man diese Differenzierungen, so zeigen die jetzt reichlich
vorliegenden Protokolle spontan gesprochener Sprache tatsächlich, daß sich die
eventuelle grammatische Artikulation propositionaler Strukturen bis auf ein
lexikalisch volles Element weitgehend auf deskriptiv leere Pro-Formen beschränkt
(vom Typ /un wenn se donn in=n lade noi is/ "und wenn sie dann in den Laden
79
hinein ist" /die is dämm total verfalle/ "die ist dem total verfallen/) . Im Deutschen
ist das sehr deutlich an der orat weitgehend festen Artikulation eines deskriptiv
vollen Topiks als prosodischer (= orater) Einheit: Hans | der war gestern noch im Kino
zwei informative Einheiten ~ zwei orate Einheiten.
4.2.7. Auf dieser Linie sind nun auch die Differenzierungen bei den Ausbauformen
des Symbolfelds (bzw. ihre orate Nutzung) zu sehen: was formal als komplex
erscheint, kann eine relative Festigkeit haben, die es orat einfach zu verarbeiten
macht. Das ist u.U. auch bei syntaktisch komplexen Satzstrukturen der Fall. So sind
Strukturen wie |ich hoffe, |(daß) er kommt| in der gesprochenen Sprache
ausgesprochen häufig und in der Regel auch ohne eine prosodische Abgrenzung der
beiden syntaktischen Konstruktionen; sie sind auch in der Sprachentwicklung bei
Kindern sehr früh vorhanden, bevor weitere grammatische Differenzierungen im
Einfachsatz gemeistert werden. Das zeigt, daß grundsätzlich zwischen formalen
Ausbauformen (syntaktischer Komplexität) und Habitualisierung bzw. Häufigkeit im
Gebrauch zu unterscheiden ist – und auf das letztere abgestellt: zwischen
struktureller Komplexität und Schwierigkeiten im Erlernen u.dgl. zu unterscheiden
ist. Strukturanalysen können eben nicht "usage based" reduziert werden. Auf der
strukturellen Ebene (in semantischer Hinsicht) handelt es sich in Fällen wie ich
hoffe,( daß) er kommt ja auch nicht um die Darstellung von zwei unabhängigen
Sachverhalten, sondern die Matrix artikuliert eine Einstellung des Sprechers: sie ist
formal gesehen eine Art Operator über der Proposition |daß er kommt|, vgl. auch
80
weitgehend synonym: hoffentlich kommt er.
4.2.8. Die Unabhängigkeit der prosodischen (> oraten) Gliederung von der
syntaktischen (> literaten) Gliederung zeigt sich gerade auch da, wo im Gespräch
elaborierte syntaktische Strukturen artikuliert werden. Prosodisch findet sich dann
bei komplexen Sätzen eine quasi parataktische Abgrenzung mit eher kataphorischen
79
Beispiele wieder aus dem in dieser Hinsicht sehr ergiebigen Mannheimer StadtsprachenCorpus, wie in I.2.7.
80
Es gibt eine ganze Reihe solcher Pseudo-Konstruktionen, in denen eine komplexe Syntax
gewissermaßen orat recycled wird; vgl. etwa Pseudofragen wie Weißt du was, wir gehen jetzt
in die Kneipe. Dabei wird mit Weißt du was keine Frage gestellt, sondern die Äußerung ist in
etwa synonym zu Los, wir gehen jetzt in die Kneipe. Entsprechend sind solche scheinbar
komplexen Ausdrücke in der Regel auch prosodisch in eine Intonationseinheit integriert.
Literat und orat. Grundbegriffe
109
______________________________________________________________________
Markierungen im Gegensatz zum hypotaktischen Aufbau der Syntax, vgl. das
81
folgende Beispiel (markiert nur für die hier interessierende Stelle):
syntaktisch
prosodisch
naja || aber das heißt ja nicht [daß alle fünf Stellen ausgenutzt werden]S
naja || aber das heißt ja nicht daß | alle fünf Stellen ausgenutzt werden
Der Subjunktionsmarker daß, der in jüngeren syntaktischen Theorien sogar als Kopf
der subjungierten Proposition behandelt wird, wird prosodisch als Bestandteil der
Matrix artikuliert, in der er kataphorisch darauf verweist, daß der Komplementsatz
(prädikativ zu heißen) sich anschließt, der aber zu viel an Information enthält (mit
vier schweren Silben als jeweils lexikalischen Köpfen: alle fünf Stellen ausgenutzt),
um noch prosodisch integriert zu werden (s. unten 4.2.10. zur Zeitsteuerung in
diesem Beispiel).
4.2.9. Elemente, die in diesem Sinne Einstellungen und dgl. artikulieren, sind nun
aber ausgesprochen charakteristisch für die gesprochene Sprache (weil kalibriert auf
Faktoren der Gesprächssituation und daher nicht auf den "generalisierten Anderen"
transferierbar). Rein formal betrachtet machen sie gesprochene Äußerungen oft
komplexer als ihre schriftsprachlich edierten Gegenstücke, wie wir alle noch aus dem
Schulunterricht erinnern: entsprechende Elemente, die die normative Grammatik
"Füllwörter" nennt, müssen aus einem Schulaufsatz herausgestrichen werden. Ihre
Analyse (in der deutschen Grammatik Abtönungspartikeln, im Englischen mit einem
nicht auf Partikeln eingeschränkten Terminus hedges) ist inzwischen relativ weit
82
entwickelt, vgl. etwa
Das geht eben nicht anders.
Der fährt aber schnell ...
Der hat noch Drakula gekuckt
Analysiert man solche Elemente, so sind sie tatsächlich nicht auf der propositionalen
Ebene der Sachverhaltsdarstellung definiert (sie gehören also nicht zu dem
Symbolfeld der Darstellung), sondern auf der kommunikativen Äußerungsebene. Sie
operieren auf unterstellten Erwartungen, geteilten Voraussetzungen (Du kennst ja
den Heinz) und dgl. Diese Elemente machen insofern nur Sinn in einer spezifischen
Gesprächssituation, in Hinblick auf ein konkretes Gegenüber. Insofern sind sie auch
früh als orat erkenntlich – und für junge Sprachlerner Gegenstand früher
explorativer Bemühungen, vgl. oben in (I.1.) Tülays Edition in dem letzten Beispiel
(noch ist in der schriftlichen Version ausgelassen).
Abgebildet auf die Skala des syntaktischen Ausbaus in (II.2.) sind diese Elemente
weder auf der Schiene des Nexus noch der Junktion definiert: die Grammatik des
Deutschen (in allen mir bekannten Sprachen ist es ähnlich) stellt
charakteristischerweise auch keine grammatisierten Fokussierungsformen zu
Verfügung: keine W-Fragewörter wie für die Nexusergänzungen (wer, wen, womit …)
81
Wieder aus Stock (1996), das durch die zugehörigen Tonaufnahmen für eine Einführung gut
nutzbar ist. Die Beispiele hier stammen aus Seminarübungen.
82
Zum Deutschen, s. etwa den Überblick bei Hentschel / H.Weydt (1990), bes. S. 280 – 288.
110
Utz Maas
______________________________________________________________________
oder die Junkturen (welche …). Sie sind auch nicht negierbar – nur weglaßbar bzw.
austauschbar gegen andere ähnliche Elemente. Sie sind eben auf einer
Operatorenebene definiert, die über dem propositionalen Ausbau und auch seiner
83
Situierung (wann, wo) operiert.
In anderen Sprachen bzw. Sprachkulturen ist das Repertoire solcher
Markierungen um einiges differenzierter als im Deutschen. Ein Beispiel dafür ist das
Mongolische, für das Nyamaa (2009) die Verhältnisse von literat und orat in
84
mündlichen und schriftlichen Texten exploriert hat. Im (interaktiv) gesprochenen
Mongolischen
sind
solche
Markierungen
geradezu
dominant:
jede
Informationseinheit einer Äußerung wird entsprechend markiert, u.a. auch mit einer
Sequenz solcher "mediativer" Markierungen, sodaß längere Äußerungen von ihnen
geradezu punktiert werden. Um die Dinge an einem Beispiel etwas anschaulicher zu
machen, müssen wenigstens einige Grundstrukturen des Mongolischen angesprochen
werden. Auch im spontan gesprochenen Mongolischen können satzförmige
(abgeschlossene) Äußerungen erheblich komplex sein, mit einer Kette von
sekundären Prädikationen, möglich gemacht durch einen verkettenden Satzbau, der
beliebige propositionale Sequenzen von links nach rechts zu schachteln erlaubt,
wobei jede rechts adjungierte Einheit die voranstehenden spezifiziert. Am rechten
Rand steht dann das Satzabschlußelement, das die satzsemantischen Markierungen
aufweist, schematisch also
[[[[Propn] Propn-1] Propn-2] … Prop1]SATZ
In jeder Proposition steht das syntaktisch regierende Prädikat am rechten Rand, bei
abhängigen Propositionen markiert durch ein reiches Spektrum von sekundären
Prädikatsformen der Verbalflexion (Konverben, Verbalsubstantive, die jeweils ihre
verbale Rektionsfähigkeit bewahren) – komplementär zu den maximal finiten
Formen des Kopfprädikats: wenn "infinite" Verbformen im Kopfprädikat genutzt
werden, werden sie mithilfe von Auxiliaren zu semantisch finiten komplexen
Prädikaten ausgebaut.
Die Mediative des Mongolischen, die die Verantwortlichkeit des Sprechers für
das Gesagte modulieren, sind Partikeln, d.h. sie sind morphologisch nicht variabel;
dabei sind sie aber durchweg homophon mit syntaktisch "regulären" Elementen (auf
die sie wohl auch etymologisch zurückzuführen sind). Abgesehen von der Semantik
83
Bemerkenswerterweise sind sie auch im ausgebauten Lexikon nicht als eigene Formklasse
lexikalisiert – sie werden als "Umfunktionierung" anderer Formen genutzt (aber >
Konjunktion, ja > "Satzwort" u.dgl.). Das steht nicht gegen ihre "Salienz", die sich gerade auch
in der Ontogenese zeigt. Solche Elemente werden von Kindern früh in ihrem Spracherwerb
genutzt – im Deutschen auch, weil sie strikt lokal artikuliert sind, als frühe Markierung
illokutiver Selbständigkeit ihrer Äußerungen, bevor sie das grammatisch komplexe Feld der
Finitheitsmarkierungen meistern. Früh finden sich Äußerungen wie macht’n die Mama↓ wo
das n eine reduzierte Form der Abtönungspartikel denn ist, hier aber die illokutive
Spezifizierung der Frage leistet (~ was macht die Mama?), s. dazu etwa Gretsch (2000).
84
Es handelt sich um eine explorierende Arbeit, da ohnehin die Strukturen des gesprochenen
Mongolischen noch kaum erforscht sind. Erst in der neueren typologischen Diskussion
kommen solche Strukturen in den Blick, wo sie u.a. als Mediativ diskutiert werden (s. z.B.
Feuillet (2006), bes. S. 333- 337).
Literat und orat. Grundbegriffe
111
______________________________________________________________________
unterscheiden
sie
sich
von
diesen
durch
ihre
syntaktischen
Vorkommensbedingungen. Nyamaa (2009) hat drei solcher Partikeln in ihrem Corpus
untersucht: jum, bol und geʒ, die jeweils eine "Abtönung" der so modifizierten (ggf.
sekundären) Prädikationen artikulieren. Syntaktisch kommen sie komplementär zu
den homophonen nicht-mediativen Formen vor:
• jum entspricht einem Nomen mit der Bedeutung "Ding", das Argumente im
Vorfeld des jeweiligen Prädikats artikuliert; als Mediativ steht es nach der so
modifizierten Verbform, also ggf. auch am rechten Rand eines Satzes;
• bol entspricht dem Stamm eines Verbs mit der Bedeutung "werden" (in der
üblichen Zitierform der Verben als Verbalnomen bol-ox), häufig ist es vor
allem auch kopulativ mit einem nominalen Prädikativ sowie als Auxiliar;
außerdem ist es lexikalisiert als Subjunktor (und steht dann nach der so
angeschlossenen Proposition). Als Mediativ steht es im Vorfeld eines
Prädikats, ggf. vor dem so modifizierten Element;
• geʒ entspricht einer konverbalen Form des Verbs ge-x "sagen", die vor allem
als Quotativ-Marker häufig ist; als solche steht sie nach der so deklarierten
Proposition. Als Mediativ steht geʒ ebenfalls im Vorfeld eines Prädikats, ggf.
vor dem so modifizierten Element.
Während die "regulären" homophonen Formen selbstverständlich in literaten wie in
oraten Strukturen vorkommen, sind mediative Formen auf eine kommunikative
Konstellation festgelegt. In dem Experiment von Nyamaa haben die Schreiberinnen
denn auch diese Formen bei der Verschriftung nicht aufgenommen, wie an einem
85
Beispiel verdeutlicht werden kann (grau markiert die Mediative, glossiert MED):
sar
n‘
bol
taar-aad
Monat
REFL
MED
übereinstimm:-KONV
86
"Der Monat aber stimmt überein"
baj-dag
jum
sei:-VN
MED
Verschriftet erscheint dieser Satz als
sar
n‘
goldɷɷ
taar-aad
Monat
REFL
meistens
übereinstimm:-KONV
"Der Monat aber stimmt überein"
baj-dag
sei:-VN
Die Mediative der mündlichen Äußerungen werden hier durch das "objektiver"
quantifizierende goldɷɷ "meistens" (das als adverbiales Element auch syntaktisch
enger integriert ist) ersetzt.
85
Beispiele aus Nyamaa (2009), mdl. S. 70, schr. S. 92; die Transliteration von dort. REFL =
Reflexivmarkierung; KONV = Konverb; VN = Verbalnomen.
86
Aus einer Diskussion über die unterschiedliche Zeitrechnung in der Mongolei und in
Deutschland.
112
Utz Maas
______________________________________________________________________
4.2.10. In diesem Sinne erweist sich die in (II.3.) skizzierte Skala des literaten Ausbaus
tatsächlich als eine Art Blaupause für das mehr oder weniger komplexe Zuschalten
des Symbolfelds zu kommunikativen Äußerungen. In der gesprochenen Sprache ist
keineswegs die Hypotaxe eine Hürde (wie man oft liest), sondern im Chafeschen
Sinne die Verdichtung von informativen Strukturen, also der Ausbau von
Nominalgruppen. Wie die inzwischen vorliegenden Auszählungen zeigen, sind
Attribute im Schnitt tatsächlich eine größere Hürde als der Ausbau komplexer Sätze,
bei dem die verschiedenen Propositionen ja auch als unabhängige
Intonationseinheiten artikuliert werden können. Das gilt erst recht für
Relativsatzkonstruktionen, die in der gesprochenen Sprache ausgesprochen selten
sind – jedenfalls als abhängige Relativsätze, im Gegensatz zu anaphorisch
verbundenen Satzkonstruktionen, die am rechten Rand angehängt werden, vgl.
mein Vater | der hat jetzt ein Auto | das hat ein Navi
Hier sind drei propositionale Einheiten verknüpft, die prosodisch autonom sind – die
letzte ist ein mit einem anaphorischen Element angeschlossener regulärer (Haupt-)
Satz, wie die Wortstellung zeigt. Vgl. damit eine literate Struktur, die die drei vollen
Prädikate in eine Satzstruktur integriert, dabei eine sekundäre Prädikation
propositional ausbaut (als Relativsatz) und einbettet:
mein Vater hat jetzt ein Auto, das ein Navi hat, gekauft.
Das oben in (II.2.8.) angesprochene Problem der Kohäsion syntaktischer
Konstituenten operiert ebenfalls auf dieser Ebene. Durch den Satzrahmen können
komplexe Prädikate unterbrochen werden; orat ist das nur minimal möglich: durch
eng an den infiniten Prädikatsteil gebundene Konstituenten (syntaktisch etwa das
direkte Objekt, auch prosodisch durch "schwache", vor allem klitisierte Elemente
[pronominale Formen]) – ansonsten folgen die Ergänzungen auf den
Prädikatsausdruck (was aus dem Blickwinkel der schriftsprachlichen normativen
87
Grammatik als "Ausklammerung" bezeichnet wird).
Weiterführend sind hier Arbeiten zur Informationsstruktur, die gerade auch im
Chafeschen Arbeitskontext unternommen worden sind, etwa von Knud Lambrecht
(Lambrecht 1994). Auch wenn Lambrecht literate Strukturen analysiert, die er durch
ihre grammatische Struktur als noch unterbestimmt behandelt und so in Mengen von
"Allosätzen" bündelt, deren pragmatische Differenzierung (gekoppelt mit der
entsprechenden prosodischen Artikulation) er untersucht, sind die dabei gewonnenen
Kategorien für die oraten Strukturen zu nutzen. Zu erwarten ist, daß im Aufbau einer
oraten Äußerung die Artikulation eines vollen deskriptiven Elements mit der
Fokusmarkierung zusammenfällt – also entweder am rechten Rand als Fokus
artikuliert wird, oder (vor allem kontrastiv) am linken Rand. Auch das bestätigt sich
bei der Auswertung der vorliegenden Corpora gesprochener Sprache.
87
Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht das Jiddische, also eine erst spät schriftsprachlich
kodifizierte Form des gesprochenen Deutschen, in dem die nur sehr eingeschränkte
Rahmenbildung fest ist, wo es also heißt Hans hot getrunken a flaš bir "Hans hat eine Flasche
Bier getrunken".
Literat und orat. Grundbegriffe
113
______________________________________________________________________
Die Strukturen des Symbolfelds bilden nicht einfach einen Gegenpol zur
gesprochenen Sprache, sondern sie können, da sie einen Horizont für erwartbare
Strukturen aufspannen, dieser geradezu Wege bahnen. Da eine angefangene
Äußerung mit ihren grammatischen Formen ihre Fortsetzung weitgehend projiziert,
gibt sie dem Gegenüber die Möglichkeit, sie fortzuführen. So erweist sich tatsächlich
ein erheblicher Teil von Gesprächen als in diesem Sinne koproduziert (nicht nur
88
kooperativ, sondern u.U. auch antagonistisch).
Letztlich muß es darum gehen, aus solchen Überlegungen eine formale
Konzeptualisierung zu entwickeln, die für die empirische Forschung verifizierbare
Hypothesen zu entwickeln erlaubt. Die Chafeschen Minimalismus-Annahmen für
orate Strukturen sollten sich dabei mit den strukturalen Überlegungen von (II.2.)
verknüpfen lassen, insbesondre denen von der größeren Ausbauhöhe der Junktion
gegenüber einer Koppelung von Nexusstrukturen. Auf der Textebene läßt sich das als
Verhältnis der Anzahl der syntaktischen Prädikate [P] zu der der deskriptiv
artikulierten "nominalen" Ergänzungen [N] fassen. Bei einem oraten Text ist das
Verhältnis n P / m N > 1, bei einem literaten ist n P / m N < 1 (orat, aber nicht literat
sind viele Propositionen mit einem Prädikat ohne deskriptive nominale Ergänzung zu
erwarten).
Das wird in Hinblick auf die oben in (II.3.) entwickelten weiteren Faktoren nicht
in jedem Fall zu verifizieren sein (es finden sich ja in der spontan gesprochenen
Sprache nicht wenige einfache Äußerungen mit mehr als einem N). Aber eine solche
Hypothese zwingt in den Fällen, die sie nicht bestätigen, dazu, nach erklärenden
Zusatzannahmen zu suchen. An einer solchen formaleren Modellierung geht kein
Weg vorbei – wenn das Unternehmen einer Analyse des Sprachausbaus denn
ernsthaft als Sprachwissenschaft betrieben werden soll.
4.2.11. Gewissermaßen in Reinkultur zeigen sich diese Beschränkungen bei Sprachen,
die ohne den Ausbau einer Schriftkultur praktiziert werden. Die oben schon
angeführten Analysen von Chafe zum Seneca wie die (in III.5. weiter diskutierten)
von Heath zu den australischen Sprachen im Arnhem Land exemplifizieren den
Grenzfall von Sprachstrukturen, die auf eine orate Praxis kalibriert sind. Soweit die
prosodisch integrierten Äußerungseinheiten in diesen Texten eine grammatische
Binnenstruktur aufweisen, insbesondere ein (verbales) Prädikat, erfolgt dessen
Bekleidung in der Regel durch modifizierende Elemente, die keine prosodische
Prominenz haben: klitisierte Funktionselemente oder auch (wie vor allem beim
Seneca) durch die Inkorporation lexikalischer Elemente. Die referenzielle
Spezifizierung etwa der Argumente des Prädikats erfolgt in eigenen Äußerungen: als
eine Art Nachtrag oder ggf. auch als vorangestelltes Topik. Für die von Heath
analysierten Erzählungen im Nunggubuyu sind dabei Sequenzen charakteristisch, die
auch den (vorangestellten) prädikativen Komplex mit der (pronominalen)
Registrierung der Argumente gewissermaßen völlig von deskriptiven Prädikaten
entlasten und mit dummy-Verben (etwas tun, oft auch ein affines Element zu einem
88
S. dazu etwa schon (auch aus dem Chafe-Umfeld) Ono / Thompson (1995). Zur Projektion
grammatischer Strukturen und ihrer Nutzung in der Interaktion auch Auer (2000).
114
Utz Maas
______________________________________________________________________
nominalen dummy, also so etwas wie dingens im Deutschen); als Nachtrag wird
dann in separaten Äußerungen das dingens-Prädikat spezifiziert, schließlich dann die
Referenz der Argumente, z.B. (Heath 1980: 114 /16.16 – die Umschrift in IPA
überführt, die Glossierung modifiziert):
wiŋi-jamaː ||
wuː-maɲʤa-ma-ɲʤiː-ni ||
they-did.that.IPF
they-got.each.other.IPF
1
2
"The people gathered themselves together"
wuː-maɲʤa-ma-ɲʤiː-ni
they-got.each.other.IPF
3
wara-wuruʤ ||
people
4
In (1) ist jamaː das dummy-Verb (hier mit einem phonologisch absorbierten
imperfektiven Suffix); (2 – wiederholt in 3) spezifiziert das dummy durch das
lexikalisch spezifizische maɲʤa. In (4) wird die pronominale Aktantenmarkierung
(wiŋi in (1), wuː- in (2) bzw. (3)) deskriptiv spezifiziert (wuruʤ). Die von Heath
notierten prosodischen Zäsuren (||) zeigen die orate Gliederung mit jeweils einem
neuen informativen Element: (3) ist eine anaphorische Wiederholung, insofern keine
neue Information, sondern mit (4) zusammen eine Einheit.
4.2.12. Die mediale Seite hat strukturelle Konsequenzen: gesprochene Sprache nutzt
die prosodischen Gliederungen, die definitionsgemäß in der geschriebenen Sprache
nicht gegeben sind. Grundsätzlich sind die Prosodie und die Syntax als unabhängige
Dimensionen zu betrachten:
Im Sinne der Ontogenese (und systematisch vielleicht auch: des Sprachausbaus im
allgemeinen Sinne) ist die prosodische Integration (als die leibnähere) die
grundlegende: prosodisch integriert (~ Intonationseinheiten) können beliebige
informationelle Versatzstücke werden, auf die der Hörer sich einen interpretierenden
Reim machen muß. Die syntaktische Integration (mit den Strukturen des
Symbolfelds) wird dieser grundlegenden Ebene der sprachlichen Artikulation
zugeschaltet – in der Skala von orat / literaten Ausbaustufen. Allerdings kann das
Verhältnis von Prosodie zu Syntax umkippen, wie es bei literaten Strukturen der Fall
ist.
Literate Strukturen sind durch einen Grenzwert definiert, der keine prosodische
Artikulation hat, die ja auch schriftlich nicht kodiert wird. Dieses Verhältnis wird
allerdings in der Schultradition durch die oft "rhetorisch" genannte Sichtweise der
Interpunktionszeichen verdeckt; diese steht in der Tradition der Ausbildung zum
Vorlesen, in der bis heute in der Schule die Interpunktionszeichen als Instruktionen
zur Stimmführung verstanden werden – und nicht als "Parsinghilfen" für das
Literat und orat. Grundbegriffe
115
______________________________________________________________________
(stumme!) Erlesen komplexer Texte. Auch bei der Interpunktion stellt die in der
Schulgrammatik bzw. –didaktik verbreitete Vorstellung von der phonographischen
Funktion der Schrift die Verhältnisse auf den Kopf, deutlich bei dem nach wie vor
gerne genutzten Topos "Schreib wie du sprichst!". Gegenüber solchen Reduktionen
sind die beiden sprachlichen Artikulationsformen: syntaktisch-grammatisch und
prosodisch in der Analyse getrennt zu halten; empirisch können sie in
unterschiedlicher Weise die Sprachpraxis bestimmen, mit einer Harmonisierung
beider Artikulationsformen auf einer medianen Achse, auf der schließlich die
prosodische Struktur zunehmend als zusätzliche Ausdrucksform syntaktischer
Strukturen genutzt wird. Das ist der Fall bei mündlich präsentierten (maximal)
literaten Strukturen – kann aber nicht in der Architektur des theoretischen Modells
festgeschrieben werden, wie es in den neueren (vor allem generativistisch
orientierten) Arbeiten zur Informationsstruktur der Fall ist, für die die Prosodie, etwa
Fokusstrukturen, die Interpretation der "logischen Form" der Sätze ist.
Das obige Schema stellt das Feld empirischer Analysen dar, dessen Extrempole
auch als solche analysiert werden sollten: einerseits harmonisierte Äußerungen, die
auf der syntaktischen Ebene komplex ausgebaute Sätze zeigen, deren
Auseinanderfallen mündlich durch prosodische Integrationsformen (kein Neuansatz
der Intonationskontur u.dgl.) verhindert wird, andererseits disharmonische, orate
Äußerungen, bei denen die prosodische Gliederung "asyntaktische" Elemente
integriert, erst recht da, wo die Prosodie die syntaktische Gliederung überschreibt.
Grundsätzlich sind in diesem Sinne disharmonische Verhältnisse bei Syntax und
Prosodie Indikatoren für orate Strukturen.
4.2.13. Solche Analysen müssen typologisch kontrolliert werden, da die
sprachbauspezifischen Vorgaben für die syntaktische Integration sehr unterschiedlich
sind (s.o.). Bei der prosodischen Analyse sind die verschiedenen Parameter
grundsätzlich unabhängig und ist ihre Nutzung dissoziierbar. Charakteristisch für das
Deutsche ist die Ausrichtung und Bündelung der prosodischen Gliederung, mit
einem eindeutigen Konturmaximum ("Satzakzent"), dem alle anderen Elemente
untergeordnet werden (soweit sie aufgrund ihrer lexikalischen Ausstattung eine
Akzentuierung erwarten lassen, erfolgt diese als "Nebenakzent"). Im Deutschen
"interpretiert" die Prosodie ggf. auch eine Rede mit ausgesprochen elaborierten
literaten Satzstrukturen – als harmonische Ausbalanzierung im Sinne des Schemas.
Bei dem oben schon angeführten Beispiel einer komplexen Satzkonstruktion mit
einer zur Syntax inkongruenten prosodischen Segmentierung erfolgt die Integration
in einen Satz vor allem auch auf der Ebene der Zeitsteuerung, vgl. den Zeitverbrauch
89
der prosodischen Segmente:
syntaktisch
prosodisch
Dauer
89
naja ||
naja ||
414ms
aber das heißt ja nicht [daß
aber das heißt ja nicht daß |
934ms
Nach der Tonbandaufnahme in Stock (1996).
alle fünf Stellen ausgenutzt werden]S
alle fünf Stellen ausgenutzt werden
2.318ms
116
Utz Maas
______________________________________________________________________
Die Matrix (aber das heißt ja nicht daß) wird offensichtlich als Anakrusis einer
größeren Einheit artikuliert (mit einer Durchschnittsdauer von 130ms für jede seiner
sieben Silben), während der zweite Teil rhematisch artikuliert wird (mit einer
Durchschnittsdauer von 230ms für jede seiner zehn Silben). Dahinter steht, daß die
Realisierung der Quantitäten im Deutschen prosodisch gebunden ist: nur in der Silbe
mit Satzakzent sind die Quantitätenkontraste des Vokalismus robust (soweit man sie
überhaupt als phonologisch werten will), im Vorfeld (= anakrustisch) sind sie
zugunsten der nicht-"gedehnten" Vokale neutralisiert.
Andere Sprachen zeigen diese Ausrichtung nicht, sondern zeigen ein sehr viel
bewegteres Bild prosodischer Teilstrukturen, deren Integration in eine Makroeinheit
weniger robust erscheint. In diesem Feld liegen noch zu wenige Analysen vor, als daß
90
hier abschließende Aussagen möglich wären.
4.2.14. Als Fazit läßt sich zur Rolle der prosodischen Strukturen festhalten: wo diese
die syntaktischen Strukturen nur interpretieren, gehören sie nicht zur oraten
Artikulation – anders ist es da, wo sie die syntaktische Struktur überschreiben:
dadurch wird die Interpretation an die konkrete Sprechsituation gebunden.
Allerdings ist auch hier eine typologische Kontrolle erforderlich: "überschreiben"
meint in diesem Sinne: als nicht grammatikalisierte prosodische Struktur –
andernfalls ist diese ja ein Moment der grammatischen Strukturierung.
90
Ein Beispiel aus dem arabischen Raum kann die Bandbreite deutlich machen (das Beispiel
verdanke ich Dina El Zarka, zu der Konstruktion s. auch Maas 2008b: 37 – 38 mit einem
entsprechenden marokkanischen Beispiel):
ana |
ich
il-jom-eːn
DF-Tag-DU
doːl
DEM-PL
li-ɣaːjit
bis-Ende
ma
REL?
ti-fuːt
3SF-vorbeigeh:
is-sanawijːa
bitaʕt-u |
ʃ-ʃahrə
kida
DF-Jahrestag
von-3SM
DF-Monat
so
"Diese Tage, bis sein Todestag vorbei ist, ein Monat oder so".
Prosodisch werden hier drei Passagen segmentiert (markiert mit |). Das mittlere Stück
artikuliert die propositionale Aussage: es geht um die Zeit der Trauer, bis zum Jahrestag des
Todes. In einem Nachtrag wird dieser Zeitraum spezifiziert (etwa ein Monat). Voran steht ana
"ich", das keinerlei syntaktische Bindung in der propositionalen Struktur hat (also auch nicht
als Herausstellung o.dgl. behandelt werden kann). Prosodisch ist es als abgeschlossene Einheit
artikuliert: mit tief fallender Intonation und folgender Pause (es handelt sich also auch nicht
um einen Abbruch). Hier liegt eine hochgradig konventionalisierte Struktur vor, mit der im
arabischen Raum im Gespräch ein Sprecher für sich einen Redeplatz markiert, um etwas
darzustellen, das ihn persönlich betrifft. Die Integration in die Makrostruktur der Äußerung
erfolgt indirekt dadurch, daß mit dem auf ana "ich" unmittelbar folgenden Element die
prosodische Kontur (die Grundfrequenz) nicht wieder neu einsetzt, sondern in einer mittleren
Lage eine Fortsetzung artikuliert. So wie hier werden im spontan gesprochenen Arabischen (in
Marokko nicht anders als in Ägypten) mehr oder weniger grammatisch markierte semantische
Versatzstücke prosodisch in eine Äußerung integriert und von den Hörern entsprechend
interpretiert.
Literat und orat. Grundbegriffe
117
______________________________________________________________________
4.3. Orate Strukturen als Reduktion der sprachlichen
Artikulation?
4.3.1. Die gängigen Vorstellungen von oraten vs. literaten Strukturen sind am
Schulunterricht
abgelesen,
in
dem
die
schriftkulturelle
Erziehung
(> Aufsatzunterricht) als Kampf gegen die Gewohnheiten der "gesprochenen" Sprache
aufgezogen wird – in nicht selten schizophrener Koppelung mit einer
Natürlichkeitsmaxime für den guten Stil: "schreib, wie du sprichst!". Ausgehend von
den entsprechenden Übungen, die im schulischen Übungskanon seit 200 Jahren fest
sind, erscheint die gesprochene Sprache als Negativbild zu den schriftkulturellen
Ausbauformen: als ihnen gegenüber reduzierte Form sprachlicher Artikulation, in
einschlägigen Darstellungen oft auch als "elliptischer" Charakter der gesprochenen
91
Sprache angesprochen. Das nimmt zwar die oben in (II.2.) entwickelte Konzeption
der literaten Zuschaltung der Ressourcen des Symbolfelds auf, stellt sie aber auf den
Kopf, indem es die gesprochene Sprache an literaten Normalformen mißt: Statt im
Sinne der Bühlerschen Markiertheitskonzeption literate Formen als aufwendiger und
daher markierter zu betrachten, werden die kommunikativ produzierten weniger
aufwendigen, tendenziellen Default-Varianten sprachlicher Äußerungen als defektiv
behandelt.
Nicht zuletzt unter den prozessualen Bedingungen mündlicher Äußerungen sind
diese vergleichsweise knapper ausgestattet, als es in der Regel schriftliche sind
(anders ausgerichtete Schriftkulturen machen deutlich, daß das nicht notwendig so
ist). Das gilt für die lokale konzeptuelle Elaboration nicht anders als für die
Makrostrukturen des Textaufbaus: unter kommunikativen Bedingungen wird eben
der Aufwand minimiert, sodaß das für die interaktive Verständigung Erforderliche
als Verbalisierung ausreicht. Gesprächstransskripte, die den kommunikativen
Kontext nicht repräsentieren, sind daher oft unverständlich: baut man sie in eine
literate Form um (eine probate Übung, um sich die Differenz von oraten und literaten
Strukturen zu verdeutlichen), müssen tatsächlich laufend Ergänzungen zugefügt
werden. Daraus folgt aber eben nicht, daß diese in den oraten Äußerungen fehlen
(daß diese also elliptisch wären): einerseits fehlt diesen im Kontext nichts,
andererseits sind die einzufügenden Ergänzungen nicht eindeutig (wie es bei Ellipsen
zu verlangen ist, s.o.). Jede derartige Ergänzung projiziert ihrerseits einen
interpretativen Kontext, der mit dem Gesprächstransskript nicht vorgegeben ist, der
aber mit einer literaten Form festgelegt werden muß.
4.3.2. Die Spannung von mehr oder weniger expliziten Formen findet sich auf allen
sprachlichen Ebenen, wobei sie in der (Satz-) Phonologie auch als Verhältnis von
Reduktionsformen gegenüber den Explizitformen gefaßt wird: in der ganzen
Bandbreite von Klitisierungen, Verschmelzungen bis hin zu "verschluckten" Formen,
die sich in der einschlägigen Diskussion findet. Durch den dominierenden
91
Die kulturgebundenen Prämissen dieser Wertung, der das hochkulturelle Ziel einer
lakonisch-minimierten Sprachform in ostasiatischen Kulturen gegenübersteht, ist oben schon
angesprochen worden.
118
Utz Maas
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normativen Blick werden dabei aber oft Entwicklungen ("Reanalysen") übersehen, bei
denen derartige Reduktionsformen grammatikalisiert werden. So behandelt die
normative Grammatik meist am als Fusion aus an + dem, analog etwa zu auf’m < auf
dem. Aber nur für das letztere gilt die semantisch-syntaktische Äquivalenz. Dagegen
ist Der Apfel wächst am Baum eine generische Aussage, die nicht die Frage: an
welchem Baum? provoziert; diese wiederum ist bei einer diskurs-definiten
Markierung mit dem bestimmten Artikel zu erwarten, wie bei Dieser Apfel wächst an
dem Baum.
Hier besteht ein weites Feld solcher Grammatikalisierungen von
Reduktionsformen, die damit in Opposition zu (nur noch etymologisch als
Entsprechung faßbaren) "expliziteren" stehen. Das ist denn auch das Feld von
"verdeckten" grammatischen Kategorien, bei denen semantische Faktoren
grammatisiert sind, die die Schulgrammatik nicht vorsieht. Ein Beispiel sind
"elliptische" Strukturen bei transitiven Verben. Eine Äußerung wie Hans kauft würde
man in einem Gesprächsprotokoll als Abbruch klassifizieren (S* in der Notierung von
I.2.5.) – die Vervollständigung mit einem direkten Objekt (Hans kauft ein Auto) ist
im Nexusfeld definiert (gefordert). Anders ist es aber bei Äußerungen wie
Hans kauft bei Lidl
Hans kauft und kauft
Das Nicht-Vorhandensein eines direkten Objekts führt in solchen Konstruktionen zu
einer intransitiven (Re-) Analyse eines Tätigkeitsausdrucks mit der grammatischen
Bedeutung einer habituellen Tätigkeit (wie sie in anderen Sprachen ggf. mit einer
morphologischen Markierung am Verb für Habitualis markiert würde).
Daraus folgt, daß die Annahme von Reduktionsformen als "Implementierung"
einer oraten Struktur an die Überprüfung gebunden ist, daß diese nicht funktional
grammatikalisiert sind.
5. Der literate Ausbau: vorläufiges Fazit
Mit den vorausgehenden Überlegungen sollte eine Ausgangsposition für eine vor
allem auch empirisch angelegte Arbeit in diesem Feld gegeben sein, die die
genannten Beschränkungen zu überwinden versucht. Die vorausgehenden
Definitionsansätze sollten eine Arbeitsbasis liefern. Ausgangsbasis ist die
Grunddefinition in (I.7.): Literat sind Äußerungen, die in der grammatischen
Form von Sätzen artikuliert sind und eine Darstellungsfunktion haben. Dabei ist
diese Definition in empirischen Analysen ggf. noch auf den erreichbaren
schriftkulturellen Horizont zu kalibrieren (s. I.6.).
Die grammatische Form ist mit den Definitionen in Abschnitt (II.2.) als
Ressource der Nutzung des Symbolfelds (i.S. von Bühler) differenziert, durch die
literat als skalares Konzept definiert ist, polarisiert durch satzförmige Strukturen als
Schwellenwert:
• obligatorisch ist der Satzfilter für den Bau von Texten,
Literat und orat. Grundbegriffe
119
______________________________________________________________________
• fakultativ ist die Integration von propositionalen Strukturen (Ausbau des
Nexus),
• fakultativ ist die Verdichtung der Information (Ausbau durch Junktionen).
Die fakultativen Ausbaustrukturen markieren eine Skala des Literaten. Über die
Diskussion in (II.2.) hinaus sind allerdings in eine solche Modellierung des
Symbolfeldes noch die morphologischen Aspekte des Sprachbaus hinzuzunehmen.
Die formale Seite faßt aber nur eine Dimension der Sprachpraxis, zu deren
Modellierung auch die funktionale Dimension gehört, die in der Definition mit dem
traditionellen Begriff der Darstellung gefaßt wird. Auch hier ist eine skalare
Konzeptualisierung geboten, die oben in (I.2.) mit den Beispielanalysen nur
angedeutet ist: von interaktiven Gesprächszügen, die eine mehr oder weniger
artikulierte grammatische Struktur, aber keine Darstellungsfunktion haben, über
narrative Texte, die eine szenische Inszenierung eines Sachverhalts (Ereignisses)
entfalten (der als außersprachliche Vorgabe sprachlich repräsentiert wird), bis hin zu
expositorischen Texten, die ihren Gegenstand mit seiner sprachlichen Artikulation
überhaupt erst konstituieren.
Auf der Ebene der sprachlichen Artikulation ist orat als Gegenpol zu literat
definiert (s. II.4.): Orat sind Äußerungen, die nicht in der grammatischen Form
von Sätzen artikuliert sind und ggf. sprachliche Elemente aufweisen, die auf die
konkrete Gesprächssituation kalibriert sind. Für die Definition von orat genügt
der Rückgriff auf die Struktur der formalen Artikulation – orat ist negativ definiert in
Hinblick auf das Ausmaß, in dem die Ressourcen des Symbolfelds genutzt werden.
Die syntaktische Grundkategorie Satz bildet dabei die Achse der syntaktischen
Argumentation:
• Satz ist die formale Basis literater Artikulation: die satzförmige Zerlegung
eines Textes ist eine notwendige Bedingung für eine literate Struktur – aber
keine hinreichende, wie die Diskussion um die inhaltliche Seite (die
Darstellungsdimension) gezeigt hat;
• nicht-satzförmige Strukturen sind orat – aber auch in oraten Texten können
satzförmige Strukturen genutzt werden.
Schließlich sind die funktionalen Aspekte der Darstellung noch weiter zu
differenzieren, die im Vorausgehenden ausgeklammert wurden. Die formalen
Strukturen definieren gewissermaßen Randbedingungen des Sprachausbaus, für den
die Dimension von literat/orat zentral ist. Letztlich geht es also um eine Modellierung
der Sprachpraxis in einem vierdimensionalen konzeptuellen Raum, wie er im
92
Vorausgehenden sehr grob skizziert ist.
Diese Verhältnisse lassen sich in einem polarisierten Feld darstellen, das
einerseits eine soziale Dimension aufweist (mit den Polen einer kommunikativen
92
Anzumerken bleibt, daß gerade auch die funktional orientierten jüngeren Arbeiten in diesem
Feld den skalaren Charakter der funktionalen Darstellungsdimension oft übersehen und
Strukturen generalisieren, die sie aus narrativen Texten extrapolieren, die in der Ethnographie
vorwiegend erhoben werden. Das führt dazu, daß die Ausbaudimension der Sprachpraxis
übersehen wird.
120
Utz Maas
______________________________________________________________________
Orientierung vs. Dezentrierung), andererseits eine inhaltliche Dimension mit der evtl.
Ausrichtung auf die Darstellung. Die idealtypischen Felder des Oraten und Literaten
liegen dann auf einer Diagonalen:
TEIL III – HISTORISCHE ANMERKUNGEN
1. Fachgeschichtliche Anmerkung zu den
Vorgaben der Tradition
Jenseits der terminologischen Differenzierung sind diese Dinge alles andere als neu.
Liest man die großen enzyklopädisch angelegten Werke der antiken griechischen
Philosophen, findet man vieles heute wieder neu zu Entdeckende schon als
selbstverständliche Topoi. In fachgeschichtlichen Darstellungen wird meist
übersehen, daß sich historisch zwei Diskurse überlagern, sodaß rein chronologische
Reihungen von Zitaten mystifizierend sind. Der seit der Antike dominierende
Diskurs war finalisiert: er war an praktische Zielsetzungen gekoppelt, die Ausbildung
zum "Redner", also der qualifizierten Partizipation an den politischen und juristischen
Aktivitäten in der gesellschaftlichen Geschäftsführung, und dem vorgängig: der
elementaren schulischen Bildung. Entsprechend dem gesellschaftlichen
Selbstverständnis, der Imago einer oralen Kultur, war Schriftliches hier subsidiär –
Sprache ist demnach eigentlich mündlich, wie es von Quintilian bis zur modernen
93
Sprachwissenschaft ein Gemeinplatz ist.
In diesem Bildungsdiskurs ist Sprache letztlich sekundär: was zählt ist das
andere – die sprachlich erzielte Wirkung in der Rhetorik i.e.S. oder das sprachlich
Dargestellte in der Literatur, bei der Sprache als mimesis ("Abbild, Nachahmung")
93
Diese Imago, losgelöst von einer gesellschaftlichen Praxis, die ohne Schriftkultur nicht
möglich ist, ist ebenso befremdlich, wie sie in unterschiedlichen Gesellschaften Parallelen hat.
Auch die arabische Hochkultur, die nicht zu trennen ist von der Schaffung einer arabischen
Schriftsprache, dem sog. "Klassischen Arabischen" im 8. – 9. Jhd. (durch Sibawayh u.a.),
spiegelte sich in dieser Imago, bei der jeder Grammatiker einen analphabeten Gewährsmann
(Beduinen) als Garanten für seinen Normierungsvorschlag einführen mußte – und das Modell
für die klassische Sprache schlechthin, der Koran, als mündliche Offenbarung des Propheten
galt, der sich als Analphabeten inszenierte. Eine ganz andere Konzeption findet sich bei der
chinesischen Hochkultur, die explizit auf eine Schriftsprache gegründet ist.
Literat und orat. Grundbegriffe
121
______________________________________________________________________
gefaßt wurde (mit der leitenden Frage nach dem falschen Bild …). Aber neben diesem
Diskurs stand ein anderer: der der systematischen Reflexion in der Philosophie:
einerseits der Naturphilosophie, die der Sprache als den Voraussetzungen der conditio
humana nachging, die biologischen Voraussetzungen damit immer auch im Lichte
des dadurch möglich Gemachten betrachtete, andererseits den Grundstrukturen des
Denkens, das in der Sprache eine Form fand, um Sachverhalte zu klären, die ohne
diese Form nicht zugänglich waren (bei denen die Frage der mimesis sich nicht stellt).
Mit der systematischen Entwicklung der Logik kamen früh auch schon die
sprachspezifischen Schranken für diese kognitive Arbeit in den Blick – und die
Bemühungen zu ihrer Überwindung in Formen der Symbolisierung, für die die
schriftliche Fixierung eine notwendige erste Stufe bildete. In diesem Diskurs macht
die Auszeichnung des Mündlichen keinen Sinn.
Dabei war mit dem aristotelischen Werk (insbesondere seinen "Analytica")
schon in der Antike ein Lehrkanon vorgegeben, an dem sich jede systematisch
intendierte Reflexion seitdem messen lassen muß. Das war auch bis zum Anfang des
vorigen Jahrhunderts akademischer Konsens, ist aber inzwischen außer Mode
gekommen, wie die üblichen Konfusionen zeigen, die inzwischen auch die modernen
Übersetzungen der aristotelischen Texte prägen.
Bei Aristoteles, den nicht nur das europäische Mittelalter sondern z.B. auch das
muslimische nur als den Philosophen anführte bzw. benannte, sind die im
Vorausgehenden anvisierten Verhältnisse schon ausgesprochen klar formuliert –
erschreckend klar, muß man sagen, wenn man sich die spätere Konfusion ansieht.
Bei ihm findet sich schon eine systematische Reflexion auf das Verhältnis von
geschriebener zu gesprochener Sprache, wenn es z.B. heißt:
ἔστι µὲν οὖν τὰ ἐν τῇ φωνῇ τῶν ἐν τῇ ψυχῇ παθηµάτων σύµβολα, καὶ τὰ
γραφόµενα τῶν ἐν τῇ φωνῇ (de interpretatione, 16a 3 – 4)
esti
ist
men
aber
patheematoon
Empfundenen
oun
nun
ta
die
sumbola
Symbole
en
in
teei
der
kai
und
ta
die
phooneei
Stimme
toon
der
graphomena
Geschriebenen
toon
der
en
in
teei
der
en teei
in der
psucheei
Seele
phooneei
Stimme
"es ist aber das, was in der Stimme enthalten ist, ein Symbol für das, was im
Verstand wahrgenommen wird, – und das Geschriebene ist ein Symbol für das, was
in der Stimme enthalten ist"
Den entscheidenden Punkt habe ich hervorgehoben: das ist keine naturalistische
Konzeption, die gesprochene Sprache in die geschriebene abbildet; heute würden wir
sagen: es handelt sich um eine kognitivistische Modellierung (s. I.2.). Bezugsgröße für
die Analyse sind die kognitiven Operationen: das, was im Verstand vorhanden ist,
nicht die Beobachtungsdaten (mündlich oder schriftlich): es geht um das, was in dem
Lautlichen (der "Stimme") enthalten ist, in diesem einen Ausdruck findet – und
indirekt dann auch in der Schrift. Lautliches und Schrift stehen nebeneinander als
unterschiedliche Ausdrucksformen ggf. des gleichen kognitiven Inhalts.
122
Utz Maas
______________________________________________________________________
Den Hintergrund für diese Bestimmung bildet das Konzept der notwendigen
Artikulation alles dessen, was kognitiv zugänglich bzw. bearbeitbar sein soll:
Artikulation (oder wie es früher gelegentlich auch eingedeutscht wurde:
94
"Gliederung") ist die von kognitiven Operationen vorausgesetzte Formgebung.
Diese über 2000 Jahre alten Grundbestimmungen können uns nach wie vor als
Ausgangspunkt für eine sprachtheoretische Fundierung dienen: Gegenstand ist nicht
die gesprochene Sprache, wie es auch nicht die geschriebene ist. Den medialen
Differenzen sind die darin ausgedrückten Strukturen (weniger objektivierend: das
Wissen um diese Strukturen) gegenüberzustellen – also das Konzept, das ich oben in
(I.2.) entwickelt habe; schematisch:
In einer solchen Modellierung lassen sich auch Praktiken wie die von Tülay (I.1.)
fassen: ein solches Wissen steuert ihren editorischen Umgang mit der eigenen
mündlichen Erzählung.
2. Die institutionalisierte Sprachreflexion
Die so tradierten Einsichten wurden aber überdeckt von den Mechanismen, die die
institutionelle Ausdifferenzierung der Sprachwissenschaft bestimmt haben (daher
fielen sie später unter eine fachgeschichtliche Amnesie). Die institutionalisierte
Sprachreflexion steht in der Tradition der Schule: orientiert auf den Kanon der
schriftlich tradierten (vor allem auch religiösen) Texte und der Vermittlung der
(fremden) Sprache, in der diese verfaßt sind – und darauf bezogen: in der auch die
gesellschaftliche Geschäftsführung artikuliert ist. Schule muß(te) den Zugang zu
dieser Schriftkultur herstellen: in unserer europäischen Gesellschaft bis ins hohe
Mittelalter war das eine Sache einer kleinen professionellen Schicht (den litterati),
mit der Demotisierung der Schriftkultur in der bürgerlichen Gesellschaft wurde es
eine Sache aller, der die Volksschule dienen sollte. Die traditionelle
Sprachwissenschaft war auf diese Konstellation ausgerichtet: Sprachreflexion war
94
Dieses Konzept und auch die Terminologie bestimmten insbesondere auch die neuzeitlichen
Bemühungen um eine Sprachtheorie, etwa bei Humboldt. Das wird bei diesem gerade auch da
deutlich, wo er von Fragen der Lautstruktur handelt, vgl. z.B. in seiner nachgelassenen Arbeit
"Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues" (1827-29: 192): "Die Articulation
beruht auf der Gewalt des Geistes über die Sprachwerkzeuge, sie zu einer Behandlung des
Tons zu nöthigen, welche der Form seines Wirkens entspricht". Der kritische Punkt war für
Humboldt aber der Rückkoppelungseffekt dieser artikulatorischen Bindung: die Fähigkeit zur
Artikulation wird mit einer jeweils bestimmten Sprache gelernt, ist also in gewisser Weise
auch sprachgebunden.
Literat und orat. Grundbegriffe
123
______________________________________________________________________
Philologie, die Bewahrung der schriftlichen Tradition – auf der elementaren Ebene
auch die Reflexion auf den Zugang zur Schrift: Phonologie als Reflexion auf die
Bedingungen in der gesprochenen Sprache, in denen die kognitiven Strukturen der
Schrift zu verankern waren (so wurden die Phoneme in der mittelalterlichen
Lateinschule definiert als dasjenige im Lautlichen, also einem physikalischen
Gegenstand, was geschrieben werden kann [quae scribi potest], s. Maas 1986).
Grammatik war, wie schon der Terminus zeigt, das Wissen darum, wie man schreibt
(gr. gramma, Gen. grammat-os "Geschriebenes" < graph-ma zu graphein
"schreiben").
Weitergeführt wurde diese Konzeptualisierung im Wissenschaftsbetrieb der
95
europäischen Neuzeit in den philologischen Disziplinen. Diese schlossen mit dem
Kern bei der Klassischen Philologie in ihrem Lehrgebäude bei dem an, was von der
Antike überliefert war, wozu nicht nur die sprachtheoretische Reflexion (die
grammatica speculativa der Philosophen) gehört, sondern vor allem auch die
Rhetorik, die bereits ein differenziertes Begriffssystem für die Analyse der
Sprachpraxis entwickelt hatte, zu dem insbesondere die Differenzierung von
verschiedenen Sprachregistern gehörte. In diesem Rahmen wurden selbstverständlich
auch die Unterschiede gesprochener und geschriebener Sprache reflektiert, wobei in
der klassischen Rhetorik (quasi kanonisiert in Quintilians Institutio oratoria) die
Schrift in einer hierarchisch verstandenen Vorstellung von der Registervariation der
virtuosen mündlichen Praxis untergeordnet war (bei Quintilian dient das Schreiben
technisch der Vorbereitung einer Rede). Die Registervariation gehörte so immer
schon zu den Grundbegriffen der Sprachreflexion – in der universitären Philologie
und grundlegender noch: auf dem humanistischen Gymnasium. Praktisch im
Curriculum umgesetzt wurde diese Reflexion in dem, was den Kern der sprachlichen
Ausbildung auf der Schule wie der Universität ausmachte: die Stilanalyse
(gewissermaßen kanonisch so bei Boeckh 1877).
Diese Konstellation änderte sich im letzten Drittel des 19. Jhds. mit dem Ausbau
der philologischen Seminare und ihrer Indienstnahme für die (gymnasiale)
Lehrerausbildung. Die unmittelbare Folge war eine erhebliche Erweiterung des
Lehrpersonals und damit verbunden dessen neu zu definierende Arbeitsteilung, auf
die die junge Trennung von Literatur- vs. Sprachwissenschaft zurückgeht. Die
Ausdifferenzierung der neueren Sprachwissenschaft war verbunden mit der
Reklamation eines eigenen Gegenstandes, mit dem die Sprachwissenschaft aus dem
Dienstbotentrakt der Philologien herausgeführt werden sollte: die nicht-normierte
(Umgangs-) Sprache, die im Sinne des damaligen (und heutigen!) Positivismus als
natürlich angesprochen und damit einer systematischen Modellierung zugänglich
wurde (damals sagte man meist noch Organismus statt System). Die Konsequenz
davon war (und ist!), daß im sprachwissenschaftlichen main stream die gesprochene
Sprache als ganz anders verstanden wird – wie es um die Wende vom 19. zum 20.
95
Außereuropäische Traditionen, etwa in China, sind in ihren Besonderheiten zu analysieren –
was hier ausgeklammert wird. Grundsätzlich gilt aber auch dort Analoges, da überall
Sprachreflexion an die Bewahrung einer schriftlichen Tradition gebunden ist. Hinzu kommt,
daß auch in der Frühzeit kulturelle Wechselbeziehungen selbstverständlich waren, z.B. die
Rezeption der griechischen Tradition im arabischen Raum ...
124
Utz Maas
______________________________________________________________________
Jhd. in zahllosen programmatischen Schriften junggrammatischer Observanz
nachzulesen ist (z.B. neuerdings wieder gerne zitiert Behaghel 1899). Ihre Analyse
soll sich vom Blick auf die geschriebene Sprache frei machen.
Für die empirische Umsetzung ergaben sich allerdings praktische Barrieren. Die
neue Grundlagendisziplin Phonetik war, soweit sie apparativ betrieben wurde, mit
einer erheblichen Einschränkung des Gegenstandsbereichs verbunden: in der Regel
isolierte Worte, die unter Bedingungen einer mittelalterlichen Folterapparatur im
Labor zu produzieren waren – weshalb es eine Gegenreaktion im Insistieren auf einer
"Ohrenphonetik" gab (E.Sievers), die auch schon Fragen der Registerdifferenzierung
nachging (sog. Satzphonetik, Reduktionsformen in Allegrosprechweise ... wie bei dem
Sievers-Schüler J.Winteler u.a.). Das war die Domäne der neueren Mundartforschung
und ihrem Äquivalent in der Feldforschung in exotischen Regionen, bei denen
ohnehin Sprachen untersucht wurden, die nicht verschriftet waren (in den Kolonien,
früh auch schon mit dem Blick auf die Diglossie jenseits der etablierten
Schriftsprachen wie in der arabischen Welt (wobei der Sachverhalt im Sinne der
traditionellen Registerdifferenzierung ohnehin nicht neu zu entdecken war).
Im Sinne des kanonischen junggrammatischen Handwerks war dabei der
methodische Horizont die Morphologie: das Wort war die genuine Domäne der
Analyse,
die
Syntax
wurde
eher
sekundär
als
Kontrolle
der
Vorkommensbedingungen von Wortformen verstanden. Das markierte denn auch die
Trennlinie zur traditionellen Philologie, die auf die überlieferten Texte ausgerichtet
war und insofern ein umfassendes sprachwissenschaftliches Gegenstandsverständnis
hatte (das etwa dem entspricht, was heute "Diskursanalyse" heißt). Darauf reagierte
zu Beginn des 20. Jhds. eine breite Front der Jüngeren, die sich emphatisch auch
Neu-Philologen nannten und das umfassende Konzept der Stilanalyse auch für die
gesprochene Sprache angingen.
Gerade auch im Kielwasser der strukturalen Neuformulierung des
sprachwissenschaftlichen Unternehmens in der ersten Hälfte des 20. Jhds. waren
diese Fragen dominant. Das gilt z.B. für den Saussure-Schüler Charles Bally, der sich
schwerpunktmäßig hier engagierte, und für dessen Arbeiten der Unterschied der
"Sprache fürs Ohr" und der "Sprache fürs Auge" zentral ist. Insofern lohnt bei ihm
eine neue Lektüre (etwa Bally 1932). Ähnliches gilt für die Arbeiten des Prager
Linguistenkreises (Mathesius, Vachek u.a.), die ganz selbstverständlich eine
strukturale Analyse als Instrument in ihrem umfassenden Versuch einer Analyse und
96
Modellierung der Sprachkultur ansahen.
Ein Problem für diese frühen Arbeiten war allerdings die empirische Datenbasis:
Bis neuere Dokumentationstechniken verfügbar wurden, konnten sich solche
Arbeiten praktisch nur auf die Analyse inszenierter Mündlichkeit stützen. So gibt es
eine ganze Reihe von deskriptiven Arbeiten seit dem Ende des 19. Jhds., die explizit
die Umgangssprache im Deutschen, Italienischen, Spanischen ... auf dem Titel haben,
in der Sache aber (gedruckte) Theaterstücke analysieren (etwa Wunderlich 1894,
Spitzer 1922 u.a.). So eingeschränkt aber der empirische Zugang bei diesen älteren
96
Eine Bibliographie würde hier zu weit führen. Sie erübrigt sich aber auch, da sie anderswo
leicht zu finden ist.
Literat und orat. Grundbegriffe
125
______________________________________________________________________
Arbeiten auch war – sie waren bestimmt von einem relativ klaren
Gegenstandsverständnis, das Sprache nicht als homogenen Gegenstand hypostasierte.
Insofern war es für die Altvorderen vor 100 Jahren auch selbstverständlich, daß der
traditionelle Satzbegriff nicht ohne weiteres zur Beschreibung der Verhältnisse der
gesprochenen Sprache taugt – sie steckten ihn denn auch dahin, woher er stammt: in
die Reflexion auf schriftsprachliche (literate) Strukturen.
Die disziplinäre Dynamik, mit der sich seit dem Ende des 19. Jhds. eine
professionelle Sprachwissenschaft herausbildete, hat diese konzeptuelle Klarheit
weitgehend wieder zugedeckt. Mit der Emphase auf einem genuinen (eigenen)
Gegenstand der Sprachwissenschaft in Abgrenzung zur Philologie wurde der Blick
auf die konstitutiven Bedingungen dieses Gegenstands in der Sprachpraxis
zunehmend versperrt. Das war im übrigen noch weniger bei den operational
verfahrenden (frühen) Strukturalisten der Fall als bei den jüngeren Spielarten:
Bloomfield operierte mit der sehr viel offeneren Kategorie einer Konstruktion und
nahm Satz als problematische Kategorie, die eben durch den operationalen Begriff
der Konstruktion zu definieren ist (besonders deutlich Bloomfield 1926). Als mit der
Generativen Grammatik die formale (zunächst ja explizit automatentheoretisch
konzipierte) Modellierung in den Vordergrund rückte, wurde der Status der
analysierten Sprachformen (also der Horizont der Registervariation) uninteressant:
die bearbeiteten Formen wurden zu reinem Spielmaterial degradiert. Faktisch wurde
auf schulgrammatische Konzepte zurückgegriffen (angefangen bei dem
Grundkonzept Satz), wie ja auch die Beispiele ganz naiv einfach hingeschrieben (und
dann elektronisch weiterverarbeitet) wurden. Unterschwellig trat damit eine erneute
Naturalisierung des Gegenstands auf den Plan: Das schriftsprachliche (schulisch
vorgegebene) Sprachverständnis wurde unter der Hand zur zweiten Natur.
Eine praktische Folge davon war auch die zunehmende Subsumption der
Sprachwissenschaft unter die Psychologie, die gewissermaßen eine "natürliche"
Konzeptualisierung sicherstellen sollte – die sich in dem heute dominierenden
kognitionswissenschaftlichen Selbstverständnis fortsetzt (bei den Chomskyanern
sogar explizit als Biolinguistik reklamiert). Die theoretisch mißliche Folge davon ist,
daß auf diese Weise die methodologische / theoretische Grundlagenreflexion der
Tradition verdrängt wurde – und zwar gerade auch die, die eng mit den Anfängen
der Kognitiven Psychologie verbunden war (s.o. zu Karl Bühler). Der sich selbst
gerne auch so bezeichnende "harte Kern" der neueren Sprachwissenschaft reduziert
seinen Gegenstand denn auch auf die sprachlichen Aspekte, die gewissermaßen als
Software unserer biologischen (neurologischen) Hardware zu verstehen sind – er
betreibt also eine enggeführte Grammatiktheorie.
Gerade weil die grundlegenden Fragen bei dieser disziplinären Entwicklung
ausgeblendet wurden, werden bis in die jüngsten Entwicklungen ungeklärte
Prämissen mitgeschleppt. Eine solche Prämisse verbindet sich mit der prozeduralen
97
Modellierung, die die generative Tradition von Anfang an prägte. Die Plausibilität
dieser Konzeption, auch in den heutigen "minimalistischen" Versionen, rührt von
97
In den Anfangsjahren der "Transformationsgrammatik" versuchte man sogar, den Zeitbedarf
für die Transformationen zu messen.
126
Utz Maas
______________________________________________________________________
ihrer anschaulichen Entsprechung zur Praxis des Schulunterrichts her: der
Standardaufgabe des elementaren Aufsatzunterrichts, aus einem stereotyp reihenden
Text durch die Integration der einfachen Sätze in komplexe Satzgefüge einen
"literaten" Text zu machen. Das grammatiktheoretische Grundkonzept ist daher die
Integration von elementaren in komplexe Strukturen. Das ist auch die
Argumentationslinie in (II.2.), für die auch der Begriff der syntaktischen Integration
grundlegend war.
Dabei ist allerdings Integration ein rein struktureller Begriff, der seinerseits in
den Strukturen gründet, die eine solche Integration zulassen. Das ist zu unterscheiden
von der empirischen Frage an die Sprachpraxis, wie die komplexeren Strukturen
erlernt (oder in actu praktiziert) werden. Daß komplexe Strukturen nicht auf die
Genese komplexer Äußerungen (also ggf. eine prozedurale Integration) reduziert
werden können, von dieser vielmehr vorausgesetzt werden, war das Grundaxiom für
die grammatiktheoretische Diskussion um die Wende des 19. zum 20. Jhd., auf der
98
Bühler seine Überlegungen gründete. Das Symbolfeld (nicht anders als die
Saussuresche Zeichentheorie) hat keine zeitliche Dimension. Seine Strukturen
entstehen im Sinne der angesprochenen Grundlagendiskussion von vor 100 Jahren
nicht in einem Lernprozeß, sondern sie werden entdeckt.
Insofern sind Fragen des Spracherwerbs und der Sprachpraxis (mit all ihren
pathologischen Erscheinungen) von der Klärung von Strukturproblemen zu
unterscheiden – und insoweit steht Chomsky in dieser Reflexionstradition. Aber auch
wenn man die notorischen Probleme der skalaren Akzeptabilität von Äußerungen
ausblendet, ist die Modellierung nicht auf einfache kategorische Aussagen reduziert –
hier stellen sich ähnliche Probleme, wie sie auch in der gestalttheoretischen
Grundlagendiskussion mit "flauen Gestalten" verhandelt wurden (werden), s. (I.5.): da
die syntaktischen Strukturen in einem mehrdimensionalen Raum unterschiedlicher
syntaktischer Parameter definiert sind, ist die Frage der "Integration" jenseits eines
harten syntaktischen Kerns skalar zu fassen: die Integration in einen Satz kann eben
auch durch (Ad-) Junktion erfolgen, ohne daß eine syntaktische Variable der
Kernstruktur ausgebaut würde, wie es ja auch den Ausdifferenzierungen in (II.2.)
99
entspricht.
Gibt es insoweit auch direkte Entsprechungen der hier versuchten
Argumentation zu dem, was in der derzeitigen Grammatikforschung diskutiert wird,
so liegt ein grundlegender Unterschied auf der Hand: die hier behandelten Fragen
98
Es ist hier nicht der Ort, diese Diskussionen im einzelnen nachzuzeichnen. Es war eine breite
Diskussion, die sich (schon damals!) gegen den endemischen Psychologismus in der
Sprachreflexion verwahrte. Einer der wichtigsten Vertreter war Edmund Husserl, dessen
Arbeiten ihre Spuren in den verschiedenen strukturalistischen Spielarten des frühen 20. Jhds.
hinterlassen haben. Auch die Saussuresche Grundlagenreflexion ist in diesem Zusammenhang
zu sehen.
99
Das wird z.B. in den jüngeren Arbeiten zur Syntax des Deutschen (auch in diachroner Sicht)
mit einem relativ offenen Feld mit strikter Subordination und loser Koordination diskutiert,
wobei Wortstellungsfragen, klammernde Elemente (Korrelate, ana- bzw. kataphorische
Elemente), unabhängige informationsstrukturelle Domänen, in der gesprochenen Sprache
prosodische Strukturen u.dgl. diskutiert werden; für einen Überblick über die Diskussion s. z.B.
Ehrich (2009) mit reichen Literaturverweisen.
Literat und orat. Grundbegriffe
127
______________________________________________________________________
stehen gewissermaßen quer zu dem, was in der grammatiktheoretisch orientierten
Diskussion infrage steht; sie gehen von den beobachtbaren sprachlichen Praktiken
aus, bei denen die formalen Ressourcen (und ihre grammatiktheoretische
Modellierung) instrumentell sind. Damit gehören sie zu dem breiten Feld von
empirisch orientierten, aber theoretisch kontrollierten Ansätzen, die die Dynamik des
gegenwärtigen Faches bestimmen (vgl. etwa auch die neueren Arbeiten zum
Codeswitchen bzw. generell zur Mehrsprachigkeit).
3. Semiotische Modellierung
3.1. Um die Wende vom 19. / 20. Jhd. gab es in Reaktion auf die positivistische
Herausforderung, die die Sprache auf vor- bzw. außersprachliche Erscheinungen
reduzieren wollte (nicht nur, aber insbesondere in der damals jungen experimentellen
Psychologie)
eine
ganze
Reihe
theoretischer
Bemühungen,
die
sprachwissenschaftlichen Grundlagen in einem semiotischen Bezugsrahmen zu
100
klären, wofür meist Saussure angeführt wird.
Diese fachgeschichtlichen
Zusammenhänge brauchen hier nicht nachgezeichnet zu werden.
Hinzuweisen ist allerdings auf Karl Bühler, der mit anderen theoretischen
Prämissen diese Reflexion aufrollte: denen der damals jungen kognitiven
Psychologie. Sein Grundkonzept des Symbolfelds ist für die Argumentation hier
grundlegend (s. schon II.1.). In seiner "Sprachtheorie" (1934) macht Bühler den damals
vor allem in der Gestaltpsychologie entwickelten Feldbegriff nutzbar, der auch hinter
den früheren semiotischen Reflexionen bei Saussure u.a. stand, und entwickelt das
Konzept eines Symbolfeldes, das mit sprachlichen (symbolischen) Mitteln
aufgespannt wird: sprachliche Handlungen nutzen dieses Symbolfeld in
unterschiedlichem Maße – abhängig davon, wieweit sie kommunikativ artikuliert
sind, also als Momente einer situativ bestimmten Interaktion (Bühler spricht von
empraktischen Äußerungen, die auch in der Form eine Funktion der
Äußerungssituation sind und daher die Strukturen des Symbolfelds nur wenig nutzen
[müssen]).
Bühler entwickelte diese Konzeptualisierung in einer (onto- wie phylo-)
genetischen Sichtweise. Das Symbolfeld wird als eine weitere Stufe symbolischer
Praxis von einer einfacheren aus gebootet: mit strukturell den gleichen Mitteln, die
auch die Verweismöglichkeiten im Zeigfeld (im Umgang mit der äußeren Situation)
zu bewerkstelligen erlauben: anaphorische Beziehungen operieren eben im Text
(siehe oben ...) – mit den Mitteln, die eine Deixis in der Situation erlauben (diachron
daher auch die plausible Herleitung von anaphorischen Pronomina,
Definitheitsmarkierungen u.dgl. aus deiktischen Elementen). Die grammatischen
Strukturen (Kontrollbeziehungen zwischen Sätzen) werden so verständlich als
100
Der wirkungsmächtige "Cours", den Saussures Schüler posthum veröffentlichten, zeigt die
Radikalität von dessen Versuch nur sehr eingeschränkt, weil zu offensichtlich um didaktische
Anschaulichkeit bemüht. Daß es Saussure um eine Modellierung von Sprache als einem
Phänomen sui generis ging, wird aus seinen inzwischen wieder aufgetauchten Manuskripten
ersichtlich, s. Bouquet / R.Engler (2002).
128
Utz Maas
______________________________________________________________________
Umnutzung situativ-gebundener Ressourcen (in Bühlers Redeweise von der deixis ad
oculos zur deixis ad phantasma).
Vor allem die Schriftsprache erlaubt es, die Potentiale des Symbolfelds ganz
auszureizen, weil sie im Grenzfall den situativen Kontext der Produktion der
Äußerung ganz ausblendet und damit vollständig auf die Ressourcen des Symbolfelds
setzt. Der Rang von Bühlers Unternehmung ist dadurch gegeben, daß er seine
Modellierung bis zur Entwicklung der einzelnen grammatischen Kategorien
durchzieht – und so zu einer differenzierten Grammatiktheorie kommt, bei der Satz
eben keine kommunikative Grundkategorie ist, sondern als "geschlossenes und
wohlbesetztes Symbolfeld" den Extrempol sprachlicher Artikulation bezeichnet, mit
dem die Potentiale der symbolischen Praxis ausgereizt werden. Daran schließt die
Skizze analytischer Grundbegriffe in (II.2.) an.
3.2. Bühler entwickelte seine Überlegungen im Rahmen der frühen kognitiven
Psychologie. Ein Gegenstück haben sie in den frühen Versuchen, sprachtheoretische
Grundlagen aus den Erfahrungen ethnographischer Forschungspraxis zu entwickeln.
Dafür steht vor allem Malinowski (1923). Bei ihm findet sich eine systematische
funktionale Modellierung, bei der er verschiedene Dimensionen der Sprachpraxis
trennt: die situativ eingebundene des sprachlichen Handelns (mit Bühler als
empraktische Dimension zu bezeichnen) gegenüber der konzeptuellen,
repräsentativen Dimension, die an die symbolische Artikulation gebunden ist.
Empirische sprachliche Akte sind in dem von diesen Dimensionen aufgespannten
Feld definiert:
Die Pfeile deuten an, was bei Malinowski als skalare Charakterisierung angesprochen
ist: bei jeder Äußerung ist es eine Frage des Mehr oder Weniger der Spezifizierung
auf jeder dieser beiden Dimensionen. Entsprechend seinem Gegenstand in engerem
Sinne ("primitive" = nicht-verschriftete Sprachen) kommt Schrift bei Malinowski
nicht vor. Seine Überlegungen lassen sich aber generalisieren, wenn man das in den
Blick nimmt, was er als Grenzfälle definiert, bei denen eine Dimension
gewissermaßen auf 0 gesetzt wird:
• [repräsentativ: 0] kommunikative Interaktionen, die sich in der sozialen
Praxis erschöpfen,
• [empraktisch: 0] sprachlich artikulierte reflexive Akte.
Bei [repräsentativ: 0] betrachtet er besonders diejenigen Akte, bei denen die
konkreten Handlungen durchaus eine sprachliche (konventionelle) Form haben, die
Literat und orat. Grundbegriffe
129
______________________________________________________________________
aber nicht in ihrer repräsentativen (semantischen) Funktion genutzt wird: im mehr
oder weniger ritualisierten Austausch sprachlicher Formeln – von ihm phatische
Kommunikation genannt. Im Bühlerschen Sinne werden bei der phatischen
Kommunikation zwar Formen einer Sprache genutzt, aber deren symbolische
Potentiale (die des Symbolfelds) werden nicht genutzt. Der Gegenpol
[empraktisch: 0] definiert gewissermaßen den "Prototyp" literater Praktiken: mit
einem Maximum auf der repräsentativen Dimension: [repräsentativ: MAX] reizen sie
die Ressourcen des Symbolfelds aus.
Für die jüngere sprachwissenschaftliche Diskussion ist Malinowskis
Modellierung vor allem durch Roman Jakobson (1960) einflußreich geworden, der an
sie (und vor allem auch an Bühler) direkt anknüpfte. Daran schließe ich in meinem
Buch (2008a) explizit an, indem ich diese Modellierung als Basis für ein dynamisches
Verständnis der Sprachpraxis nehme (die Dimension des Sprachausbaus): orate
Strukturen sind solche, die kommunikativ gebunden sind ([empraktisch: MAX]),
literate Strukturen solche, die im bühlerschen Sinne das Symbolfeld ausreizen
([repräsentativ: MAX]). Das (ausgereizte) Symbolfeld entspricht der maximalen
Dezentrierung der Sprachpraxis: bei ihr löst sich die sprachliche Artikulation von der
Mitteilung an ein konkretes Gegenüber (also ([empraktisch / kommunikativ: 0]). Falls
man überhaupt noch an der kommunikativen Konzeptualisierung festhalten will,
stellt eine literate Äußerung auf ein generalisiertes Gegenüber ab (s. I): sie kann also
keine spezifischen (zwischen Sprecher und Hörer geteilten) Voraussetzungen machen
– außer eben denjenigen, die mit der sprachlichen (grammatischen) Form verbunden
sind.
3.3. Mit einer solchen Modellierung ist zunächst einmal ein Wechsel in der
Perspektive gegenüber dem dominierenden deskriptiven Reflexionsstrang der
Sprachwissenschaft verbunden: nicht die formalen Indikatoren (der gesprochenen /
geschriebenen Sprache) bilden den Fixpunkt, sondern die Art der sprachlichen Praxis,
die allerdings mit solchen Formen artikuliert wird – daher eben orat / literat und
nicht gesprochen / geschrieben.
4. Grundbegriffe der Analyse der sprachlichen
Form (Grammatik)
4.1. Auch für die Formanalyse ist an die ältere Tradition anzuschließen, die schon
versuchte, allgemeine Analyse-Kategorien jenseits der Ausdifferenzierung in orat /
literat zu finden, nicht zuletzt auch in dem Bemühen, die Fesseln der
schulgrammatischen Begrifflichkeit abzulegen. Das gilt insbesondere für Otto
101
Jespersen, auf dessen Arbeiten ich oben schon in (II.2.) hingewiesen hatte.
101
Die schon angesprochene Anlehnung an Jespersen ist in neueren typologisch orientierten
Arbeiten ein Topos. So finden sich die Kategorien Nexus und Junktion insbesondere auch bei
Foley / van Valin (1984); weitergeführt in Robert van Valins Role and Reference Grammar
(1997), wo diese Termini allerdings formaler gehandhabt werden: mit Junktion wird dort jede
Verzweigung eines Nexusknoten bezeichnet, auch da, wo sie im semantischen Sinne nicht als
130
Utz Maas
______________________________________________________________________
Jespersen (1924, 1937) entwickelte die syntaktischen Strukturen in zwei Dimensionen:
der Integration (bei ihm Nexus) und der Anreicherung (bei ihm Junktion), die denn
auch in den jüngeren typologisch orientierten Arbeiten aufgenommen worden sind.
Das Feld syntaktischer Strukturen bei Otto Jespersen
Im europäischen typologischen Forschungskontext (weniger im US-amerikanischen
bzw. englischsprachigen) ist es auch üblich, an diese Traditionen anzuschließen. Eine
wichtige Arbeit hat in diesem Sinne Wolfgang Raible (1992) vorgelegt, der mit seinen
Grundbegriffen Aggregation und Integration recht gut greifbar macht, was in der
Mündlichkeit / Schriftlichkeits-Diskussion als orate Fragmentierung vs. literate
Integration von Texten bzw. Textsegmenten ("Sätzen", s.o.) angesprochen wird – bei
ihm exemplifiziert in den romanischen Sprachen (vor allem auch Kreol-Sprachen). In
dem von Raible geleiteten früheren Freiburger Sonderforschungsbereich über
Schriftlichkeit waren viele der sprachwissenschaftlichen Arbeiten im engeren Sinne
102
an diesen Konzepten orientiert. Diese Differenzierungen sind auf Grundstrukturen
des Sprachbaus zu beziehen, die dem literaten Ausbau unterschiedliche Schranken
entgegenstellen können. Pionierarbeit hat hier D.Biber mit seinem Buch (1995)
geleistet, auf das oben schon hingewiesen wurde.
4.2. Die Konzeptionen von literaten Strukturen sind in der Diskussion zumeist an den
klassischen Schulsprachen ausgerichtet, bei denen eine reiche / fusionierende
Morphologie, die prominent auf das komplexe Wort ausgerichtet ist, mit einem tief
"verschachtelnden" Satz- (bzw. Perioden-, s.o.) Bau zusammengeht. Damit werden
offensichtlich große Barrieren für den Sprachausbau in den formellen Registern
aufgebaut, die in vielen solcher Sprachen auch mit einer als Diglossie
angesprochenen sprachsoziologischen Konstellation zusammengehen (nicht nur im
Arabischen, wo das ausgiebig beschrieben ist) – in diesen Sprachen sind die
Strukturen im informellen Register entsprechend sehr anders. Traditionell schon viel
diskutiert (s.o. zu Bally) sind hier die Verhältnisse im Französischen, wo in der
strukturalistischen Diskussion auch zwei (typologisch verschiedene) Sprachen für das
informationelle Anreicherung verstanden werden kann wie z.B. bei komplexen
Prädikatsstrukturen ("nuclear junction"), die ggf. lexikalisiert oder doch grammatikalisiert sein
können (Kausative wie laufen lassen, Resultative wie aufmachen u.dgl.). Ich halte mich hier an
Jespersens Konzept.
102
S. die von Raible seit 1987 hg. Reihe ScriptOralia (Tübingen: Narr Verlag).
Literat und orat. Grundbegriffe
131
______________________________________________________________________
gesprochene und das geschriebene Französische postuliert wurden. Bei einem
anderen Sprachbau ist der Registerwechsel, d.h. der Ausbau zur Artikulation
formaler, maximal integrierter und verdichteter Strukturen, offensichtlich sehr viel
durchlässiger, s. oben Biber (1995) und in Maas (2008b) die Hinweise zum
Mongolischen und Mandarin.
4.3. Einen neuen Ansatzpunkt bieten hier die typologischen Arbeiten zur Fundierung
der grammatischen Kategorien, vor allem die Diskussion um Finitheit, die auch oben
in (II.2.) zugrundegelegt wurde. Unterscheidet man semantische Finitheit, mit der
eine Äußerung interpretierbar wird, von den sprachspezifischen grammatischen
Markierungen der Finitheit (und damit der ebenfalls sprachspezifischen Frage,
welche semantischen Bestimmungen in einer Sprache grammatisiert sind), ergeben
sich ganz neue Fragestellungen auch für die Differenzierung von orat / literat. Für
ostasiatische Sprachen ist es charakteristisch, daß selbständige Äußerungen im
sozialen Beziehungsfeld spezifiziert werden (davon meist herausgegriffen und häufig
diskutiert die Dimension der Respektmarkierungen). In Sprachen wie Chinesisch,
Koreanisch, Japanisch u.a. dienen dazu mehr oder weniger agglutinierte / klitisierte
Partikeln, besonders sogenannte "Satzabschlußelemente", die den selbständigen Satz
markieren (im Gegensatz zu abhängigen Propositionen).
Ein besonders differenziertes und strikt grammatikalisiertes System weist das
Koreanische auf, das solche (Respekt-) Markierungen auf zwei Ebenen hat: auf der
propositionalen Ebene als Kongruenzmarkierung von Subjekt und Prädikat (auch in
der abhängigen Proposition), sowie auf der Satzebene als Markierung des
Verhältnisses zum Angesprochenen (mittels eines Satzabschlußelementes, ggf. als
Markierung der Integration des komplexen Satzes). Gleichzeitig ist diese
Respektmarkierung dort die einzige obligatorische grammatische Markierung des
Satzes (es gibt keine Personmarkierung am Prädikat und z.B. auch keine
Tempusmarkierungen) – insofern kann man im Koreanischen Finitheit über die
Respektmarkierung definieren. Nun sind solche Respektmarkierungen aber nur in
Hinblick auf eine gegebene soziale (Gesprächs-) Situation definiert – sie sind also per
definition nicht literat, weil sie nicht auf ein generalisiertes Gegenüber abstellen. Das
führt zu einem Dilemma, das aus der Sicht der Literalitätsdiskussion in den
europäischen Sprachen paradox erscheint: die maximale grammatische
Spezifizierung in diesen Sprachen ist mit der Artikulation literater Texte
unverträglich. Tatsächlich sind im literaten Koreanisch (berichtende Passagen in
Tageszeitungen u.dgl.) die paradigmatischen Oppositionen bei diesen (Adressaten-)
103
Respektmarkierungen neutralisiert.
Hier zeigt sich ein grundlegendes Problem, das hinter dem derzeitigen Fokus auf
der Beschreibung kleiner (bedrohter) Sprachgemeinschaften sichtbar wird: die dort
dominante Grammatisierung von kommunikativen Strukturen, die auch nicht den
Charakter von Schaltern in der Sprachstruktur zur Verankerung ihrer Interpretation
haben (s. II.2.). Die neuere typologische Diskussion erweitert durch solche
103
Das hat Yousik Moon in seiner MA Arbeit (2007) gezeigt; s. auch das dem Koreanischen
gewidmete Kapitel in Biber (1995).
132
Utz Maas
______________________________________________________________________
Beschreibungen kontinuierlich ihren Horizont der möglichen Grammatisierungen –
wobei die Vereinigungsmenge aller in einer dieser Sprachen grammatisierten
Faktoren so etwas wie ein deskriptives Inventar für Grammatikanalysen liefert,
demgegenüber die schulgrammatisch gesetzten Vorgaben zunehmend blaß aussehen.
Andererseits verdeckt dieser Reichtum an potentiellen Markierungen die sortale
Differenz von [± literaten] (bzw. für den literaten Ausbau nutzbaren) Kategorien.
Spiegelverkehrt zeigt sich das auch in verdeckten Kategorien in europäischen
Schriftsprachen, die in literaten Praktiken nicht genutzt werden (nutzbar sind), weil
sie auf eine konkrete interaktive Praxis kalibriert sind. Ein Beispiel dafür ist die
Kategorie des Mirativs, den ich im Maltesischen eher durch Zufall als Artikulation
einer speziellen Gesprächskonstellation gefunden habe – der dort in
schriftsprachlichen Texten aber nur zitiert (oder in spezifischer Stilisierung etwa in
104
Kinderbüchern) vorkommt und daher in den Grammatiken fehlt (Maas 2007).
In dieser Hinsicht ist es bemerkenswert, daß es anscheinend eine Dynamik in
der Sprachentwicklung gibt, die mit der gesellschaftlichen Entwicklung zunehmend
Kategorien grammatisiert, die absolut (also nicht als Schalter) interpretiert werden,
die aber etymologisch aus solchen Schaltern grammatikalisiert worden sind:
anaphorische Markierungen aus Deiktika, absolute Tempora aus deiktischen
(äußerungsgebundenen), wie z.B. spezifische narrative Tempora (Aorist) aus
deiktischen – ggf. mit einer zyklischen Erneuerung der deiktischen Formen. In dieser
Hinsicht ist die Forschung noch sehr in den Anfängen – nicht zuletzt weil die
traditionelle Homogenisierung sprachlicher Erscheinungen hier die nötigen
Differenzierungen nicht bereitstellt.
4.4. Auf dem anderen Pol der typologischen Forschung stehen die
Konzeptualisierungen der syntaktischen Bindung im Satz. Ausgehend von dem
Grundschema der Prädikation ist oben (II.2.) der propositionale Kern des Satzbaus
definiert: als fest geknüpftes Feld von syntaktischen Bindungen, erweitert um ein lose
geknüpftes Feld einer Peripherie von Adjunkten. Auf diese Struktur läßt sich auch
die Semantik der Sachverhaltsdarstellung projizieren. Offensichtlich ist aber
keineswegs der syntaktische Bau aller Sprachen linear auf eine entsprechend
festgeknüpfte Struktur ausgerichtet. Hier hat ohnehin die neuere syntaktische
Forschung zur Informationsstruktur den Analysehorizont verschoben. Die
syntaktischen Bindungen (entsprechend dem Nexusfeld mit seinen Erweiterungen in
Junktionen) erscheinen nur als eine Dimension der Artikulation, deren andere so
etwas wie das Sichtbarmachen von Faktoren des Geäußerten ist: das kann syntaktisch
105
integrierte Konstituenten betreffen, aber auch "asyntaktische" Konstituenten.
In Sprachen mit einer strikten Satzstruktur als Option erscheint das letztere
zwangsläufig als orate Struktur (vgl. aber auch das marokkanische Beispiel einer
Depiktiv-Konstruktion in Maas 2008b: 36 – 38 und 2008c). In anderen Sprachen sind
die satzförmigen Strukturen in dieser Hinsicht sehr viel loser geknüpft, sodaß das
104
Die albanische Grammatikschreibung, die diese Kategorie kennt (dort Admirativ), tut sich
entsprechend schwer damit – und beschreibt vor allem die Einschränkungen im Gebrauch.
105
S. jetzt z.B. zum Koreanischen Kwon / A.Zribi-Hertz (2008).
Literat und orat. Grundbegriffe
133
______________________________________________________________________
Symbolfeld mehr den Charakter von vorgegebenen Optionen als von zu belegenden
Variablen hat. So zeigt sich die vieldiskutierte Topik- (und nicht: Subjekt-) Prominenz
des Mandarin auf der Ebene der Textverknüpfung darin, daß pronominale
Markierungen nur in dem Maße artikuliert werden, wie sie sich nicht aus dem
Kontext erschließen lassen. Eine Folge für die Analyse ist, daß man entweder "Sätze"
akzeptiert, die die semantisch anzusetzenden Argumente nicht zeigen (sie dort auch
nicht in der Morphologie des Prädikatsausdrucks registrieren), oder daß man den Bau
großer Perioden ansetzt, bei denen ggf. eine Kette von Propositionen in einer Art
syntaktischer Klitisierung an eine voll spezifizierte "Matrixproposition" angehängt
wird, in der sie sich ihre erforderlichen Argumente suchen. Hier sind noch weitere
Analysen nötig, die systematisch Textstrukturen aufbereiten. Vorläufige Arbeiten
(wie die Osnabrücker Arbeit von Y.Hong, s. hier Kap. 4) zeigen, daß gerade auch bei
editorischen Bearbeitungen spontaner mündlicher Texte solche Strukturen nicht nur
nicht explizitierend "aufgefüllt" werden, sondern ggf. sogar in diesem Sinne
"redundante" Pronomina getilgt werden.
Die neuere typologische Diskussion trägt solchen Fragen Rechnung, indem sie
nicht direkt nach "Universalien" sucht, die eine transkulturell konstante
Interpretation haben, sondern davon ausgeht, daß Sprachstrukturen als
Differenzialmarkierung vor dem Hintergrund von kulturell spezifischen Defaults zu
106
verstehen sind.
In diesem Sinne sind aber nicht nur orate Strukturen
sprachspezifisch, sondern auch deren literater Ausbau.
4.5. Bei den jüngeren systematischen Arbeiten wird deutlich, daß die gerne als
analytische Grundbegriffe genommenen Konzepte in dem oben definierten
Koordinatensystem der Sprachpraxis definiert sind: Satz und Wort sind literate
Kategorien, die in Hinblick auf das Maximum auf der repräsentativen Dimension
definiert sind (s. oben zu Bühler, der sie in diesem Sinne im Symbolfeld verankerte) –
nicht aber auf der oraten (kommunikativen) Dimension. Von hier aus steht es an, das
gesamte Inventar an Beschreibungskategorien neu zu kalibrieren. Bei der
empirischen Arbeit mit Aufzeichnungen gesprochener Sprache ist nicht nur Satz eine
(problematische) analytische Kategorie der Makro-Segmentierung von Texten,
sondern auch die Grundkategorie der Mikro-Segmentierung, das Wort. Daß es sich
hier um ein Begriffsamalgam handelt, bei dem inhomogene Konzepte verquickt
werden (lexikalisch-enzyklopädische Symbolisierungen vs. Textelemente,
grammatische vs. phonologisch-prosodische Strukturierungen u.dgl.) ist im Grunde
immer schon klar gewesen, wird aber jetzt erst in der neueren typologischen
Diskussion wieder thematisch, bei der die inkongruenten Analysen mit solchen
Kriterien deutlich werden, s. Dixon / Aikhenvald (2002).
Hier wird dann auch ein Grundproblem gerade der funktionalistisch
orientierten Ansätze in der Sprachtypologie deutlich, die nicht nur den Blick auf
106
So läßt sich die inzwischen recht umfangreiche Diskussion um das "Argument-Linking"
verstehen, das ausgehend von Paul Kiparsky in jüngerer Zeit im Sinne einer strikten
Markiertheitstheorie expliziert worden ist (von D.Wunderlich u.a.), s. dazu oben die
Bemerkungen zu Bühler.
134
Utz Maas
______________________________________________________________________
funktionale Leistungen der grammatischen Kategorien richten (wie eben mit der
Finitheitsproblematik angedeutet), sondern im radikalen Fall bemüht sind, die
Strukturen darauf zu reduzieren. Dabei fällt dann leicht unter den Tisch, daß mit
dem Sprachbau Strukturen stabilisiert werden, die sich unter dem Aspekt der
Sprachverarbeitung als handhabbar erwiesen haben – ohne deswegen an eine
semantische Transparenz (im Sinne der Grammatisierung von Kategorien der
Interpretation der Äußerung) gebunden zu sein. Das ist nicht auf Fragen des
Sprachausbaus beschränkt: viele grammatische Markierungen sind funktional als
Parsinghilfen zu sehen – im Gegensatz zu den in schuldidaktischer Tradition meist
gesuchten semantischen Motivierungen (so diskutiert z.B. Heath 1984 auch die
Funktion der Nominalklassenmarkierungen im Nunggubuyu – gegen deren immer
wieder versuchten semantischen Deutungen).
Die Notwendigkeit solcher formaler Ressourcen potenziert sich aber in literaten
Texten, insbesondere wenn die schriftliche Fixierung als "externer Speicher" genutzt
wird: der Ausbau der schriftsprachlichen Syntax im Deutschen nach dem Modell des
lateinischen Periodenbaus wurde im 17. Jhd. erst möglich, als mit der
grammatikalisierten
satzinternen
Majuskelsetzung
ein
graphisches
Strukturäquivalent zu den reichen morphologischen Kongruenzmarkierungen der
lateinischen Syntax als Parsinggrundlage geschaffen war (s. Maas 2007b). Diese
Dynamik prägt viel von den literaten Strukturen, die mit ihrer komplexen
Explikation und zugleich Verdichtung von Inhalten die Anforderungen an die
Sprachverarbeitung
erhöhen.
Dabei
kommen
letztlich
kontingente
107
Sprachbauressourcen zur Geltung.
In diesem Sinne sind auch die oben in den Blick gekommenen Probleme der
Kohäsion komplexer syntaktischer Konstituenten zu sehen. Wie es ein Topos in der
Grammatik des Lateinischen ist, ist das dort gerne an literarischen Beispielen
(Horaz ... und anderen manieristischen Dichtern) vorgeführte extreme "scrambling"
komplexer Konstituenten ein weitgehend literarisches Artefakt, das sich in Texten,
die sich näher an der gesprochenen Sprache bewegen (z.B. bei Plautus), nicht findet.
Andererseits sind solche disjunkt gestreuten komplexen Konstituenten aber gerade in
rein gesprochenen Sprachen wie den australischen üblich (ausführlich dokumentiert
108
für die Pama-Nyunga-Sprachen) – und im Russischen charakterisieren sie die
normativ sanktionierten Varietäten der Sprechsprache im Gegensatz zur
"Hochsprache" (s.o. zu Miller / Weinert, die derartige Beispiele an gespaltenen NPs
107
Psycholinguistische Forschungen auf diesem Feld sind noch eher selten. Eine wichtige
Pionierarbeit war hier Hawkins (1994), der letztlich die Äquivalenz von grammatikalisierten
Abfolgebeziehungen (VSO, SVO, SOV …) für die Sprachverarbeitung nachwies (wäre die nicht
gegeben, wäre ja auch kaum zu erwarten, daß solche Abfolgen in einer Sprache
grammatikalisiert werden könnten); die typologischen Probleme resultieren aus der
Harmonisierung der Abfolgebeziehungen in den verschiedenen grammatischen Domänen
(Adpositionen, Attribuierung, adverbiale Modifikation u.dgl.). Das Auspendeln eines
Sprachbautyps erfolgt offensichtlich im Sinne von monotonen (habitualisierten) Erwartungen
bei der Sprachverarbeitung.
108
Wo sich allerdings die Frage stellt, ob hier eine Konstituentenanalyse mit dem Satz als
syntaktisch integrierender Makroeinheit überhaupt zu rechtfertigen ist (Heath stellt das mit
plausiblen Argumenten in den oben und in III.5 erwähnten Arbeiten infrage).
Literat und orat. Grundbegriffe
135
______________________________________________________________________
diskutieren). Sieht man hier genauer hin, zeigt sich, daß die in einigen Sprachen orat
möglichen diskontinuierlichen Konstituenten jeweils reiche morphologische
109
Markierungen haben, die rein lokal ihre syntaktische Funktion repräsentieren.
Einmal mehr erweisen sich orate Strukturen als gelernt, in Abhängigkeit von dem
vorgegebenen Sprachbau: die (sprach-) spezifische Artikulation des Symbolfeldes
geht eben nicht in den oben in (II.2.) entfalteten satz-syntaktischen Strukturen auf,
sondern zu ihr gehört ggf. auch die (wort-) interne Syntax.
5. Forschungen jenseits der philologischen
Schranken: Ethnographie der Sprachen
(typologische Perspektiven: Literate Strukturen
und Schriftkultur II)
Unabhängig von der philologisch-grammatischen Tradition entwickelte sich im
19. Jhd. eine Forschungspraxis, die sich um eine Dokumentation kultureller Praktiken
bemühte, für die vollständige Texte den selbstverständlichen Gegenstand bildeten –
nicht anders als andere kulturelle Manifestationen (Werkzeuge, Rituale ...). Die
Pioniere auf diesem Feld wie Franz Boas gingen ohne philologischen Ballast an dieses
Unternehmen heran (Boas war von der Ausbildung her Physiker) - ihre Gegenspieler
waren vor allem Missionare, die von den "primitiven" Kulturen nur das vorzeigten,
110
was sie durch die Brille ihrer Übersetzungsversuche als deformierte Sprache sahen.
Dazu gehörte die Dokumentation lautlicher Strukturen, die sich den schulischen
Vorstellungen von Laut und Schrift im lateinschriftlichen Alphabetsystem
verweigerten (etwa bei Boas die komplexen Silbenstrukturen der von ihm früh
untersuchten Sälisch-Sprachen), vor allem aber die Aufzeichnung von ethnologisch
interessanten Texten und deren grammatische Analyse, die es erforderlich machte,
grammatische Kategorien zu definieren, die nicht zu den lateinisch-griechischen
paßten (bei Sprachen ohne grundlegende lexikalische Wortartenzerlegung wie im
109
So besonders deutlich bei den daher auch extensiv möglichen Depiktiv-Konstruktionen in
den Pama-Nyunga-Sprachen, vgl. auch im Russischen nicht nur die "starke" Markierung
attributiver Adjektive, sondern vor allem auch die Instrumental-Markierung der Prädikative).
Demgegenüber macht die Annahme einer eigenen grammatischen Kategorie Depiktiv in den
nordafrikanischen (afroasiatischen) Sprachen wenig Sinn, trotz deren reicher Morphologie, s.
Maas (2008c).
110
Hier muß man allerdings differenzieren. Das gilt so vor allem für Laienmissionare –
während theologisch ausgebildete über den Unterricht in den Klassischen Sprachen (wozu
damals in der Regel auch Hebräisch gehörte) die selbstverständliche Erwartung hatten, daß
Sprachen sehr unterschiedlich gebaut sein können. Am deutlichsten ist die
"Professionalisierungsspanne" bei der vermutlich spannendsten Grammatik des 19. Jhds.
überhaupt nachzuvollziehen, Kleinschmidt (1851). Kleinschmidt war als Sohn von
Laienmissionaren in Grönland mehrsprachig aufgewachsen, wurde aber, um in einem dänisch
verwalteten Gebiet als Apotheker arbeiten zu können, für die Ausbildung nach Deutschland
geschickt, wo er zwangsläufig erst mal Latein und Griechisch lernen mußte. Der brillante
typologische Abriß im Anhang zu seiner Grammatik, in dem er den ergativen Sprachbau
erläutert, zeigt, wie ein solches Studium genutzt werden konnte.
136
Utz Maas
______________________________________________________________________
Nootka; mit "transkategorialen" Markierungen der grundlegenden grammatischen
Dimensionen: z.B. temporal "konjugierte" nominale Konstituenten im von Boas
analysierten Kwakiutl / Kwa'kwala; evidenzialen Spezifizierungen der Äußerungen
statt schulgrammatische Finitheitskategorien u.dgl.).
Da es diesen Altvorderen (Boas, Sapir & Co.) darum ging, in einem
Sprachmuseum den untersuchten Gemeinschaften zu einem symbolischen Recht zu
verhelfen, stand im Vordergrund immer die Dokumentation praktizierter Sprache –
sie betrieben vorrangig die Publikation von Textsammlungen. Der systematische
Fluchtpunkt war hier zwangsläufig die Syntax der gesprochenen Sprache – mit ihren
Registervariationen im Feld zeremonialer Texte, alltagspraktischer Texte in
Erklärungen von Techniken, Gerätschaften, aber auch elementaren Formen der
Kommunikation u.dgl. Dafür gab Boas auch ein explizites Forschungsprogramm
111
vor.
Als Schranke für die Dokumentation wie die Analyse fungierte damals
allerdings die Aufnahmetechnik: zugrunde liegen diesen Beschreibungen Texte, die
den Sprachforschern diktiert wurden – also in einer mehr oder weniger
formisolierenden Lento-Diktion, die zwangsläufig in Richtung eines formelleren
Registers geht. Zwar gibt es schon vor der Wende des 19. / 20. Jhds. Tonaufnahmen –
aber die aufwendige und extrem anstrengende Technik (Sprechen / Singen in einen
großen Trichter, Aufnahmen auf zeitlich begrenzten Wachswalzen u.dgl.) machten
nur eine relativ künstliche Sprache zugänglich (i.d.R. wurden so auch nur
zeremoniale Gesänge u.dgl. registriert). Diese Schranken waren den Altvorderen aber
bewußt: Boas, Sapir & Co. bildeten ihre wichtigsten Gewährsleute (bei Boas: George
Hunt, Ella Deloria u.a.) so aus, daß diese selbst ihre Texte verschrifteten (und z.T.
auch eigene Analysen durchführten). Aber ein solches Verschriften bringt
zwangsläufig eine Verschiebung in ein formelles Register mit sich, das der
(physischen und kognitiven) Anstrengung beim Schreiben entspricht. Dergleichen
wird zwar schon früh diskutiert, ist aber erst in den letzten Jahren systematischer
reflektiert worden (s. vor allem Silverstein / Urban, 1996). In diesem Sinne ist es
aufschlußreich (und auch noch nicht gemacht!), die Verschriftung dieser "nativen"
Feldforscher in den frühen Projekten (z.B. Ella Deloria, George Hunt u.a. bei Franz
Boas) unter solchen Aspekten systematisch zu untersuchen.
Heute leben wir in technischer Hinsicht in einer ganz anderen Welt (jedenfalls
sollten SprachwissenschaftlerInnen es tun!): Tonbandaufnahmen sind möglich, ohne
111
S. insbesondere Boas (1911). Sieht man genauer hin, zeigt sich dann aber auch hier, daß die
philologische Sprachreflexion nur mit Schaden zu überspringen war. Als Boas von seiner
ersten Forschungsexpedition auf die Baffin-Inseln 1885/86 zurückkam, holte er sich bei dem
erfahrenen dänischen Eskimoforscher Hinrich Rink Hilfe für die Analyse schwieriger
Textpassagen (Rink war im übrigen auch kein Philologe, sondern wie Boas physikalischer
Geograph). Der wies ihn darauf hin, daß die von Boas aufgezeichneten Gesänge in ein
zeremoniales Register gehören, bei dem auch die Sänger / Hörer den Wortlaut nicht notwendig
verstehen ... – und daß man für einen Zugang zur Sprache bei den trivialeren Alltagspraktiken
ansetzen sollte.
NB: Genaueres zu diesen fachgeschichtlichen Zusammenhängen in den jeweiligen Artikeln,
etwa zu Boas, Sapir, Spitzer u.a. in Maas (2010) und auch Maas (2009b).
Literat und orat. Grundbegriffe
137
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groß mit der sozialen Situation zu interferieren (man kann seinen Gewährsleuten das
112
Aufnahmegerät mitgeben, ohne die Situation als Fremder zu verzerren u.dgl.). Als
113
SprachwissenschaftlerInnen leben wir heute in der Welt der Sprachdokumentation.
Und so lassen sich heute diese Fragen systematisch explorieren. Die entsprechenden
Beobachtungen machen zwangsläufig alle Feldforscher, die mit ihren Gewährsleuten
nicht nur in Form von Abfragen zu einem vorgegebenen Fragebogen arbeiten – aber
ein systematisches begriffliches Raster für diese Analyse fehlt noch, das die
Verschriftung nicht nur als negativen Filter für den Reichtum der gesprochenen
114
Sprache betrachtet, sondern als einen genuinen Forschungsgegenstand.
Immerhin liegen inzwischen eine Reihe von Beschreibungen / Analysen vor, die
die in die Beobachtungsdaten eingeschriebenen Registerstrukturen systematisch in
den Blick nehmen und so die Grundlagendiskussion weiterbringen. Der
entscheidende Punkt ist es dabei, Anhaltspunkte zu haben, die von literaten
Strukturen unabhängig sind – das spricht eben dagegen, schon in der Beschreibung
mit amalgamierten Konzepten wie den "kommunikativen Minimaleinheiten" zu
operieren, die z.B. in neueren germanistischen Arbeiten zugrundegelegt werden, die
Äquivalenzklassen von (grammatisch integrierten) Sätzen und anderen Äußerungen
115
definieren sollen. Statt dessen bietet es sich an, mit prosodischen Gliederungen zu
operieren, wie es auch Chafe in seinen Arbeiten mit der Grundeinheit der
Segmentierung in Intonationseinheiten tut (s.o. II.4.2.).
Zu den wenigen Arbeiten, die ich kenne, die in dieser Hinsicht konsequent
vorgehen, gehört die Arbeit von Tao (1996), die aus dem Chafeschen Umfeld stammt.
Tao gleicht seine prosodisch ausgegliederten Einheiten sekundär mit ihrer
grammatischen Binnenstruktur (und der eventuellen grammatischen Bindung an den
Kontext) ab – und findet in seinen stark interaktiv strukturierten
Gesprächsaufzeichnungen erwartungsgemäß nur eine geringe Passung: es handelt
sich dort um orate Strukturen, eben keine literaten. Aus typologischer Sicht bleibt
anzumerken, daß solche Arbeiten bisher vor allem aus Sprachen vorliegen, die eine
112
So habe ich selbst auch Aufnahmen von Gesprächen unter Frauen im marokkanischen
Hinterland, die Männern, nicht nur fremden Feldforschern, grundsätzlich verschlossen sind.
113
S. dazu jetzt Gippert u.a. (2006). Dazu insbes. auch die Arbeiten im Rahmen des
Forschungsschwerpunktes "Dokumentation bedrohter Sprachen" (DobeS) bei der
VolkswagenStiftung, Hannover, seit 2002, s. http://www.volkswagenstiftung.de/foerderung/ .
Die Dokumentation (der Aufbau eines Archivs) erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Max
Planck Institut für Psycholinguistik, Nijmegen, unter der Leitung einer internationalen
Forschungsgruppe
(derzeitiger Vorsitz:
Prof.
Dr.
Ulrike
Mosel,
Kiel),
s.
http:///www.mpi.nl/DOBES.
114
Bei der DGfS-Tagung im März 2009 in Osnabrück hielt Marianne Mithun einen
faszinierenden Vortrag über "kleine" Formen in ihren indianischen Aufnahmen, die die
Sprecher auch schon bei der Wiederholung einer Passage für die Forscherin weglassen. Sie
konnte zeigen, welche Fülle an Funktionen Partikeln wie das von ihr extensiv behandelte
né(né) haben können. Dabei wurde sehr deutlich, daß diese immer auf die konkrete
Sprechsituation bzw. den Gesprächspartner kalibriert sind – und daher eben in einer
förmlichen Situation mit der Forscherin keinen Sinn machen. Als Analysedimension hatte sie
diesen Aspekt nicht vorgesehen …
115
S. z.B. Zifonun u.a (1997); vgl. auch oben den Hinweis auf die neue DUDEN-Ausgabe und
Schwitalla (1996).
138
Utz Maas
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geringe morphologische Komplexität haben – wozu in gewisser Weise auch das
116
Englische gehört.
Wie wenig es aber bringt, hier mit einer holistischen Typologie zu operieren,
117
machen die Arbeiten von Heath zu australischen Sprachen deutlich. Aus dem
Blickwinkel unserer Schulsprachen (und den damit verbundenen literat
ausgerichteten Konzepten) erscheinen die in diesen Sprachen beobachtbaren
Textstrukturen als äußerst fragmentiert. Zusammengehalten werden sie durch
semantische Indikatoren, auf der Basis von relativ differenzierten morphologischen
Markierungen der Wortformen (Kasusmorphologie), die gewissermaßen lokal
wortgruppenübergreifende Zusammenhänge kodieren. Ein grammatischer Satzfilter
besteht hier nicht: definiert man eine literate Textstruktur durch ihre Zerlegbarkeit in
Sätze, handelt es sich hier nicht um literate Strukturen.
5.1. Arbeiten wie die von Heath (oder die von Chafe, s.o.) zeichnen sich dadurch aus,
daß sie die verschiedenen deskriptiven Ebenen als unabhängig behandeln: die
Segmentierung eines Textes unabhängig von der Kategorisierung des so
Segmentierten, und damit insbesondere auch spezifische Indikatoren mündlicher
Sprache wie die Prosodie gegenüber medial indifferenten grammatischen
Strukturierungen. Die australischen Sprachen weisen eine reiche Morphologie auf,
die es insbesondere erlaubt, Wörter zu isolieren und syntaktisch zu Wortgruppen zu
bündeln. Aber solche Gruppierungen sind nicht (notwendig) auf eine Makrostruktur
Satz ausgerichtet. Auf der lexikalischen Ebene findet sich in diesen Sprachen zumeist
eine morphologisch eindeutig kodierte Zerlegung in Elemente, die den prädikativen
Kern einer Proposition bilden können und die daher in der Regel als Verben
klassifiziert
werden:
sie
binden
durch
Klitisierung
(pronominale)
Aktantenmarkierungen zusammen mit "satzmodalen" Spezifizierungen (s. Teil II).
Weitere deskriptive Elemente stehen aber neben solchen, u.U. recht komplexen
Ausdrücken, wobei die (ko-) referenziellen Verhältnisse zumeist nur durch
semantische Defaults bestimmt sind – und bei komplexeren Texten u.U. auch
118
Ein reiches System von (nominalen)
verwirrende Ambiguitäten lassen.
Klassenmarkierungen erlaubt es allerdings, zwischen appositiven (nominalen)
Ausdrücken das Verhältnis von sekundären Prädikationen zu etablieren, womit vor
allem eine Textperspektive von Vorder- und Hintergrund aufgespannt werden kann
– aber es gibt keine syntaktische Homogenisierung der so gereihten Ausdrücke als
Verkettung von Sätzen. Auf der deskriptiven Ebene operiert Heath denn auch mit der
Kategorie von Wortfolgen (string), die er prosodisch segmentiert – ähnlich wie
Chafes Intonationseinheiten.
116
S. dazu die ausführliche Darstellung in Biber (1999).
Ein Beispiel dafür ist Heath (1978) und (1984). In dem letzteren findet sich eine detaillierte
Textanalyse, S. 589 – 619 (der analysierte Text findet sich in Heath 1980: 108 - 118); s. auch zu
dem hier besonders interessierenden Problem Heath (1985). Damit sind die oben angeführten
Arbeiten zum Seneca von Walace Chafe zu vergleichen.
118
S. z.B. die konträren Interpretationen bei dem von Heath 1984 ausführlich analysierten
Mythos und anderen Deutungen, s. Heath 1980: 118.
117
Literat und orat. Grundbegriffe
139
______________________________________________________________________
Es ist deutlich, daß die traditionelle Satzkonzeption, die den Satz als eine
unabhängig interpretierbare Äußerung versteht, die eine Stellungnahme ermöglicht,
hier nicht weiterhilft: dieses Kriterium trifft auch auf viele der von Heath isolierten
strings zu. Der typologische Unterschied, der hier auf dem Spiel steht, ist auf der
Ebene der formalen Strukturierung definiert: die Vorgabe eines formalen Filters für
die Zerlegung eines Textes in Makrostrukturen, an die (in kulturspezifischer Setzung)
die Artikulation der Indikatoren für eine solche Interpretation gebunden ist (auf der
Ebene des Symbolfeldes) – das ist es, was mit dem literaten Satzbegriff gefaßt wird
und was umgekehrt aber auch Satz zu einer literaten Kategorie macht, die nur in
einem entsprechenden (förmlichen) Register als Filter fungiert.
Insofern ist es bemerkenswert, daß das von Heath verglichene archaischere
Ngandi in dieser Hinsicht grammatischer ist, u.a. mit einem spezialisierten
Subjunktionsmarker (=ga, der allerdings nur eine fakultative Ressource ist), als das
diachron gesehen weiterentwickelte (und heute noch relativ lebendige und
expandierende) Nunggubuyu. Das spricht dafür, daß in diesen Sprachgemeinschaften
jedenfalls für die indigenen Sprachen kein Bedarf an derartigen literaten Strukturen
besteht. Das charakterisiert eben das Register, in dem diese Sprachen genutzt werden:
wo die Notwendigkeit zu einer literaten Artikulation besteht, wird dort eben Englisch
119
genutzt. Trotz der weitgehenden Zweisprachigkeit spielt hier offensichtlich auch
keine Notwendigkeit zum Transfer von Strukturen des Englischen zu den indigenen
120
Sprachen herein. Faktisch ist es so, daß auch da, wo die grammatischen Ressourcen
zu einer syntaktischen Integration vorhanden sind, sie von den Sprechern dazu nicht
genutzt werden, die sich ihrer allerdings für die Profilierung von Hintergrund /
Vordergrund einer Erzählung u.dgl. zu bedienen wissen.
5.2. Da diese Fragen in der typologischen (oder auch deskriptiven) Forschung bisher
keinen systematischen Stellenwert haben, müssen solche Überlegungen weitgehend
spekulativ bleiben bzw. können nur als Hypothesen entwickelt werden. Dabei sind
die oben eingeführten Registerdifferenzierungen in Rechnung zu stellen. Oben in
(2.4) wurde die Grundunterscheidung orater vs. literater Strukturen durch die
Bindung an die Interaktion (bzw. die Freisetzung davon) eingeführt. Das entspricht
der Schwelle von den informellen zum formellen Register. Orate Strukturen sind in
interaktiven Konstellationen insofern auch bei "exotischen" Sprachen zu erwarten.
Anders ist es im förmlichen Register: bei zeremonialen Texten oder auch bei der
119
Dafür spricht auch der Abbau weiterer potentiell desambiguierender grammatischer
Markierungen, etwa die Neutralisierung der Kasusdifferenzierung Rektus / Obliquus im
Nunggubuyu im Gegensatz zum Ngandi, das sie aufweist (wie die meisten australischen
Sprachen, die sie meist noch weiter ausdifferenzieren).
120
Hier sind offensichtlich genauere empirische Analysen erforderlich. Das gilt insbesondere
für die Sprachgemeinschaften, die in dieser Hinsicht weniger fossiliert sind, wo Schreiben
extensiv genutzt wird (z.B. durch Schreibwettbewerbe wie bei den Pitjantjatjara, Hinweise von
H.Bowe), in bilingualen Erziehungsprojekten, auch in Übersetzungen, bei denen die
Angemessenheit an die Sprachstrukturen zu fortlaufenden Revisionen führt u.dgl.
Systematisch analysiert werden müssen in dieser Hinsicht auch die Strukturen von interaktiv
produzierten Texten mit solchen, die quasi monologisch in zeremonialen Kontexten produziert
wurden u.dgl.
140
Utz Maas
______________________________________________________________________
Reproduktion von Mythen wie in dem von Heath im Nunggubuyu analysierten Text.
Wenn auch hier keine literaten Strukturen vorliegen, weil offensichtlich auch diese
Texte in Hinblick auf einen sehr spezifischen Horizont mit seinen die Interpretation
steuernden Erwartungen und kulturspezifischen Vorannahmen artikuliert sind, zeigt
sich die Kategorie des Literaten an Strukturen des Sprachausbaus gebunden, die in
diesen sozialen Konstellationen nicht gegeben sind. Hier können nur entsprechende
empirische Forschungen weiterführen.
Es ist offensichtlich, daß wir für die Typologie ein sehr viel größeres Spektrum
an sprachbaudifferenten Fällen brauchen; dabei ist es auch nötig, Sprachen mit einer
reichen fusionierenden Morphologie zu untersuchen (nicht agglutinierenden wie bei
den australischen Sprachen), mit prominent im Lexikon verankerten syntaktischen
121
sortalen Formatierungen (Wortarten) u.dgl.
Vor allem aber müssen solche
Analysen in eine Rekonstruktion der jeweils zugrundeliegenden Registerarchitektur
eingebettet werden. Grammatische Strukturen können in gewisser Weise (genetisch)
als Habitualisierung von Strategien zur Artikulation von Äußerungen verstanden
werden, literate Strukturen als solche der festen Knüpfung von Äußerungen / Texten.
Die Zusammenhänge mit den kulturellen Randbedingungen der Sprachpraxis sind
hier allerdings sehr komplex und machen eine einfache Korrelation nicht möglich.
Die Syntax des Chinesischen zeigt ausgesprochen lose geknüpfte Strukturen – und
schriftsprachliche Editionen gesprochener (orater) Texte ändern daran nicht viel: sie
eliminieren vor allem die lokalen Kodierungen von Verweisungszusammenhängen,
auf die Hörer in der "on-line"-Verarbeitung angewiesen sind (so der Befund der
Arbeit von Y.Hong, s. Kap. 4). Die gleiche Charakterisierung von (literaten) Texten
im Chinesischen und (oraten) Texten im Nunggubuyu verweist darauf, daß eine
mehrdimensionale Modellierung erforderlich ist.
Systematische Forschungen, die solche Fragestellungen aufnehmen, stehen noch
aus. In der typologisch orientierten Forschung zu schriftkulturellen Fragen nehmen
daher Forscher wie Chafe eine prominente Stellung ein, der wenigstens auf der Ebene
der gesprochenen Sprache systematischer die Differenz von interaktiv produzierten
gegenüber zeremonialen Texten untersucht hat – und insofern eine analytische
Ausgangsbasis für die Rekonstruktion der Differenz von oraten gegenüber literaten
Strukturen gewonnen hat.
121
Heath hat seine entsprechenden Forschungen (jeweils mit detailliert auch prosodisch
annotierten Texten) inzwischen auf typologisch anders ausgerichtete Sprachen ausgedehnt: so
u.a. auf das Twareg mit reicher Morphologie (2005), oder auch auf eine Niger-Kongo Sprache
in Mali (2008), bei der prosodische Strukturen auf der Äußerungsebene mit Tonstrukturen auf
der lexikalischen Ebene interferieren. Ich selbst bin seit einiger Zeit dabei, dergleichen für das
marokkanische Arabische zu tun – auf der Basis eines großen Corpus auch von spontanen
Gesprächsaufzeichnungen. Das ist insbesondere auch die Zielsetzung des oben schon
erwähnten gemeinsamen Forschungsprojekts mit dem Kollegen S.Procházka (Wien), finanziert
mit Mitteln des österreichischen FWF, das auch den Rahmen für studentische Arbeitsvorhaben
bieten soll.
Literat und orat. Grundbegriffe
141
______________________________________________________________________
5.3. Vor dem Hintergrund dieser Forschungslage ist es nicht erstaunlich, daß diese
122
Fragen in der Sprachtypologie noch sehr wenig exploriert sind. Vor allem die
Handbuchdarstellungen sind noch weitgehend geprägt von der Vorstellung
homogener Sprachen (sie blenden die Registerdifferenzierung der Sprachpraxis aus).
Erst in jüngerer Zeit wird beim "Sampling" auch der Faktor [± verschriftete]
Sprachen berücksichtigt (ohne in der Regel daraus aber schon methodische
Konsequenzen zu ziehen). In den Projekten zur Sprachdokumentation ist dieser
Faktor zwar in gewisser (negativer) Weise im Vordergrund – er spielt aber in
Hinblick auf die dabei in der Regel dokumentierten Sprachen keine große Rolle.
Die bisher ausführlichste Arbeit in diesem Feld stammt von Miller und Weinert
(1998, vgl. auch Miller / Fernandez-Vest 2006). Bei ihnen werden detailliert Daten aus
Corpora gesprochener Sprache (vor allem Englisch, Russisch, Deutsch) diskutiert,
kontrastiert mit Hinweisen auf andere Sprachen (z.B. auch australische). Im
einzelnen sind die Analysen durchaus weiterführend – aber eine systematische
Modellierung fehlt auch hier aus den angesprochenen Gründen: auch bei ihnen ist
von dem Gegensatz von gesprochener vs. geschriebener Sprache die Rede. Einer
systematischen Modellierung steht dort vor allem die fehlende Unterscheidung von
normativen und funktionalen Strukturen entgehen: den Gegenpol zum Oraten bilden
dort schriftsprachliche Strukturen, die, wie es bei ihnen explizit heißt: von der
normativen (Schul-) Grammatik zugelassen sind – und entsprechend erscheinen
orate Strukturen natürlich und daher universal.
Das sind zwar weitgehend obiter dicta in diesem ausgesprochen materialreichen
Buch – sie machen aber die theoretischen Defizite umso deutlicher. Universal sind
nicht die oraten Strukturen selbst, sondern allenfalls die Bedingungen, unter denen
sie sich ausbilden: als spezifische Formen des Umgangs mit den (sprachspezifischen)
Ressourcen des Symbolfelds. Auch orate Strukturen sind immer gelernte Strukturen
– und insofern eben auch selbst sprachspezifisch. Das machen im übrigen auch die
Detailanalysen bei Miller / Weinert sehr deutlich: wenn sie z.B. in ihrem Kap. 4 am
Beispiel von "gespaltenen" NPs im gesprochenen Russischen im Vergleich mit dem
Englischen (oder auch Deutschen) zeigen, daß dort die "starke" Adjektivflexion die
syntaktischen Potentiale einer (sekundären) Prädikation in einem solchen Ausmaß
hat (im etymologischen Sinne: bewahrt hat), daß sie problemlos als Prädikate in einer
eigenen oraten Äußerungseinheit fungieren können. Das ist ein Beispiel dafür, daß
orate Strukturen sich als (allerdings eingeschränkte) Nutzung des Symbolfelds
erweisen.
5.4. Die literate Dimension hat auf der Strukturseite ein Gegenstück in der
Grammatisierung von interpretativen Kategorien, wodurch diese in der Form
verankert werden – und damit aber auch zu überschüssigen Kategorisierungen
führen (obligatorische grammatische Markierungen, wie etwa die temporale
Spezifizierung beim finiten Verb im Deutschen, müssen auch da vorgenommen
122
Zu den jüngeren typologischen Arbeiten in diesem Feld, inbes. auch zur Einbeziehung
prosodischer Analysen, s. Himmelmann (2000); Schultze-Berndt (2002).
142
Utz Maas
______________________________________________________________________
123
werden, wo sie semantisch sinnlos sind); pragmatischer gebaute Sprachen ersparen
sich diese Probleme.
Insofern besteht eben eine Bindung des Sprachbaus an die kulturelle Praxis: die
schriftkulturelle Basis der gesellschaftlichen Reproduktion ist eine Randbedingung
von Grammatisierungsprozessen. Wo die schriftkulturelle Basis fehlt, etabliert sich
auch kein entsprechend differenziertes grammatisches (literates) System.
6. Corpuslinguistik vs. Grammatik der
gesprochenen Sprache
Seitdem es computergestützt die Möglichkeit zur Bearbeitung von Großcorpora gibt,
hat sich die Forschungskonstellation hier grundlegend geändert. Auch hier war die
erste Phase von den materiellen Randbedingungen her definiert – die
maschinenlesbaren Texte wurden zusammengefaßt und ausgewertet (vor allem die
so verfügbaren Zeitungen u.dgl.). Nicht in vergleichbarer Weise vorgegeben sind
Corpora gesprochener Sprache, die zu diesem Zweck erst erstellt werden müssen.
124
Anfänge gibt es seit dem Ende des zweiten Weltkriegs. Inzwischen gibt es für alle
125
größeren Sprachen solche Corpora und auch ein entsprechendes Analysewerkzeug.
Ergebnis einer systematischen Auswertung ist hier, daß der medialen Differenz
von geschrieben / gesprochen keine strukturale (i.s. von literat / orat) entspricht. Das
verlangt eben ein sehr viel differenzierteres Raster, für das die medialen Faktoren nur
eine Variable sein können. In deskriptiver Hinsicht hat hier Douglas Biber
126
Pionierarbeit geleistet (einflußreich war sein oben schon erwähntes Buch 1988). Bei
ihm geht es um die Operationalisierung von Variablen, die in eine automatische
Textanalyse überführt werden kann. Insofern findet sich bei ihm keine direkte
Modellierung von literat / orat, wie sie oben avisiert wurde – wohl aber eine
deskriptiv sehr reiche Differenzierung, die eine Reduktion vermeiden hilft.
Demgegenüber schreiben die meisten sprachwissenschaftlich ambitionierten
Arbeiten in diesem Feld die in Abschnitt 2 skizzierte Entwicklungslinie fort und
bemühen sich um eine mehr oder weniger induktiv entwickelte Isolierung der
127
gesprochenen Sprache als eigenem Gegenstandsbereich.
123
Eine präsentische Spezifizierung des Verbs wie bei die Erde ist rund erlaubt eben nicht die
Frage: wann ist die Erde rund?
124
Eine Pionierrolle hatte Fries (1952), auf der Basis von 50 Std. aufgenommener
Telefongespräche.
125
S. jetzt das neue Handbuch Corpuslinguistik 2 Bde., Berlin: de Gruyter 2008; D.Biber u.a.
Corpus linguistics, Cambridge: Cambridge univ. pr. 1998.
126
Instruktiv ist insbesondere auch sein Versuch, auf der Basis einer solchen
Differenzierung eine systematische Beschreibung des Englischen vorzulegen, s. seine
oben schon erwähnte Grammatik von 1999.
127
Zum Deutschen jetzt etwa Fiehler (2006); s. auch Schwitalla (1997); sowie den älteren
Literaturüberblick: Hoffmann (1998). Zum Französischen etwa noch Blanche-Benveniste u.a.
(1990).
Literat und orat. Grundbegriffe
143
______________________________________________________________________
Tatsächlich ist auf diese Weise inzwischen eine beachtliche Menge von
Beobachtungen zur gesprochenen Sprache zusammengetragen – was aber von einer
theoretischen Modellierung zu unterscheiden ist.
7. Ausblick
Die deskriptive Sprachwissenschaft steht weiterhin vor dem Problem, sich von den
Fesseln der schulgrammatischen Vorgaben zu lösen. Deren normative Ausrichtung
zwingt dazu, von literaten Strukturen (Sätzen!) auszugehen und in oraten Strukturen
deren Reduktion (unvollständige Realisierung u.dgl.) zu sehen. Die verbreitete
Reaktion auf diese schulgrammatische Hypothek der sprachwissenschaftlichen
Tradition besteht im Fach darin, die Frage des literaten Ausbaus zu verdrängen und
spiegelverkehrt zu dieser traditionellen Sicht in oraten Strukturen das "Natürliche"
und damit das für die Sprachwissenschaft allein zu Untersuchende zu sehen.
Demgegenüber muß es darum gehen, die Registerdifferenzierung der
Sprachpraxis in die theoretische Modellierung hineinzunehmen, in deren
mehrdimensionalem Raum orat und literat als idealtypische Konzepte definiert sind.
Wie bei allen Strukturen handelt es sich um ideale Objekte (so wie die Mathematik es
mit idealen Objekten zu tun hat) – sie gehören zur Analyse – nicht zum
Analysierten. Orate oder literate Strukturen sind nicht in der Anschauung zu finden
(im Gegensatz zu den Indikatoren, mit denen die Analyse gesprochener und
geschriebener Sprache arbeitet, s. I.2.). Aber Sprachstrukturen (wie orat und literat)
weisen eine Familienbeziehung auf, die das Feld des Sprachausbaus ausmacht. Die
empirische Aufgabe besteht darin, solche (idealen) Konzeptualisierungen bei der
Analyse des in einer Sprachgemeinschaft Beobachtbaren zu nutzen – um dieses in
seiner Besonderheit maximal zur Geltung zu bringen (was Foley 2003 eine dichte
Beschreibung genannt hat).
Das hat nun methodische Konsequenzen. In der Sprachwissenschaft geht es im
professionellen Sinne (also im Sinne der wissenschaftlichen Arbeitsteilung mit den
anderen Disziplinen) darum, einen Ansatzpunkt bei der sprachlichen Form zu finden,
die als Faktor der sprachlichen Praxis in sprachwissenschaftlichen Modellierungen im
Vordergrund steht. Das gilt selbstverständlich auch bei einem auf Sprachpraxis
erweiterten Gegenstandskonzept. Wie auch die umfangreiche neuere Forschung im
Feld der gesprochenen Sprache zeigt, liegt der Schlüssel hier bei dem Satzbegriff. Hier
lohnt sich eine Neulektüre der Altvorderen, die im Horizont einer selbstverständlich
in Rechnung gestellten Registerdifferenzierung der Sprachpraxis nach Möglichkeiten
zur strukturalen Kontrolle der Analyse suchten.
In dieser Tradition steht letztlich vor allem die Familie von Ansätzen, die unter
"funktionalistisch" laufen, mit der auch das hier skizzierte Forschungsprogramm
vieles gemeinsam hat. Dieses Feld ist in den fachgeschichtlichen Anmerkungen in III
nicht systematisch berücksichtigt – es zu bibliographieren, ginge über den Rahmen
hier hinaus, ist aber wohl auch nicht nötig. Der Hinweis soll genügen, daß eine
Auseinandersetzung
mit
dieser
Forschungstradition,
in
der
die
Registerdifferenzierung selbstverständlich ist, sich lohnt: gerade weil hier zumeist
144
Utz Maas
______________________________________________________________________
spiegelverkehrt zu den strukturalen ("formalistischen") Ansätzen die Autonomie des
128
Symbolfeldes ignoriert wird.
Andererseits zeichnet sich gerade auch in umfassenden Referenzwerken der
modernen Schulsprachen durch die Hereinnahme solcher Fragen ein eklektisches
Vorgehen ab, das einerseits solchen Überlegungen Rechnung zu tragen versucht,
andererseits doch an der schulgrammatischen Tradition festhält. Praktisch führt das
dazu, daß die konkreten Analysen so eher schwammig werden, s. (III.6.) für Hinweise
auf diese dominierende Linie in der germanistischen Forschung zur gesprochenen
Sprache.
Auf der theoretischen Seite des Fachs gehen die Blockierungen durch die
"biolinguistische" Engführung der neueren Sprachwissenschaft im übrigen weit über
deren harten (generativistischen) Kern hinaus. Zwar werden in jüngster Zeit
zunehmend deskriptive Arbeiten in eine ethnographische (oder auch soziologische)
Analyse der beschriebenen Gemeinschaften eingebettet, aber die Prämissen der
sprachwissenschaftlichen Arbeit im engeren Sinne bleiben davon unberührt. Das gilt
sogar da, wo ausdrücklich die Dynamik sprachlicher Systeme in den Blick
genommen wird, wie bei der aktuellen Diskussion um sprachliche Komplexität, die
129
auf formale Indikatoren ausgerichtet bleibt. Hier ist eine radikale Änderung der
Blickrichtung erforderlich. Sprachstrukturen sind zu beschreiben in Hinblick auf die
damit ermöglichte sprachliche Praxis: Sind die Äußerungen nur lose geknüpft, mit
lokal kodierten Indikatoren, die den Hörern im Rückgriff auf ihr außersprachliches
Wissen eine Interpretation ermöglichen, oder sind sie mit grammatischen
Strukturelementen fest geknüpft, sodaß die Interpretation an die Form, nicht aber
auch in Hinblick auf die Textorganisation an außersprachliches Wissen gebunden ist.
Nur wenn solche Fragen als Bestandteil der Analyse gesehen werden, ist hier
weiterzukommen – und vor allem auch der Anschluß an die Forschungen in anderen
Disziplinen zu finden, die schriftkulturelle Fragestellungen verfolgen, dabei aber, wie
es der disziplinspezifische methodische Zugang vorgibt, solche strukturanalytischen
130
Fragen ausblenden bzw. überspringen. Wenn für die Sprachwissenschaft bisher
128
Eine genauere Lektüre z.B. von Talmy Givón kann hier aufschlußreich sein, der bei seinen
Überlegungen immer auch die Registervariation im Blick hat und seine deskriptiv intendierten
Vorgaben mit den unterschiedlichen Anforderungen an die sprachliche Praxis (eben auch der
Differenz orat / literat) abzugleichen versucht hat, s. etwa Givón (1979), und dann ausführlich
in Givón (2001).
129
S. z.B. Sampson u.a. (2009). In diesem Band bzw. der darin präsentierten Diskussion ist auch
eine gekürzte Fassung meines Beitrags in GLS 2008 enthalten. Spuren in den anderen Beiträgen
hat er nicht hinterlassen – die dominierende Frage dort ist einerseits die Modellierung der
Sprachentwicklung als selbstorganisierendes System, andererseits der regressive Blick auf
einfache Sozialformen (ohne konstitutive Schriftkultur), der Grundstrukturen der Sprache
sichtbar machen soll. Die Diskussion mit Vertretern dieser Ansätze läuft schnell ins Leere, weil
unter deren Prämissen eben auch Sprachen wie das Nunggubuyu mit ihrem reichen
morphologischen Inventar als "komplex" beschrieben werden – jenseits der oben mit Rückgriff
auf die Arbeiten von Heath deutlich gemachten oraten Grundstrukturen.
130
Darauf regieren nicht zuletzt mehrere auf schriftkulturelle Fragen ausgerichtete
Sonderforschungsbereiche der DFG wie z.B. der inzwischen ausgelaufene, oben schon
erwähnte Freiburger, der sich explizit in das Spannungsfeld von Schrift als einer erweiterten
Literat und orat. Grundbegriffe
145
______________________________________________________________________
nur festzustellen ist, daß die Dimension des literaten Sprachausbaus im Fach noch
systematisch zu erschließen bleibt, dann markiert das auch ein systematisches
wissenschaftspolitisches Defizit.
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