Schulverweigerung - Landschaftsverband Rheinland

Transcrição

Schulverweigerung - Landschaftsverband Rheinland
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Schulverweigerung
Dokumentation des Kongresses
Schule: statt Pflicht –
Bonn 26./27. 9. 1995
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Landschaftsverband Rheinland
Landesjugendamt
Amt 43
50633 Köln
Federführung für Vorbereitung,
Durchführung und Auswertung des Kongresses:
Hans Peter Schaefer,
Tel: 0221/8096234, Fax: 0221/8096252, E-Mail: [email protected]
April 1996
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Schulverweigerung
– ein Kongreß, ein Thema
Schulverweigerung. Den Medien, die über den Kongreß berichteten, fiel dazu
Schulschwänzen ein. Ein Kavaliersdelikt, das eher wehmütig erinnern läßt an
die Schulzeit, als daß es mit sozialen Problemlagen in Verbindung gebracht wird.
Doch die aktuelle Diskussion um Schulverweigerung hat wenig zu tun mit dem
Reiz des Verbotenen. Zu gravierend sind die Folgen beharrlicher Abwesenheit
von der Schule, zu gravierend die Folgen fehlender schulischer Qualifizierung.
Den Betroffenen droht dauerhafte soziale Ausgrenzung. Maßnahmen der Jugendhilfe und der Arbeitsverwaltung, die sich gezielt an benachteiligte Jugendliche zum Übergang von der Schule in den Beruf wenden, greifen bei hartnäckigen Schulverweigerern selten, setzen sie doch meist zu spät an.
Eine Erfahrung auch in der Jugendsozialarbeit. Beratungsstellen des NRW–Landesjugendplanprogramms „Sozialpädagogische Hilfen für junge Menschen im
Übergang von der Schule in den Beruf“ wenden sich seit vielen Jahren an Schülerinnen und Schüler, die aus dem Regelschulsystem herausfallen. Sozialpädagogische Beratung und Begleitung allein reichen allerdings nicht aus.
Es fehlen alternative Angebote zur Schule, die Lernen für diese Jugendlichenwieder attraktiv machen. Jugendwerkstätten, ebenfalls aus dem NRW–Landesjugendprogramm gefördert und für arbeitslose Jugendliche konzipiert, widmeten sich vereinzelt dieser Zielgruppe. Sie konnten Erfolge vorzeigen mit ihrem
handwerklich und sozialpädagogisch orientierten Angebot. Jugendliche, von der
Schule schon aufgegeben, schon im Abseits geglaubt, konnten wieder fürs Lernen gewonnen werden.
Sechs Modellversuche in NRW, davon drei im Rheinland, betreuen seit Schuljahresbeginn 1994/96 jeweils acht Schüler/innen; Schulverweigerer, die zum Teil
schon zwei bis drei Jahre der Schule fernbleiben. Die Werkstätten arbeiten werkund sozialpädagogisch mit ihnen, die Schule ist durch eine Lehrkraft vertreten.
Die Ergebnisse werden in einem Endbericht ausgewertet.
Heute aber schon läßt sich feststellen: Der außerschulische Lernort, Praxislernen und die sozialpädagogische Orientierung motivieren die Schulpflichtigen
zum Lernen.
In diesem Zusammenhang lag es nah, bundesweit die Projekte zusammenzuführen, die am gleichen Thema arbeiten. Auf dieser Veranstaltung wurden daher
Konzeption und Praxis unterschiedlicher Einrichtungen miteinander verglichen –
in einer Projektmesse und in Foren mit unterschiedlichen Schwerpunkten.
Vorträge aus Theorie und Praxis, aus Einrichtungen und Ministerien brachten die
Problematik Schulverweigerung auf den Punkt.
Eine Lösung, die generell Hilfeformen institutionalisiert, ist allerdings auch
jetzt noch nicht in Sicht. So drängend das Schicksal der betroffen jungen Menschen auch ist, knappe Kassen, Schwierigkeiten Ressorts abzugrenzen und miteinander zu kooperieren sind ebenso Hindernisse wie eingefahrene Gleise
in Jugendhilfe und Schule.
Dabei muß die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule weiter vertieft werden – auch unorthodoxe Lösungen dürfen nicht tabu sein. Und: Die Prävention
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muß ebenso wie die Betroffenheit von Mädchen stärker ins Blickfeld
geraten. Ist in Nordrhein–Westfalen auch der Impuls von der Jugendsozialarbeit
ausgegangen, es muß früher angesetzt werden. Denn darin stimmten die Expertinnen und Experten überein: Die Grundlagen für schulisches Scheitern zeigen
sich oft beim Übergang von der Grund- in die Hauptschule, häufig haben ungünstige familiale und soziale Bedingungen Einfluß. Hier sind nicht nur Jugendsozialarbeit und Schule gefordert. In der Jugendhilfe müssen auch andere Dienste,
die früher ansetzen als die Jugendsozialarbeit Verantwortung übernehmen, Netzwerke
der Prävention bilden. Hieran muß Schule mitwirken. Gleichzeitig stehen in der
Schule viele überkommene Ansätze und Strukturen auf dem Prüfstand.
Gilt es, Schule in Richtung von mehr Ganzheitlichkeit und Lebensweltorientierung zu entwickeln, kann Jugendhilfe mit ihrer sozialpädagogischen Orientierung
wichtige Beiträge liefern – Partnerin sein.
Hartmut Schulz
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Inhaltsverzeichnis
Vorab: Das Resumée .................................................................... 7
Steffen Hildebrand (Schulpsychologischer Dienst der Stadt Köln):
Schulverweigerung: Zielgruppen, Problemlagen ......................... 9
Schulwechsel und Schulverweigerung .............................................................. 10
Häufigkeit der Schulverweigerung .....................................................................11
Ergebnisse: ........................................................................................................11
Exkurs: Zu den verdeckten Aufgaben der Hauptschule ......................................11
1. Die Schulpflicht ist bei vielen Jugendlichen nicht mehr durchsetzbar ............ 12
2. Die Erziehung zur „Pflicht“ befindet sich in einer Krise ................................. 13
3. Die Dauer der Schulpflicht ist für gescheiterte Schüler mit den derzeitigen
Unterrichtsinhalten zu lange ........................................................................ 13
4. Für viele Schülerinnen und Schüler ist das Erreichen des
Hauptschulabschlusses unrealistisch ............................................................ 13
5. In Ermangelung geeigneter Förderungsmöglichkeiten entstehen
schulische Zwischenwelten .......................................................................... 14
6. Das Unterrichtsangebot der Hauptschule muß noch stärker um
handlungs- und berufsorientierte Unterrichtsformen erweitert werden ....... 14
7. Der Dialog zwischen Schule und Jugendhilfe muß zielgruppenbezogen auf
den verschiedenen Handlungs- und Planungsebenen intensiviert werden ..... 15
Bernadette Aaldering–Zurawski (Hauptschullehrerin, Essen):
Zum Beispiel Franzi ..................................................................... 17
Von Franzi zurück zum Allgemeinen ................................................................. 24
Karlheinz Thimm (Hennickendorf):
Wenn Schulverweigerer Schule machen…
Schule des Lebens im Überschneidungsbereich von Jugendhilfe und Schule .... 29
Schule im Gegenwind ....................................................................................... 29
Zum Verhältnis von Jugendhilfe und Schule ...................................................... 31
Schulverweigerung ........................................................................................... 35
Verweigererschule: „Schule des Lebens“ .......................................................... 39
Bilanz ................................................................................................................ 45
Literatur: ........................................................................................................... 47
Anhang ............................................................................................................. 47
Phänomene und Ursachen von Schulverweigerung .......................................... 47
Zum Projekt Schule des Lebens und ersten Evaluierungsergebnissen ............... 49
Ulrich Thünken (Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW):
Schulverweigerung und dann? Zum Erziehungsauftrag der Schule ....... 53
Berufsvorbereitungsklasse (BVK) für überalterte und schulmüde Schüler ......... 56
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Klaus Schäfer (Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW)
Schulverweigerung und dann? Zum Erziehungsauftrag der Jugendhilfe ............. 61
Podiumsdiskussion:
Brauchen wir ein neues Regelsystem für Schüler und
Schülerinnen, die sich der Schulpflicht entziehen? ...................... 67
Andrea Becker (Jugendberufshilfe e.V., Essen)
Karin Joswig-von Bothmer (Landesjugendamt Rheinland)
Ein Nachtrag:
Auffällig unauffällig: Mädchen und Schulverweigerung.............. 71
Die familiäre Situation ...................................................................................... 71
Die psychosoziale Situation der Mädchen ......................................................... 72
Die Rolle der Schule .......................................................................................... 73
Anhang: Projekte stellen sich vor ................................................ 77
Städtische Hauptschule Ringelnatzstr. 12, 50996 Köln ...................................... 78
Stadt-als-Schule Berlin ....................................................................................... 80
KREISVOLKSHOCHSCHULE AURICH des Landkreises Aurich .............................. 84
Werkhof Scharnhorst, Dortmund ..................................................................... 91
Lernwerkstatt für Schulverweigerer im Internationalen Jugendzentrum der
Stadt Frankfurt a. M. ......................................................................................... 97
Jugendsozialarbeit inform, Ausgabe 4/1995 ............................................... 103
Beispiele aus der Medienresonanz ............................................................. 109
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Vorab:
Das Resumée
Karin Joswig–von Bothmer, Landesjugendamt Rheinland, faßte in ihrem Schlußwort die Ergebnisse und die in den Beiträgen vom Podium , den Arbeitsgruppen
und Diskussionsbeiträgen erarbeiteten Aufträge für die Zukunft zusammen:
am Ende einer Fachveranstaltung ist es angebracht, noch einmal Revue passieren zu lassen, was in diesen zwei Tagen alles geschehen ist.
Im Mittelpunkt der Fachveranstaltung stand eine Personengruppe, die sich der
Schulpflicht entzieht, und die Frage nach den Zuständigkeiten von Schule und
Jugendhilfe – zwischen Grauzonen und neuen Regelsystemen. Die Durchführung
war mit einem Blick über den Tellerrand verbunden, denn schließlich waren hier
Projekte und Personen aus dem gesamten Bundesgebiet vertreten.
Den Auftakt machte eine Ausstellung, bei der die Projekte ihren konzeptionellen Ansatz in der Arbeit mit schulpflichtigen aber schulmüden Jugendlichen präsentierten. Die Ausstellung bot ein respektables Bild der vielseitigen und kompetenten Arbeitsansätze. Allen Kolleginnen und Kollegen sei herzlich gedankt, die
die Mühe nicht gescheut haben, mit Materialien anzureisen, z. T. mit erheblichem
technischen Aufwand, um sich hier vorzustellen.
Am Nachmittag machte Steffen Hildebrand mit seinem Beitrag den Auftakt, die
Hintergründe von Schulverweigerung aus schulpsychologischer Sicht zu beleuchten. Häufiger Schulwechsel kann dabei ein wichtiger Faktor neben zahlreichen
Begleitumständen sein, die sich aus dem häuslichen und familiären Milieu ergeben, aber auch in der Organisation von Schulalltag begründet sein können.
Am Beispiel der Schülerin Franzi beschrieb Bernadette Aaldering–Zurawski anschaulich die Kette von widrigen Umständen, die zur
Leistungsverweigerung führen und in eine Spirale von
Mißerfolg und Perspektivlosigkeit einmünden.
Karl–Heinz Thimm stellte die „Schule des Lebens“
vor, und es wurde beispielhaft deutlich, wie ein Maschennetz geknüpft werden kann, um niemanden zu
verlieren oder aufgeben zu müssen.
In den Foren gab es schließlich Gelegenheit, in einen Erfahrungsaustausch zu treten. Dabei traten
Eröffnung der Ausstellung
Hemmschwellen zutage, die die Projekte in ihrer Entstehung zu überwinden hatten – im Ping–Pong der
Zuständigkeiten zwischen Jugendhilfe und Schule.
Podiumsdiskussion
Nicht vergessen werden soll der inoffizielle Teil am
Abend des ersten Tages; es gab ein hohes Informationsbedürfnis und möglicherweise führt der Austausch
dazu, daß Kontakte bestehen bleiben und ein Schritt
in die Richtung einer Vernetzung getan werden konnte.
Der zweite Tag stand im Zeichen einer politischen,
strategischen Diskussion. Was tun mit Jugendlichen,
die sich der Schulpflicht entziehen? Herr Thünken vom
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Ministerium für Schule und Weiterbildung und Klaus Schäfer vom Ministerium für
Arbeit Gesundheit und Soziales waren sich einig: Neue Regelsysteme nein, aber
eine Verpflichtung zur Kooperation für beide Seiten.
Das Schlußlicht setzte eine Podiumsdiskussion, moderiert von Markus Schnapka, Landesjugendamt. Vertreter/innen von Schule und Jugendhilfe hatten die Gelegenheit zur Standpunktabklärung – unter lebhafter Beteiligung des Plenums.
Einig waren sich alle Beteiligten über den Handlungsbedarf, über das „wie“ gab es
naturgemäß unterschiedliche Meinungen.
Zu einer Bilanz gehören auch kritische Töne. Diese Veranstaltung beinhaltete
die Chance, professionell übergreifend miteinander ins Gespräch zu kommen. Bedauerlicherweise waren relativ wenige Praktiker/innen aus dem schulischen Bereich vertreten, von denen, die hier waren, gab es eine positive Resonanz. Zukünftig sollten solche auf Kooperation ausgerichtete Tagungen dieses auch in der
gemeinsamen Verantwortung als Veranstalter verdeutlichen.
Eine zweite kritische Bemerkung bezieht sich auf das Nichtzustandekommen
der Arbeitsgruppe „Mädchen, die Schule verweigern“. Daß es sie gibt, ist unbestritten, aber offensichtlich fallen sie weniger auf. Im Erscheinungsbild dominieren die Jungen, weshalb in der Folge sich die Unterstützungsangebote vorrangig
bis ausschließlich an sie richten.
In diesem Zusammenhang kann ich ankündigen, daß wir eine Dokumentation
erstellen werden, der um einen Beitrag über Gründe und Erscheinungsformen der
Schulverweigerung bei Mädchen ergänzt wird.
Das Landesjugendamt beabsichtigte mit der Fachveranstaltung, einen Erfahrungsaustausch über die Landesgrenzen hinaus zu initiieren. Das ist gelungen. Daß
das Thema Zündstoff enthält, wurde nicht nur durch kontroverse Standpunkte
deutlich, sondern auch durch das enorme Medieninteresse. Ein Anfang ist gemacht
und der Dialog wird weitergehen. Das Verständnis über Strukturen, Chancen und
Grenzen bei den Institutionen Schule und Jugendhilfe muß noch wachsen.
Das Landesjugendamt Rheinland wird seinen Beitrag dazu leisten.
Zum Schluß bleibt mir nur, Ihnen für die Teilnahme und Ihre engagierte Mitarbeit zu danken. Ich hoffe, daß Sie einiges an Anregungen für Ihre Praxis wie auch
für Entscheidungen, die in Ihren Zuständigkeitsbereich fallen, mitnehmen konnten.
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Schulverweigerung:
Zielgruppen, Problemlagen
Steffen Hildebrand
(Schulpsychologischer Dienst der Stadt Köln)
Schulverweigerung wird als Verstoß gegen das Schulpflichtgesetz zunächst aus
der disziplinarischen Sicht beurteilt. Die Schuld liegt beim Schüler bzw. den Eltern,
die für den geregelten Schulbesuch ihrer Kinder die Verantwortung tragen. Schulverweigerung kann danach zu Maßnahmen wie Zuführung des Schülers oder der
Schülerin oder zu Strafen wie Bußgeld für die Erziehungsberechtigten führen. Beide Sanktionen werden bezüglich ihrer pädagogischen Wirkung angezweifelt und
werden in der Praxis meistens nicht konsequent durchgeführt. Oft sind sie schlicht
Ausdruck von Ratlosigkeit.
Wir arbeiten an diesen beiden Tagen weitgehend in der Übereinstimmung zusammen, daß Schulverweigerung als Symptom zu verstehen ist und die betreffenden Kinder und Jugendlichen Unterstützung brauchen. Wir werden von Kooperation und Vernetzung sprechen, auch von Zuständigkeiten. Vor allem aber werden
wir Erfahrungen austauschen über Projekte und Initiativen, die den Jugendlichen
vermitteln, etwas zu können und nicht aufgegeben zu sein. Die Ausstellung heute
morgen hat beeindruckend bewiesen, daß geeignete Angebote „auf dem Markt“
sind. Die nachfolgenden Referate werden es bestätigen.
Es wird aber ebenso deutlich werden, daß die Arbeit mit diesen Jugendlichen
anstrengt. Der Erfolg ist nicht so leicht kalkulierbar und oft nur in kleinen Schritten
zu erreichen – und der Erfolg will erst mal definiert sein. Dabei ist die öffentliche
Anerkennung nicht selbstverständlich.
Wir alle wissen, daß die Zielgruppe dieser Schülerinnen und Schüler keine Lobby hat. Und wenn wir
z. B. Unterstützungen brauchen, die in irgendeiner
Hinsicht nicht gänzlich kostenneutral ist, können wir
sicher sein, daß einige denken, daß die eh schon knappen Mittel im Erziehungs- und Bildungsbereich besser für Kinder und Jugendliche eingesetzt werden sollen, die lernen wollen und sich Mühe geben.
Eine weitere Argumentation zielt in die gleiche
Richtung: Die Mittel sollten doch besser für Prävention ausgegeben werden, denn: Jedes präventive Förderkonzept zielt auf eine möglichst frühzeitige Unterstützung, damit die schulischen Probleme erst gar
nicht entstehen bzw. in einem sehr jungen Stadium
erkannt und rechtzeitig bearbeitet werden können.
Damit weisen solche Konzepte aber ebenso auf die
Schwierigkeit – und manchmal auch Aussichtslosigkeit – der eigentlich noch notwendigen Förderungen
hin, hier der angemessenen Unterrichtung von Schülerinnen und Schülern mit sehr belasteten Schulkar-
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rieren in den letzten Schulbesuchsjahren. Implizit wird häufig das „Zu spät“ mitgedacht, ohne jedoch einen Ansatz ableiten zu können, was insbesondere mit den
Jugendlichen geschehen soll, denen man diese pessimistische Perspektive zuschreibt.
Auch Sonderschulen für Erziehungshilfe oder Lernbehinderte können in solchen
Fällen auf die schlechte Prognose bei eigentlich indizierter Sonderbeschulung von
Jugendlichen verweisen – auch unter Rücksichtnahme auf ihre eigenen Lerngruppen
– und lehnen eine Aufnahme begründet ab: Eine Umschulung hätte sinnvollerweise früher stattfinden sollen.
Diese Negativbewertung wird nur selten offen ausgesprochen und vertreten.
Sie wirkt jedoch in der Regel desintegrierend und koppelt den Schüler leicht aus
der Beziehung zur Schule ab. Eine bedarfsgerechte, strukturell verankerte Lösung
fehlt für ältere Schülerinnen und Schüler, die zu scheitern drohen.
So drücken sich sinkende Motivation dieser Jugendlichen und häufig mangelnde
Sinnhaftigkeit des Schulbesuchs oft in massivem Schwänzen aus, das weder familiäre Erziehungsbemühungen noch behördliche Eingriffsmöglichkeiten direkt zu
beeinflussen vermögen.
Oft verstricken sich im Verlauf die Schülerinnen und Schüler, ihre Eltern und die
Schule in Konfliktkreisläufen ohne realistische Lösungsaussichten und handeln meistens lediglich ihre wechselseitigen Verantwortlichkeiten bzw. auch Hilflosigkeiten aus. Besonders verwirrend und paradox entwickelt sich das Problem, wenn
sich eklatante Leistungs- und Motivationsdefizite mit sozialen Auffälligkeiten und
Gefährdungen verknüpfen: So sind Lehrerinnen und Lehrer einerseits verpflichtet,
ihre fehlenden Schülerinnen und Schüler wieder in den Unterricht zu bekommen;
andererseits müßten sie insgeheim hoffen, daß gerade manche der schwänzenden Jugendlichen wegen der zu großen unzumutbaren Belastungen wegbleiben;
denn die Schwierigkeiten sind mit der Wiederaufnahme des Schulbesuchs natürlich nicht automatisch erledigt, sondern es können neue Krisen und Konflikte auftreten.
Die Hauptschule ist die einzige Schulform im Sekundarbereich I die die Beschulungspflicht sichern muß, ohne sich durch Umschulung von Schülerinnen und Schülern in eine andere Schulform qualifiziert entlasten zu können. Aus dieser Konstellation heraus haben sich spezifische verdeckte „Lösungsformen“ entwickelt, die
zwar für einzelne Schulen und Klassen Erleichterungen mit sich bringen, das Gesamtsystem jedoch nach wie vor belasten.
Schulwechsel und Schulverweigerung
Im Rahmen der Einzelfallarbeit mit jugendlichen Schulverweigerern fiel vermehrt
auf, daß kurz vor dem Einsetzen des Fehlens ein Schulwechsel stattgefunden hatte (im übrigen werden Schulwechsel innerhalb der Hauptschule in Krisenfällen so
oft durchgeführt, daß dafür der Begriff „Hauptschultourismus“ gefunden wurde).
Es stellte sich die Frage nach den möglichen Wechselwirkungen zwischen Schulwechsel und Schulverweigerung.
Um über die Analyse der Einzelfälle hinaus Material zu erhalten, wurden die Bußgeldbescheide eines Jahres sowie eine Klientenstichprobe des Jugendamtes eines
Stadtteils ausgewertet. Zwar gaben beide Quellen keine bzw. nur unzureichende
Informationen her hinsichtlich der Zusammenhänge beider Ereignisse – auch
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Schwänzen kann zum Schulwechsel führen –, ermöglichten jedoch Annahmen bezüglich einiger Merkmale von Schulverweigerern.
Es handelt sich überwiegend um Hauptschülerinnen und Hauptschüler
Ihr Alter liegt in der Regel zwischen 14 und 16 Jahren. Nebenbei deutete sich an,
daß Hauptschülerinnen und Hauptschüler im Vergleich zu Schülerinnen und Schülern anderer Schulformen vermehrt Leistungen öffentlicher Erziehung erhalten.
Diese Annahmen müßten allerdings durch weitere Untersuchungen erhärtet
werden.
Häufigkeit der Schulverweigerung
Die Anzahl der Bußgeldbescheide bildet nicht die tatsächliche Häufigkeit des
Schwänzens ab. Deshalb wurde ein Schülerjahrgang von zwei Hauptschulen diesbezüglich untersucht. Es wurden diejenigen Schülerinnen und Schüler erfaßt, die
an 10 oder mehr Tagen im Schuljahr unentschuldigt gefehlt hatten. Diese Fehlquote (unentschuldigt) ist ein Indikator für höchste Gefährdung des Hauptschulabschlusses.
Ergebnisse:
14,9% aller Schüler der ersten Hauptschule und 22% der zweiten Hauptschule
haben zehn und mehr Tage im Schuljahr unentschuldigt gefehlt.
Je höher die Jahrgangsstufe war, desto mehr Jugendliche schwänzten: So fehlten
z. B. 34% aller Schüler der neunten Jahrgangsstufe zehn und mehr Tage im Schuljahr unentschuldigt.
Es bestand ein hoher Zusammenhang zwischen unentschuldigtem Fehlen und
Überalterung der Schüler: Je älter die Jugendlichen im Vergleich zum Durchschnittsalter ihrer Klasse waren, desto häufiger schwänzten sie.
Das Ausmaß des Schwänzens erlaubt nicht mehr nur eine Einzelfallinterpretation,
sondern verweist auf eine Zielgruppe, die besonderer pädagogischer Aufmerksamkeit bedarf. Weiterhin offenbart es ein strukturelles Problem besonders der Hauptschule, auch für Schülerinnen und Schüler zuständig zu sein und sie integrieren zu
müssen, die sich bereits weitgehend von der Schule und ihren Angeboten entfernt
haben und nur noch wegen der Schulpflicht formal mit ihr verbunden bleiben.
Exkurs: Zu den verdeckten Aufgaben der Hauptschule
Die Hauptschule hat de facto für einen großen Teil ihrer Schülerinnen und Schüler die Funktion einer Förderschule mit einem rehabilitativen Auftrag erhalten für
die Aufarbeitung von Leistungsdefiziten und Verhaltensauffälligkeiten sowie für
die Kompensation von Schwierigkeiten aus dem sozialen Umfeld.
Die Schülerinnen und Schüler, die in die 5. Klasse der Hauptschule kommen,
erfüllen in der Regel die Lernvoraussetzungen dieser Schulform nicht. Sie haben
die Lernziele der Grundschule nicht erreicht. Die Hauptschule kann jedoch die
Beschulung dieser Kinder nicht – anders als Realschulen und Gymnasien – an andere Allgemeine Schulen abgeben und ist gezwungen, ihre neuen Schülerinnen
und Schüler fördernd da „abzuholen, wo sie sich befinden“, d. h. oft, daß sie fundamentalen Grundschulstoff intensiv nachschulen muß.
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Die Hauptschule ist verpflichtet, den ihr in den Lehrplänen vorgegebenen Stoff
in sechs Schuljahren zu vermitteln. Muß sie zusätzlich die zum Teil immensen Lernund Leistungsdefizite vieler Fünftklässler abbauen, um ein Fundament für den erfolgreichen Besuch der Hauptschule zu legen, hat sie insgesamt dafür nicht mehr
Zeit zur Verfügung. Die Lehrerinnen und Lehrer müssen also mehr Lerninhalte in
derselben Zeit unterrichten – vor allem komprimiert in der 5. und 6. Jahrgangsstufe; das bedeutet eine faktische Schulzeitverkürzung nach dem Schulwechsel
gerade für solche Schülerinnen und Schüler, die besonders förderbedürftig sind –
eine paradoxe, kaum lösbare Aufgabe.
Die Hauptschule muß als einzige Schulform der Sekundarstufe I die Beschulungspflicht der Allgemeinen Schule garantieren und in diesem Zusammenhang
auch die gescheiterten Kinder und Jugendlichen der anderen weiterführenden Schulen – auch der Gesamtschule – übernehmen, denn viele schwierige Schülerinnen
und Schüler von anderen Schulformen hatten Probleme und Mißerfolge und kommen aus diesem Grund später zur Hauptschule.
Damit erhält sie eine wichtige gleichsam „hygienische“ Funktion für die anderen Schulen der Sekundarstufe I – allerdings auch für die Primarstufe, die sich ebenfalls durch die verdeckte Förderdefinition der Hauptschule entlasten kann. Es besteht vielfach die Hoffnung in der Grundschule, daß die Hauptschule die Förderung
dieser Kinder in ihren homogenen Lerngruppen, bezogen auf die Leistungen, besser realisieren kann.
Im Rahmen der Beschulungspflicht fällt im Sekundarbereich I überwiegend der
Hauptschule die Aufgabe zu, ausländische Schülerinnen und Schüler zu integrieren. Mehr als die Hälfte aller Kölner Hauptschülerinnen und -schüler sind ausländische Kinder und Jugendliche. Das Ausmaß dieses Auftrages führt oft zu konfliktträchtigen Konstellationen und sozialen Lernbedingungen, die sowohl Vorurteile
und Ablehnungen bis hin zum Ausländerhaß begünstigen oder verstärken als auch
manifestes Auseinandersetzen auslösen können.
Die Hauptschule hat sich zu einer Schulform mit hohem Integrationsauftrag entwickelt. So muß sie auch Jugendliche an der Schwelle zu Sonderschulen für Lernbehinderte und Erziehungshilfe beschulen. Wechsel in diese Schulformen bleiben
Ausnahmen und können vor allem in den oberen Klassen praktisch nicht mehr
durchgeführt werden, da die Sonderschulen in der Regel die Erfolgsaussichten bei
einer verspäteten Maßnahme als sehr gering einschätzen. Hinzu kommt, daß die
Hauptschule die Zielgruppe der schulmüden Schülerinnen und Schüler integrieren
soll, die zwar noch schulpflichtig sind, für die jedoch aufgrund meist chronifizierter
Mißerfolgskarrieren kaum noch positive Schulaussichten bestehen.
In der Schulverweigerung spiegeln und verknüpfen sich Teilprobleme, die dazu
anregen, die Frage der Schulpflicht und ihrer inhaltlichen Ausgestaltung für diese
Schülerinnen und Schüler zu überdenken:
1. Die Schulpflicht ist bei vielen Jugendlichen
nicht mehr durchsetzbar
Viele Eltern sind nicht mehr in der Lage, ihre heranwachsenden Söhne und Töchter zum Schulbesuch zu veranlassen. Sie suchen oft nach eingreifender externer
Unterstützung und sind enttäuscht, wenn dieser erhoffte Zwang nicht mehr aus-
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geübt wird/werden kann. So wird dem Jugendamt oft – auch von Schulen – die
Funktion einer für das Durchsetzen der Schulpflicht zuständigen Eingreifbehörde
zugeschrieben, was aber nicht sein Auftrag ist.
2. Die Erziehung zur „Pflicht“ befindet sich in einer Krise
Ein wichtiger Bestandteil demokratischer Erziehung ist, dem Heranwachsenden
geeignete Handlungsräume für die Entwicklung persönlicher Freiheit, Autonomie
und gemeinschaftsbezogener Verantwortung zu öffnen. In vielen Bereichen der
Lebensgestaltung können Kinder und Jugendliche selbst entscheiden und ihr Handeln selbst bestimmen.
Die gesellschaftliche Erziehung zur „Pflichterfüllung“ ist auf diesem Hintergrund
mit Unsicherheit verbunden, zumal wenn bei Jugendlichen das Lustprinzip zu dominieren scheint.
So wird die Notwendigkeit, auch „Grenzen setzen“ zu müssen, zwar allgemein
anerkannt. Die konkrete Umsetzung verliert jedoch an Prägnanz und Klarheit, zumal es den an der Erziehung der Kinder und Jugendlichen Beteiligten u. a. schwerfällt, bezüglich der Inhalte von Regeln und Normen sowie der Art ihrer Durchsetzung Übereinstimmung zu erzielen.
In diesem Zusammenhang entsteht vor allem auch im Konfliktfall der Schulverweigerung die Frage nach der Durchsetzung und nach der Institution bzw. Person,
die dafür zuständig ist.
3. Die Dauer der Schulpflicht ist für gescheiterte Schüler
mit den derzeitigen Unterrichtsinhalten zu lange
Die Verlängerung der Schulpflicht auf zehn Jahre brachte für die Hauptschule
eine aufwertende Angleichung an die anderen weiterführenden Schulen mit sich
und damit eine standardmäßige Anhebung der Bildungschancen für ihre Schülerinnen und Schüler. Außerdem entlastete diese Regelung den damals angespannten Lehrstellenmarkt.
Durch die dramatische Entwicklung der Schulwahlen im Anschluß an die Primarstufe stimmt jedoch die aktuelle Schülerschaft mit der damals angesprochenen
Zielgruppe nur noch zu einem geringen Teil überein. So paßt die zehnjährige Schulpflicht mit dem derzeitigen Unterricht nicht mehr für viele gescheiterte Schülerinnen und Schüler und hindert manche sogar daran, an eine ihrem Leistungsstand,
ihren Neigungen und Begabungen gemäße berufsbezogene Förderung heranzukommen.
4. Für viele Schülerinnen und Schüler ist das Erreichen
des Hauptschulabschlusses unrealistisch
Einzelfallanalysen ergaben, daß bei vielen älteren schwänzenden Hauptschülerinnen und Hauptschülern ein Schulbesuch mit den derzeitigen Lernbedingungen,
Zielen und Methoden nicht mehr sinnvoll ist: Die Leistungsrückstände sind dermaßen groß, daß sie nicht mehr aufholbar sind. Damit korrespondieren in der Regel
große Defizite im Arbeitsverhalten auf dem Hintergrund einer desolaten Motivati-
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on. Die Jugendlichen gehörten, gemessen an ihren Fachkenntnissen, eigentlich in
viel jüngere Jahrgangsstufen, die aber wiederum nicht zu dem sozialen und körperlichen Entwicklungsstand dieser Schülerinnen und Schüler passen. Für die Aufgabe, sie da abzuholen, wo sie stehen, ist die Hauptschule derzeit nicht ausreichend ausgerüstet.
5. In Ermangelung geeigneter Förderungsmöglichkeiten entstehen
schulische Zwischenwelten
Da viele Jugendliche jedoch oft noch zwei Jahre schulpflichtig sind, bleiben sie
an für sie völlig ungeeignete Strukturen gebunden, die sogar kontraproduktiv wirken, wenn z. B. die notwendige Analyse der bedarfsgerechten Förderung durch
disziplinare Konflikte z. B. im Zusammenhang mit der Schulpflichterfüllung überdeckt wird. So rutschen diese Schülerinnen und Schüler leicht in eine Zwischenwelt ab, in der sie zwar formal noch Schüler sind, aber jeden sinnerfüllten Bezug
zur Schule verloren haben. Schwänzen kann dann die Manifestation dieser Krise
sein. Viele Lehrerinnen und Lehrer erkennen diese perspektivlose Konstellation
an. Viele wissen um die hohe Zahl von schulmüden Jugendlichen und sehen die
Problematik, ein angemessenes Unterrichtsangebot zu machen.
Diese Zwischenwelt mit der faktischen Aussetzung der Ausbildung bleibt so lange bestehen, bis die Schulpflicht erfüllt ist; und das geschieht in einer Lebensphase, in der die Jugendlichen nach Identität streben und ihre eigenen sozialen Rollen
zu finden versuchen. Die häufige Unfähigkeit, sich für eine Berufsidentität zu entscheiden, ist jedem Berufsberater bekannt, der hinlänglich weiß, daß die endgültige Wahl des Ratsuchenden nur zum Teil eine Frage ausreichender Informationen
ist. Es ist zu befürchten, daß manche Jugendlichen bereits in dieser Zeit eine Form
psychischer Arbeitslosigkeit entwickeln, die charakterisiert werden kann durch Perspektivlosigkeit, Resignation und mangelndes Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit.
6. Das Unterrichtsangebot der Hauptschule muß noch stärker
um handlungs- und berufsorientierte Unterrichtsformen
erweitert werden.
Auf der Ebene der Jugendberufshilfe hat sich eine Anzahl von Jugendwerkstätten
gerade der oben aufgezeigten Problematik angenommen und Konzepte für die
Berufsmotivierung bzw. -orientierung erarbeitet. Hier wurden die Situation und
der Förderbedarf der mißerfolgsorientierten Jugendlichen explizit anerkannt und
notwendige Ausbildungs- und Unterstützungsstrategien entwickelt, die jedoch erst
im nachschulischen Bereich greifen dürfen.
Deshalb muß überprüft werden, wie diese Ansätze bereits vorher in den Rahmen der Schulpflicht einzubeziehen sind, in der noch alle Schülerinnen und Schüler angesprochen werden können, während nach der Schulpflicht das Angebot
aufgrund der Freiwilligkeit der Teilnahme nur vergleichsweise wenige erreicht.
1990 schlug die Unabhängige Gewaltkommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt in der Schule vor:
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„Bei sehr stark schulunwilligen Jugendlichen über 14 Jahren sollten die Ausgestaltung der Schulpflicht und die landesgesetzlichen Regelungen zur Befreiung von
der Schulpflicht neu überdacht werden. Insoweit empfehlen sich berufspraktische
Programme, in denen u. a. Leistungs- und Durchhaltevermögen am Arbeitsplatz
gefördert werden und Erfolgserlebnisse wahrscheinlicher sind.“
Insofern könnte diese Tagung auch ein Baustein einer Reihe zur Gewaltprävention
sein.
7. Der Dialog zwischen Schule und Jugendhilfe muß
zielgruppenbezogen auf den verschiedenen Handlungs- und
Planungsebenen intensiviert werden.
Unterschiedliche gesellschaftliche Aufträge von Schule und Jugendhilfe, ihre spezifischen Standpunkte und Blickwinkel trennen häufig und können zu gegenseitigen Zuständigkeitszuschreibungen und Konzeptionsprojektionen verführen – vor
allem bei Zielgruppen mit einer derart schwierigen Betreuungsperspektive.
Viele Lehrerinnen und Lehrer sehen sich mit Aufgaben der Sozialarbeit und der
Sozialpädagogik konfrontiert. Das Arbeitsplatzprofil der Lehrerin und des Lehrers
hat sich verändert.
Entsprechend der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs, der in
Nordrhein–Westfalen das bisherige Sonderschulaufnahmeverfahren ablöst, müßte ergänzend der sozialpädagogische Förderbedarf anerkannt und entsprechende
Angebote entwickelt werden.
Andererseits bietet die gemeinsame Zuständigkeit beider Institutionen für schulmüde, hinsichtlich ihrer weiteren Ausbildung gefährdeten und benachteiligten
Jugendlichen die Gelegenheit zur Entwicklung sich ergänzender schulinterner und
-externer Förderungen und Unterstützungen.
In den letzten Jahren ist in Nordrhein–Westfalen wie in anderen Ländern auf
ministerieller Ebene der Dialog zwischen Jugendhilfe und Schule intensiviert worden.
Der spezifische Förderbedarf für abschlußgefährdete benachteiligte Jugendliche
wurde anerkannt und entsprechende kooperative Verbundmodelle zwischen den
Maßnahmeträgern Schule, Jugendhilfe und auch Arbeitsverwaltung zugelassen.
Das sollte Anlaß zur Hoffnung geben, daß diese Initiativen keine pädagogischen
Eintagsfliegen bleiben. Sie können wichtige bedarfsgerechte Entwicklungsimpulse
für die Schule darstellen und Konzepte wie „Öffnung von Schule“, „Autonomie“
und „Integration“ mit zusätzlichen Anregungen versehen.
Dann kann Schulpflicht als Chance und als Pflicht der Gesellschaft zur angemessenen Betreuung aller Schülerinnen und Schüler in jedem Stadium ihrer Schullaufbahn verstanden werden, in der sie sich immer wieder bewähren können.
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Zum Beispiel Franzi
Bernadette Aaldering–Zurawski
(Hauptschullehrerin, Essen)
„Jedes menschliche Wesen besitzt das geheimnisvolle Etwas, das wir Persönlichkeit nennen. Wenn wir von einer ‘eindrucksvollen Persönlichkeit’ sprechen, dann
meinen wir immer einen Menschen, der im vollen Einklang mit seinen innerlichen
Anlagen und Fähigkeiten lebt, der anderen nichts vormacht, der nicht mehr scheinen will, als er ist.
Eine schwächliche Persönlichkeit ist gleichzeitig eine gehemmte, nicht voll entwickelte Persönlichkeit und entspricht einem Menschen, der sein schöpferisches
Ich in sich vergraben hält, der nicht ‘aus sich herauskommt’, sich nicht entwickelt.
Ein solcher Mensch hat sein Selbst eingeschlossen. In Fesseln gelegt und den Schlüssel zur Seelenzelle obendrein noch weggeworfen.“
(Maxwell Maltz: Erfolg kommt nicht von ungefähr)
Viele Kinder und Jugendliche leiden darunter, daß sie keine allzu große Hochachtung vor sich selber haben. Sie sind kaum in der Lage, ihre Begabungen voll zu
entwickeln und ihre individuellen Möglichkeiten auszuschöpfen.
Schulbesuch und Schulerfolg sind für fast jeden Heranwachsenden von großer
Wichtigkeit. Heutzutage wird der soziale Status immer seltener als ‘erhebliche
Größe’ und immer häufiger als persönliche Errungenschaft angesehen. Entscheidend sind erreichter Schulabschluß sowie beruflicher Erfolg und damit verbundener Verdienst und Lebensstandard. Das bedeutet, daß künftige Lebenswege und
Lebensmöglichkeiten oft schon in einem sehr frühen Alter erschlossen oder versperrt werden.
Nur scheinbar hat jeder Schüler gleiche Lern- und
Leistungschancen. Unterschiedliche intellektuelle
Lernvoraussetzungen, nicht vergleichbare soziale und
materielle Lebenslagen der Familien und die Schulund Unterrichtsorganisation führen sehr schnell dazu,
daß die einen bessere und die anderen schlechtere
Lernfortschritte machen.
Es wird also stets Schülerinnen und Schüler geben,
die früh und langfristig die Erfahrung machen, langsamer zu lernen, weniger zu wissen, größere Schwierigkeiten zu haben und schlechtere Leistungen zu erzielen als andere. Der auf den Durchschnittsschüler
zugeschnittene Unterricht wird zu einer persönlichen
Bewährungssituation, in der der Schüler ständig eigene Leistungen und Leistungsschwierigkeiten im
Vergleich zu denen der Mitschüler und im Verhältnis
zu den gestellten Anforderungen wahrnimmt.
Erleben wir also mit, was aus Franzi wird, wenn sie
in die Schule geht:
18
Franzi ist eine Schülerin, mit
einer im Prinzip intakten, aber
nicht auf die existierenden
schulischen Leistungsanforderungen zugeschnittenen und
eingestellten Lernfähigkeit.
In der Schule soll sie lesen.
Sie hat Schwierigkeiten und macht, obwohl sie so lange braucht, auch noch viele
Fehler. Hat sie einen Text noch frisch im Gedächtnis oder kann den Inhalt erraten, liest sie flott und richtig.
Und manchmal, da muß es
schneller gehen. Sie darf sich
nicht zu lange an einem Wort
aufhalten. Dann ergänzt sie
einfach ganze Wörter falsch
oder liest, so wie sie es eben
raten kann.
Nun ist Franzi im schulischen Alltag nicht allein im
Klassenzimmer, sondern mit
25 und mehr Schülern arbeitet sie gleichzeitig im selben
Stoffgebiet.
Die anderen Kinder machen auch Fehler, aber viel
seltener als Franzi. Die
Unterrichtsabläufe sind
eher auf diese Schüler und
Schülerinnen zugeschnitten.
19
Franzi ist intelligent genug,
um zu merken, daß die Mitschüler etwas können, was sie nicht
kann.
Sie hat einen Defekt.
Für die übrigen Schüler und
Schülerinnen, die für die schulische Lernarbeit die geforderten
Voraussetzungen mitgebracht
haben, ist das Verhalten von
Franzi auch rätselhaft.
Wie ein Wort gelesen wird,
das sieht man doch!!!!!!!!!!!!
Auch der Lehrerin geht es
nicht anders. Sie wird also tun, was Sie und ich in der gleichen Situation auch
machen würden:
Die Lehrerin gibt sich alle erdenkliche Mühe!
Offenbar muß die Franzi mehr unterstützt und gefördert werden. Sie wird
von jetzt an z. B. besonders
oft drangenommen.
Franzi jedoch interpretiert diese „besondere Förderung“ nicht als Hilfe.
20
Die Lehrerin ist verzweifelt. Sie ist doch intensiv
auf den Einzelfall eingegangen und wollte pädagogisch helfen.
Alles probiert – nichts passiert.
Liegt möglicherweise ein kaum beeinflußbarer Defekt in Franzis Lern- und Leistungsvermögen vor?
Auch die Eltern sind enttäuscht. Machen die Lehrerin verantwortlich und vielfach zum „Sündenbock“.
Drohen ihren Kindern mit schlechten Berufsaussichten bei Schulversagen. Verlangen eine Anpassung an
die schulischen Anforderungen.
Und Franzi wird immer
kleiner. Wer ständig erfährt, zu der Gruppe, der
schlechten Schüler zu gehören und als Versagerin gilt, verliert langsam
sein Selbstwertgefühl.
Franzi empfindet die Schulsituation als
solche oder wesentliche Abschnitte (z. B.
Deutschunterricht) als eine permanente Bedrohung.
Also sucht sie nach Erklärungen, die sie nicht
abwerten, sondern sie besser dastehen lassen.
– Sie ist halt unkonzentriert
– Sie will gar nicht lesen und schreiben
– Sie ist krank
21
Und Franzi verhält sich entsprechend, damit die Erklärungen auch stimmen.
– Sie wird unkonzentriert
– Sie kann tatsächlich kaum noch richtig lesen und schreiben
– Sie wird bei Bedarf krank
Wie jeder von uns, braucht auch Franzi Anerkennung. Sie wird jetzt auf anderem Wege erstritten. Die Nichterfüllung der Normleistungen des schulischen
Systems wird kompensiert durch die Rolle der Abweichlerin und Normverletzerin.
Nun beginnt ein sozialer
Hickhack. Es entsteht ein
Kreisprozeß. Die soziale Reaktion, die von Franzi ausgeht, führt wieder zu verstärkten Reaktionen und
diese kehren zu ihr zurück.
22
Franzi resigniert. Leidet immer mehr an einem lädierten Selbstgefühl.
Sieht Mißerfolge als Beweis ihrer Unfähigkeit an.
Führt gelegentliche Erfolge eher auf Zufall oder Glück zurück.
Franzi bekommt eine feindselige Einstellung gegenüber Schule/Lehrern.
Druck und Verzweiflung werden immer
größer.
Franzi sieht nur in der Flucht eine Lösung. Was bedeuten kann:
–
–
–
tatsächliches Weglaufen
Krankheit
Tagträume
Gleichzeitig wächst mit der
Leistungsangst die soziale
Angst. Franzi ist blockiert. Frühzeitiges Aufgeben, Selbstbeschuldigung, Abfinden mit der
Situation, Selbstabwertung
sind nur einige Folgen, die ihr
Leistungsverhalten wiederum
ungünstig beeinflussen.
Vermeidung
Ein neuer Kreislauf von Angst und Blockierung entsteht.
23
Der Schulbetrieb geht jedoch weiter. Es gibt auch
einen eingegrenzten Handlungsspielraum, wenn Lehrer und Lehrerinnen Schülerinnen wie Franzi Lern- und
Entwicklungsperspektiven erschließen wollen. Die Zeit
vergeht, es
entstehen immer neue Lücken. Die Rückwirkung der Lükken auf das Selbstvertrauen ist unausweichlich: Franzi weiß, daß sie nicht alles
gelernt hat, was sie sollte und kann sich ausrechnen, daß sie wieder versagen
wird. Vielmehr, wartet sie schon auf den Mißerfolg.
Wenn wir zusammenzählen, was Franzi bisher erfahren hat, dann kommen folgende Dinge zusammen:
–
–
–
–
–
–
–
–
–
Defekt
Unkonzentriertheit
Angst
Blockierung
Versagerin
Isolation
Vorwürfe
Lücken
Mißerfolge
Die Waage bleibt im Ungleichgewicht. In der anderen Waagschale
fehlt etwas Positives:
Ein Erfolg!!!!!
für mich
sind da nur Sechsen drin
24
Herausgekommen ist eine
am liebsten fliehen möchte,
nen Fähigkeiten ist,
ren Fächern möglicherzenbleibt und irgendfrühzeitig und ohne
Franzi, die unglücklich ist,
wenig überzeugt von eigespäter auch in andeweise versagt, sitwann die Schule
Abschluß verläßt.
Eben ein schwieriges Mädchen.
Von Franzi zurück zum Allgemeinen
Wenn man davon ausgeht, daß frühe Versagensergebnisse Einfluß auf die spätere Schul- und Ausbildungskarriere der Heranwachsenden haben, leitet sich die
Notwendigkeit ab, so früh wie möglich mit pädagogischen Maßnahmen zur Prävention und zur Korrektur von Schulversagen anzufangen.
Die folgenden Bedingungen sind Anregungen für die Suche nach Änderungsmöglichkeiten und für die Erprobung bereits bewährter Handlungsformen.
Bedingung 1:
Alle vertrauensbildenden Maßnahmen des Lehrers/der Lehrerin, die das Vertrauen
des Schülers/der Schülerin zu sich selbst, zu seinen Fähigkeiten und zu den Mitschülern, kurz zum Lebensraum Schule verstärken.
Bedingung 2:
Ein emotional befriedigendes Unterrichts- und Schulklima.
Bedingung 3:
Ein hinreichendes Maß an Klarheit, Geordnetheit und Durchschaubarkeit des
Unterrichts.
Bedingung 4:
Sachgerechte und transparente Verfahren bei der Überprüfung von
Lernfortschritten.
25
Bedingung 5:
Ermutigung, Lob und Anerkennung nicht inflationär, sondern im Hinblick auf
wirkliche Leistungsentwicklungen.
Bedingung 6:
Förderung besonderer Interessensgebiete des Schülers/der Schülerin.
Bedingung 7:
Schule als Erfahrungsraum oder Erfahrungslernen.
Bedingung 8:
Vermittlung von Verhaltensweisen, um mit Schwierigkeiten besser umgehen
zu können. Lernen, daß Irrtum keine Schande ist.
Bedingung 9:
Ein kooperatives Lehrer-System, Intensivierung der Elternkontakte und
Gestaltung der sozialen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler.
Bedingung 10:
Sozialpädagogische Jugendarbeit und soziale Beratung in der Schule.
Die eigentliche Wirksamkeit der genannten schulischen Maßnahmen liegt
jedoch in ihrem „Doppelcharakter“. Das heißt, die Präventionskonzepte müssen
kompensierend und korrigierend auf ungünstige außerschulische – familiale Bedingungen einwirken, aber auch auf die schulischen Handlungs- und Leistungsanforderungen abgestellt sein.
Die Darlegung der Handlungsmöglichkeiten wäre allerdings eine völlig einseitige Betrachtungsweise, wenn man nicht zugleich auch die Grenzen der pädagogischen Einflußnahme im Unterricht aufzeigt.
Es sind vor allem nachstehende Gründe, die die pädagogische Wirksamkeit der
Lehrer begrenzen:
– Schule nimmt im Alltag vieler Familien keinen zentralen Stellenwert ein. Sie ist
etwas, was eben sein muß und wo das Kind eben durch muß oder auch nicht.
Oft bestimmen der unmittelbare Vergleich mit der Peergroup im Umfeld Werte,
Einstellungen und Verhalten der Eltern. Erziehung läuft als etwas Selbstverständliches neben den aktuellen Alltagsbelastungen her. Aus Zeit-, Raum-, Finanz- und
Kompetenzgründen verfügen sie über geringe Förderungsmöglichkeiten, um ihre
Kinder zu unterstützen und deren persönliche Leistungsfähigkeit günstig zu beeinflussen.
In vielen Fällen sind die Schüler und Schülerinnen in ihren Lebensbedingungen
und familiären Verhältnissen mehrfach belastet.
Besonders Mädchen werden schon früh in die Rolle der Person gedrängt, die
häusliche Pflichten zu übernehmen haben.
26
Die Möglichkeiten von Schule in Einzelfällen durch speziellen Förderunterricht
für Schülerinnen wie Franzi die Lücken zu schließen, dürfen als begrenzt angesehen werden. Normalerweise sind Schulen personell so knapp besetzt, daß Sondermaßnahmen kaum regelmäßig durchgeführt werden können.
Insbesondere dann nicht, wenn dauernde Verletzungen des Schulpflichtgesetzes
und daraus resultierende längere Fehlzeiten vorliegen.
Orientiert man sich an einem realistischen Schulmodell, so kommt hinzu, daß
Gesprächskreise von Eltern, Lehrern und Schülern, die Zusammenarbeit mit außerschulischen Einrichtungen, Kontakte mit Kollegen etc. sicherlich auch einen
hohen zusätzlichen Zeitaufwand beinhalten.
Ferner ist zu berücksichtigen, daß Lehrer weder von ihrer Ausbildung, noch von
ihren alltäglichen Aufgaben her, Therapeuten sind. Der Lehrer, der intensiv auf
den Einzelfall eingeht, um pädagogisch helfen zu können, ist auch auf die Unterstützung von Fachleuten angewiesen.
Häufig sind pädagogische Präventionskonzepte besonders aussichtslos, wenn
die Befürchtung besteht, daß sie schulische Leistungen, Anforderungen und Stoffpläne in Frage stellen.
Zu einer erfolgreichen Förderung gehören jedoch auch Möglichkeiten zur nachträglichen Korrektur von Schulversagen. Diese Modelle betreffen besonders Schüler und Schülerinnen, die sich schon früh dem Bildungssystem entzogen bzw. auch
nach Durchlaufen von Zusatzmaßnahmen den Hauptschulabschluß nicht geschafft
haben. Darunter sind jene Heranwachsende zu verstehen, die die Schule vor Erreichen eines Abschlusses verlassen und deren Erziehungs- und Förderungsansprüche
weder durch die Familie noch durch die Schule ausreichend sichergestellt werden
konnten. Für diese Jugendlichen ist es notwendig, „ihnen angemessene Formen
der Entfaltung schulisch relevanter Leistungen sowie Möglichkeiten der beruflichen und sozialen Integration zu gewährleisten“ (Hurrelmann, S. 178).
Die Jugendwerkstatt für Mädchen der Stadt Essen, ist eine Maßnahme, die sich
stärker als bisher üblich an den außerschulischen Lebenserfahrungen und bedürfnissen von jungen Mädchen orientiert.
In der Jugendwerkstatt besitzt „Schule“ wesentlich mehr Kapazitäten, um Lernfreude, gesundes Selbstvertrauen und realistische Erfolgszuversicht zu fördern und
immer wieder kompensierend und aufbauend zu wirken.
Welche Voraussetzungen waren dafür im ersten Jahr des Modellversuches notwendig?
– Es wurde nicht im 45–Min. Rhythmus unterrichtet. Das zeitliche Limit wurde
bestimmt, durch das Lern- und Leistungsvermögen bzw. das Arbeitstempo und
die Interessenlage der Mädchen.
– Die Beurteilung erfolgte nicht auf der Basis von Noten, vielmehr erhielten die
Schülerinnen alle 4 – 6 Wochen individuelle mündliche oder schriftliche Beurteilungen. Zum 1. und 2. Halbjahresende wurden Wortgutachten erstellt. Diese
Schülerberichte hatten einen besonderen pädagogischen Wert für die Teilnehmerinnen. Sie charakterisierten die persönlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten,
die gezeigt worden waren. Ferner ermöglichten sie Schule, in differenzierter Form
über den schulischen Leistungsstand zu berichten und zusätzlich konnten individuelle soziale und andere Fertigkeiten und Fähigkeiten der Mädchen vermittelt
werden.
27
– Solche Profilbereiche können in drei Richtungen wirken:
Sie dienen als Hilfe und Anregung zur persönlichen Lern- und Leistungsverbesserung.
Sie würdigen auch Leistungen der Schülerinnen in alternativen Arbeitsbereichen
und stützen das Selbstwertgefühl.
Sie tragen dazu bei, über einen Bildungsgang zu informieren, in dem zwar bestimmte schulische Qualifikationen in nicht immer ausreichendem Maße erworben wurden, aber andere insbesondere im beruflichen Bereich verwertbare Fertigkeiten und Fähigkeiten nachgewiesen werden können. Zusätzlich tragen sie
zu einer Aufwertung von Abgabezeugnissen bei.
– Die Materialien für den Unterricht wurden nach schüler- und mädchengerechten
Kriterien zu den einzelnen Fächern ausgewählt und zu Arbeitsmappen zusammengestellt.
– Die Arbeitsmappen ermöglichten, die schrittweise Bewältigung von Anforderungen und trugen dazu bei, Lernkapazitäten freizusetzen. Die Mädchen konnten je nach Interesse individuell arbeiten, ihre eigenen Arbeitsschwerpunkte erkennen und mit Unterstützung zu einer qualitativen Fehleranalyse gelangen.
– Auf längerer Sicht hatten unterschiedliche Konstellationen die Entstehung massiver Schulängste, das Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten und die Ausbildung von Blockierungs- und Vermeidungsverhalten als Überforderungssymptome bewirkt. Somit stand im Vordergrund, diesen Mädchen mit
problematischen Familienverhältnissen, fehlgelaufener Sozialisation und einer
tiefen Erschütterung des seelischen Gleichgewichts das Gefühl zu vermitteln,
daß sie den Absichten und Handlungen der Lehrerin vertrauen können, von ihr
als Person akzeptiert werden und in kritischen Situationen von ihr Hilfe erbitten
und erwarten können.
Vertrauen zu erwecken ist das Ergebnis täglichen Bemühens gewesen, als Person und als Lehrende in den Augen der Schülerinnen zuverlässig, ehrlich und hilfsbereit zu sein. Dies mag etwas banal klingen, stellt aber nicht destoweniger die
Grundlage aller Versuche dar, im Unterricht Angst abzubauen.
Die Mädchen fühlen sich jetzt durch Verständnis, Akzeptanz, Zuwendung, Zutrauen, Anerkennung, Geduld und Unterstützung ermutigt und wagen sich immer
mehr an die Bewältigung ihrer Schwierigkeiten heran.
Reaktionen wie Angst, Abwehr, Verweigerung, Vermeidung, Rückzug, Passivität
und vornehmlich depressive Haltungen werden nicht mehr begünstigt und das
positive Befinden wird immer bewußter erlebt und gelebt, mit dem Ergebnis der
größeren Bereitschaft, aktiv an der eigenen Lebens- und Berufsplanung mitzuarbeiten.
Die Geschichte von Franzi und die dazu gehörenden Karikaturen haben wir
mit freundlicher Genehmigung der Psychologie–Verlags–Union, Weinheim,
dem Buch „Teufelskreis Lernstörungen“, D. Betz und H. Breuninger, 1993,
3. Auflage, entnommen.
29
Wenn Schulverweigerer Schule machen…
Schule des Lebens im Überschneidungsbereich von
Jugendhilfe und Schule
Karlheinz Thimm (Hennickendorf)
Schule im Gegenwind
„Manchmal sitze ich am Schreibtisch und könnte nur noch heulen”, sagt Sabine
Gärtner. Ich kenne diese Lehrerin nur aus der Zeitschrift „Brigitte“. Mag sein, sie ist
Fiktion, ein Retortenprodukt aus professioneller Schreibtischperspektive. Aber ihre
niedergeschriebenen Sorgen sind keine erdachte Räuberpistole. Montag morgen,
Hauptschule in einer süddeutschen Kleinstadt, 14jährige Jungen und Mädchen,
Eintritt in die Klasse. Frau Gärtners Klagen:
– Pflanzen von der Fensterbank auf dem Boden
– Klasse überdreht
– 3 Jugendliche mit glasigen Augen
– 4 kommen zu spät: „Hab verpennt“
– 7 Schülerinnen und Schüler fehlen
– 10 Minuten, bis Ruhe einkehrt
– Die Hälfte ohne Hausaufgaben
– Fast alle haben keinen Bock auf Sozialkunde: „Das parlamentarische System
und die Parteien“
– O–Ton vom Elternabend: „Mein Junge säuft nicht,
der trinkt mal ne Flasche“; „Dann tun Sie doch was.
Sie sind doch die Lehrerin“; „Die Intelligenz für den
Abschluß hat er“
„Zum Schluß wollen wir basteln. Nur sechs haben
etwas dafür mitgebracht. Ingo zieht Bettina mal
eben aus Jux an den Haaren. Sie schreit. Ich schmeiße ihn raus. Dann mache ich den Bastelschrank auf.
Vor einer Woche aufgeräumt, nun ist alles wieder
durcheinander. Klebstoff ist über den Stapel
Zeichenkarton gelaufen; von 24 Scheren sind noch
vier da.
Die Jugendlichen lachen albern hinter meinem Rükken. Ich raste total aus. Brülle und drohe mit einer
Klassenarbeit und dem Elternabend.
Nachmittags über den Klassenarbeiten. Wie wenig
selbst im Kurzzeitgedächtnis hängen bleibt. 18 Fehler in fünf Sätzen sind keine Ausnahme. Deutsche
Aufsätze von Schülern, die in einem Jahr die Schule
verlassen werden. Was soll aus jemandem werden,
30
der nicht mal das Wort „Stuhl“ richtig schreiben kann?! Stil und auch Inhalt spielen sowieso keine große Rolle an der Hauptschule.
Es klingelt. Vier meiner Schüler und Schülerinnen stehen vor der Tür. Mark drückt
mir verlegen eine Rose in die Hand. Wir sitzen den Nachmittag im Wohnzimmer, hören Musik, reden über Eltern, Liebe, Schule. Sie wollen sich Mühe geben.
Ich denke, ich bin zur Hälfte Sozialpädagogin. Und die andere Hälfte...?“
– Klassenfahrt: Ausgelassenheit, Spielen, Grillen, Anvertrauen, Rührung...
Schule ist nicht schuld. Aber die Institution hat, ob sie will oder nicht, elementare Sozialisationsleistungen zu vollbringen, weil sich vieles nicht mehr von allein
versteht. Sie ist
– Lernort und Lebensraum
– Platz für Bildung und Beziehung, Geselligkeit, Freundschaft
– Kontext für Zertifikationserwerb und jugendlichen Ausdruckselan
– Milieu für Selektionsstreß und freundliche Umgangserwartung.
Schule muß also bis Klasse 10 Primärerfahrungen ermöglichen, etwa: Zuhören
und Resonanz spürbar werden lassen, Daseinsberechtigung und Werterleben abstützen, mangelnde Beheimatung und Geborgenheitsdefizite kompensieren,
Konfliktkultur installieren und Zukunftsoptimismus miterzeugen u. a. m.. Nicht
zuletzt, das wollen auch Eltern: Schule soll traditionell qualifizieren, muß beurteilen, sieben, letztlich plazieren und doch immer auch Randständigkeit und Ausgrenzung verhindern, integrieren etc..
Das bedeutet unter dem Strich manchmal Quadratur des Kreises, aber allemal:
Selbstverständnis, Sichtweisen und Raum–Zeit–Sach–Strukturen, Gesellungsformen und methodische und didaktische Prinzipien stehen auf dem Prüfstand.
Gäbe es Schule nicht, würde niemand, der Bildung heute völlig neu entwerfen
und organisieren dürfte, auf die mit Abstand betrachtet recht absurde Idee kommen, 30 Kinder oder Jugendlichen mit einem Erwachsenen in einen Raum zu sperren, 20 solcher Gebilde in einem Haus zu vereinen und alle 45 Minuten die Erwachsenen rotieren zu lassen. Dieses anachronistische Verfahren ist allerdings
kostengünstig und verwaltungsfreundlich. Jedoch, Schule neu denken ist leichter
als Schule schülergerecht und lehrerverträglich, gesellschaftsdienlich und als eigenberechtigte Gegenwartszeit, bunt und lebendig, sinnhaft und akzeptiert zu gestalten und machen. Aber richtig bleibt – und in dem durch mich vertretenen Projekt versuchshalber, in der Arbeit mit leistungsschwachen Schülern etabliert – das,
was innere Schulreform heute beansprucht und auf Länderebene auch
schulgesetzlich absichert:
– Auf der Organisationsebene: Selbständigkeit, Profilbildung, dezentrale
Mittelverwendung, Öffnung: zur Nachbarschaft, zum Stadtteil zum Beispiel
– Auf der Ebene des Unterrichtens, des Bildens, des Lernens:
– Binnendifferenzierung, Förderung der Langsamen und Herausforderung der
Flotten
– Neigungsbezüge durch flexible Stundentafel, also Kerncurriculum (z. B. 60%) plus
fakultative Elemente
– Offensive Vertretung von exemplarischem Lernverständnis
– Freiarbeit und Wochenplanarbeit
31
– Erfahrungs-, Erlebens-, Jetzigkeitsorientierung
– Fächerübergreifender Unterricht, Lernbereichsdidaktik, Projekte
– Produkt- und Handlungsausrichtung
– Ganztagsschule und Stärkung außerunterrichtlicher Aktivitäten
– Lernentwicklungsberichte
– Realitätsbezüge, zur Arbeitswelt, zu außerschulischen Lernorten, Einbezug
externer Expertinnen und Experten u. ä.
Schule beinhaltet und umfaßt – das ist das ABC der Aufgaben- und Funktionsbestimmung
— Wissenserwerb
— Schon- und Schutzraumfunktion
— Einübung in Kultur und Gesellschaft
— Ergänzung zur Familienerziehung
— Berechtigungverteilung, Lebenschancenzuteilung, Plätzezuweisung für das
Morgen
Neu ist nunmehr, daß neben dem Lehren (Schüler als Objekt) und Lernen (Schülerin als Subjekt) drei andere Modalitäten auch jenseits des Grundschulbereichs
zunehmend Legitimation erlangen:
1. Begleiten, Unterstützen, Beraten oder modern: Hilfe zur Selbstsozialisation,
2. Spiel und Arbeit als berechtigte Bildungsprinzipien und -medien
3. Leben (zulassen), also auch unterrichts- und erziehungsfreie Zeit in Schule
erlauben
Schule ist nicht Reparaturbetrieb der Gesellschaft. Das entspricht nicht ihrem
Auftrag – und es würde die Institution überfordern. Aber sie muß außerschulische
Erfahrungen ernstnehmen und veränderte Bildungsverständnisse ermöglichen.
Sonst wird der Vorwurf, daß Schule hochwissenschaftlich bzw. bildungsbürgerlich–
zeitwidrig das Falsche anbiete, von Jugendlichen in der Sekundarstufe I so gefüllt,
daß ihre Leiber und Seelen sich mehr und mehr in Totstellreflexe, in Emigration, in
Widerständigkeit flüchten.
Zum Verhältnis von Jugendhilfe und Schule
Kann die Jugendhilfe, die Sozialpädagogik hier beispringen? Untersuchen wir
die Gesetzeslage (aber z. B. auch die Indikationen für Heimerziehung), so fällt zunächst auf, daß für die Jugendhilfe Schule zentral ist, umgekehrt fällt in der Regel
kaum ein Nebensatz ab.
Allerdings, wenn Jugendhilfe sich selbst wahrnimmt und präsentiert und Schule
etikettiert, dann erhalten wir schnell die Polarität des „gut“ versus „böse“. Ich rezitiere, Schule in erster und Sozialpädagogik in zweiter Nennung:
– Pflicht, Zwang – Kür, Selbstbestimmung
– Leistung – Beziehung: Vertrauen, Unterstützung, Hilfe, daraus mehr oder
wenigerableitbar:
– Monologisch–direktive Kultur – Dialogische Aushandlungskultur
32
– Konkurrenz – Kooperation
– Selektion – Förderung
– Kognitiver Schwerpunkt – Ganzheitlichkeit
– Berufsrolle und Selbstbild: Wissensvermittler – Berufsrolle und Selbstbild: Helfer
– Zukunft, Vorbereitung auf Leben – Gegenwart, Hier–und–Jetzt–Thematiken
– Unparteilichkeit, ohne Ansehen der Person – Parteilichkeit
– Äußerliche Ziele und Produkte – Prozesse
– Fremdbestimmte Sache, Stoff – Zweckfreie Kommunikation, Spiel, selbstdefinierte Probleme
– Streß, Spannung – Entspannung, Spontaneität
– Hierarchie – Partnerschaft
Diese zugespitzten Gegensätze sind nicht beliebig auflösbar; für Unterschiede
und Verständigungsprobleme gibt es also strukturelle Gründe. Ich frage – gemäß
meines Themas und Auftrages – zunächst von der Seite der Sozialpädagogik her
nach Schule und bin mir der Schieflage bzw. Einseitigkeit bewußt. Ich weiß: Von
der Schule und der Jugendhilfe zu reden, greift zu kurz. Denn selbst Institutionen
gleicher Art sind hochvariant, geprägt von Klima, Kultur, vor allem jenen Pädagoginnen und Pädagogen, die mit ihren unterschiedlichen persönlichen Möglichkeiten und ihrem unterschiedlichen Engagement dort tätig sind und Qualität entscheidend prägen.
Dennoch, es gibt Möglichkeiten und Berechtigungen zur Pauschalisierung, es
existieren Unterschiede, die in Auftrag und Funktion, Rahmenbedingungen und
Geschichte, disziplinären und institutionellen Identitäten, Binnenstrukturen, Status, Einkommen angelegt sind und demzufolge Blickrichtungen und Vorgehensweisen weich determinieren. Erlauben Sie mir noch einige Bemerkungen zum Verhältnis von Jugendhilfe und Schule, Bildung und Sozialpädagogik.
Schule – so Hans Thiersch – ist trotz der Vielgestaltigkeit der empirischen
Institutionen ein in staatlicher Zuständigkeit weithin einheitlich strukturierter Bereich, bestimmt von durchgehenden Aufgaben, repräsentiert in gesettelten
Institutionen, begründet und gestützt in festen und öffentlich akzeptierten Traditionen ohne existenzbedrohende Rechtfertigungsnöte. Jugendhilfe organisiert sich
dagegen in einer Buntheit von Trägerschaften, Konzepten und Profilen. Einrichtungen geraten zu Recht häufig nicht groß, Traditionen sind unübersichtlich und
öffentlich nur bedingt respektiert. Oft sind die Sozialen aus der Position der selbsterlebten Drittklassigkeit und zudiktierten Minderwertigkeit nach wie vor in Beweisnöte, Legitimations- und Reputationsgefechte verstrickt. Die Vielgestaltigkeit und
Offenheit aber gibt Chancen und birgt Gefahren. Die Chancenseite beinhaltet u.
a. die Profilierung als humane Veranstaltung mit einem hohen Maß an Akzeptanzorientierung, ritualarmer Kreativität und großen individuellen Verfügungs- und
Gestaltungsspielräumen.
In den auch hier und heute in Rede stehenden Vorhaben der Kooperation zwischen Bildung und Jugendhilfe wird mit jungen Menschen gearbeitet, deren Schwierigkeiten häufig durch Schule verstärkt, nicht selten mitproduziert worden sind.
Aus sozialpädagogischer Sicht wirkt, z. T. noch einmal nach Thiersch – für die
Zielgruppe der Schulmüden, nur exemplarisch unterfüttert, folgendes kontraproduktiv:
33
– In der Schule gelten Regeln und Aufgaben, Ansprüche und Leistungskriterien
allgemein, ohne Ansehen der Geschichte und Lage der Einzelnen. Das schulische Alltagsgeschäft wird durchgesetzt gegen Gleichgültigkeit, Öde, Widerstände
– bei Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern.
– In der Schule zählen Wissen, Stoff. Praktische und soziale Erfahrungen bleiben
randständig.
Provokant Thiersch: Schule verspiele die Chance zum Bildungsabenteuer in der
Anstrengung um Wissensplunder.
– Noten und Beurteilungen wirken zentral. Der Prüfstand ist selbstverständlich
und allgegenwärtig. Dadurch ausgelösten Prozessen von Mißerfolg, Demütigung,
Scheitern steht die Institution Schule mehr oder weniger achselzuckend hinnehmend gegenüber.
Sozialpädagogik sieht eine Schule, die mit ihrem Bildungsauftrag Schwierigkeiten hat und den Erziehungsauftrag nur viertelherzig annimmt.
Allerdings: Sind Sozialpädagoginnen Pädagoginnen, die keine Lehrerinnen werden wollten, – nicht unüblich –, dann mischen sich in die analytische Sachlichkeit
eigene Erinnerungen, Enttäuschungen und Abrechnungen.
Manche Soziale definieren sich dann identifikatorisch womöglich als Rächer der
Entrechteten. Jedoch, sich im Loft der lupenreinen, bedürfnisorientierten, allein
auf Selbstbestimmung fußenden Menschenfreundlichkeit zu bewegen bzw. dies
zu beanspruchen, ist eine Selbsttäuschung bzw. eine endliche Identität, die im
Fegefeuer der Undankbarkeit verbrennt. Auch Sozialpädagogik, auch Jugendhilfe
– mißt Jugendliche an generellen Durchschnittsnormen, verwaltet Zwänge und
paßt an,
– kann im Alltagsdruck eigenen, selbstauferlegten Maßstäben und Ansprüchen
nicht immer gerecht werden, wird auch bestimmt durch Müdigkeit, Enttäuschung, Feigheit, Genügsamkeit,
– grenzt aus und schiebt ab, zwischen Heim, Straße, Psychiatrie und Gefängnis
etwa,
– hat bereichsintern Schwierigkeit mit Kollegialität, Partizipationsorientierung,
Transparenz und anderem mehr.
Es fiel schon immer leichter, eigene Sorgen am anderen, am Gegenüber zu bekämpfen. Nur darf diese Selbstkritik nicht den nüchternen Blick auf die Sache verstellen.
Jedoch, für Bildungsprojekte, nicht zuletzt mit schulflüchtigen Jugendlichen, sind
sozialpädagogische Perspektiven unerläßlich. Zum Beispiel:
1. Jugendhilfe berücksichtigt Biographie und aktuelle Lebenssituation von Kindern
und Jugendlichen und ist prinzipiell verstehend orientiert. Ihr zentrales Medium
ist die Herstellung und Stabilisierung von Kontakt und Beziehung zwischen Professionellen und Adressaten. Für viele Jugendhilfejugendliche sind Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen die Menschen, zu denen sie das meiste Vertrauen
haben.
Soziale sind jedoch – nach meiner Vorstellung – nicht die Alimentierer und
Alibisierer, die Tanzmariechen, die mechanisch auf jugendlichen Pfiff reagieren.
Sozialpädagogik darf nicht mechanisch immer Verständnis haben. Das hat mit
34
Verstehen als Aufspürung und Ressourcenerweiterung nicht unbedingt etwas zu
tun. Jugendhilfe wird damit intern und extern unglaubwürdig. Gegen einengende
Modernismen sollte Jugendhilfe sich m.E. die gesamte Breite möglicher pädagogischer Kontaktmodalitäten erlauben.
Sie ist jedoch keinesfalls – zur anderen Seite gesprochen – der verlängerte Arm,
das Dienstmädchen von Schule, oder auch nicht: Der Speck, mit dem man Mäuse
fängt.
Forderung 1: Schulische Bildung muß die Beziehungsebene stärken.
2. Jugendhilfe mit ihren Erfahrungen von Rand und Krise sieht mit greller Deutlichkeit strukturelle Veränderungen in der Gesellschaft und die Auswirkungen auf
junge Menschen.
So erlebt zum Beispiel die Helferschaft sehr viel unmittelbarer eine Jugendkultur,
die geprägt ist durch Eigenwilligkeit, Gegenwärtigkeit, Expressivität. Jugendhilfe
hat einen ganz anderen Blick auf Gesellung, auf Gruppengrößen, auf jugendliche Bewegkräfte, auf Erfolgskriterien und Belohnungssysteme, auf Kommunikation und Dialog, auf Angebotsorientierung jenseits von Sanktion und Gratifikation. Sie versteht zu werben, sich in offenen Situationen zu verhalten, Geist,
Körper und Seele zusammenzuschauen und sich – manche bedauern das – in
der Zielsicherheit immer wieder zu relativieren. Und Jugendhilfe kennt beglükkende Erfahrungen von Leidenschaft, Durchhaltekraft und Eigensinn in bester
Wortbedeutung.
Forderung 2: Schule muß sich mehr als angebotsorientierter Dienstleistungsbetrieb verstehen und dabei den ganzen Menschen wiederentdecken.
3. Jugendhilfe weiß um die Unabdingbarkeit von Teamarbeit, Kollegialberatung
und angeleiteter Selbstreflexion. Tradition und Berufsverständnis machen Lehrkräfte zu Einzelkämpfern.
Forderung 3: Schule muß auch ihrem Personal das abnötigen, was sie ihren Schülerinnen und Schülern abverlangt: Den Sinn für das Ganze, für schulische Gemeinschaft und enge kollegiale Kooperation.
4. Jugendhilfe zentriert ihr Bemühen um den unverwechselbaren Einzelnen und
bemüht sich um Kompetenzorientierung. Schule favorisiert das reibungslose
Funktionieren des Großbetriebs, sieht das System, fokussiert Neben- und Folgewirkungen individualisierender, besondernder Schritte. Aus Sicht von Schule wird
immer die Lernproblematik bzw. die Schulstörung akzentuiert, verbunden mit
Abhilfeverlangen, auch mit Blick auf die Lerngruppe, Schulaufsicht, Schulleitung,
Eltern, Nachbar-, Über-, Unterschulen.
Forderung 4: Schule muß schemasprengende Individualisierung zulassen und Unterstützungsprämissen prioritär setzen.
Nun kann es nicht gehen, daß Schule in der Sekundarstufe I Sozialpädagogik pur
betreibt. Zusammenwirken in Koexistenz ist angesagt, und zwar auch, weil der
Zusammenhang von Schul- und Sozialkarriere im positiven wie im Sinn des Mißlingens bekannt ist. Wer in Schule scheitert, hat durchschnittlich perspektivisch kaum
35
Chancen. Beide – Schule und Jugendhilfe – haben einen der elterlichen Erziehung
zu- und nachgeordneten Auftrag. Beide sind dem Zweck verpflichtet, dem Wohl,
der Persönlichkeitsentwicklung und der Gesellschaftsfähigkeit junger Menschen
zu dienen.
Aus Sicht von Schule könnte man mit gewissem Recht zum Beispiel einwenden:
1. Schule gibt ehrlicherweise nicht vor, über etwas verhandeln zu können, was nicht
offen ist.
Mit ihrem Bildungsauftrag verliert sie sich nicht in bedürfnisabhängiger Zufälligkeit und spontaner Beliebigkeit. Schule betreibt das notwendige und schwere
Geschäft der Forderung, der Grenzsetzung und Reibung. Sie steht für das Morgen als Anwalt von Zukunft und verwaltet den Ernst des Lebens mit.
2. Schule hat Absichten und Ziele auf Grund übergreifender Wertsetzung, möchte
und muß diese gesellschaftlich hochumstrittenen Definitionen in Bildung organisieren und für Schülerinnen und Schüler letztlich sicht- und meßbare Produkte
hervorbringen.
3. Dabei geht es um nicht weniger als z. B. um Selbstverpflichtung aus Einsicht,
Sozialität als Haltungsset, „Allgemeinbildung“, „Kulturgüter“, „Minimalkonsens“
– im Interesse der Etablierung von Zivilgesellschaft und der verbindlichen Thematisierung der Überlebensfragen von Planet und Gattung.
Diese nicht hintergehbaren, unverzichtbaren Erwartungen und Funktionsanforderungen eignen sich nicht zur Denunziation. Über das “Wie” muß und wird zu
streiten sein. Für die komplexen, widersprüchlichen Aufgaben quittiert Schule u.
a. über begrenzte Zeit und stagnierende Mittelzuflüsse.
Nun wissen wir auch aus Sek. I–Reformschulen vom Allerfeinsten von Schulmüdigkeitsquoten von 20%; 10% (plus/minus) schwänzen mehr oder weniger regelmäßig, je nach Schultyp und damit korrespondierendem Bildungselan und Zukunftschancen; ein ähnlich hoher Prozentsatz verläßt die Einrichtungen ohne
Abschluß; Raten radikaler Schulverweigerung liegen – je nach Definition und Maßstab – zwischen 0,5 und 2%.
Schulverweigerung
Diese Jugendlichen auf ihrem Weg ins schulische und gesellschaftliche Totalabseits – sie kennen sie alle – zeigen erwartungswidriges, unangepaßtes, erfolgsarmes Verhalten in Schule: Symptomatisch sind sie leistungsschwach oder aggressiv, resigniert oder gar depressiv, regelunwillig und provokant, ängstlich oder
unkontrolliert, enttäuschbar oder konzentrationsarm, mutlos und kurzatmig, massiv kontaktbeeinträchtigt oder jenseits jeglicher Planungsfähigkeit – und sie erscheinen häufig als kaum belastbar und leicht verunsicherbar und kränkbar. Ich
will nur kurz über das weite Feld von Schulmüdigkeit und Schulaversion unserer
Zielgruppe sprechen.
Alterstypisches Schwänzen wurde auch in Brandenburg zu einer durchaus alterstypischen Modalität des Umgangs mit der Institution. Tagesschwänzen imponiert
gemäß einer Studie des Brandenburger Instituts für Kindheits-, Jugend- und Fami-
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lienforschung (1993) mit etwa 5% des Schüleranteils an Gesamtschulen. Das „Kavaliersdelikt“ Eckstundenschwänzen brachte es auf stattliche 25% junger Menschen
in der Sekundarstufe I, die zielgerichtet „zu anstrengende“ bzw. „sinnlose“ Stunden flüchten, „unsympathische“ Lehrkräfte bestreiken bzw. dann und dort agieren, wo keine Sanktionen befürchtet werden. Nur wenige verweigern Schule massiver.
Ex negativo: Schulverweigerung in meinem Verständnis ist nicht identisch mit
Schwänzen, unregelmäßigem Schulbesuch, unentschuldigtem bzw. entschuldigten Fehlen/Krankschreibung bzw. Schulphobie. Und: Jegliche Form der internen
oder externen Schul- und Lernflucht ist allemal ein komplexes Geflecht von bedingenden Momenten, Begleit- und Folgeerscheinungen. In meinem Zusammenhang
unterscheide ich zunächst zwischen passiver und aktiver Schulflucht:
– Die passive Form beinhaltet alle Formen der nachhaltigen inneren Emigration
im Unterricht: Inaktivität, Abschalten, Träumen etc..
– Aktive Schulverweigerung impliziert entweder Destruktion bzw. Provokation über
normalisierbares Stören (Ablehnung, Nichterfüllung, Lehrkräfte ärgern, Protest,
Beleidigungen etc.) hinaus, und zwar im Unterricht, oder dauerhafte, tendenziell irreversible Absenz, um während der Schulzeit anderen Beschäftigungen nachzugehen. Die aktiven SchulverweigerInnen zeigen Autonomie gegenüber den
Erwartungen der Umwelt und nehmen – nicht immer so erlebte – Nachteile konsequent in Kauf.
Letztere Form der aktivistischen, agierten und dennoch regressiven „Schulkritik“
wird besonders deutlich wahrgenommen, weil hier die Flucht auf die Spitze getrieben und eine gültige gesellschaftliche Zentralnorm ohne Rücksicht auf Folgen verletzt wird.
In der Literatur – besonders oben genannter Studie – wird unterschieden zwischen:
– Notorischen, irreversiblen Schulverweigerern mit einem hohen Widerstand gegenüber Lernen, einer feindlichen Haltung gegenüber Schule und Lehrkräften.
Allerdings wird durch diese Fokussierung der Brandenburger Kollegen der Typus
des depressiven Schulverweigerers nicht erfaßt.
– Permanenten Langzeitschulverweigerern, die dennoch mit Schule bzw. einzelnen Unterrichtenden noch nicht völlig gebrochen haben. Sie tauchen sporadisch
in der Schule oder in der Nähe auf, haben noch Kontakt zu SchulbesucherInnen
und zeigen weniger starke Devianztendenzen.
– Intervallverweigerern, die besonders nach nicht bewältigten Konflikten mit Lehrkräften oder Mitschülern längere Zeit nicht gehen.
– Kurzzeitverweigerern, die eine exzessive Form des Schwänzens betreiben und
mit Regelmäßigkeit einen oder mehrere Tage fehlen.
Je spezifische Charakteristika, Dynamik bzw. Verlaufsformen, Anlässe, ursächliche Entstehungszusammenhänge sowie Interventionsmöglichkeiten sind allerdings
noch unerforscht.
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Interessant wäre es sicherlich, zum Beispiel zu untersuchen:
– Klassifizierungskriterien
– Erscheinungformen von Schulverweigerung und Typisierungen
– Quantitative Ausprägung der jeweiligen Formen
– Ursachen
– Art und Ausmaß in Abhängigkeit von Alter, Schulart und Geschlecht bzw. Leistungsvermögen und Persönlichkeitsspezifik des Schülers/der Schülerin bzw. der
Unterrichtsfähigkeiten, des Selbstverständnisses von Lehrkräften
Die Gründe der Schulflucht lassen sich z. B. klassifizieren in
Schulische Bedingungen
– Häufige Schulwechsel/Schultourismus
– Probleme mit der Institution und dem Sinn der Veranstaltung
– Probleme rund um die Lehrerpersönlichkeit (Variablen etwa: Verständnis für
Jugendliche, Gerechtigkeitssinn, Führungsstil/Verhalten in Machtkämpfen u. a.)
– Probleme rund um die Haltung zur und Reaktion von Lehrkraft und Institution
auf Schulaversion
– Unterrichtsqualität (Fach- und didaktische Kompetenz, Anregungsgehalt,
Schülereinbezug, Tempo, Einhilfen für Schwächere (Kardinalthematiken für manifeste Verweigerung, im folgenden kursiv)
– Überalterung
– Angst, vor Blamage, Versagen etc.
Schulische Bedingungen/Schülerseite
–
–
–
–
–
Klima in der Klasse
Normen in der Lerngruppe
Isolation und Randständigkeit
Opfer von Gewalt
Subgruppenzugehörigkeit
Schulexterne Bedingungen
– Abweichendes Verhalten als
Cliquennorm/Modelle von Verweigerung im Nahraum
– Familiale Faktoren (Schulaversion der Eltern, eigenes Scheitern,
Funktionsverlust der Eltern, Indifferenz, symbiotische Verstrikkung etc.)
– Biographische Faktoren/Versager- und Störeridentität als frühe lebensgeschichtliche Thematiken.
In den Foren: Vertiefung
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In ihrer Selbsteinschätzung erstellen SchulschwänzerInnen gemäß Forschungsinstitut –wieder nur Eckstunden- und Tagesschwänzer – diese Rangfolge an Gründen, wobei Gefahren der Verschleierung, Rationalisierung, „Veredelung“ (Institut)
mitbedacht werden müssen:
1.
2.
3.
4.
5.
Langeweileerwartung (36,9%)
Animation durch Gleichaltrige (27,5%)
Leistungskontrollen (19,5%)
Erwartung von Konflikten mit Lehrkräften (14,7%)
Erwartung von Konflikten mit Schülern (10,7%)
Mädchen begründen ihre Abwesenheit eher mit Angst vor Leistungsversagen,
Jungen mit drohenden Konflikten.
Bevor ich am Ende einige Auswertungsgesichtspunkte zu der Arbeit im
Schulversuch „Schule des Lebens“ vortrage, der in der Vorbereitungsmappe ja
ausreichend dokumentiert ist, noch einige Leitlinien zur Flucht-, Schwänz-,
Verweigerungsprävention für Regelschule in Anlehnung an die Brandenburger
Forschungsergebnisse:
1. Unterricht muß mehr Spaß machen. Das fordert die Lehrkräfte, den Unterricht
didaktisch–methodisch offener und schülerzentrierter, überraschender und animierender zu gestalten.
2. Bildungsinhalte sind auf Nützlichkeit und Lebensweltbezug zu überprüfen.
3. Brüchen in Bildungsbiographien ist Aufmerksamkeit zu widmen. (Für mehr als
60% der Schüler aus dem Projekt “Schule des Lebens” begann der Aus- und Abstieg nach der Grundschulzeit in Klasse 7)
4. Binnendifferenzierung muß Leistungsschwächere, Langsamere, Unmotiviertere
besonders ins Auge nehmen und fördern.
5. Tagesschwänzen ist ernst zu nehmen und muß Einhilfen zeitigen.
6. Angst von SchülerInnen vor Mitschülern ist auf die Spur zu kommen, Repression
ist zu unterbinden.
7. Dem Klassenklima, den offenen und heimlichen Normen muß Aufmerksamkeit
gewidmet werden.
8. Leistungskontrollen dürfen nicht irreversible Angst generieren.
Im Schulversuch lernen drei genuine Störer, sieben „Flüchtlinge“ und zwei „Mischtypen“.
In der sicherlich keinen wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Evaluierung
des schulischen Scheiterns der Projektjugendlichen in der “Schule des Lebens” zeigen sich als Primärfaktoren (mit folgender Sekundärsymptomatik) in der Rangordnung der Bedeutsamkeit:
1. Leistungsthematiken
2. Repression und Isolation in der Schülergemeinschaft
3. Machtkämpfe mit Lehrern bzw. Übernahme von Lehrererwartungen
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4. Ausfall elterlicher Unterstützung, Orientierung, Kontrolle (erhebungsproblematisch hinsichtlich der ursächlichen Ebene, nicht verstanden und nachgewiesen als quasiautomatische Folgeerscheinung)
Zirkulär dynamisierend bei allen drei Typen wirken – und letztlich ist nicht mehr
unterscheidbar, was Ursache, Wirkung und damit erneut kausal prägend wurde:
–
–
–
–
Desinteresse bzw. Aufgeben und Fraternisieren im Elternhaus,
das Gefühl, in der Lehrerschaft abgeschrieben zu sein,
Gewöhnung an Ablehnung und demzufolge Resistenz gegenüber Sanktionierung,
geringe Kompetenzerwartungen und neue Furcht vor Versagen sowie dann auch
reale erneute Mißerfolgserfahrung,
– keine Chance mehr zu haben und dann letztlich aufzugeben und völlig fern zu
bleiben.
Verweigererschule: „Schule des Lebens“
In diesen Kontexten des Totalausstiegs ohne Rückfahrschein finden wir die Klientel der „Schule des Lebens“ mit durchschnittlich siebenmonatiger Schulabwesenheit.
Was passiert in der Schule des Lebens? Vielleicht zur Illustrierung ein
ausschnitthafter Einblick in den Tagesablauf.
Morgens rollt der schuleigene VW–Bus 90 Minuten durch den Landkreis, um die
Jugendlichen an vereinbarten Treffpunkten abzuholen. Auch Lehrkräfte nehmen
auf ihrem Weg zur Schule einzelne Jugendliche mit. Schwänzen gibt es bei uns
nicht; der Krankenstand ist in der Regel niedrig. Selten muß man jemanden aus
dem Bett klingeln. Im Auto wird palavert; man startet mit dichtem Kontakt und
gewinnt Einblick in die Verfassung der Jugendlichen. Der Erwachsene ist Vertrauensperson, man duzt sich, kann erste Absprachen für den Tag treffen. Spätestens
beim Eintreffen in der Waldvilla wird die erste Zigarette gequalmt. Sie begrüßen
die anderen und wir merken: Viele kommen nicht zuletzt deshalb, weil sie die Gemeinschaft suchen und brauchen. Am Vormittag gibt es eine kleine Pause, die die
PädagogInnen nach dem Stand der Arbeit und der Verfassung der Jugendlichen
festlegen. Nach den 90minütigen Blöcken ist Aktivitäten- bzw. Fachwechsel angesagt. Die Atmosphäre entwickelt sich unterschiedlich. Manchmal herrscht fast gespenstische Ruhe, dann gibt es Lachen, Schreien, Toben. Of t sieht man in der Arbeitszeit keine
Jugendlichen, dann wieder versuchen einzelne, unentschieden zu pendeln. Sie werden sofort angesprochen. Vorbildlich, ohne jede Unregelmäßigkeit
und Beanstandungen wird in der Werkstatt geschafft.
Die Arbeit in den Lernbereichen und den AGs verläuft mit wechselndem Engagement. Wir erleben Hingabe und Desinteresse, Ausweichverhalten und Leidenschaft, Talentiertheit und lahme Suche, starke und
schwache Arbeitsergebnisse.
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In den Pausen gibt es lustige oder ernste Gespräche mit den Erwachsenen oder
Tischtennis-, Fußball-, Basketball-, Federballspiel; einige Jugendliche werden durch
den “Bauwagenobmann“ in den eigenen Pausenbereich gelassen, andere lümmeln
am Raucherpilz rum, wieder andere müssen zum wiederholten Mal aus dem Lehrerzimmer komplimentiert werden.
Der abschlußorientierte Unterricht findet Vormittags statt. Um 12.30 Uhr beginnt das Nachmittagsprogramm, mit einem Wechsel nach dem ersten Block um
14.00 Uhr. Um 15.30 Uhr beginnt der Rücktransport. Viele wollen nach Hause,
manche nicht. Hin und wieder putzt ein Jugendlicher die Schule oder reinigt das
Gelände und bessert sich dadurch das Taschengeld auf. Mittwochs ist nunmehr im
zweiten, dem Brückenjahr hinein in die ungeschütztere Realität kontinuierlich zehn
Monate hindurch Betriebspraktikum mit Praxislernen angesagt.
Die Schule des Lebens ist ein erfolgreiches Bildungsangebot. Eine entschulte
„Schule des Lebens“ als ebenfalls durchaus zeitfressendes Arrangement möchte
Wirklichkeit aus erster Hand bejahen und nicht nur Zukunft simulieren. Sie will
mit den Gegenwartserfahrungen arbeiten, mit solchen aus dem Binnenraum und
jenen von draußen. Sie beansprucht also, für Schülerinnen und Schüler aktuell
bedeutsam sein. Sie beansprucht, Verstehens- und Gestaltungshilfe zu offerieren.
Gerade für 13– bis 16jährige ist Schule beinahe generell Qual, richtet durchschnittlich – gemessen am Verhältnis von Aufwand und Ertrag, Absicht und Wirkung –
wenig aus. Das ist ein uraltes Thema, kein Produkt der Postmoderne.
Desinteresse wird nicht zuletzt auch deshalb generiert, weil die Institution die
Lebensthematiken der Altersgruppe in den informellen Bereich abdrängt, also ignoriert: Selbsterprobung, Beziehungshunger im Peerbereich, Emanzipation von Bevormundung, Erlebnis- und Abenteuerdrang, produktives Tun, Körperlichkeit und
Sinnlichkeit.
Dialog, Begleitung, Verstehen von Lebenswelten und Bewältigungspolkas heißen die Säulen in einem Betreuungsansatz, der Beziehung vor Erziehung setzt.
Wir siedeln diese Beziehungspädagogik in einem Alltag mit klar strukturierten,
regelmäßigen, überschaubaren und nachvollziehbaren Tagesabläufen im Rahmen
eines handlungs- und erlebnisorientierten Konzepts an.
Der Erlebnis- und Werkbereich sind keine Anhängsel. Die Erlebnispädagogik –
für manche Jugendliche echte, hürdenreiche Herausforderung – ist u. a. diagnostisch relevant, ermöglicht Persönlichkeitsstabilisierung und Zuwachs an Gruppenselbststeuerung.
Beide Bereiche werden mit dem unterrichtlichen Geschehen verknüpft. Motivation über Produktorientierung, Bezugsstiftung über das „verbindende Dritte“ jenseits von Verbalität sind in diesen Kontexten besonders möglich. Im Werkbereich
gehen wir zentral von den Fähigkeiten der Jungen aus und ermöglichen Erfahrungen des Gelingens. Ziel ist, die gestörte Beziehung der Jugendlichen zu sich selbst
zu verbessern und ein positiveres Weltbild zu begünstigen.
Doch die eigene Position der Erwachsenen und ihre Vertretung bzw. Spiegelung
von Realität ist damit nicht obsolet. Wir haben keine Unvereinbarkeitsbeschlüsse:
Entweder dialogisch–partnerschaftlich oder lenkend–setzend; entweder störungsdiagnostische oder kompetenz- und ressourcenorientierte Sichtweisen; entweder
Konfrontieren oder Unterstützen oder zulassende Symptomtoleranz etc.. Unsere
Fähigkeit und Bereitschaft zum „Sowohl als auch“ konkretisiert sich in jedem Fall
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neu, auf der Grundlage von Kontaktakzeptanz hier (Jugendlichenseite) und von
Dasein, Dabeisein, von Hinsehen, aber auch sozialpädagogischer Diagnose und
Förderplanung (Professionellenseite) dort.
Aus dem Verstehen folgt nicht seriell die automatische Bedienung von Impulsen
der Jugendlichen. Wir arbeiten auch sozialpädagogisch hochdifferenziert. Das, was
fehlt, gebraucht wird und indiziert erscheint, ist für Peter, Paul und Mario unterschiedlich.
Teilschritte und -ziele für einzelne Jugendliche variieren, z. B.:
Erleben von exklusiver Beziehung im “Solo“ und Lernen an Modellen, Ruhe und
Training von Standardsituationen, Übung lebenspraktischer Fertigkeiten und Fremdwahrnehmung und Rückmeldung, Übernahme von Verantwortung und Erregungsabbau durch Ausagieren, Einübung von Grenzsetzung und Durchbeißen statt Flucht
und/oder Aufgabe, Platzfindung in einem Gefüge von Unter- und Überlegenheit
und Kümmern und Zuwendung (aber auch dosierte Abkehr), Beachtung der Basisbedürfnisse (Zugehörigkeit, Sicherheit, Werterleben etc.) und Gruppenversammlungen, die die Themen des Zusammenseins auf die Tagesordnung setzen (Schlagen, Klauen – beides inzwischen bei Null, Demütigen, Geld, Putzen,
Verreisen, Eifersucht, Angst), Mitbestimmung und orientierende Normierung etc..
Die im Konzept vorgesehenen pädagogischen Mittel und Ebenen stammen nicht
vom anderen Stern: Es geht um Entlastung von Druck, um Arbeit mit Niveaus der
Selbstbesorgung und Versorgung, um Auszeiten/Time out und abnehmendes in
Ordnung bringen; wir arbeiten mit vorsichtigem Körperkontakt und gemäß des
Prinzips ”dicht halten”, wir ignorieren oder/und forcieren das Motivverstehen im
Plenum durch andere, wir greifen ein und halten ab, wir belohnen und vermitteln
mit Nachdruck Verhaltensregeln. Und immer fragen wir nach dem biographischen
Sinn und der sozialen Funktion ihres Tuns und Unterlassens. Im Prinzip geht es –
variiert nach Einzelfall – um Ermutigung, Selbstwertstärkung, Abbau von Angst,
Orientierung, Unterdrückung von Störverhalten bzw. Entwicklung von funktionalen Äquivalenten für symptomatisches Verhalten.
Was wurde erreicht?
Einige Stichworte: In diesem Bildungsvorhaben herrscht gute Stimmung! Schwänzen ist im Projekt Fremdwort. Es gibt keine Gewalt. Unterricht findet – wenn auch
mit wechselnden Erfolgen – regelmäßig statt. Die Deliktbelastung – immerhin hatten alle damit in unterschiedlichem Ausmaß etwas zu tun – tendiert gen Null.
Psychosoziale Fortschritte sind unterschiedlich ausgeprägt, die Gruppenselbstregulierung verbessert sich millimeterschrittig. Berufstätigkeit ist für die Jugendlichen zunehmend positiv besetzt.
Es ist schwer zu formulieren, was in der
Schule des Lebens in welchem Ausmaß Spuren hinterläßt. Es ist die Summe der Faktoren
in einem wohldurchdachten Arrangement.
Projekte stellen sich vor:
Zum Wirkungspotential gehören die Plena
Wie wird was erreicht?
und die Wochenauswertungen, der individuelle Stundenplan und die Reisen, die Raucher-
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pausen und das Schlauchboot, die Projektfahrräder und der Transportservice, die
Verköstigung und der Mopedführerschein, das menschengemäße Haus und das
animierende Gelände im Freien.
Zum Schluß noch einige systematisierende Bemerkungen, um Elemente des Gelingens zu durchleuchten:
1. Das Projekt verfügt über Macht:
– Sanktionsmacht – hier rausgeschmissen oder auch nur nach Hause geschickt
zu werden, ist nachteilig und tut weh.
– Belohnungsmacht – die Professionellen verfügen über materielle Mittel, die sie
auch indiziert einsetzen.
– Macht über die Verteilung des Schulabschlusses („einfacher“ Hauptschulabschluß
Berufsbildungsreife)
– Und man verfügt über Einfluß, per Nützlichkeit und Identifikationsmacht.
2. Das ist ein Zentralfaktor: In dem Vorhaben arbeiten Erwachsene, die für Jugendliche attraktive, glaubhafte und nahbare Orientierungspersonen sind, dabei hochmotiviert und engagiert, einfühlsam, vertrauenswürdig und humorvoll, optimistisch und zuverlässig. Die PädagogInnen haben sich in Herzen und Köpfe
eingemogelt und eingenistet, sicherlich in je unterschiedlicher Intensität, aber
mit Prägekraft. Und die Erwachsenen – nicht zuletzt der Leiter – sind die „guten
Autoritäten“, die mit den Themen Grenze, Versagung, Reibung etc. emphatisch,
partnerschaftlich, liebevoll und solidarisch, aber klar und ggf. streng umgehen.
Für die Arbeit mit Kindern mit Vaterhunger, mit Vaterlöchern bzw. Mutter – Sohn
– Verstrickungen als biographischem Basisgepäck ein notwendiges Wirkkapital!
3. Das Projekt ist schlicht nützlich:
Sie wollen ihren Abschluß. Sie brauchen Taschengeld. Sie möchten den Mopedführerschein und benötigen „eine Karre“. Dabei assistieren die Ansprechpartner. Diese begleiten sie zu Polizei und Gericht, wenn es um Vergangenheitsbewältigung geht.
Die PädagogInnen transportieren im Auto, Mann und Maus, Sofa und Mopedwrack. Sie sorgen sich um die Renovierung des häuslichen Elendsquartiers. Sie
sind manchmal auch nach der Schule für die Jugendlichen da. Sie geben sporadisch Kredit und spendieren mal was beim Bäcker oder an der Imbißbude. Sie
wirken auf Eltern ein und verreisen mit den jungen Menschen.
Und vieles mehr. Man muß als Jugendlicher nur kalkulieren – und bleibt auch
deshalb bei der Stange.
4. Aber auch das ist es nicht ausschließlich.
Das Projekt beantwortet ihre basalen existentiellen Grundanliegen (Wer braucht
mich? Was kann ich? Wofür bin ich nützlich?) – und nicht zuletzt deshalb wollen
sie etwas von den Erwachsenen.
– Sie haben Erfolge (statt Mißlingen und Scheitern konstatieren zu müssen)!
– Sie fühlen sich sicher (nicht bedroht).
– Sie erfahren, daß sie den Lauf der Dinge beeinflussen können und wirksamsind,
und zwar in ihren Kompetenzbereichen (nicht wirkungslos, ohnmächtig, verzichtbar: ”unnütze Sauerstoffverbraucher”).
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– Sie erleben sich als zugehörig (statt einsam, randständig, isoliert) – die Gesamtgruppe fungiert fast analog zu einer großen ”Zweitfamilie”, im besten Sinn, d.
h. überschaubar, dicht und doch mit Ausweich- und Wechselmöglichkeiten, klein,
stabil.
– Vielleicht das an vorderster Stelle und damit jenseits von Magie, besonderem
Können, Geheimnis: Das Projekt ist klein und überschaubar, mit gutem Personalschlüssel ausgestattet. Es ist fast immer jemand für sie da.
Einfach: Das Projekt macht ihnen, den Versagern von gestern, ein bißchen mehr
Mut und Lust auf Leben.
5. Dieses Vorhaben ist in den neuen Ländern angesiedelt. Ich will nicht behaupten,
es wäre so in den alten Ländern nicht möglich. Aber ich will schildern, was ich als
Produktivitätsfaktoren erlebt habe:
– Schulaufsichtlich kaum bürokratische Nadelöhre und eine Bereitschaft, Rechtsspielräume auszunutzen;
– Multitalentierte Professionelle, die zwischen Angebotsbereichen wechseln können;
– Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die eher das Medium des Tuns favorisieren
statt in sprachüberlastige Pädagogik zu verfallen;
– Keine Bereichsrivalität, keine Kämpfe um Bedeutsamkeit zwischen Schul-, Sozialund Werkpädagogik;
– Akzeptanz von unterschiedlichen Mentalitäten, Energien, Modalitäten im Kontakt zu den Jugendlichen; Konstruktivität im Nebeneinander verschiedener
Beziehungsfähigkeiten;
– Aufgaben- und Sachorientierung statt Dauerkreiseln um eigene Befindlichkeit
und Beziehungsthemen;
– Sehr langer Atem, dehnbare Geduldsfäden bei gleichzeitiger Bereitschaft, auch
instruktiv und direktiv mit diesen Jungen zu arbeiten
Echte Mißerfolge? Zwei durch uns forcierte Abbrüche von Jugendlichen, eine
große Enttäuschung, denn die Devise hieß: Keiner darf verloren gehen. Allerdings,
das Projekt hat sich dadurch entscheidend stabilisiert. Für drei, vier Jugendliche
erscheint der Schulabschluß fern. Viele, alle mühen sich – und manche kommen
nur sehr langsam voran.
Probleme des Unterrichts mit dieser Zielgruppe – das erstaunt nicht – sind u. a.
Sach- und Aufgabenbezug ohne Ausweichen, Kompensation und Ersatzhandlungen, das Durchhalten von längeren Arbeitssequenzen (Konzentration, Leistungsbereitschaft trotz Hürden etc.), die Steigerung der Niveaus (vom Konkreten zum
Abstrakteren etc.).
Die jungen Menschen erscheinen phasenweise kaum belastbar. Wie kleinschrittig und mühselig die Arbeit ist, und daß auch wir vor Stagnation und Enttäuschungen nicht gefeit sind, möchte ich abschließend verdeutlichen. Aus dem
Auswertungstagebuch des Sozialpädagogen bei der zwölftägigen erlebnispädagogischen Unternehmung im Sommer 1995 in Österreich, dessen Konsequenzen am Schluß man teilen mag oder auch nicht. “Schule des Lebens” “von unten”:
„Es war den Jugendlichen aus der Schule des Lebens z. T. nicht möglich, sich
regel- und erwartungsgerecht in Ordnungen zu fügen (Hausordnung, Dienste,
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Küche). Rauchverbote, Alkoholkonsum, Nachtruhe waren ähnlich problematische
Bereiche wie in anderen Jugendgruppen auch.(...)
Es war schmerzlich mitanzusehen, wie unbeholfen, linkisch sich einige Jugendliche in Anforderungssituationen verhielten. Trotz unserer intensiven Vorbereitung:
Nicht wenige behaupteten, sie hätten Abseilen, Sichern, Einbinden ins Kletterzeug,
Trapez, Seilbrücken noch nie gemacht. Ich war teilweise schockiert. Ursachen?
Angst, keine Lust, zu geringes Selbstvertrauen... Sie wirken in der Erinnerung und
Umsetzung kognitiv unbeweglich!(...)
Zum Beispiel Thomas: War eine echte Stütze. Er nahm bereitwillig alle übertragenen Aufgaben an. Er zieht inzwischen für sich genau und deutlich Grenzen, und
das in einer sozialverträglichen, offenen und ehrlichen, sich selbst gegenüber
verkraftbaren Form. Fast unbemerkt übernahm er Führungsaufgaben, war bemüht
zu helfen und auszugleichen. Unter Streß sind keinerlei Überreaktionen zu verzeichnen, er ist ruhig und besonnen. Er konnte sich immer wieder mobilisieren
und mobilisiert werden.
Zum Beispiel Ronny: Er belastete die Gruppe und war eine Last für sich selbst! Er
lag bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten im Bett und schlief. Sein
Phlegma als Kompensationsstrategie für erlernte und körperliche manifeste Hilflosigkeit und Unbeweglichkeit lähmte seine Kameraden. Er schien durch nichts
berührbar. Soviel Gleichgültigkeit als Panzer habe ich selten gesehen. Logisch wurde er zum Blitzableiter.
Zum Beispiel Marcel: Er tat immer das Notwendige; aber ihm eine Äußerung zu
entlocken, war schier unmöglich. Er gab keinen Anlaß zur Kritik. Auf wohlgemeinte Aufmunterungen reagierte er nicht. Ich bin stundenlang hinter ihm her gelaufen – und es ist mir nicht gelungen, mehr als vier Worte im Stück aus ihm herauszuzaubern.“
Zum Beispiel David: Man kann ihn motivieren – und er ist leistungsfähig. Aber er
kann Situationen kaum einschätzen, ist nur auf sich bezogen, nimmt seine Umgebung kaum wahr. Er macht, was ihm einfällt, ohne Konsequenzen zu bedenken. Er
reagiert plötzlich, unerwartet, zeigt aktionistische Zerstörungswut. Er verweigert
Flüssigkeitsaufnahme bei drohendem Hitzschlag; er latscht durch abrutschgefährdete Eisfelder, obwohl auch noch andere am Seil hängen; er tritt aus Frust
gegen Steine, die dann auf unter ihm laufende Jugendliche fallen können. Er tritt
die Tür zur Gasversorgung im Haus ein, wenn er sich ärgert. Er klaut. Ansonsten
erscheint er kindlich, scheffelt bei den Erwachsenen damit Rührung und demzufolge Hilfsbereitschaft. Wenn man ihn in Reichweite hat, geht es. Und wenn er ein
für sich lohnendes Ziel sieht – selten eines, das wir mit ihm teilen –, dann zieht er
los wie eine Dampflok, ist nicht zu halten.“
Dieser Jugendliche ist prototypisch für eine Teilklientel, die uns zunehmend ratlos macht. Ich zitiere sinngemäß dazu zwei Stimmen aus der Jugendhilfeszene:
„Das Problem ist, daß die Kinder und Jugendlichen zunächst nicht den Eindruck
machen, als wäre bei ihnen etwas nicht in Ordnung. Du denkst: „Die sind gut drauf“.
Die Probleme sind anfangs hinter der Fassade aus Willigkeitspose, Scheinkompetenz, Einsichtsattitüde versteckt. Wie kann man das nennen, was bei denen
los ist? Irgendetwas ist mit dem oder der. Aber was? Der schlägt auf andere ein.
Der tut sich was an. Das passiert beinahe gleichzeitig. Aber du kannst nicht sagen,
was war der Impuls. Das kommt alles scheinbar ohne Sinn und Ziel. Du merkst
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zwar, daß der mal depressiv ist oder zwanghaft oder fahnenflüchtig oder ungeordnet. Und dann scheint der oder die wieder ganz klar. Und plötzlich, ganz unerwartet, da bricht alles zusammen. Da kommt die ganze Labilität zum Vorschein und
die Strukturlosigkeit, die Angst. Also, das bricht aus denen heraus, ohne daß da
ein Grund erkennbar wäre.“
„Und der Jugendliche antwortet überhaupt nicht auf das, was du ihm sagst, ihm
durch Verhalten, Impulse vorsetzt, sondern reagiert auf Assoziationen, die sich
aus seinem mehr oder weniger diffusen Innenleben entwickeln, aus Phantasie und
Träumen, Bildern aus Filmen und gepumpten Szenen, aus erlittenen Kränkungen
und frühen Traumata. Ich kann überhaupt nicht erkennen, wieso der mir mit diesem Verhalten begegnet. Und es ist kein „Meta“ möglich, du kannst das nicht
thematisieren, besprechen, durcharbeiten. Schon überhaupt nicht in der Akutsituation und auch nicht etwas oder sehr viel später danach. Du rennst dann gegen Beton“
Zurück zur Reise: „Insgesamt war ich enttäuscht: Sie können und/oder wollen
nicht zuhören. Ich erlebe sie nicht als belastbar, und ich vermißte Ehrgeiz. Meine
Schlußfolgerungen für unsere Arbeit im zweiten Jahr:
– Situationen diversifizieren, zergliedern, individualisieren und differenzieren. Und
dann Sackgassen und Knoten festhalten, wahrnehmen lassen und als Dilemmata
erlebbar machen. Verschiedenartige Anforderungssituationen müssen Lösungsstrategien sachlogisch erfordern. Ich empfehle: Situationen immer wieder besprechen, jeden Einzelnen sein Verhalten überprüfen lassen.
– Überraschungen schaffen. Aber dann kommt es auf die Einhilfen an.
– Körperliche und geistige Kondition und Beweglichkeit trainieren.
– Subjektive Haltungen wachsen lassen und festigen: „Selbstwertgefühl („Ich kann
das!“); Wille („Ich will das! Ich brauche das!“). Entschuldigung: Sie müssen mehr
leiden, in dem Sinn „Wenn ich das und das will, dann stört mich jenes nicht
entscheidend, dann ertrage ich dieses oder jenes.“ Sie müssen mehr von sich
verlangen, weil sie mehr könn(t)en.
– Sie müssen ihre Körper positiv erleben: „Ich habe Kraft. Ich habe in mir ein wunderbares Instrument. Meine Füße sind nicht nur dazu da, um Gas zu geben oder
Pedale zu treten. Meine Hände können viel mehr, als eine Zigarette zu halten.
Mein Körper empfindet mit mir Freude und Qualen. Und nicht zuletzt: Ich muß
auf mich aufpassen.“
– Team: „Es gibt jemanden, mit dem ich zusammenarbeite. Er ist auf mich, ich bin
auf ihn verwiesen. Er hilft mir, wenn ich bereit bin, ihm zu helfen.“
Bilanz
In der ”Schule des Lebens” wird exemplarisch nachgewiesen, daß der KJHG–Katalog der Hilfen zur Erziehung keine abgeschlossene Aufzählung beinhaltet, sondern tragfähige Alternativen zur Heimerziehung auch und gerade durch Grenzüberschreitungen möglich sind.
Für die Jugendhilfe sind wir ein Geschenk des Himmels. Die Einmischungsstrategie
in den Bildungsbereich gelang, Ressourcenbündelung führt zu vertretbaren Ko-
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sten, das Angebot hat fachliche Qualität, es wirkt und ist jugendhilfepolitisch innovativ.
Ausstiegskanäle verbreitern oder eng halten – das ist die grundsätzliche Frage!
Bildungspolitik und -verwaltung mögen nicht daran denken, eine größere Zahl dieser Schulen besonderer Prägung zu erlauben. Auch, nicht nur, weil dies kaum kostenneutral wäre. Schule tut sich in erster Linie mit ihrem monopolartigen Alleinvertretungsanspruch schwer. Sie mag Schulpflicht nicht auch als Unterrichts- und
Lernpflicht zu denken, die an anderen Lernorten mit spezifischen Akzenten absolviert werden könnte. Handlungsalternativen innerhalb des Regelsystems haben
Vorrang! Ich behaupte jedoch, daß manifeste Schulverweigerer ab 15 Jahren nur
ausnahmsweise “rückführbar” sind. Und ich behaupte weiter, daß für eine kleine
Minderheit auch reformierte Schulen qualvolle Mißerfolgsterrains sein können und
werden. Sie nicht allein zu lassen, ihnen Brücken hin zu anderen Arten von Lernen
auch schon im Rahmen ihrer Schulpflicht zu bauen und sie dabei zunächst als Kundschaft von Schule und erst sekundär von Jugendhilfe zu betrachten, muß politisch
offensichtlich noch durchgesetzt werden. Es ist schlicht absurd, daß Jugendhilfe
und nicht Schule selbst das Thema der Schulmüdigkeit offensiv und selbstreflexiv
– statt individualisierend und schuldzuschreibend an die Adresse der unwilligen
Kinder und Jugendlichen - in die Fachdebatte und Öffentlichkeit lanciert. Attraktive Schule mit (Teil)Erfolgen für alle ist ein Auftrag an Bildung, nicht für die Jugendhilfe! Eine organisierte Wahrnehmung und Bearbeitung von Schulmüdigkeit als
Manifestation einer Krise des Systems und einer Krise von und bei Schülerinnen
und Schülern existiert bisher nicht!
Richtig bleibt aber, daß sich jedes Sondersystem neue, nicht ungefährliche Bedarfe kreiert: indem ein vorhandenes Angebote potentiell unbegrenzbare Nachfrage schafft und Abschieben, Ausgrenzen, Ausweichen und Aufgeben in Normalkontexten befördert. Primär bleibt, Regelschule zu stärken. Wer belohnt Schulen,
die keine „drop outs“ produzieren?
Dreh- und Angelpunkt aus unserer Sicht ist eine harte Selbstevaluierung des eigenen Vorgehens. Werden postulierte Ziele erreicht? Mit welchen Mitteln und auf
welchen Wegen? Was sind Nebeneffekte? Und: Ergibt sich eine langfristige Stabilisierung und Integration der Jugendlichen (Deliktbereich; Erwerbsleben, trotz der
Reservearmee der Viermillionen; Beziehungsfähigkeit) auch nach Verlassen des
Projektes? Hier werden wir unsere Jugendlichen mittelfristig im Auge behalten,
um gegenüber Finanziers und Fachöffentlichkeit fundiert über die Wirksamkeit,
Nichtwirksamkeit bzw. beschränkte Wirksamkeit Rechenschaft ablegen zu können. Für die Zukunft dieses Modells wird – neben der Notwendigkeit eines gelingenden zweiten Jahres im laufenden Durchgang und der Wiederholbarkeit der Erfolge im zweiten zweijährigen Durchgang – entscheidend sein, ob der
Bildungssektor in diesem Schulversuch nur ein Ventil sieht, das Druckablaß ermöglicht und letztlich nur suggerieren will, neue Lernangebote für diese Zielgruppe zu
unterbreiten. Dann würde man nach vier Jahren für die geleistete Arbeit und wertvolle Erkenntnisse danken, ohne zweifellos brisante bildungspolitische und
schulpädagagogische Folgedebatten in Kauf zu nehmen. Man würde an Regelschule
appellieren, sich zu qualifizieren (dieser zentrale Tagesordnungspunkt hat zurecht
höchste Priorität!) – und (zu spät und nicht im adressatengerechten Design) auf
Leistungen der Jugendberufshilfe setzen bzw. Schulsozialarbeit mit dem Verweis
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auf diese ”Problemschüler” in die Spur zu bringen versuchen. Eine solche denkbare Entscheidung läßt sich derzeit zwar nicht absehen, kann aber nicht ausgeschlossen werden. Sie wäre dann jedoch – eine Konsolidierung des Erreichten vorausgesetzt – nicht dem Verlauf und den bisherigen, vorläufigen Ergebnissen des
Modellversuchs zuzurechnen.
Literatur:
Daschner, P. u. a.: Schulautonomie – Chancen und Grenzen. Weinheim und München 1995
Dietrich, P./Institut für angewandte Familien, Kindheits- und Jugendforschung e.V.
an der Universität Potsdam: Schulverweigerung von Jugendlichen in Brandenburg.
Potsdam 1993
Thiersch, H.: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. Weinheim und München 1995
(2. Auflage)
Thimm, K.: Risiko – Jugend in der Großstadt. In: Unsere Jugend 11/1995
Anhang
Phänomene und Ursachen von Schulverweigerung
Folgende ursächlichen Faktoren können für Schulverweigerung, Schulflucht Bedeutung erlangen, wobei die in dem Projekt „Schule des Lebens“ deutlich markierbaren zentralen Wirkfaktoren fett gedruckt bzw. gesondert in Klammern numeriert werden:
Schulische Bedingungen (a)
1. Sinn von Schule in ihrer organisatorisch–strukturellen Verfaßtheit für diesen Jugendlichen (Bündelfaktor, in der Listung der Schule des Lebens Faktor 1)
2. Probleme im Zusammenhang mit der Lehrerpersönlichkeit
– Akzeptanz, Glaubwürdigkeit
– Verständnis für Jugendliche
– Hilfsbereitschaft
– Gerechtigkeitssinn
– Führungsstil, Verhalten in Machtkämpfen (Faktor 4)
3. Haltung gegenüber Schulverweigerung bzw. SchulverweigerInnen (Faktor 5, z.
T. überlappend mit Verständnis und Gerechtigkeitssinn)
48
4. Unterrichtsqualität
– Fachkompetenz
– Didaktisch–methodische Organisation von Unterricht
– Motivation, Anregungsgehalt, Spannung
– Einbeziehung von SchülerInnenwünschen/-interessen
– Tempo der Stoffbearbeitung (Faktor 2)
– Einhilfen für Lernschwächere (Faktor 2/identisch mit Hilfsbereitschaft aus dem
Faktorenbündel „Lehrerpersönlichkeit“)
5. Überalterung, dadurch inadäquate psychosoziale Entwicklungskontexte
(Faktor 3)
6. Leistungsstand und -zufriedenheit bzw. Umgang der SchülerInnen mit Defiziten
(progressiv/regressiv) (Faktor 2)
7. Angst in der Schule als Angst vor Schule
– Angst vor Blamage durch Lehrkräfte (Faktor 6)
– Angst vor Leistungsversagen (Faktor 6)
– Generelle Schulangst
Schulische Bedingungen/SchülerInnenseite (b)
8. Soziale Beziehungen der SchülerInnen
– Klima in der Klasse
– Normen in der Lerngruppe: Akzeptanz von Leistung, Integration, Rebellion etc.
– Untergruppenzugehörigkeit bzw. (Selbst)Ausgrenzung/Isolation/Demütigung
durch andere Schüler
(Faktor 9)
– Opfer von Gewalt (Faktor 7)
Schulexterne Bedingungen
9. Soziale Peerbeziehungen
– Abweichendes Verhalten als Cliquennorm (Faktor 8)
– Modelle von Schulverweigerung in Gleichaltrigenkontexten (Faktor 8)
10. Familiale Faktoren (Faktor 10)
– Schulaversion der Eltern durch ungelöste Aktualkonflikte mit Lehrkräften und
Übertragung/Projektion bzw.
„Infektion“
– Schulbiographisches eigenes Scheitern
– Kontakt- und Funktionsverlust als Ansprechpartner
– Indifferenz als Reaktionsform im Rahmen der gescheiterten Eltern – Kind – Beziehung
– Symbiotische Verstrickung, Hilflosigkeit
49
Biographische Faktoren
11. Persönlichkeitsfaktoren, psychische Defizite bzw. Mangel an sozialen Strategien (Faktor 12)
– Planungsfähigkeiten, Zukunftsperspektivität
– Leistungsmotivation
– Kontrollfähigkeiten
– Selbstdisziplinierungs-, Einordnungsbereitschaft
12. Störeridentität (Faktor 11)
Sonstiges
13. Häufige Schulwechsel
Zum Projekt Schule des Lebens und ersten Evaluierungsergebnissen
Schulkritisch markierten die Jugendlichen selbst in Interviews in je unterschiedlicher Gewichtung und Kombination folgende Belastungsposten:
– Zu große Klassen und zu große Schulen
– Künstlichkeit von Lehren und Lernen: sie mochten sich nicht „ausquetschen“
und belehren lassen (auch,
nicht nur, weil sie dabei schlecht abschnitten)
– Abstrakte und im Sinn nicht nachvollziehbare Lerninhalte in Fächerzergliederung
– Hoher Selektionsstreß, ständiger Bewertungsdruck: Beurteilung beinhaltete für
sie Entwertung, Beschämung
und Blamage
– Exkommunikation von Lebensproblemen; Verständnisarmut gegenüber Jugendlichen
– Lernniederlagen ohne Einhilfen
– Bedürfnis-, Lustferne: ihre Talente waren uninteressant, nicht gefragt; in der „Drinnen“–Schule kam ihr
”wirkliches Leben“ nicht vor; symbolische bzw. verbale Niveaus dominierten die
Orientierung an praktischen
Erfahrungen
– Angst vor Mitschülern
– Sture und humorlose LehrerInnen: Autoritätskonflikte degenerierten zu Machtkämpfen nach dem Gewinner
– Besiegten–Prinzip.
Wir selbst versuchten, Schulflucht systematisch zu verstehen. Vorweg: Erleben
Jugendliche das Schwänzen subjektiv als sinnvoll und lohnend, spannungsmildernd,
statussteigernd, erfolgreich hinsichtlich von Angstbewältigung etc., kann aus
Schwänzen Verweigerung werden. Geschlechtsspezifisch gilt: Jungen machen „statt
Schule“ in der Regel subjektiv befriedigendere Erfahrungen im öffentlichen Raum
als Mädchen. Nicht zuletzt deshalb sind sie stärker vertreten. Doch eine weitere
50
Differenzierung des Phänomens Schulverweigerung ist unverzichtbar. Eine
ursachenbezogene Typologie umfaßt folgende Dimensionen:
1) Schulverweigerung als Schulproblem: Sinn und Attraktion im jenseitigen Milieu
2) Schulverweigerung als Leistungsproblematik („zuviel, zuviele, zu schnell...”),
als Phänomen im Kontext von (Teil)Leistungsschwächen
3) Schulverweigerung als Symptom von Überalterung (”1,85 m groß, 16 Jahre, zum
dritten Mal in der 7. Klasse”...)
4) Schulverweigerung als Problem der mißlingenden Bewältigung von Belastungen im Kontext von Autoritätsproblematik und Machtkampf mit Lehrkräften
(auch Übertragung bzw. Resonanzphänomene aus der familialen Sozialisation)
5) Schulverweigerung als Übernahme von Lehrerwünschen, ”er möge doch weg
sein”
6) Schulverweigerung als Angstsyndrom, als Folge von z. T. sehr subtiler Demütigung und Blamage durch Lehrkräfte
7) Schulverweigerung als Resultante der Bedrohung und Repression durch Gleichaltrige/Schüler
8) Schulverweigerung als Konsequenz von cliquenbezogenen Zugehörigkeitswünschen, als freundschaftlicher Loyalitätsbeweis, Bedingung und Ausdruck von
Kohäsion in Gruppen, mit der Funktion des Statusgewinns in „Outlaw“–Kreisen
9) Schulverweigerung als Folge der Unbeliebtheit bei Peers, als Indiz für und Folge
von Einsamkeit, Isolation, Freundschaftsdefizit, Randständigkeit in der Klassengemeinschaft
10) Schulverweigerung als Familienproblematik, zentriert um die Themen Orientierung – Kontrolle – Unterstützung – Ablösungskampf / Autonomiebeweis –
Rache; Tendenzen: Symbiotisch–hilflose Mütter – abwesende bzw. unempathische Väter. Z. T. Übernahme elterlicher Schulaversion, motiviert in deren
Streit mit Lehrkräften oder eigene, elterliche schulische Abbrüche
Dazu kommen in der Schule des Lebens zwei ursächliche Scheiternskomplexe,
die in der ”Identität als Störer” begründet liegen bzw. sich als erhebliche psychische Defizite in den Bereichen der Steuerung, Kontrolle, Planungskompetenzen
etc. zeigen.
Insgesamt standen und stehen bei diesen Jugendlichen in besonderer Ausprägung Lebens- vor Lernfragen. Ohne Anklage: Die regulären Fragen von Schule sind
weniger: „Wie können wir zu einer für beide befriedigenden Beziehung kommen?“
und „Was interessiert dich wirklich?“, sondern: „Wie bekomme ich jemanden umstandslos dazu, das reproduzieren zu wollen, was sie/er soll?“.
Mehr denn andere erlebten diese Jugendlichen subjektiv: „Man lernt, Antworten dahersagen, auf Erwartungen, in Bezug auf Probleme, Fragen, die man nicht
kennt und die man ohne Schule nicht hätte.“ (H. von Hentig) Gerade autonomiebedürftige Jugendliche – aus welcher Wurzel auch angetrieben – verachten Schule, so unsere Erfahrungen aus Interviews, für „Gefangenschaft“, Zeitraub, Pseudokommunikation. Gemäß unserer Beobachtungen und Deutungen bedeutet gerade
für den aktionistischen Störertyp ihr „Ich mache, was ich will“ zunächst nur: „Ich
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mache nicht, was du willst!“ bzw. ”Ich mache nur, was ich kann!”. Sie haben in der
Regel sensible Empfindungskanäle dafür, was ihre Würde und Selbstachtung verletzt.
Nach unseren Feldstudien lassen sich grob folgende Typen differenzieren:
– Lernverstörte bzw. -demotivierte Jugendliche im Zirkel von Scheitern –
Unfähigkeitserleben – Angst – Vermeidung – Scheitern – Ersatzbefriedigung etc.,
die „eigentlich willig“ sind, jedoch nicht „mitkamen“, resignierten, durch ”Sitzenbleiben” neben dem Stigma auch noch über altersunangemessene
Gleichaltrigenbezüge quittierten (”Schulproblem”);
– Soziale Norm- und Regelverletzer bzw. sozialstrategisch Erfolglose – auftretend
als Mitglieder in Cliquen mit abweichenden Verhaltenstrends oder als Einzelgänger –, deren „Heimat außer der Reihe ist“, auf Grund von erfahrener Willkür,
Destruktivität bzw. Orientierungslosigkeit u.a. als lebensgeschichtliche Themen
(”biographische Probleme”);
– Lebensgeschichtlich weniger benachteiligte Jugendliche mit Autoritätsthematiken, die stärker als andere den alterstypischen Kampf gegen Bevormundung führen und Lehrerhandeln schnell als intolerablen Eingriff in persönliche
Entscheidungs- und Handlungsspielräume erleben bzw. die sich nicht/schlecht
anpassen können oder wollen (”Kompetenz- und Interaktionsproblem”).
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Schulverweigerung und dann?
Zum Erziehungsauftrag der Schule
Ulrich Thünken
(Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW)
Die Schulpflicht ist eine historische Errungenschaft, die z. B. im Lande Preußen
1717 eingeführt wurde. Im geschichtlichen Kontext beinhaltete sie eigentlich nicht
eine Anforderung an die Jugendlichen, sondern verpflichtete die Erwachsenen,
Jugendlichen den Schulbesuch zu ermöglichen. In einer Zeit, in der Kinder und
Jugendliche regelmäßig zur Erwerbsarbeit herangezogen wurden, war eine Vorschrift zum Schutz der Jugend.
Soviel zur Vergangenheit. Heute gibt es Probleme mit der Schulpflicht.
Doch zunächst einige Gedanken zum Bildungsauftrag der Schule:
1. Die Schule erhält ihren Auftrag, Kinder und Jugendliche zu bilden, von der Gesellschaft. Sie soll u. a. Wissen vermitteln, zu verantwortlichen Einstellungen
und Werthaltungen erziehen, zur praktischen Bewältigung individueller Lebenslagen hinführen. Die Anforderungen der Gesellschaft sind allerdings sehr vielfältig: Kaum ein Tag vergeht, ohne daß ein Interessenverband an das Ministerium
für Schule und Weiterbildung seine Forderung nach einer verstärkten Berücksichtigung der eigenen Belange durch die Schule anmeldet. Kurz: Anforderungen an die Schule aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen sind so vielfältig, daß die Schule sie keinesfalls gleichzeitig erfüllen kann.
2. Die Gesellschaft gibt der Schule den speziellen Auftrag, Berechtigungen zu vergeben. Die Schule entscheidet darüber, welche
Schulabschlüsse der einzelne Jugendliche erreicht
und welche Berufszugänge ihm damit offenstehen.
Damit wird der Schule - ob sie es will oder nicht eine Selektionsfunktion zugewiesen: Sie muß Jugendlichen bestimmte Bildungsgänge verschließen,
wegen Leistungsmängeln Klassen wiederholen lassen, Versagen dokumentieren und als Folge solchen
Versagens Berufsmöglichkeiten beschneiden.
Natürlich fordert die Gesellschaft neben dieser
Selektionsfunktion auch Integration von der Schule: Sie erwartet, daß Kinder und Jugendliche zu
Klassengemeinschaften zusammengeführt werden,
daß solidarisches Verhalten eingeübt wird, daß
Randgruppen und Benachteiligte über die Schule
in die Gesellschaft integriert werden. Diese widersprüchlichen Rollen von Schule machen es der Schule als System und auch vielen Lehrerinnen und Lehrern nicht leicht, wirklich pädagogisch und als
Anwälte der Kinder und Jugendlichen zu handeln.
54
3. Wie wird die Schule von Kindern und Jugendlichen selbst gesehen?
Von den Schülerinnen und Schülern wird heute mehr denn je an die Schule der
Anspruch gestellt, Lebensraum zu sein. In Familien, in denen nur wenige Begegnungen mit anderen Kindern möglich sind, die durch Medienkonsum und oft
mangelhaft ausgeprägte Kommunikation gekennzeichnet sind, wird für die Jugendlichen die Schule als Begegnungsraum mit Gleichaltrigen immer wichtiger.
Nach einer Befragung von Kölner Schülern durch andere Schüler ihrer Schule
geben etwa 50 % an, sich in der Schule sehr oder meistens wohl zu fühlen, 42 %
antworten mit mal ja, mal nein und nur 8 % fühlen sich häufiger nicht oder gar
nicht wohl in der Schule. Analysiert man die Untersuchungsergebnisse näher, so
zeigt sich, daß dieses Wohlbefinden hauptsächlich auf außerunterrichtlichen Begegnungen beruht. Fachliches Lernen ist zwar aus Sicht der Schüler wichtig, wird
aber nicht uneingeschränkt als positiv gesehen. In der Befragung gaben insbesondere die jüngeren Schüler an, daß sie lieber längere Pausen hätten und damit längere Zeit in der Schule verbringen möchten.
Eigentlich, so kann man jedenfalls dieser Schüleruntersuchung entnehmen, hat
die Schule gute Chancen, bei Kindern und Jugendlichen Akzeptanz zu finden. Trotzdem wird sie in ihren Methoden und Organisationsformen als erneuerungsbedürftig empfunden. So würden z. B. sehr viele Schülerinnen und Schüler anstelle von
frontalen Unterrichtsmethoden und Lehrervorträgen lieber selbst aktiv werden,
mit Mitschülerinnen und Mitschülern zusammenarbeiten und stärker an innerschulischen Entscheidungen sowohl im fachlichen Bereich als auch beim Leben in
der Schule beteiligt werden. Sicher ein Appell an die Schule, sich zu ändern!
Wenn ich nun vor diesem Hintergrund der Aufgaben von Schule heute zum Problem der Schulverweigerer, der Jugendlichen, die von Schule nicht mehr erreicht
werden, komme, so möchte ich hierzu einige Thesen formulieren.
1. Schulversagen ist insgesamt eher seltener geworden, im Einzelfall für den betroffenen Jugendlichen aber viel massiver und folgenreicher.
Heute verlassen in Nordrhein-Westfalen nur noch etwa 6 % der Schüler eines
Jahrgangs die allgemeinbildende Schule ohne einen Schulabschluß. Diese Quote
ist ständig gesunken, noch vor 20 Jahren war sie mehr als doppelt so hoch. Für die
Jugendlichen, die am Ende ihrer Pflichtschulzeit keinen Schulabschluß erreichen,
weil ihre Leistungen nicht ausreichten oder weil sie den Schulbesuch ohnehin in
den letzten Jahren versäumt hatten, sind jedoch die Chancen, einen Arbeitsplatz
zu finden und damit dauerhaft für ihren eigenen Lebensunterhalt aufzukommen,
drastisch gesunken.
Einfache Arbeitsplätze, die keine qualifizierte Ausbildung erfordern, sind infolge
der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung so drastisch reduziert worden,
daß für viele leistungsgeminderte Jugendliche kaum eine reale Chance besteht,
sich mit einigermaßen stabilen Aussichten ins Arbeitsleben zu integrieren. Hinzu
kommt, daß z. Zt. auch Jugendliche mit guten Schulabschlüssen auf dem engen
Ausbildungsstellenmarkt unter erheblichen Druck geraten und leistungsgeminderte
Jugendliche an den Rand drängen.
2. „Schulschwänzen“ hat in den massiven Fällen, von denen hier die Rede ist, selten die Ursache in der Schule, die Schule verstärkt jedoch häufig die negative
Entwicklung.
55
Der Jugendliche, der wegen fehlender Unterstützung des Elternhauses Schulunterricht versäumt, gerät leicht in eine Spirale des Mißerfolgs: Durch versäumten
Unterricht bleibt positive Bestätigung aus, Schule wird mißerfolgsbesetzt, Ausweichen davor führt zu einer Massierung von weiteren Schulproblemen. Aufmerksamkeit in der Schule können solche Jugendlichen hauptsächlich durch Störungen erreichen, diese wiederum verstärken den Negativtrend. Durch daraus folgendes
Sitzenbleiben wird dem Jugendlichen die Bezugsgruppe, die vielleicht den Schulbesuch noch attraktiv machte, entzogen, die Spirale dreht sich weiter. Es liegt auf
der Hand, daß eine solche Entwicklung vom Jugendlichen allein, wenn sie denn
einmal massiv eingesetzt hat, schwer zu durchbrechen ist. Wenn Elternhaus und
Schule keine geeignete Interventionsmöglichkeit finden, ist das Desaster vorprogrammiert.
3. Schule ist als System nicht drauf angelegt, ihre Ressourcen auf die Drop-Outs zu
konzentrieren. Leider erhält sie hierzu auch keine gesellschaftlichen Anreizsysteme.
Nach wie vor wird in einer breiten Öffentlichkeit eher die Schule als eine gute
Schule angesehen, die gute Schülerinnen und Schüler hat. Eine Schule, der es gelingt, Kinder und Jugendliche aus besonderen Problemsituationen herauszuführen
und ihnen Unterstützung zu geben, findet in der Öffentlichkeit kaum Resonanz.
Sie muß sich dagegen häufig noch den Vorwurf gefallen lassen, daß sie schwierige
Schüler habe, daß Gewalt und Kriminalität an der Tagesordnung seien, daß ihre
Schüler weniger leisteten als andere o. ä. Diese Wahrnehmung kann man bis in
einzelne Klassen, bei Elternabenden oder in Lehrerkonferenzen verfolgen: Die Lehrerin/der Lehrer, der sich darauf konzentriert, Jugendlichen in besonderen Problemsituationen intensiv nachzugehen, muß sich oft der Kritik stellen, er vernachlässige die anderen Kinder und Jugendlichen seiner Klasse. Eine Schule, die viele
Jugendliche mit Problemen an andere Schulen abgibt, muß sich deshalb kaum der
Kritik stellen, sie wird eher als besonders leistungsstark und anspruchsvoll geachtet. Auch die Gliederung unseres Schulsystems in höhere und niedere Schulen, in
Gymnasien und Hauptschulen, trägt zu dieser Wahrnehmung bei.
4. Am Ende der Negativentwicklung eines Jugendlichen stößt die Schule sehr schnell
an ihre Grenzen. Daher müssen Wege gefunden werden, Schule so zu verändern, daß die Schule früher auf Probleme der Jugendlichen reagieren kann.
Dies kann hier nur schlagwortartig dargestellt werden: Eine kindgerechte Grundschule, eine Jugendschule, die, wie es Hartmut von Hentig sagt, Lebensraum für
Jugendliche ist, verständnisvoller und professioneller Umgang von Lehrerinnen und
Lehrern mit Krisen im häuslichen Umfeld der Jugendlichen, verbesserte Kooperation unter Schülern, Abbau von Konkurrenz zugunsten von Kooperation könnten
hier Stichworte sein. Wenn man sich in der Realität unserer Schulen genauer umschaut, kann man hierzu schon viele positive Beispiele entdecken: Ungezählte Kinder und Jugendliche beschäftigen uns in diesem Kongreß nicht, weil sie frühzeitig
sensible Erwachsene trafen, die ihre Problemlage erkannten, die als Vertrauenspersonen angenommen wurden, die Hilfen gaben, stabilisierten, Mut machten und
über Durststrecken hinweghalfen und die im Endeffekt dafür sorgten, daß eine
Negativspirale erst gar nicht in Gang kam, sondern ein ganz normaler Schulbesuch
wieder erreicht werden konnte.
56
5. Schule als Teil einer Gesellschaft, die Drop-Outs nicht nur hinnimmt, sondern im
Zustandekommen teils noch begünstigt, bedarf unbedingt externer Unterstützungs- und Auffangsysteme. Die Jugendhilfe ist eines davon.
Wenn die Schule bei den durchaus widersprüchlichen Anforderungen, die die
Gesellschaft an sie stellt, darin stabilisiert werden soll, Schulverweigerung,
Schulversagen und Schulpflichtverletzungen frühzeitig zu begegnen, dann bedarf
sie vielfältiger Rückmeldungen über ihre Wirkungen, über Negativentwicklungen,
aber vor allem auch darüber, was sie in diesem Bereich zu leisten vermag und welche Chancen noch nicht genutzt werden. Die Jugendhilfe aus ihrer speziellen Sicht
der Problemlagen junger Menschen sollte daher nicht nur eine Auffangfunktion
am Ende einer von der Schule nicht mehr zu lösenden Negativentwicklung haben.
Sie kann im Dialog mit den Schulen dazu beitragen, daß Probleme frühzeitiger
gesehen werden, Lösungsstrategien gefunden und die Sensibilität aller an Schule
Beteiligten für die Probleme von Jugendlichen geschärft werden.
Wenn wir alle im Sinne der Jugendlichen, die durch den Rost zu fallen drohen,
mehr erreichen wollen, gibt es keine Alternative zu einer Bündelung aller Kräfte
und trotz oder vielleicht auch gerade wegen der begrenzten Ressourcen zu einer
verbesserten Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendhilfe.
Ber
uf
sv
orber
eitungsklasse (B
VK)
Beruf
ufsv
svorber
orbereitungsklasse
(BVK)
für über
alt
er
hulmüde Sc
hüler
überalt
alter
ertte und sc
schulmüde
Schüler
1. Die Situation
Für eine nicht geringe Zahl von Jugendlichen wird das Erreichen des Hauptschulabschlusses immer unrealistischer.
Es handelt sich insbesondere um überalterte SchülerInnen, die teilweise erst mit
12 Jahren die Grundschule verlassen und dort schon Mißerfolgserlebnisse hatten,
um SchülerInnen, die Klassen anderer Schulformen der Sek. I wiederholt haben
und dann zur Hauptschule gewechselt sind und auch um Seiteneinsteiger, die nach
anfänglicher Beschulung in Auffang- oder Vorbereitungsklassen bemerken, daß
sie den Anforderungen in den Regelklassen nicht gewachsen sein werden.
Zu dieser Klientel gesellt sich die Schar der Schulverweigerer, deren Leistungsrückstände aufgrund von Langzeitschwänzen so groß geworden sind, daß sie kaum
noch oder bereits nicht mehr aufholbar sind.
Diese SchülerInnen sind durch differenzierende Maßnahmen und alternative
Methoden welcher Art auch immer in einer Regelklasse nicht mehr erreichbar.
2. Die Entsc
heidung
Entscheidung
Trotz der derzeit stark betriebenen Integrationsdiskussion entschied sich die
Lehrerkonferenz der Schule zur Bildung einer besonderen Klasse für diese
SchülerInnen. Mit inneren Differenzierungsmaßnahmen, wo auch immer angesetzt,
war Mißerfolg vorprogrammiert. Das Argument, die in Frage stehenden SchülerInnen in einer Klasse zusammenzufassen, werde sie lediglich stigmatisieren,
wurde überwiegend als sekundär betrachtet.
57
Die Schulkonferenz stimmte dem Antrag, eine „Berufsvorbereitungsklasse“ zu
bilden, zu.
3. Ziele
In dieser Klasse sollen die SchülerInnen den Hauptschulabschluß nach der Klasse 9 erreichen. Die Berufsvorbereitungsklasse (BVK) wird im Schuljahr 1994/95 in
der Stufe 8 eingerichtet.
–
–
–
–
Sie erhält ein vermehrtes Angebot aus dem Bereich AW.
Es wird ein Betriebspraktikum durchgeführt.
Berufswahl und Berufsvorbereitung stehen im Vordergrund.
Die Klasse soll die Maximalschülerzahl von 16 nicht überschreiten, um eine Teilung in bestimmten Fächern, z. B. dem Fach AT, zu vermeiden. Der Klassenverband
soll in allen Unterrichtsbereichen aufrechterhalten werden.
4. Die B
VK im Sc
huljahr 1
99
4/95
BVK
Schuljahr
199
994/95
Zu Beginn des Schuljahres besuchen 15 Schüler die BVK:
–
–
–
–
Ein Schüler aus einer Vorbereitungsklasse
Zwei Schüler, die eine Klasse 7 des laufenden Schuljahres besuchen müßten
Drei im 8. Jahrgang nicht versetzte Schüler
Neun reguläre Schüler des 8. Jahrgangs
Ein Schüler hat zu Beginn des Schuljahres acht Schulbesuchsjahre absolviert.
Acht Schüler befinden sich im 9. Schulbesuchsjahr, und sechs Schüler besuchen
die Schule im 10. Schulbesuchsjahr. – Es handelt sich um eine reine Jungenklasse.
Die Probleme der Jungen werden als vorrangig betrachtet. Während des Schuljahres verläßt ein Schüler die Klasse: Umzug.
5. Lehr
er
Lehrer
Eine Klassenlehrerin und ein Klassenlehrer leiten die Klasse gemeinsam. Sie erteilen bis auf 5 Stunden (3 GP und 2 SP) den gesamten Unterricht der Klasse. Notwendiges Teamteaching ist aufgrund der Lehrerbesetzung der Schule nicht möglich. Das Team der drei Lehrer trifft sich bis auf Ausnahmen wöchentlich. Im
Vordergrund steht die Besprechung sozialer und organisatorischer Probleme.
6. U
nt
er
ht
Unt
nter
errric
icht
Projektorientierte Verfahren und Projektunterricht stehen im Vordergrund. Zur
Zusammenarbeit mehrerer Lehrer bei einem Projekt kommt es nicht. Deutlich wird
die Vorliebe der Schüler für die Arbeit mit dem Computer. Das Fachwissen der
Klassenlehrerin und ihre vielfältigen Angebote werden von den Schülern angenommen. Die eigenen Fertigkeiten auf diesem Gebiet nehmen deutlich zu. Das ist ein
wesentlicher Bereich, in dem sie Sicherheit und damit Selbstbewußtsein erlangen.
Unsicherheit herrscht im Lehrerteam bezüglich einer angemessenen Reaktion
auf Unpünktlichkeit und unregelmäßigen Schulbesuch. Individuelle Reaktionen
58
werden von den Schülern akzeptiert. Es entsteht eine Basis von Vertrautheit auf
der trotz weiter bestehender vielfältiger Probleme aufgebaut werden kann.
Ein Hauptproblem bleibt: Jeder braucht den Lehrer unbedingt „jetzt“.
7. V
er
hältnis der Sc
hüler unt
er
einander und gegenüber ander
en
Ver
erhältnis
Schüler
unter
ereinander
anderen
Erfreulich zu beobachten ist, daß die Schüler bald eine intensive Klassengemeinschaft entwickeln. Aggressionen untereinander sind nahezu nicht vorhanden. Es entwickelt sich Kameradschaftlichkeit. Die Klasse tritt als selbstbewußte
Einheit nach außen auf. Für die Schüler aus anderen Klassen sind das die aus der
BVK, und das ohne Unterton.
8. Sc
huljahr
esende 1
99
4/95
Schuljahr
huljahresende
199
994/95
Einem Schüler wird angeboten, im kommenden Schuljahr aufgrund seiner Leistungen die Klasse 10 A zu besuchen. Er verzichtet, um in dieser Klasse bleiben zu
können.
Ein weiterer Schüler absolviert erfolgreich eine Nachprüfung. Er hat sich in den
Ferien mit den gestellten Aufgaben beschäftigt. Ein durchaus erstaunlicher Vorgang.
Vier Schüler gehen ab:
– Zwei in eine Vorklasse zum BVJ/wahrscheinlich ohne Erfolg
– Einer in eine berufsvorbereitende Maßnahme beim IB
– Einer erhält einen Lehrvertrag als Fleischer
9. Sc
huljahr
esbeginn 1
995/96
Schuljahr
huljahresbeginn
1995/96
Die BVK wird als Klasse 8/9 weitergeführt. Einer der verbleibenden 10 Schüler
erreicht das Versetzungsziel nicht.
In die Stufe 9 kommen aus regulären Klassen hinzu:
– Eine Schülerin als Sitzenbleiberin im 9. Jahrgang
– Ein Schüler als Sitzenbleiber im 9. Jahrgang
In die Stufe 8 kommen aus regulären Klassen hinzu:
– Eine Schülerin als Sitzenbleiberin aus dem 8. Jahrgang
– Zwei Schüler als Sitzenbleiber aus dem 8. Jahrgang
– Ein Schüler aus dem 6. Jahrgang
Die BVK besteht nun aus 14 Schülern und zwei Schülerinnen. Die Gruppe der
Schüler aus dem Vorjahr hat sich so stabilisiert, daß die Integration der neuen Schüler und besonders auch der beiden Schülerinnen problemlos erfolgt ist.
10. Be
wer
tung
Bew
ertung
Nach Auffassung der beteiligten LehrerInnen kann der Versuch, selbstverständlich mit den notwendigen Abstrichen, wenn man z. B. an die vier Abgänger denkt,
als Erfolg bis zu diesem Zeitpunkt gewertet werden. Mit an Sicherheit grenzender
59
Wahrscheinlichkeit hätten sich etliche Schüler, wären sie in Regelklassen verblieben, zwischenzeitlich aus der Schule verabschiedet. Allein die Tatsache der teilweise sogar starken Anbindung an die Schule kann als Erfolg gewertet werden. Das
eigentliche Ziel, das Erreichen des Hauptschulabschlusses, steht noch aus. Das
weitere Ziel, die Vermittlung in einen Ausbildungsberuf, soll in einigen Fällen, wie
in der Klasse 10 A, auf dem Weg über ein Jahrespraktikum erfolgen.
Deutlich geworden ist jedenfalls, daß viele dieser Jugendlichen nicht unbedingt
abgeschrieben werden müssen, auch wenn sie die innere Emigration aus der Schule schon teilweise vollzogen haben.
61
Schulverweigerung und dann?
Zum Erziehungsauftrag der Jugendhilfe
Klaus Schäfer
(Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW)
Der Rechtsanspruch auf Erziehung eines jeden Jugendlichen ist das herausragende Merkmal und der Ausgangspunkt der Jugendhilfe. Deshalb ist es eigentlich
selbstverständlich, den Erziehungsauftrag in der Jugendhilfe zu sprechen. Aber das
Verständnis, was denn Erziehung der Jugendhilfe sein soll und vor allem, mit welchen Angeboten und mit welchen Methoden dieser Erziehungsauftrag realisiert
werden soll, ist – historisch betrachtet – sehr verschieden gewesen. Deshalb möchte
ich, ähnlich wie Herr Thünken, einleitend einen kurzen historischen Blick auf diesen Aspekt der Jugendhilfe richten.
Jugendhilfe war, sowohl in ihrer Entstehungsphase, wie auch bis weit in die 60er
Jahre dieses Jahrhunderts hinein, vorwiegend ordnungspolitisch motiviert. Vorrangig ging es – die Jugendarbeit/Jugendpflege einmal ausgenommen – um ein
Regelsystem, welches abweichendes Verhalten von Kindern und Jugendlichen verhindern bzw. sanktionieren sollte und zwar überwiegend durch repressive Maßnahmen. Kennzeichen der erzieherischen Hilfen war deshalb die Heimerziehung,
als das klassische Instrument des Eingriffes einer staatlich reglementierten Jugendfürsorge.
Dies war auch gesetzlich verankert. Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz aus dem
Jahre 1922 und auch später das seit 1961 geltende Jugendwohlfahrtsgesetz waren
von ihrem Grundsatz her von diesem Verständnis geprägt. Erst mit der Reformdiskussion Anfang der 70er Jahre begann eine Neuorientierung in der Jugendhilfe sich breit zu machen.
Ein demokratisches Verständnis von Erziehung entwickelte sich, und vor allem die Erkenntnis, daß eine
gesetzliche Reform notwendig ist, die diesem neuen
Verständnis eine entsprechende Perspektive gibt.
Mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz aus dem
Jahre 1991, wurde denn auch dieses offensive Verständnis von Erziehung und Bildung in der Jugendhilfe gesetzlich normiert. Zentrale Aufgabe der
Jugendhilfe ist es danach:
– junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen
Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden und abzubauen;
– Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der
Erziehung beraten und unterstützen;
– Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl
zu schützen;
– dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für
junge Menschen und ihre Familien sowie eine
62
kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen. (§ 1 Abs. 3
SGB VIII)
Dieser Gesamtauftrag der Jugendhilfe spiegelt sich auch in der Normierung der
Jugendsozialarbeit im § 13 Abs. 1 SGB VIII wieder, wenn danach die Jugendsozialarbeit gefordert ist, Angebote für Jugendliche bereitzuhalten, die soziale
Benachteiligung ausgleichen können oder in individuelle Beeinträchtigungen überwinden helfen.
In diesem Kontext ist auch die Förderung von jungen Menschen, die im Regelsystem Schule erhebliche Probleme haben, zu sehen. Schulverweigerung „ist deshalb kein neues Thema für die Jugendhilfe. Die Auseinandersetzung der Jugendhilfe mit Kindern und Jugendlichen, die nicht mehr zur Schule gehen (wollen) –
wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – und deshalb z. B. den Schulunterricht
verweigern“, war immer schon in der Praxis vorhanden. Nur, Jugendhilfe löste“
dies im wesentlichen dadurch, daß sie in Aufgabe auf das zuführen von jungen
Menschen, die mehr als dreimal fehlten, zur Schule sah.
Erste Ansätze der Schulsozialarbeit Mitte der 70er Jahre machte deutlich, daß
junge Menschen auch für den Schulunterricht und das Absolvieren der Schulpflicht
motiviert werden konnten, aber mit den Methoden und Handlungsmöglichkeiten
der Sozialpädagogik. Allerdings – und dies zieht sich bis heute wie ein roter Faden
durch – gingen diese neuen Ansätze nicht von einem alleinigen Schulversagen von
Schülern aus, sondern sahen auch die Rolle der Schule und das soziale Umfeld“ bei
dem Entstehen von Schulproblemen junger Menschen.
Hier setzt auch meine Kritik an dem Begriff Schulverweigerer an. Er impliziert,
als sei Schulverweigerung eher ausschließlich ein subjektiv zu verantwortendes
Problem, geprägt durch ein aktives Handeln, die Schule verlassen zu wollen. Gerade die Entwicklung von Kindheit und Jugendphase und die zu beobachtenden Veränderungen in ihrem Alltag sind jedoch ein Beispiel dafür, daß über vorhandenes
subjektives Verschulden hinaus, auch die objektiven gesellschaftlichen und strukturellen Ausgangsbedingungen, die Schulmüdigkeit prägen, einbezogen werden
müssen.
Diese strukturellen Bedingungen müssen beachtet werden, wenn wirksame
Lösungsperspektiven entwickelt werden sollen.
Ich will in einigen Feststellungen aus der Sicht des MAGS zentrale Aspekte zur
Aufgabenstellung der Jugendhilfe hinsichtlich der Bewältigung dieses Problems
skizzieren:
1. Wenn man sich die Entwicklungen und Herausforderungen der letzten Jahre in
der Jugendhilfe vergegenwärtigt, so fällt auf, daß gerade in den letzten Jahren
sich die Jugendphase in erheblichem Maße verändert hat. Herausragende
Entwicklungslinie ist, daß bestehende Institutionen der Erziehung und Bildung
wie Elternhaus und Schule nicht mehr in dem Maße, wie von ihnen erwartet,
oder wie gewünscht, die Erziehung allein sicherstellen können und die
Integrationskraft der Gesellschaft insbesondere im Übergang von der Jugendphase in das Erwachsenenalter nachläßt. Damit steigt die individuelle Verantwortung für die persönliche Zukunft bei den Jugendlichen selbst. Jung sein ist
deshalb heute eher eine Lebensphase mit großen Ambivalenzen – versehen mit
vielen Chancen und Möglichkeiten, aber auch mit vielen Risiken – in der Jugend
63
versucht, ihren Weg zu gehen und reglementierende Vorgaben und Eingriffe
der Gesellschaft immer weniger akzeptiert. Gleichzeitig wird aber Jugend auch
mit neuen Anforderungen an Alltagsbewältigung konfrontiert, die im wesentlichen dadurch verursacht werden, daß sie in ihrer Entwicklungsphase immer mehr
Brüche erfahren werden und ein nahtloser Übergang von der Schule in den Beruf und dann in eine dauerhafte, auf Zukunft abgesicherte berufliche Tätigkeit
nicht mehr für alle gegeben ist.
2. Die Veränderungsprozesse in der Gesellschaft, begleitet mit Desintegrationsperspektiven für einen Teil der Bevölkerung schlagen sich insbesondere negativ
auf die Jugendlichen nieder, die aus sozial–benachteiligten oder bildungs–benachteiligten Milieus kommen und die kaum über breite Chancen und Möglichkeiten verfügen, der damit verbundenen Schwierigkeiten zu entgehen. Gerade
weil ergänzend hinzukommt, daß ihnen der Arbeitsmarkt nicht die entsprechenden verbindliche Perspektive sichert und ihre Lernbedingungen im Lebensumfeld schlechter geworden sind, entwickeln sich zunehmend Zweifel, ob der Schulbesuch für sie überhaupt gewinnbringend sein kann. Deshalb wundert es nicht,
daß Jugendhilfe mit einer deutlichen Zunahme der Zahl der betroffenen Kinder
und Jugendlichen konfrontiert ist.
3. Besonders sind es die Strukturprobleme in Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt
und die damit einhergehende Arbeitslosigkeit sowie die steigende Langzeitarbeitslosigkeit, die vor allem denjenigen jungen Menschen die Hoffnung, durch
schulische Bildung eine ausreichende berufliche Perspektive zu erreichen, die
die Arbeitslosigkeit ihrer Eltern erfahren und sich selbst wenig Entwicklungschancen zutrauen.
4. Dabei fällt auf, daß die Schule traditioneller Prägung ebenfalls den Herausforderungen an Erziehung und Bildung durch diese gesellschaftlichen Wandlungsprozesse kaum gewachsen ist. Es wundert daher nicht, daß sie häufig diesen
jungen Menschen nicht die notwendigen Impulse geben kann bzw. Rahmenbedingungen zu setzen in der Lage ist, die diese Motivationsschwäche bei Jugendlichen überwinden hilft.
Dabei spielen mehrere Ursachen/Entwicklungen im Schulbereich eine bedeutende Rolle:
– Schule selbst hat in ihrer Gestalt als Lernort kaum die Möglichkeiten – in personeller und räumlicher Hinsicht – auf soziale Desintegrationsprozesse bei Jugendlichen eine adäquate pädagogische Antwort zu geben. Sie wird deshalb immer
mehr für Jugendliche zu einem Ort für Einzelkämpfer, auch, weil zum Teil auch
Eltern dies so wollen und den Druck auf die Schule erhöhen.
– Erkennbar ist, daß ein Teil der jungen Menschen nicht mehr über reine Lernmotivation aufgefangen werden kann. Dort wo die eigentliche Aufgabe der Schule, nämlich über Noten Perspektiven zu entwickeln, immer weniger funktioniert,
leuchtet auch immer weniger die Notwendigkeit eines langen Schulbesuchs ein.
Die bereits erfahrenen Belastungen und Einschränkungen wirken tief, eine positive Sichtweise von Schule, im Sinne von Zukunftsorientierung und Chancenverbesserung, entwickelt sich kaum.
64
– Andererseits wirkt Schule gehemmt, wenn es darum geht, neue Kombinationen
in dem Wirken von Erziehung von unterschiedlichen Erziehungsinstitutionen zu
nutzen und eine offensive Kooperation mit der Jugendhilfe einzuklagen und
umzusetzen. Erfahrungen mit Jugendlichen, die Schulschwierigkeiten haben und
sich an Projekten beteiligen, die praktisches Können voraussetzen, zeigen, daß
Jugendliche über andere Tätigkeiten als kognitives Lernen durchaus motivierbar
wären.
Hat sich Jugendhilfe in der Vergangenheit immer sehr stark dagegen gewehrt,
die Funktionen/Aufgaben anderer gesellschaftlicher Bereiche zu erfüllen und vor
allem eine dezidierte Haltung gegen die Auffassung eingenommen, auch Angebote an junge Menschen im Rahmen der Schulpflichterfüllung zu machen, so zeigt
sich im Wandel des Aufgabenverständnisses, daß Jugendhilfe mehr und mehr bereit ist, diejenigen Jugendlichen in ihrer Arbeit einzubeziehen, die zur Überwindung von Schulschwierigkeiten gerade für einen bestimmten Zeitraum eine Alternative außerhalb von Schule in anderen Lebenszusammenhängen haben müssen,
damit sie dort mit Werkstoffen und anderen Möglichkeiten qualifiziert und emotional zufriedener lernen und sich Fähigkeiten aneignen können, die für sie von
größerem und einsichtigem Wert sind.
Mit dem Projekt „Schulmüde Jugendliche“ haben wir deshalb einen neuen
Erprobungsweg entwickelt, der Sinn macht. Wir wollen nämlich erproben, ob es
möglich ist, junge Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – in der
Schule immer weniger ihre Chancen sehen, eine entsprechende Perspektive zu
entwickeln, durch andere Lernorte neu zu motivieren und sie wieder zum Lernen
in die Schule zurückführen zu können. Dieser Gewinn einer neuen Sinnhaftigkeit
des Lernens und des Begreifens von der Bedeutung eines schulischen Abschlusses,
ist die Chance von Jugendwerkeinrichtungen, in Kooperation mit der Schule neue
Wege gehen können.
Erkennbar aber ist heute schon, daß ein zentrales Paradigma dieses Projektes in
sehr widersprüchlicher Weise ausgeprägt ist: Die zwingende Bedingung, das Jugendliche, die über einen bestimmten Zeitraum ihre Schulpflicht in Werkeinrichtungen der Jugendhilfe erfüllen in die Schule rückgeführt“ werden müssen und
Schule von daher sich selbst verändern muß. Genauer gesagt: Es ist nicht das Ziel
dieses Projektes, schulmüde Jugendliche aus der Schule herauszunehmen und Schule aus dem Obligo zu entlassen. Es geht darum, durch Jugendhilfe Motivationsstrukturen zurückzugewinnen und durch Förderung von Reflektionsprozessen in
der Schule, Veränderung des Schulalltags zu ermöglichen.
Denn, ein Grundprinzip muß erhalten bleiben: Die Schulpflicht ist ein hohes gesellschaftliches, soziales und bildungspolitisches Gut. Es dürfen keine Diskussionen über solche Projekte gefördert werden, die auf eine tendenzielle Abkehr von
der Schulpflicht abzielen. Jugendhilfe und insbesondere Jugendsozialarbeit darf
deshalb auch keine Alternative zur Schule sein und gewissermaßen Ersatzlernort
werden. Sie hätte dann auch ihre Funktion als die schulischen Prozesse ergänzende Erziehungsinstanz für diejenigen jungen Menschen, die entsprechend gefördert werden müssen, verloren.
Die Chancen und Möglichkeiten der Jugendhilfe, im Kontext der Jugend- bzw.
Schulsozialarbeit liegen deshalb darin, neue Ansätze und Räume anzubieten, die
ein weiteres Abgleiten verhindern und soziale Desintegrationsprozesse abmildern
65
läßt. Hierzu verfügt Jugendhilfe – anders als Schule – über weichere und für junge
Menschen häufig akzeptablere Rahmenbedingungen:
– Sie hat einen eindeutigen und weitgehenden Erziehungs-, sozialen Gestaltungsund politischen Einwirkungsauftrag. § 1 und § 13 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes regeln dies eindeutig. Jugendhilfe ist deshalb auch geeignet, auf die
spezifischen Interessen und Bedürfnisse junger Menschen einzugehen und ihre
Interessen gegenüber anderen Politikbereichen und gegenüber der Gesellschaft
wahrzunehmen. Dies fördert Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit von
Jugendhilfe.
– Jugendsozialarbeit verfügt zudem über geeignete Formen, Einrichtungen und
Ansätze, um lebenweltorientiert handeln zu können und junge Menschen dort
aufzufangen, wo sie wohnen, kurz, wo ihr Lebensumfeld ist.
– Jugendsozialarbeit ist auch entsprechend flexibel in den Handlungsformen. Sie
findet nicht nur in Räumen statt, wie dies in der Schule klassischerweise der Fall
ist, sondern ihr Beziehungsfeld ist sowohl die Einrichtung, wie das Lebensumfeld, wie der soziale Raum in dem junge Menschen sich aufhalten. Ihre Ansprechpartner sind junge Menschen wie Eltern gleichermaßen.
– Jugendsozialarbeit hat die erforderliche sozialpädagogische Kompetenz, andere Methoden, sowie weitgehende Bündelungs- bzw. Vernetzungsmöglichkeiten.
Ihren Erziehungsauftrag wahrzunehmen setzt nämlich eine solche Handlungsbreite voraus.
Dies darf aber nicht dazu führen, daß Jugendhilfe verantwortlich gemacht werden kann für das Ausbleiben notwendiger Veränderungsprozesse. Auch sie ist abhängig und wird geprägt von den gesellschaftlichen Entwicklungen und den politischen Entscheidungsprozessen. Der Erziehungsauftrag in der Jugendhilfe
impliziert deshalb, vor allem dann, wenn er bestehende Defizite individueller und
sozialer Art überwinden will, daß Jugendhilfe nicht auf die Rolle als „Ausfallbürge“
für das Versagen anderer gesellschaftlicher Bereich reduziert werden darf. In diesem Fall wäre sie auf Dauer ein wenig hilfreicher Partner bei der Überwindung des
Problems der Schulmüdigkeit. Sie muß ihren Erziehungsauftrag deshalb auch gesellschaftlich und infrastrukturell verstehen und:
– Darauf drängen, daß durch frühzeitige Kooperation zwischen Jugendhilfe und
Schule früher als bisher präventive Ansätze greifen und dadurch Ausgrenzungsund Demotivationsprozesse abgebaut werden können und
– sie muß darauf drängen, daß auch Schule sich verändert und ein Lebens- und
Lernort wird, der der spezifischen Situation dieser Zielgruppe Rechnung trägt
und durch neue Formen und durch ein neues Grundverständnis, Orte des Lernens und des Lebens wird.
Bei der Überwindung dieser Problematik der Schulmüdigkeit kann deshalb auf
Jugendhilfe gesetzt werden. Hierzu benötigt sie aber auch die stabilen Ressourcen, hier gilt – wie in anderen Bereichen der Jugendhilfe auch: Früh investiert ist
für die Zukunft mehr als halb gewonnen. Die gesellschaftlichen Kosten, die
Desintegrationsprozesse mit sich bringen, werden durch solche offensive Herangehensweisen deutlich reduziert. Auch das ist ein Ziel der Modellprojekte.
67
Podiumsdiskussion
Brauchen wir ein neues Regelsystem für Schüler und
Schülerinnen, die sich der Schulpflicht entziehen?
das war die Fragestellung, mit der sich das Podium auseinanderzusetzen hatte.
Schulpflicht hieße nicht nur, daß Kinder und Jugendliche verpflichtet sind, die Schule
zu besuchen; sie verpflichte auch die Eltern und vor allem die Schule, das individuelle Recht auf Bildung zu verwirklichen.
Dies schiene bei einer beträchtlichen Zahl von jungen Schulverweigerern nicht
zu funktionieren, stellte Markus Schnapka in der Anmoderation fest. Und ergänzend fügte er hinzu, die Bildungs- und Jugendhilfeverantwortlichen reagierten auf
das Phänomen der Schulmüdigkeit mit Modellprojekten oder vor Ort mit individuellen Initiativen. Ein Regulativ gäbe es nicht. Es sei von Zufällen abhängig, ob vor
der Schule Geflüchtete wahrgenommen werden, Kooperationen von Jugendhilfe,
Schule und Arbeitsverwaltung koordiniert werden und sich daraus Chancen für
junge Menschen ergeben. Und bewußt provokant setzte er hinzu: Schule kann
offensichtlich alleine nicht mehr weiter!
Wer aber sucht und findet die Schulflüchtigen und wo sehen Sie Ihre Verantwortlichkeiten, war die erste Frage an Andreas Henseler, Schuldezernent der Stadt
Köln. Henseler konzidierte, daß es eine organisierte Bearbeitung dieses Problemfeldes aus seiner Sicht in Schule nicht gäbe, und beklagte den Umstand, daß ein
frühzeitiges Reagieren vernachlässigt würde. Statt dessen käme es sehr schnell zu
einem Prozeß der Ausgrenzung. Es sei aber an der Zeit, daß Schule das Problem
wahrnähme und entsprechende präventive Strategien entwickelte. Schließlich
müsse sich Schule darauf besinnen, daß sie strukturell darauf angelegt ist, Ausgrenzung zu verhindern.
Es sei und bliebe eine originäre Aufgabe von Schule,
aus dem System heraus, Schulmüdigkeit und verweigerung gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Dringend warnte Henseler davor, einen Ausstiegskanal aus der Schulpflicht zu etablieren. Ein neues
Regelsystem zwischen Schule und Jugendhilfe würde
nicht gebraucht.
Daß es nicht darum gehe, einen Ausstiegskanal zu
installieren, machte auch Ulrich Thünken vom Ministerium für Schule und Weiterbildung in NRW klar. Er
gab aber zu bedenken, daß zur Betrachtung der Frage, warum Jugendliche in die Schule gehen oder nicht,
auch gesehen werden müßte, welche Chancen sie im
Anschluß eigentlich noch haben. Eine beträchtliche
Anzahl von jungen Leuten, auch von denen, die brav
zur Schule gehen, haben keine Perspektiven, weil sie
den Konkurrenzanforderungen in den normalen Berufen nicht gewachsen sind. Darauf müsse die gesamte Gesellschaft reagieren, nicht nur die Schule, forder-
68
te er. Schule habe grundsätzlich die Möglichkeit, sich zu verändern und damit den
Lebensbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen gerechter zu werden. Dazu müsse sie aber ihren Blick verändern: Prämiert als beste Schulen würden z.Zt.. jene,
die „Prinzenerziehung“ (Henseler) betreiben. Thünken charakterisierte die Schule
als eine Institution in der Zwickmühle zweier gegensätzlicher Interessenslagen,
zwischen Integration und Selektion. Er plädierte nachhaltig für Anstöße von außen, um gemeinsam Schule
zu verändern, warnte jedoch davor, Schule aus ihrer
Moderation:
Markus Schnapka
Pflicht zu entlassen und neue Regelsysteme zu entwickeln.
Wenn aber doch Schule den Schwachen wenig zu
bieten hat, muß diesem Problem mit neuen Projekten aus der Jugendhilfe begegnet werden, war die Frage an Klaus Schäfer als Jugendhilfevertreter vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales.
Auch Klaus Schäfer warnte eindringlich vor einem
neuen Regelsystem, bezeichnete dies sogar als eine
bildungs- und jugendpolitische Katastrophe. Die Katastrophe läge darin, daß Jugendhilfe eine Zuständigkeit übernähme, die sie nicht habe. Jugendhilfe könne keine Bildungspolitik im klassischen Sinne machen.
Statt dessen müsse es gelingen, durch engere Kooperation, neue Selbstverständnisse und Abbau von Eitelkeiten ein Handlungssystem zu finden, das durch
verpflichtende Vernetzungsformen funktioniert. Die
Inge Mewes-Turz, Dortmund
Schaffung neuer Modellprojekte für Schulverweigerung sei ein Indiz für die Vernachlässigung dieser Klientel, deren Existenz der Schule und Jugendhilfe
bereits im Vorfeld bekannt sei. Die bisherigen Handlungsspielräume, zumindest seitens des Kinder- und
Jugendhilfegesetzes, seien ausreichend. Was nicht
angehe ist, daß Schule als System nicht handele, und
es dem Zufall überbliebe, ob Lehrerinnen oder Lehrer
Kooperationen mit der Jugendhilfe eingehen oder
Andreas Henseler, Köln
nicht.
Welche Funktion denn ein Landesjugendamt habe,
Verbindlichkeiten in der Kooperation für die Seite
der Jugendhilfe herzustellen, dazu nahm
Hans Peter Schaefer vom Landesjugendamt Rheinland Stellung. Da es aus
seiner Sicht auch nicht darum gehen
kann, neue Regelsysteme herzustellen,
müßten die bestehenden sich ändern.
Dazu würden von Seiten des Landesjugendamtes die bestehenden Beziehungen zu den Bezirksregierungen intensiviert. Für die Fortbildungen sei der
69
Kooperationsgedanke ein wichtiger Inhalt, gemeinsame Fortbildungen für Lehrer/
innen und Fachkräften der Jugendhilfe der richtige Weg. Weiterhin verwies Schaefer auf die Modellprojekte an sechs Standorten in NRW, die vom Landesjugendamt
fachlich begleitet und ausgewertet werden. Von ihnen sind wichtige Anstöße zu
erwarten, die auf eine verbesserte Kooperation innerhalb der Jugendhilfe und gegenüber der Schule zielen.
An die Vertreterin eines freien Trägers, Frau Mewes–Turz, wurde die Frage gerichtet, welche Forderungen sie an Schule und Jugendhilfe habe. Mehr Phantasie
auf beiden Seiten, war die Antwort, mehr Parteilichkeit und Engagement für die
Jugendlichen. Verkrustete Strukturen aufbrechen, neue Bündnispartner/innen suchen, z. B. in der Wirtschaft, seien durchaus denkbare Wege, die aber voraussetzen, daß auch einmal „quergedacht“ werden dürfe. Im Rückblick auf ihre eigene
Tätigkeit in der Schule äußerte Mewes–Turz die Überzeugung, daß es immer auf
die einzelnen Personen ankäme, wieweit sie aus eigener Kraft Kooperationen suchten und diese ausbauten. Schule als Ganzes zu verändern, sei schon sehr schwierig, meinte sie abschließend und sprach sich ausdrücklich für eine Vielfalt von Projekten aus, die durchaus in der Lage seien, Lernen mit
Leben zu füllen und daher geeignete Orte zur Beschulung von Schulmüden darstellten.
In der folgenden Diskussion, die unter lebhafter
Beteiligung des Plenums vonstatten ging, war eine
zentrale Überlegung die der Finanzierung von Hilfsangeboten.
Daß präventive Arbeit in Schule nicht kostenneutral
abzuwickeln sei, liege auf der Hand, hieß es. Zusätzliche Mittel stünden aber nicht zur Verfügung, war die
Klaus Schäfer, MAGS
durchaus realistische Prognose. Also, kurzfristige,
kostenneutrale Lösungen müßten her, durch eine
Veränderung des Lehrpersonalzuweisungsschlüssel,
meinte der Schuldezernent. Kurzfristig realisierbar sei
auch der Einsatz von Beratungslehrer/innen, war das
Votum vom Vertreter des Ministeriums für Schule und
Weiterbildung, die mit der Aufgabe betraut werden,
vermehrte Aufmerksamkeit auf Schulmüdigkeitstendenzen zu legen. Wert gelegt wurde auch auf die
Hans Peter Schaefer,
Unterscheidung, daß es sich schließlich um zwei verLandesjugendamt Rheinland
schiedene Gruppen handele: Die, die durch präventive Arbeit in der Schule noch erreicht werden könnte,
Ulrich Thünken, Ministerium
was aber mit denen, die bereits konsequent der Schufür
Schule und Weiterbildung
le fernbleiben?
Als absolute Ausnahme wurde erklärt, daß Schulpflichtige an einen anderen Lernort gehen können.
Auch dieses unter dem Gesichtspunkt der Bezahlbarkeit. Aus Jugendhilfeseite wurde noch einmal gefordert, das Thema zum Gegenstand in den örtlichen
Jugendhilfeausschüssen und in den Schulausschüssen
zu machen.
70
Das Versprechen zum Schluß: Zumindest in NRW werden die Ministerien, die für
Schule und Jugendhilfe zuständig sind, sehr eng zusammenarbeiten und klare Vereinbarungen zur Kooperation treffen. Die Chancen, die darin liegen: Kooperation
ist schwer zu verordnen. Sie muß vorgelebt werden. Dafür gibt es schon gute Beispiele, aber es müssen mehr werden, um die Selbstverständlichkeit herbeizuführen.
(Karin Joswig–von Bothmer, Landesjugendamt Rheinland)
Diskussion unter 'Beteiligung des Plenums
71
Ein Nachtrag:
Auffällig unauffällig:
Mädchen und Schulverweigerung
Andrea Becker (Jugendberufshilfe e.V., Essen)
Karin Joswig-von Bothmer (Landesjugendamt Rheinland)
Vorbemerkung:
Wenn von 11 Projekten, die mit schulmüden Jugendlichen arbeiten, in 10 Projektbeschreibungen nur von Jungen die Rede ist, dann gibt das zu denken. Und zumindest stellt sich die Frage: Wie sieht es bei den Mädchen aus? Gibt es da auch
Verweigerung? Es gibt und nicht zu wenig. Allerdings in einer anderen Erscheinungsform und auch die Gründe unterscheiden sich von denen, die über Jungen
bekannt wurden. Einige Erkenntnisse liegen vor, weil es in Essen einen Modellversuch für schulmüde Mädchen gibt. Dieser zweijährige Modellversuch in Kooperation von Schule, Jugendhilfe und Arbeitsverwaltung war von vorne herein als ein
reines Mädchenprojekt geplant. Die Beschulung an einem anderen Ort findet in
diesem Fall in einer Werkstatt für Mädchen statt.
Die Ausführungen gliedern sich in zwei Teile. Teil I beschreibt den sozialen Hintergrund der Mädchen. Gründe der Schulverweigerung werden so vielleicht deutlicher. Allerdings sollte hierbei beachtet werden, daß nicht alle gemachten Aussagen auf alle Mädchen gleichermaßen zutreffen. Tendenzen können zwar
beschrieben werden, der Einzelfall ist dabei aber nicht aus dem Auge zu verlieren.
Im Anschluß daran folgt ein Förderkonzept, das auf die soziale bzw. geschlechtsspezifische Ausgangslage der Mädchen eingeht.
Die familiäre Situation
Alle bisher befragten Mädchen stammen aus relativ kinderreichen Familien (3 - 6 Kinder), in der in der
Regel auch noch jüngere Geschwister vorhanden sind.
Regelmäßig und häufig sind die Familien zusätzlich
Aufenthaltsort von Freunden, Nachbarn, Verwandten
etc. und deren Kindern. Ruhe und die intensive
Beschäftigung mit einer Person ist so gut wie unmöglich. Aggressivität, autoritäre Strukturen, Disziplinierungen, Kontrolle und widersprüchliche Anordnungen sind stark ausgeprägt. Pflichten, nicht Rechte
haben den Vorrang. Auch wenn Eltern (vordergründig) den Anspruch haben, daß ihre Töchter “etwas lernen” sollen, unterstützen sie diesen Anspruch jedoch
häufig nicht, sondern glauben eher an das Versagen
als an den Erfolg ihrer Tochter: „Das schaffst Du ja
doch nicht!“ oder „Du könntest es ja schaffen, aber
72
...!“ Die Unzufriedenheit mit der eigenen Situation und das daraus resultierende
reduzierte Selbstbewußtsein sind wohl der Grund für solche Äußerungen. Langzeitarbeitslosigkeit, Sozialhilfebezug, Scheidung, keine abgeschlossene Berufsausbildung, Suchtstrukturen (z. B. Alkoholismus) und wenig bzw. unrealistische Zukunftspläne sind die Themen bzw. die Vorbilder, mit denen sich die Mädchen
auseinandersetzen müssen. Allein diese Vielzahl der geschilderten Problembereiche haben eher behindernde als unterstützende Wirkung. Die Weitergabe von tradierten Geschlechterrollenzuweisungen, die Reduktion auf die Versorgungsfunktion
der Frau für Mann und Kinder sowie Gewalt gegen Frauen und sexueller Mißbrauch
gehören ebenso dazu. . Auch wenn die betroffenen Familien ihre Unzulänglichkeiten und Schwierigkeiten nur ungern eingestehen bzw. nicht wahrhaben wollen
(der Schein nach außen wird grundsätzlich gewahrt), so sehen sie sich doch spätestens dann damit konfrontiert, wenn die Mitarbeiter/innen der sozialen Dienste
der Familie wieder einen Besuch abstatten. Gründe der Schulverweigerung werden so vielleicht deutlicher. Allerdings sollte hierbei beachtet werden, daß nicht
alle gemachten Aussagen auf alle Mädchen gleichermaßen zutreffen. Tendenzen
können zwar beschrieben werden, der Einzelfall ist dabei aber nicht aus dem Auge
zu verlieren. Im Anschluß daran folgt ein Förderkonzept, das auf die soziale bzw.
geschlechtsspezifische Ausgangslage der Mädchen eingeht.
Die psychosoziale Situation der Mädchen
... ist geprägt durch die Widersprüche, die sie zu Hause erleben und den Vorstellungen von der eigenen Zukunft, die größtenteils zwar sehr klar, aber zumeist genauso unrealistisch sind, wie die ihrer Eltern („heile Welt“- Vorstellungen von Beruf, Partnerschaft und Familie).
Zukunft wird eher erlebt als etwas, was sich in weiter Ferne abspielt und was
man nicht heute schon leben bzw. beeinflussen kann: Die Zukunft wird geträumt
– gelebt wird eher zufällig. Dieser Widerspruch zwischen Traum und Wirklichkeit,
das ständige Scheitern an den eigenen überhöhten Ansprüchen hat Resignation
zur Folge und beeinflußt auch das Verhältnis zur Zeit. Zeit wird als etwas erlebt,
von dem man unendlich viel zur Verfügung hat. Anstrengungen zur Realisierung
der eigenen Ziele bzw. zur Veränderung unbefriedigender Situationen, werden „irgendwann demnächst“ in Angriff genommen, weil man jetzt ja doch nichts verändern kann.
So wird zum Thema Berufs- und Lebensplanung der Zugang fast ausschließlich
über Träumen gefunden und nicht über realistische Planung und dementsprechendes Verhalten. Da über Leistungen im Bereich Schule und Berufsausbildung aktuell keine Anerkennung bezogen werden kann, versuchen die Mädchen, sich dies in
anderen Bereichen zu holen. Dies manifestiert sich tendenziell in zwei Verhaltensweisen Zum einen über sehr rollenkonformes Verhalten, d. h. z. B. die Reduktion
über die weibliche Versorgungsfunktion wird gerne angenommen, indem häufig
sehr liebevoll und verantwortungsbewußt, aber vor allen Dingen mit einem hohen Maß an Selbständigkeit für kleine Geschwister (oder Nachbarskinder etc.) gesorgt wird.
Dabei ist der Aspekt des-Drucks durch die Familie nicht zu unterschätzen. Viele
Mädchen beziehen nur durch diese Familienarbeit ihre Anerkennung von Seiten
73
der Eltern und die Zuneigung der Kinder als emotionale Stütze. Dies gilt ebenso im
Umgang mit Partnerschaften. Eigene Ansprüche und Interessen werden stark
zurückgeschraubt, um ganz für den Anderen da zu sein und ihm zu gefallen.
Die Fürsorge, die sie anderen zuteil werden lassen, findet selten Anwendung auf
sie selbst. Die zweite, relativ häufig zu beobachtende Verhaltensweise, ist Rebellion. Die Ablehnung jeglicher Kontrolle und Reglementierung, gepaart mit zum Teil
sehr aggressivem Verhalten, stehen hier im Vordergrund. Obwohl mit diesem Verhalten eher negative als positive Aufmerksamkeit errungen wird, ist dies doch eine
Möglichkeit für die Mädchen, sich abzugrenzen bzw. “auf gar keinen Fall so zu
werden wie die anderen oder sogar ihre Eltern”. Die bisher beschriebene Situation
der Mädchen hat aber nicht zur Folge, daß vorhandene Energien dazu verwandt
werden, ihre Situation zu verändern, sondern vielmehr ein “nicht wahr haben wollen“. Einsicht in die eigene Situation würde ein gewisses Maß an Selbstbewußtsein
voraussetzen, d. h. Kenntnis über eigene Fähigkeiten, Stärken und Schwierigkeiten zu haben-.
Dieses Selbstbewußtsein ist bei den meisten Mädchen nur ansatzweise bzw. nur
vordergründig vorhanden. Schließlich geht es ja meistens irgendwie - und manchmal auch gar nicht nur schlecht, und dann kommt ja auch irgendwann der ´„Traumprinz“, der sie auf Händen trägt und sie aus ihrem Dilemma erlöst. Hier wird deutlich, daß die Mädchen ihr Leben eher passiv, d. h. in Abgängigkeit von anderen
bzw. von äußeren Umstanden, als aktiv, kreativ und als selbständig beeinflußbar
erleben.
Die Rolle der Schule
Auch das Verhältnis zur Schule ist ebenfalls widersprüchlich besetzt. Einerseits
ist die Schule der Weg, der beschritten werden muß in Richtung Berufsausbildung
und ein eigenständiges Leben. Andererseits ist es den Mädchen fast unmöglich,
ohne entsprechende Hilfen und Unterstützung (siehe familiäre Situation), den Leistungsanforderungen und Strukturen der Schule so gerecht zu werden, um hierüber ihre Anerkennung zu beziehen. Intensive Einzelförderung ist hier wohl eher
die engagierte Ausnahmen als die Regel, und in dem Maße, in dem die stattfinden
müßte, häufig auch nicht leistbar. Hinzu kommt hier noch häufig die zunehmende
Bedrohung von Gewalt bzw. sexueller Gewalt durch Mitschüler, der auch Lehrer
zunehmend hilflos gegenüber stehen. Verlust des Vertrauens in die Handlungsbereitschaft der Lehrer/innen, das Gefühl allein gelassen und nicht ernst genommen zu werden, als Mädchen nicht über geeignete Durchsetzungsstrategien
zu verfügen und aus eigener Kraft die Situation nicht verändern zu können, läßt
den Mädchen kaum eine andere Wahl als gelernte Konfliktlösungsmuster anzuwenden: Aggression und/oder Rückzug. Hat sich die „Negativ-Spirale“ einmal in
Gang gesetzt (je weniger Spaß die Schule macht, je schlechter die Leistungen werden, je weniger Anerkennung, desto seltener geht man überhaupt noch hin), scheint
die Schule nicht die geeigneten Kapazitäten zu besitzen, hier wieder kompensierend und aufbauend zu wirken.
Daß die Mädchen trotzdem immer mal wieder an der Schule „auftauchen“, hat
Signalkraft in unterschiedliche Richtungen: Das Spektrum reicht von „Auch, wenn
ihr mich nicht wollt, müßt ihr trotzdem noch mit mir rechnen!“ über „Mal sehen
74
was hier noch so los ist!?“ bis „Eigentlich ist Schule gar nicht so schlecht - vielleicht
versuche ich es doch noch einmal! “. Wird dieses „ab und zu mal auftauchen“ auch
noch negativ sanktioniert in Form von Aussagen wie z. B.: „Was willst Du denn
hier?“ oder: „Wer bist Du denn? Muß ich Dich kennen?“, wird der Glaube in die
Institution Schule, an mögliche Hilfen und Unterstützung, sicherlich nicht bestärkt.
Die vorausgegangenen Ausführungen machen einen Handlungsbedarf deutlich
der sich an folgenden Zielsetzungen orientiert:
1. Lernziele bezogen auf eine Stärkung des Selbstwertgefühls
Zu einer erfolgreichen Förderung von Mädchen ist neben der schulischen und
werkpraktischen Ausbildung auch der Erwerb von Durchsetzung- und Selbstbehauptungsstrategien unumgänglich, um sich vor Übergriffen verbaler und körperlichen Art wirksam zur Wehr zu setzen und ein positives Selbstbild zu entwikkeln und zu stabilisieren. Dazu gehören neben der Auseinandersetzung der
eigenen Lebensbiographie, den weiblichen Vorbildern, der Selbstreflektion ebenso Körperarbeit, Selbstverteidigung und die Erschließung weiterer Bewegungsräume.
Umsetzung: Kurse, Wochenendseminare: JBH e.V., e.V.. unter Beteiligung einer
Fachfrau (Wen-Do).
2. Lernziele bezogen auf das Sozialverhalten
Entwicklung von Konfliktfähigkeit, Gesprächs- und Kooperationsfähigkeit Als Einstieg soll hierbei die Verschiedenartigkeit der Menschen, ihre Individualität und
Einzigartigkeit verdeutlicht werden. Die Umsetzung dieser Lernziele erfolgt
schwerpunktmäßig in der Jugendwerkeinrichtung (JWE). So geht die Arbeit nach
festen Regeln vonstatten, die grundlegende soziale Qualifikationen für das Arbeitsleben darstellen: a) Regelmäßiges Kommen b) Diszipliniertes Verhalten c)
Einfügen in die Gruppe. Weiterhin werden durch die Werkpraxis Erfolgserlebnisse möglich, die ansonsten in ihrem Leben selten sind (Kompetenzgewinn und
Steigung des Selbstwertgefühls).
Umsetzung: Soziale Gruppenarbeit (Einsatz von Medien und Rollenspielen): JWE.
3. Lernziele bezogen auf schulische Leistungen
Der allgemeinbildende Unterricht seitens der Lehrerin bildet eine wichtige Grundlage, um eine Verbesserung der (schulischen) Lern- und Leistungsmotivation aufzubauen.
Der außerschulische Lernort bietet die Möglichkeit, “Lernen neu zu lernen” und
eröffnet Chancen im Aufbau einer vertrauensvollen und tragfähigen Beziehung
zwischen Schülerin und Lehrerin. In der Folge kann eine andere Sicht auf Schule
entstehen. Im Kontext mit sozialer Gruppenarbeit und Einzelhilfe können Gründe für das Schulverweigerungsverhalten offengelegt, bearbeitet und im Einzelfall Chancen einer Reintegration in Schule eröffnet werden .
Umsetzung: Unterricht in allgemeinbildenden Fächern, Einzel- und Gruppenarbeit.
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4. Lernziele bezogen auf geschlechtsspezifische Verhaltensmuster
Im Mittelpunkt steht die Reflexion über weibliche Rollenmuster und die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Rolle von Frauen. Die Erwartungen gegenüber Mädchen sind widersprüchlich: Elterliche Fürsorge und Kontrolle, Normen der Gleichaltrigengruppe, Ansprüche des Freundes/Partners usw.. Arbeit
mit Mädchen muß ihren Mut machen zur Auseinandersetzung mit den Erwartungen von außen und einen für sie akzeptablen Weg zu finden. Dazu gehört
unter anderem: - Unterschiedliche Rollenbilder zu bearbeiten - Mit ihren Strategien zu erarbeiten, wie sie mit widersprüchlichen Erwartungen umgehen und
eine eigenständige Entscheidungs- und-Handlungskompetenz aufbauen können.
Umsetzung: Soziale Gruppenarbeit: JWE, Seminare zur Lebensplanung: JBH e.V.
5. Lernziele bezogen auf die Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung
(Information über Berufsbereiche und -felder, Arbeitsbedingungen und Verdienstmöglichkeiten)
Mädchen wollen beides: Beruf und Familie. Ihr Lebensentwurf ist geprägt durch
die Suche nach der Vereinbarkeit. Ziel ist es, eine tragfähige berufliche Motivation aufzubauen, indem die Mädchen Informationen über Berufe, Verdienstmöglichkeiten, Vor- und Nachteile der typischen Frauenberufe und das Wissen über
einen beruflichen Alltag vermittelt werden. Praktika können einen solchen Einblick in die Arbeitswelt geben und möglicherweise Chancen für einen betrieblichen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz eröffnen.
Umsetzung: Seminare zur Lebens- und Berufsplanung: BB/JBH e.V. Praktika: Vorbereitung, Begleitung und Nachbereitung (unter sorgfältiger Auswahl der in Frage
kommenden Betriebe): JWE/JBH e.V./BB Einzelgespräche: BB/JBH e.V./JWE. Besuche im BIZ: BB/JBH e.V. Bewerbungstraining: JBH e.V./Unterricht Kooperation
mit außenbetrieblichen Ausbildungsstätten
6. Lernziele bezogen auf den gewerblich- technischen Bereich und
Neue Technologien
Einblicke in die Arbeitsfelder Holz, Metall, Elektro (Materialarten, Werkzeuge),
Vermittlung von Grundkenntnissen im Umgang mit Computern
Zur Erweiterung des Ausbildungs- und Berufswahlspektrums müssen oftmals
Hemmschwellen überwunden werden, um den Umgang mit den ungewohnten
Materialien und Geräten einzuüben. Diese Hemmschwellen abzubauen, verlangt
neben den Informationen über die gewerblich-technischen Berufe auch die Möglichkeit, mit den Werkstoffen und Werkzeugen praktische Erfahrungen zu sammeln. Darüber hinaus kommt Kenntnissen im Umgang mit Computern, die heutzutage in immer mehr Berufen gefragt sind, eine große Bedeutung zu.
Umsetzung: Berufserprobung (Probier- oder Schnuppertage) in Werkstätten
(Förderlehrgänge): BB/JBH e.V. Computerkurse; JBH e.V./Schule (unter Anleitung
einer Fachfrau).
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Anhang
Projekte stellen sich vor
Auszüge aus der Vorabdokumentation, in der die sich auf dem Kongreß während
der Projektmesse vorstellenden Maßnahmen mit Konzeptionen oder Erfahrungsberichten vorgestellt wurden.
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Städtische Hauptschule Ringelnatzstr. 12, 50996 Köln
Jahrespraktikum für die Klasse 10A
– Kurzinformation –
Ein erheblicher Anteil von Schülern/innen findet nach dem Abschluß der Klasse
1OA nicht den Weg in einen Ausbildungsberuf. Nach einer Erhebung des Schulamtes für die Stadt Köln begannen am Ende des Schuljahres 1992/93 lediglich 48,2%
der Abgänger aus Klasse 10A ein Ausbildungsverhältnis. Dieser Prozentsatz würde
sich noch weiter verringern, wenn es eine Kontrollerhebung nach ca. drei Monaten gäbe.
Die Ursachen für dieses negative Ergebnis sind vielfältig. Trotz gezielter
Berufswahlvorbereitung im herkömmlichen Sinn, das heißt gem. Richtlinien, Lehrplänen, Erlassen und den damit verbundenen Maßnahmen, bleiben die angestrebten Ergebnisse weit hinter den Erwartungen zurück.
Um den Schülern/innen der Klasse 1OA die Lebensrealität „Beruf“‘ über das dreiwöchige Betriebspraktikum hinaus näherzubringen, ist für diese Zielgruppe ein
“Jahrespraktikum” eingerichtet worden. Das bedeutet, daß die Jugendlichen der
Klasse 1OA an einem bestimmten Wochentag, zur Zeit ist das der Donnerstag,
einen Teil ihres Unterrichts in einem Betrieb absolvieren. In der Regel ist das der
Betrieb, in dem die Schüler/innen ihr Betriebspraktikum, das an den Schuljahresbeginn gelegt worden ist, abgeleistet haben.
Neben einer Reihe von anderen Vorteilen, etwa unter dem Gesichtspunkt des
sich Öffnens von Schule, wird durch dieses Jahrespraktikum eine Erleichterung hinsichtlich des Übergangs von der Schule in den Beruf angestrebt:
Nach wie vor bestehende Unsicherheiten können weiterhin ausgeräumt werden,
die Lernmotivation unter dem Gesichtspunkt einer sich noch konkreter gestaltenden Berufsorientierung soll gesteigert werden, und nicht zuletzt, so bleibt zu hoffen, wird dieser oder jener Ausbildungsvertrag auf diese Weise angebahnt werden
können.
Für dieses Jahrespraktikum wird die Stundentafel für die Klasse 1OA um den mit
vier Stunden angesetzten Wahlpflichtunterricht gekürzt. Die im Betrieb gezeigten
Leistungen werden auf dem Zeugnis ausgewiesen. Berufsqualifizierende Merkmale wie Beobachtungsfähigkeit, Ausdauer, Sorgfalt, Zuverlässigkeit, Teamfähigkeit
und anderes mehr (s. dazu Anlage) werden von den Betrieben beurteilt. Auf dieser
Grundlage erteilt der Klassenlehrer dann die Note im Wahlpflichtbereich.
Anlage: Berufvorbereitungsklasse ( BVK ) / zur Zeit 8. Jahrgangsstufe
– Kurzinformation –
Die Problematik der Überalterten / schulmüden Schüler/innen, zunehmend vor
allen Dingen ab Klasse 8, ist hinreichend bekannt. Solange diese Schülergruppe
die Vollzeitschulpflicht noch nicht erfüllt hat, gibt es kaum geeignete Möglichkeiten, die Gefahr der Abkoppelung von der Schule verhindern.
Die Möglichkeiten des § 6a SchPflG, das zehnte Pflichtschuljahr an einer berufsbildenden Schule abzuleisten, ist in bei weitem nicht allen Fällen eine geeignete
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Ersatzlösung. Die Beschulung dieser Schüler an außerschulischen Lernorten, wie
das in Köln zur Zeit versucht wird, eröffnet in der Tat sinnvolle Alternativen. Da
aber die Aufnahmekapazität sehr begrenzt ist, bedeutet diese Maßnahme eine
Chance für lediglich wenige Jugendliche.
Die Maßnahme der Hauptschule Ringelnatzstraße, die überalterten/ schulmüden Schüler in einer besonderen Klasse zusammenzufassen, geht von der Überlegung aus, daß diese Schülergruppe durch differenzierende Maßnahmen welcher
Art auch immer im Verband einer Regelklasse nicht mehr erreichbar ist. Die Zusammenfassung in einer besonderen Klasse dient dem Ziel der Berufsforderung.
Die Gefahr des sich völligen Ablösens von Schule soll verhindert werden durch
– ein vermehrtes handlungsorientiertes Angebot aus dem Bereich AW.
– Berufswahlvorbereitung.
– Betriebspraktika bereits in Stufe 8.
Das Ziel ist das Erreichen des Hauptschulabschlusses nach der Klasse 9. Zwei
Lehrerinnen und ein Fachlehrer mit wenigen Stunden decken das Unterrichtsangebot für die Klasse ab. Geplantes Teamteaching ist aufgrund der derzeitigen Lehrerbesetzung leider nicht möglich.
Bei zwei Abgängen durch Umzug umfaßt die Klasse zur Zeit 14 Schüler. Konkrete Erwägungen führten bei der Zusammensetzung zur Bildung einer reinen Jungenklasse. Absehbar ist, daß drei bis vier Schüler dem Hauptschulabschluß nach
Klasse 9 nicht mehr nähergebracht werden können. Sie werden die Schule am Ende
dieses Schuljahres verlassen. Über geeignete Anschlußmaßnahmen wird derzeit
nachgedacht.
Im kommenden Schuljahr wird die Klasse durch weitere Schüler dieser Zielgruppe aufgefüllt und als Klasse 8/9 weitergeführt.
80
Stadt-als-Schule Berlin
Kurzdarstellung der konzeptionellen Grundlagen der Bildungsform
„Praxislernen“ in der Stadt-als-Schule Berlin
Ziel nach Konzeption der Bildungsform der Stadt-als-Schule Berlin ist es, Schülern, die mit Formen traditionellen Bildungserwerbs in Konflikt geraten sind, durch
lebensverbundenes selbsttätiges Lernen mit „Ernstcharakter“ einen Neuzugang
zu Bildung zu eröffnen. Bildung soll kurz- wie langfristig als subjektiv bedeutsam
erlebt werden. Bildung muß somit an individuellen Bildungsinteressen anknüpfen
und soll längerfristig zur Entwicklung von beruflichen und persönlichen Perspektiven führen. Es soll die Fähigkeit zur eigenen Lebensgestaltung entwickelt werden.
Bildung soll gleichermaßen eine objektive Bedeutsamkeit haben, d. h. sie soll die
Aneignung der für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß erforderlichen
Kenntnisse und Kompetenzen ermöglichen. Die Bereitschaft dazu von Kindern und
Jugendlichen ist um so größer, je unmittelbarer ihnen der Gebrauchswert eines
von ihnen bearbeiteten Produkts bzw. der persönliche oder gesellschaftliche Nutzen ihrer Tätigkeit einsichtig ist.
„Praxislernen“ als Bildungsansatz geht aus von einem erweiterten Verständnis
von Allgemeinbildung. Darunter faßt die Stadt-als-Schule Berlin folgendes:
– die Vermittlung von Faktenwissen
– die Aneignung und Erweiterung von Fertigkeiten den Ausbau von Methodenkompetenzen (z. B. Informationsgewinnung und -verarbeitung) die Weiterentwicklung von Sozialkompetenzen (z. B. Kritik- und Konfliktfähigkeit, Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit)
– die Stärkung von Selbstkompetenzen (z. B. Interessenentwicklung, Kreativität,
Selbständigkeit und Verantwortung)
– die Entwicklung konkreter Lebens- und Berufsperspektiven.
Deshalb ist „Praxislernen“ auf eine Verzahnung von interessengeleitetem produktivem Handeln, fachlichen bzw. fachwissenschaftlichen Inhalten, kulturellen
Traditionen, Lebensbezug, Berufsorientierung, partizipatorischer Tätigkeit in Schule
und Gesellschaft angelegt. Die Schüler der Stadt-als-Schule durchlaufen somit ein
dem Regelschulangebot gleichwertiges, aber nicht gleichartiges Allgemeinbildungsangebot.
Der Bedarf für einen derartigen Bildungsansatz wird daraus abgeleitet, daß es
weder für die Erfordernisse der modernen Arbeitswelt noch für die eigene Lebensgestaltung im persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Bereich ausreicht,
vor allem unverbundenes enzyklopädisches Wissen vermittelt zu bekommen, um
dann letztlich unvorbereitet und übergangslos in die Welt der Erwachsenen entlassen zu werden. Zum einen verändern sich zur Zeit Qualifikationsanforderungen
weg von „individueller Wissensbevorratung“ hin zu mehr Sozial- und Methodenkompetenz. Zum anderen nehmen in der Informationsgesellschaft“ außerschulische Informationsmöglichkeiten in unüberschaubarer und unbewältigbarer Weise zu, eigene Handlungs- und Erfahrungsspielräume dagegen schwinden. Diese
aber brauchen Kinder und Jugendliche, um sich Kenntnisse und Kompetenzen wirk-
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lich anzueignen, um ihre Persönlichkeit zu entfalten und ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Viele Jugendliche verweigern sich heutzutage dem schulischen
Lernen in aktiver („Schule schwänzen“) oder passiver Form (z. B. Rückzug in die
innere Emigration). Die Gründe dafür sind vielfältig. Schulverweigerung bzw. schulisches Scheitern ist u. a. in der familialen Sozialisation zu suchen, deren veränderte Bedingungen ihrerseits wiederum Folge gesellschaftlichen Wandels sind. Schulverweigerung ist oft Ausdruck von Gefühlen der Sinn- und Perspektivlosigkeit oder
auch der Über- bzw. Unterforderung - und damit Streß bzw. Langeweile - und der
Nicht-Anerkennung. Schule kann nicht zum Reparaturbetrieb der Gesellschaft
werden, das würde sie nicht nur überfordern, sondern sie schlicht in ihrem Auftrag
mißverstehen. Aber als Institution muß sie beweglicher werden, muß sie veränderte Bildungs-, Handlungs- und Erfahrungsbedürfnisse berücksichtigen, will sie
ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag entsprechen.
„Praxsislernen“ ist ein Reformansatz von Allgemeinbildung, der es Jugendlichen
ermöglichen will, durch produkt- und prozeßorientiertes Handeln in realen Arbeitsund Alltagssituationen zu lernen. Der Bildungsansatz setzt sich zusammen aus dem
„Lernen in der Stadt“ (LIST) und dem „Lernen im Schulprojekt“ (LISP).
Mit dem „Lernen in der Stadt“, dem Kernstück der Bildungsform „Praxislernen“,
öffnet sich Schule dem Leben, der Arbeitswelt, der Stadt. Diese Öffnung von Schule schafft Partizipationsmöglichkeit für Jugendliche und mehr Authentizität beim
Lernen. Der Name “Die Stadt-als-Schule Berlin” ist Programm: Die Stadt mit ihren
vielfältigen Lerngelegenheiten und Lernanlässen wird für Jugendliche während der
Hälfte ihrer wöchentlichen Schulzeit zum außerschulischen Lernort. Während ihres zweijährigen Bildungsganges wählen die Schüler sechs mehrmonatige „Praxislernprojekte“ in verschiedenen Berliner Betrieben, Verwaltungen, sozialen und
kulturellen Einrichtungen.
Mit jedem der gewählten Praxislernprojekte begeben sich die Schüler für die
Dauer eines Trimesters in für sie neue soziale Zusammenhänge. Je besser diese
Integrationsleistung (von beiden Seiten gelingt, je mehr sich auch der Schüler angenommen fühlt, umso größer wird auch die mit dem Bildungsansatz intendierte
Bereitschaft, über praktisches Lernen hinaus Erfahrungen zu reflektieren. Erst die
Aneignung von Kultur durch Tätigkeit mit „Ernstcharakter“ und die Bereitschaft,
Erfahrung zu reflektieren, grenzen „Praxislernen“ zu „praktischem Lernen“ hinreichend ab.
Die Situation am jeweiligen Praxisplatz mit den dort tätigen Menschen, den konkreten Arbeitsaufträgen, den für Schüler potentiellen Betätigungsmöglichkeiten
soll einen möglichst großen Aufforderungscharakter zum Handeln haben, sie soll
Fragen provozieren und anregen, ein an eigenen Bildungsinteressen orientiertes
Vorhaben zu verfolgen.
Im Verlauf ihres Praxislernprojekts planen und reflektieren die Schüler ihre Tätigkeit, erkunden und klären sie als fragwürdig und nachdenkenswert erlebte Sachverhalte und Zusammenhänge, bearbeiten sie Erkundungsaufgaben, eignen sie
sich Kenntnisse und Fertigkeiten, Arbeits- und Lernmethoden sowie Sozialkompetenz an. Auf dem (Bildungs-) Weg zu einem möglichst von ihnen selbst definierten Ziel ihres Praxislernprojekts, z. B. einem materiellen oder ideellen Produkt, der Lösung einer umfangreicheren Aufgabe, werden die Schüler von ihren
Pädagogen (Experten für Lernprozesse und Bildungssituationen) und Praxis-
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mentoren (Experten für das Fachgebiet am Praxisplatz) beratend bzw. fachlich
anleitend begleitet und unterstützt.
Anders lernen heißt auch anders lehren und setzt demzufolge eine veränderte
Pädagogenrolle voraus. Die zuständigen Pädagogen werden im wesentlichen zu
Organisatoren von Bildungssituationen, zu Initiatoren und Moderatoren von
Bildungsprozessen. Mit ihren Schülern gemeinsam erschließen sie die Praxissituation für Bildung. Ausgehend von den konkreten Praxissituationen an den außerschulischen Lernorten, dem individuellen Bildungsstand, dem Tätigkeits- und
Bildungsinteresse sowie individuellen sozialen und emotionalen Bedürfnissen der
Jugendlichen entwickeln sie in Absprache mit ihnen und den Praxismentoren jeweils individuelle Lernpläne.
Die Bildungsintentionen, vor allem auch die inhaltlichen, gelten keineswegs nur
für das Lernen in Unterrichtsangeboten innerhalb der Schule. Sie gelten gleichermaßen für das Lernen vor Ort in den Praxislernprojekten. Dies unterscheidet das
Bildungsangebot der Stadt-als-Schule konzeptionell z. B. von berufsbefähigenden
Maßnahmen und von beruflichen Bildungsgängen, bei denen eine Trennung von
allgemeinbildenden und fachlichen bzw. fachpraktischen Inhalten überwiegt.
Das Bildungsangebot innerhalb des Schulprojekts („Lernen im Schulprojekt“; LISP)
hat eine Aufarbeitung, Vertiefung und Ergänzung der Erfahrungen aus den Praxislernprojekten sowie eine Erarbeitung von Grundkenntnissen und Fertigkeiten zum
Ziel.
Im LISP-Bereich ist auch der Ort für das Lernen in der Gruppe der Gleichaltrigen.
In der Arbeit in den schulinternen Lerngruppen werden - neben entsprechenden
Möglichkeiten an Praxisplätzen - Teamarbeit und soziales Verhalten gefördert. Hier
kann auch Geborgenheit und Sicherheit gegeben werden, aus der heraus die Schüler Praxislernprojekte entwickeln und in die Tat umsetzen.
Entsprechend diesen vielfältigen Ansprüchen setzt sich das innerschulische Angebot aus in Inhalt und methodischem Ansatz unterschiedlich arbeitenden Gruppen zusammen: Zum LISP-Bereich gehören die Kommunikationsgruppen, die fächerübergreifenden Lernbereiche „Sprache, Kunst, Kommunikation“, „Natur und
Technik“, „Gesellschaft und Wirtschaft“ sowie die thematischen Gruppen (Englisch, Mathematik, Wahlpflicht). Darüber hinaus haben die Schüler während ihrer
Schulzeit und ihrer freien Zeit die Möglichkeit, die projekteigenen Materialien und
Ressourcen zu nutzen und zusätzliche Angebote im offenen Ganztagsbetrieb wahrzunehmen.
Wichtig für das verbindliche Bildungsangebot im Schulprojekt aber auch als
Ausgleich für das individuelle und an wechselnden Orten stattfindende „Lernen in
der Stadt“ ist es, mit den Schulräumen und dem „Schulleben“ einen „Lebensort
Schule“ zu schaffen, an dem sich miteinander vertraute Menschen begegnen.
Dazu gehört auch die Gestaltung der Räumlichkeiten, an der die Schüler beteiligt sein sollten, damit sie von ihnen angenommen werden. Eine eher
schuluntypische Lernumgebung verbessert die Lernatmosphäre und bietet vielleicht den Anreiz, die „Schulräume“ als Treffpunkt anzusehen, der auch noch nach
dem „Lernen in der Stadt“ angesteuert wird (ganztägig offene Schule). Dies entspricht auch den Erfahrungen aus dem Jugendbildungsprojekt. Hierzu gehört auch,
daß die Pädagogen die Räume über ihre Unterrichtsverpflichtungen hinaus als
Arbeitsort ansehen und nutzen. Dies dient der Kooperation und dem - auch spon-
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tanen gedanklichen Austausch im Team und eröffnet Schülern gleichzeitig die
Möglichkeit, Pädagogen als Ansprechpartner zu empfinden und vorzufinden.
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KREISVOLKSHOCHSCHULE AURICH
des Landkreises Aurich
Schulverweigerer in den Jugendprojektwerkstätten
der Kreisvolkshochschule Aurich
Einordnung des Modellversuchs SiJu in Niedersachsen
Mit Beginn des 2. Schulhalbjahres 1993 führt die Kreisvolkshochschule Aurich in
ihren Jugendprojektwerkstätten den Schulmodellversuch SiJu („Schulpflichterfüllung in Jugendwerkstätten“) mit bisher 25 Jugendlichen (s. Anlage) durch. Der
Modellversuch ist bis zum Ende des Schuljahres 1995/96 terminiert. Durch das
Land Niedersachsen wird eine sozialpädagogische Stelle sowie Sachausgaben finanziert. Der Modellversuch findet an insgesamt fünf niedersächsischen
Jugendwerkstätten statt. Grundlage ist der § 67, Abs. 5 des novellierten Schulgesetzes:
„Jugendliche, die nicht in einem Berufsausbildungsverhältnis stehen und in besonderem Maße auf sozialpädagogische Hilfe angewiesen sind, können ihre Schulpflicht durch den Besuch einer Jugendwerkstatt erfüllen, die auf eine Berufsausbildung oder eine berufliche Tätigkeit vorbereitet.“
Der Kommentar des vorangegangenen Referentenentwurfes führte dazu aus:
„Im Absatz 5 wird die Möglichkeit geschaffen, auch in Jugendwerkstätten die
Schulpflicht zu erfüllen. Ein Teil der Schülerinnen und Schüler, der zunächst das
Berufsvorbereitungsjahr zu besuchen hätte, kann dort besser gefördert werden,
weil er durch schulische Arbeitsformen nur schwer anzusprechen ist und aufgrund
sozialer und individueller Benachteiligungen im besonderen Maße einer sozialpädagogischen Förderung bedarf.“ Damit ist die Zielgruppe als benachteiligte Schulverweigerer beschrieben, die ins Berufsvorbereitungsjahr nicht aussichtsreich aufgenommen werden können
Die Konzeption des Landes Niedersachsen formulierte eine einzelfallbezogene,
durch einen Förderplan zu dokumentierende, soziale und berufliche Qualifizierung
als Ziel des Modellversuchs, möglichst bis zu einer Hinführung zu einer qualifizierten Ausbildung. Dafür seien Verbundmaßnahmen sinnvoll, die im Anschluß an das
SiJuJahr weitere vorberufliche Qualifizierungswege und überbetriebliche Ausbildungsgänge bereithielten. Grundlage für das konsequent außerschulisch strukturierte Angebot seien die für die über 70 anerkannten niedersächsischen
Jugendwerkstätten verbindlichen „Grundsätze zur arbeitsweltbezogenen Jugendsozialarbeit in Niedersachsen“ (MK-Erlaß vom 14.06.1991).
Die Jugendprojektwerkstätten der Kreisvolkshochschule Aurich
Da die Gruppe der Schulverweigerer in den Rahmen der Jugendprojektwerkstätten eingebunden werden, wird dieser im folgenden skizziert
Unter dem Dach der Jugendprojektwerkstätten der Kreisvolkshochschule Aurich
arbeiten und lernen ca. 215 junge Menschen von 15 bis 25 Jahren in vier verschie-
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denen Häusern und in acht Arbeitsfeldern (Holz, Metall, Elektrotechnik/Elektronik, Büro und Verwaltung, Garten und Landschaftsbau, Hoch- und Tiefbau, Hauswirtschaft). Die jungen Leute sollen in berufsvorbereitenden und Arbeitenund-Lernen-Gruppen in erster Linie auf die Aufnahme eines Arbeits- oder
Berufsausbildungsverhältnisses auf dem ersten Arbeitsmarkt vorbereitet werden.
Dabei spielt die enge sozialpädagogische Betreuung in den Projektgruppen durch
die zuständigen Teams eine zentrale Rolle. Die Arbeiten in den Werkstätten, Büros
und auf den Baustellen sind an der Wirklichkeit orientiert. In erster Linie werden
umfangreiche Auftragsarbeiten erledigt, die gemeinnützig und gesellschaftlich
sinnvoll sind. Die Praxis aus den Arbeitsfeldern soll im Sinne des Theorie – Praxis –
Bezugs der Projektmethode die Inhalte der Theorieangebote weitgehend prägen.
Darüber hinaus bietet die Kreisvolkshochschule Aurich überbetriebliche Ausbildungsgänge (Holz, Metall, Bau, Hauswirtschaft, Hoga ) an.
Die Erfahrungen aus dem Modellversuch „Schulpflichterfüllung in Jugendwerkstätten“ verdeutlichen, daß Schulverweigerer nicht allein ein erhöhtes Maß an
qualifizierter sozialpädagogischer Betreuung benötigen, sondern zudem Rahmenbedingungen, die ihnen wieder eine Perspektive aufzeigen, sich mit einer gewissen Motivation Lern- und Arbeitsanforderungen zu stellen. Diese Rahmenbedingungen sind nicht einfach durch ein Mehr an Betreuung zu bewerkstelligen, sondern
durch ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren, deren Wirkung gegenseitig
abhängig ist.
Auf der Basis eines niedrigen Schlüssels Betreuer/Schülerteilnehmer hat der Betreuer den jungen Leuten eine Zuwendung zu geben, die ihnen vermittelt: „Ich
nehme dich ernst und wichtig.“ Das ist nur möglich in Einrichtungen, die die Jugendlichen in den Mittelpunkt ihrer Konzeptionen und Handlungen stellen und
seine Stärken und Note zum Ausgangspunkt ihrer Instrumentarien machen. Die
weitgehende Unterordnung anderer Belange (etwa von Auftragszwängen) unter
die Interessen der jungen benachteiligten Menschen erfordert Binnenstrukturen,
die den verschiedenen Mitarbeiter-innen der Einzelprojekte trotz klarer
Schwerpunktbildung keine einseitige Rolle als Nur–Sozialpädagoge, Nur–Lehrkraft,
Nur-Projektleiter oder Nur–Anleiter zuschreibt: Pädagogen arbeiten in den Werkstatten und auf den Baustellen mit, handwerkliche Anleiter nehmen sozialpädagogische Aufgaben wahr und tragen Lerneinheiten mit. Eine vielseitigere Funktionswahrnehmung anstelle von Fachlehrerprinzip und Statusbewußtsein ermöglicht
eine fruchtbare, gegenseitig korrigierende Debatte über die Einschätzung der Jugendlichen bei der Erarbeitung der Förderpläne und deren Umsetzung. Schließlich
relativiert eine kontinuierliche Diskussion der eigenen alltäglichen Arbeit, des Selbstverständnisses und von pädagogischen Entscheidungen in Arbeitsgruppen, gemischten Teamsitzungen und Einzelhilfen unter Kollegen/-innen eine Entfernung
der Alltagsarbeit vom Anspruch der Teilnehmerorientierung. Diese Teilnehmerorientierung meint – um einem weit verbreiteten Vorurteil vorzubeugen – nicht,
daß alle anderen Rahmenbedingungen unbeachtet bleiben und den jungen Menschen ein „Schonraum“ ohne Realitätsbezug bereitet werde, sondern daß die Teilnehmer durch die Teilhabe an einem besonders formierten Arbeitsverhältnis ihre
personalen, sozialen und fachlichen Kompetenzen auszubauen lernen.
Die Koordination der verschiedenen Rahmenbedingungen und Alltagskonflikte
erfordert ein sehr hohes Maß an Flexibilität aller beteiligten Mitarbeiter/-innen.
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Auf die Probleme der Jugendlichen kann im relativ autonom entscheidenden Team
flexibel und zügig reagiert werden, unterschiedlichen Leistungsanforderungen kann
mit externen und internen Differenzierungen begegnet werden, ohne daß der mit
dem gemeinsamen Projektverfahren und mit der ganzheitlichen Betreuung durch
ein Team ermöglichten „Geborgenheit“ in den auch äußerlich überschaubaren
Verhältnissen (Gebäudegröße und Beschäftigungszahlen) Abbruch getan würde.
Es beherrschen kein gewinndominierter Produktionszwang, kein entmotivierender
Stundentakt und keine einengenden Rechtsvorschriften die Lage. Zudem besteht
die Möglichkeit, Jugendliche, für deren Fortkommen es von Bedeutung ist, die Arbeitsbereiche auch über die Projektgrenzen hinaus flexibel wechseln zu lassen,
ohne dabei die Integrationschancen der Jugendlichen zu vernachlässigen. Diese
Möglichkeit scheint eine zentrale Rolle bei der Einleitung persönlicher
Stabilisierungsprozesse gerade dieser jungen, oftmals überdurchschnittlich desorientierten Jugendlichen zu spielen. Eine solide Berufsfindung im weitesten Sinne, bestehend aus Informationen zu den (regionalen) Berufsbildungswegen, aus
Reflexionen des eigenen Selbstbilds und des (beruflichen) Zukunftsentwurfs, aus
Kontroll- und Selbstkontrollverfahren zu den eigenen Fähigkeiten, aus Wegen zu
deren Weiterentwicklung, aus- sozialpädagogischen Trainingselementen und ggf.
Betriebspraktika, schließt selbstverständlich auch mit ein, daß den Jugendlichen
die Chance eingeräumt werden muß, in verschiedenen Arbeitsfeldern Erfahrungen sammeln und ihre Stärken und: Grenzen erleben zu können. Flexibilität meint
auch, daß es prinzipiell möglich sein muß, jedem der wenigen Schülerteilnehmer/
-innen eine individuelle Förderung zukommen zu lassen, die sich in einem mehrmals anzupassenden, ggf. durchaus von allen anderen „Stundenplänen“ abweichenden Wochenarbeitsplan niederschlagen muß.
In den Projektwerkstätten der Kreisvolkshochschule Aurich werden Lernprozesse nach der Projektmethode organisiert. Wir verstehen unter Projektmethode zum
einen die Durchführung eines i. d. R. Jahres–Projektverfahren und zum anderen
die Durchführung von Einzelprojekten außerhalb oder mit Anbindung an das Jahresprojekt.
Das Jahresprojekt ist im allgemeinen ein einer Projektgruppe in Auftrag gegebenes oder von dieser ermitteltes und nach den Arbeitsbedingungen der Projektgruppe entsprechenden Kriterien ausgewähltes Objekt. Dieses Projekt wird im einzelnen je nach Leistungsvermögen von den Teilnehmer-innen geplant, errichtet
und an den Auftraggeber innerhalb eines bestimmten vereinbarten und also einzuhaltenden Zeitrahmens übergeben. Es dominiert den Lehrplan für die theoretischen Anteile, deren Notwendigkeit den oftmals „lernmüden“ jungen Menschen
einsichtiger ist, soweit sie am eigenen Objekt nachvollzogen werden können. Darüber hinaus ist die Möglichkeit gegeben, den Lernprozeß konkreter, anschaulicher
zu gestalten als anhand von Objekten und Aufgabenstellungen außerhalb des eigenen Arbeitsbereichs. Dazu zählt auch ein Verständnis des Bildungsprozesses,
das Theorie nicht von Praxis trennt und sich Bildung auch in Werkstätten, Büros
und auf Baustellen vorstellen kann, wo der Stoff unmittelbar vorgeführt, praktisch
umgesetzt und eingeübt werden kann.
Von zentraler Bedeutung für die jungen Menschen ist der Ernstfallcharakter der
Projekte: sie beteiligen sich an gesellschaftlich nützlicher Arbeit, für deren Erledigung sie gewisse Ansprüche einhalten müssen. Sie arbeiten im wesentlichen nicht
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an Objekten für sieh selber (das ist allerdings im Rahmen freier Kapazitäten möglich) und nicht für den Papierkorb (Übungsstücke nur als nachvollziehbare Vorübung für Beiträge zum Projekt und möglichst als nutzbare Objekte). Kurz: es wird
nicht gewerkelt, sondern gebaut.
Hinzu treten Praxis und Theorie verknüpfende Einzelprojekte für die gesamte
Projektgruppe oder – häufiger – für Teile davon oder für gar aus verschiedenen
Projekten gemischte Teilnehmergruppen. Sie sollten – dem klassischen Projektgedanken entsprechend – interdisziplinär, methodisch vielfältig, produktorientiert
(d. h., immer mit werkstattpraktischen Aufgaben und/oder anderen zu veröffentlichenden Produkten verbunden) und teilnehmerorientiert angelegt sein.
Das SiJu–Aufnahmeverfahren
Die Teilnahme an diesem Angebot der Jugendprojektwerkstätten ist für die betreffenden Schüler/-innen freiwillig. Sie müssen diese Entscheidung mittragen. Dazu
ist es erforderlich, den Zweck einer möglichen Schulpflichterfüllung in der
Jugendwerkstatt zu kennen und die Einrichtung durch einen Besuch, möglichst
auch durch ein paar Schnuppertage im Frühsommer kennenzulernen
Über die Aufnahme in die Modellversuchsgruppe entscheidet eine mehrmals im
Jahr tagende Kommission aus Schulaufsichtsamt, Berufsberatung, Jugendamt,
Berufsbildender Schule, Kreisvolkshochschule und Bezirksregierung. Die nach
Konsensprinzip entscheidende Kommission orientiert sich dabei an folgenden
Aufnahmekriterien:
A. Die Jugendlichen müssen Minimalvoraussetzungen für eine Aufnahme mitbringen. Diese Mindestansprüche sind:
– die berechtigte Annahme, daß der Betreffende angesichts der neuen
Beschäftigungs- und Qualifizierungsperspektiven zumindest auf mittlere Sicht
zu einer kontinuierlichen Mitarbeit bereit sein wird und
– daß der Betreffende minimale Interaktionsfähigkeiten in der Gruppe mitbringt.
B. Die Jugendlichen haben ihre Schulunlust durch manifeste Verhaltensweisen
über einen längeren Zeitraum deutlich werden lassen. Erhebliche Schulversäumnisse in den letzten zwei zuruckliegenden Jahren bzw. nicht unerhebliche
Schulversäumnisse gepaart mit massiven Störungen des Unterrichts oder durchgängigen passiven Verweigerungen sind dafür ausschlaggebende Indizien. Davon
abweichend kann eine verläßliche Prognose einer mit dem Schulbesuch an der
BBS einsetzenden Schulverweigerung herangezogen werden.
C. Auf die Jugendlichen trifft eines oder mehrere der üblichen sozialen Unterprivilegierung zu:
– materiell unterprivilegierte häusliche Verhältnisse (Sozialhilfeempfänger, längere bzw. regelmäßig wiederkehrende Arbeitslosigkeit bzw. schlecht entlohnte
Einfacharbeit, Verschuldung, enge Wohnverhältnisse), - geschiedene oder getrennt lebende Eltern bzw. vielköpfige Familie (natürlich nur insofern, als dies
offensichtlich soziale Benachteiligung bedingt),
– kriminelles bzw. gewalttätiges Milieu (ohne verfestigten kriminellen Karrierebeginn bzw. hohe, unkalkulierbare Gewaltbereitschaft des Jugendlichen);
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– Drogenmilieu (ohne Drogenabhängigkeit bzw. Alkoholismus des Jugendlichen),
– bildungsbenachteiligtes Milieu.
D. Auf die Jugendlichen trifft des weiteren eines oder mehrere Kriterien individueller Benachteiligung zu:
– kognitive Lernbeeinträchtigung (ohne geistige Behinderung),
– emotional unreife Persönlichkeitsstrukturen,
– unangepaßte soziale Verhaltensdispositionen,
– Entscheidungsängste/Verantwortungsflucht/Unselbständigkeit,
– handwerkliche Tätigkeiten beeinträchtigende motorische Defizite (ohne erhebliche körperliche Behinderungen).
Die Auswahl der Jugendlichen durch eine Kommission mag auf den ersten Blick
als bürokratischer Aufwand erscheinen. Tatsächlich aber ist dies die Voraussetzung
für eine eingehende fachliche Diskussion, eine Beratung und Entscheidung zugunsten der Jugendlichen, die nicht durch Entscheidungsdruck und Institutioneninteresse „abgeschoben“ werden können. Voraussetzung ist allerdings, daß die
Kommission während der Aufnahmephase mindestens zweimal tagt.
Lehrer/-innen, die in ihren Klassen Schüler/-innen haben, die mit Ende des laufenden Schuljahres ihre Schulpflicht an allgemeinbildenden Schulen absolviert
haben, zugleich aber als Schulverweigerer und als sozial wie individuell Benachteiligte anzusehen sind, wenden sich direkt oder - sofern vorhanden - über die an
ihrer Schule zuständige Person an ein Mitglied der Kommission. Dies geschieht
wenige Wochen nach den Halbjahreszeugnissen, um eine solide Einschätzung des/
der betreffenden Schülers/-in im Vorlauf seiner/ihrer möglichen Aufnahme in den
Modellversuch und eine sanfte Vorbereitung zu ermöglichen. Selbstverständlich
ist auch die Platzzahl begrenzt (8 -10). Der/die zuständige Lehrer/-in oder Betreuer/-in des/der betreffenden Schülers/-in wird zu einem Sitzungstermin der Kommission nach den Osterferien geladen, um zu besprechen, inwiefern das Angebotdes Modellversuchs auf den/die Schüler/-in zutreffen könnte. Diese Besprechung
ist für eine solide Entscheidung unabdingbar. Selbstverständlich ist ein Vorgespräch
mit dem/der betreffenden Schüler/-in sowie mit seinen Eltern/Erziehungsberechtigten erforderlich. Die Meldungen laufen immer noch nicht fristgerecht ein. Möglichst werden einige Plätze für Nachrücker freigehalten, die sich in der BBS angemeldet haben, sie dann aber doch nicht besuchen.
Die Konzeption des Modellversuchs
Kennzeichnend für die Aufnahme der Schüler/-innen in die Jugendwerkstatt ist
eine behutsame Integration in die bestehenden Arbeitszusammenhänge der anderen Projekte. Dieser Weg scheint den Bedürfnissen der als Schulverweigerer
geltenden Schüler/-innen nach Aufgehobensein und Qualifizierungsfortschritten
am ehesten zu entsprechen. Eine „Separierung“ dieser Klientel innerhalb der
Jugendwerkstatt in einer eigenen Arbeitsgruppe erscheint wenig sinnvoll, weil es
hier mehr noch als in den Arbeitszusammenhängen der übrigen Projekte zu sich
gegenseitig bestätigendem dysfunktionalen Arbeits- und Sozialverhalten kommt
und eine Absonderung bei den Betreffenden sowie Außenstehenden den tendentiell
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stigmatisierenden Eindruck der Besonderheit dieser Gruppe innerhalb der
Jugendwerkstatt erwecken könnte. Solch eine mögliche äußere Selektion könnte
das negative Selbstbild der Schülerteilnehmer/-innen verfestigen helfen. Die ersten Wochen der vorsichtigen Mitarbeit in verschiedenen Projekten und Kursen
haben demonstriert, daß die Jugendlichen in heterogenen Gruppen zu bedeutend
sozialverträglicherem Verhalten imstande sind. Eine zentrale Rolle spielt dabei
zweifelsohne, daß sie nicht mehr die Schülerrolle übernehmen müssen und als
relativ vollwertige Arbeitskraft in Projekten mit Ernstcharakter eingesetzt werden.
Des weiteren haben junge Erwachsene für Jugendliche eine prägende Vorbildfunktion.
Die Integration kann natürlich nur stabilisierende Auswirkungen zeitigen, soweit diese Vorbildfunktion die Jugendlichen auf ihrem Weg voranbringen und soweit sie am Arbeitsplatz ernstgenommen werden – eine Vorbedingung, die unbedingt die Einbeziehung der Projektteams, in welchen die Jugendlichen
weiterarbeiten werden, erfordert, um die entsprechenden Voraussetzungen in den
Werkstätten, auf den Baustellen und in den Unterrichtsräumen soweit wie möglich herstellen zu können. Die kontinuierliche Kooperation der Schüler-Betreuer/
-in mit den Projektteams ist auch unerläßlich, um die Weiterentwicklung der
Qualifikationsprofile zu ermöglichen. Dabei handelt es sich um eine komplexe
Aufgabe, da die verschiedenen Projekte für 12 bis 28 junge Arbeitslose von fünf bis
acht Mitarbeitern/-innen an vier verschiedenen Standorten betreut werden. Eine
Vereinbarung darüber, welcher der Mitarbeiter eine Art Patenschaft über die in
seinem Projekt aufgenommenen Schülerteilnehmer/-in übernimmt, sollte nach ein
paar Tagen getroffen werden, sofern diese Patenschaft nicht schon bei Übergabe
in das Projekt naheliegt.
In einer ersten mehrwöchigen Orientierungsphase lernen die Jugendlichen ihre
Gruppe, die verschiedenen Teamer in den Projektwerkstätten und die Arbeitsbereiche kennen. Diese Phase dient dem Abbau möglicher Hemmschwellen, um sich
auf unbekannte Arbeitsbedingungen und wechselnde Arbeitsanleiter und Pädagogen sowie andere Teilnehmer/-innen leichter einlassen zu können. Zu diesem Zweck
wird neben einer Besichtigung aller Einrichtungen der Projektwerkstätten an mehreren Tagen mit der ganzen Gruppe in verschiedenen Projekten der Jugendprojektwerkstätten unter Leitung des Schüler-Gruppenbetreuers gearbeitet. Dabei wird
darauf geachtet, daß möglichst für die Arbeit der jeweiligen Projektgruppe sinnvolle und in dieser kurzen Zeit abschließende Arbeitsergebnisse in das Gesamtprojekt eingebracht werden können. Diese Tage zielen auf den Ausbau eines engen Verhältnisses zum Betreuer und auf die Stimulierung einer Neugierde, die aus
der Erfahrung nützlicher und abwechslungsreicher Arbeitsprodukte resultiert.
Die anschließende Phase von acht Wochen setzt sich aus einer Abfolge von
„Schnupperkursen“ in verschiedenen Arbeitsfeldern zusammen. Dort wird von
verschiedenen Mitarbeitern/-innen der Jugendprojektwerkstätten eine jeweils zweiwöchige Einführung in ihren jeweiligen Arbeitsbereich angeboten. Diese Arbeitsfelder sind: Hauswirtschaft, Gartenbau, Büro und Verwaltung, Metalltechnik, Holztechnik, Elektrotechnik sowie Hoch- und Tiefbau.
Die „Schnupperkurse” werden so angelegt, daß den Beteiligten verschiedene,
den jeweiligen Voraussetzungen angemessene eigenständige Aufgaben übertragen werden können, die - soweit im Rahmen eines „Schnupperkurses“ möglich -
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eine gewisse Bandbreite des jeweiligen Arbeitsfeldes repräsentieren sollen. Dabei
kommt es zu diesem Zeitpunkt auf eine Einbeziehung theoretischer Themenstellungen nur an, soweit sie für die Bewältigung der Praxisanteile erforderliche
sind. Im Anschluß an die jeweiligen Kurse werden Arbeitsleistungen und die Arbeitshaltung der Schüler/-innen seitens der Kursleiter/-innen eingeschätzt. Jeder/
jede der Schüler/-innen soll drei bis vier der angebotenen „Schnupperkurse” wahrnehmen.
Des weiteren soll jeder/jede Schülerteilnehmer/-in in einer Qualifizierungsphase
in den folgenden Monaten in ein bis zwei für ihn und mit ihm ausgesuchten Arbeitsfeldern arbeiten und lernen. Prinzipiell können das die gleichen Bereiche sein
wie in den „Schnupperkursen“. Neben die Arbeitsinhalte treten Theorieangebote.
Jede Projektgruppe führt neben fachkundlichem und berufskundlichem Unterricht
eine informationstechnische Grundbildung und Stützunterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen durch. Darüber hinaus werden weitere EDV-Kurse incl. Anwenderpaß, Hauptschulabschlußkurse, Fuhrerscheinhilfen, kreatives Gestalten, Sport
und Freizeitseminare durchgeführt. Am Ende des Schuljahres erhalten die Jugendlichen, die die Jugendprojektwerkstätten relativ regelmäßig besucht haben, eine
Bescheinigung ihrer Schulpflichterfüllung, der eine spezifizierte Auflistung ihrer in
Theorie und Praxis erworbenen Qualifikationen beigegeben werden kann.
Erste Erfahrungen
Wenn auch trotz der vorrangigen Ausbildungsorientierung eine Vermittlung in
Berufsausbildungen unmittelbar nach dem SiJu-Jahr insgesamt seit 1993 (Ausnahme: 1994/95) eine untergeordnete Rolle spielte, ist die Erfüllung der Schulpflicht
in den Jugendprojektwerkstätten der Kreisvolkshochschule Aurich insgesamt für
ca. 2/3 der Schülerteilnehmer/-innen in dem Sinne als erfolgreich anzusehen. daß
sie kurz- bzw. mittelfristig (nach 1 Jahr) in Ausbildung, Arbeit oder in die Jugendprojektwerkstätten aufgenommen werden. Das restliche Drittel war weder kurznoch mittelfristig zu stabilisieren: Diese Schülerteilnehmer /-innen brachen die Maßnahme entweder ab bzw. nahmen trotz intensiver Bemühungen so unregelmäßig
teil, daß ihnen die Schulpflichterfüllung nicht bescheinigt werden konnte, oder
wurden anschließend arbeitslos und blieben es bis auf weiteres oder mußten in
den Jugendstrafvollzug oder in die Psychiatrie.
Diese Jugendlichen haben sich inadäquates Arbeits- und Sozialverhalten und
abweichende Verhaltensweisen über Jahre angeeignet und zu einem stabilen Repertoire entwickelt, das über ein gegensteuerndes Alternativangebot von nur einem Jahr nicht aufgebrochen werden kann. Während Schüler/-innen, für die aus
verschiedensten Gründen eine Schulverweigerung an der BBS prognostiziert wird,
und „durchschnittliche“ Schulverweigerer, die ggf. durchaus jahrelang über längere Zeiten der Schule fernblieben, weil ihnen der Schulbetrieb nicht zusagte, i. d. R.
erfolgreich aufgefangen werden können, ist die einjährige SiJu-Maßnahme auffällig seltener erfolgreich, wenn folgende manifeste Verhaltensweisen hinzutreten:
massiver Drogen- und Alkoholmißbrauch, fortgeschrittene Delinquenz und
Trebegängerei. In diesen Fällen können nur mehrjährige, früher eingreifende
Betreuungsangebote weiterhelfen.
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Werkhof Scharnhorst, Dortmund
Konzept der Schüler/Jugendwerkstatt im Verbundmodell
(orientiert an der Waldorfpädagogik)
Im Schülerprojekt des Werkhofs wurden seit 1987 sogenannte schulmüde Jugendliche aus dem Stadtteil Scharnhorst halbtags betreut, seit 1992 aus dem gesamten Stadtbereich Dortmund ganztags. Insgesamt jeweils 30 schulpflichtige
Jugendliche aus Real-, Gesamt-, Haupt- und Sonderschulen wurden in vier Werkstätten zu künstlerisch–handwerklich Tätigkeit angeleitet. Es handelte sich dabei
um die Bereiche Holz, Metall und Klang. Die Anleiter haben sowohl eine künstlerische–handwerkliche als auch eine pädagogische Qualifikation. Ihr Ziel ist es, die
Jugendlichen, die die Lust am Lernen verloren haben, in der Schule allenfalls noch
körperlich präsent sind oder ihr ganz fern bleiben, über manuelle schöpferische
Tätigkeit von neuem zu motivieren, ihnen ein positives Selbstgefühl zu ermöglichen durch die gelungene Fertigung eines Gegenstandes, den sie für sich oder
andere herzustellen wünschen. Methodisch orientieren sich die Anleiter dabei an
der Waldorf-Pädagogik. – Seit 1992 erhielten die SchülerInnen auf Wunsch zusätzlich Unterricht von einer Hauptschullehrerin, seit 1993 von einer Gesamtschullehrerin. Durch Erweiterung des Pädagogenteams ist es heute möglich, den
Unterricht in den allgemein bildenden Fächern in Kleingruppen zu intensivieren
und in Kooperation mit den Werkanleitern projektarbeitsbezogen einzusetzen.
Ab August 1994 wurde das Werkhofangebot- durch das Verbundmodell mit
Landesmitteln um den Garten,- Küchen-, und Textilbereich und auf nicht mehr schulpflichtige Jugendliche ausgedehnt. Dabei soll die Teilnehmerzahl von 30 nicht überschritten, sondern aufgeteilt werden in 15 Schüler im Bereich des Schülerprojekts
und 15 Jugendliche im Bereich der Jugendwerkstatt. Kooperationspartner sind
weiterhin das Jugendamt und die Schulen der Stadt Dortmund
Zielgruppen; Für das Schülerprojekt:
Schüler der einleitend genannten Schulen vornehmlich aus den 8. und 9. Klassen, die vom Schulunterricht nicht mehr erreicht werden, ihn nur noch passiv absitzen oder stören bzw. gar nicht mehr zur Schule gehen trotz Rücksprache und
Mahnungen. (Zielgruppe für die Jugendwerkstatt: Jugendliche, die nicht mehr schulpflichtig sind, jedoch aufgrund von Defiziten verschiedenster Art noch nicht reif
für eine Berufsausbildung.)
Ziele
Auf der persönlichen Ebene:
Die Jugendlichen sollen (unbeeinträchtigt von Leistungsdruck und Konkurrenz)
über Erfolgserlebnisse im handwerklichen Bereich Selbstvertrauen gewinnen, zu
einer realistischen Einschätzung ihrer eigenen Fähigkeiten finden und damit im
positiven Sinne handlungsfähig werden.
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Auf der sozialen Ebene:
Hier wird angestrebt, daß sie sich in angemessener Form selbst zu behaupten
vermögen und damit sowohl fähig werden zu gemeinsamer Arbeit, wie zu gegenseitiger und über den persönlichen Bereich hinausgreifender Hilfeleistung.
Das Erreichen dieser Ziele ist die Vorraussetzung für eine Berufsausbildung der
JUGENDLICHEN, da diese heute ein hohes Maß von Eigeninitiative von ihnen erfordert.
Mittel
Werkstattbereich Holz
Für die Arbeit mit diesem Material gibt es im Werkhof drei Räume, in denen die
Jugendlichen Gegenstände fertigen und dabei das unterschiedliche Material wie
die verschiedenen Werkzeuge zu seiner Bearbeitung und die notwendigen Techniken kennen und gebrauchen lernen. Die Palette reicht dabei von freier Figurengestaltung über persönliche Gebrauchsgegenstände (CD–Ständer, Regale) zu
Modellarbeiten (Segelschiff), von einfachen Musikinstrumenten (Leier, Flöte,
Bambusharfe) über Spielzeug (Zwerg-Baumhäuser) für Kindergärten bis zu Massivholzmöbel, Klang- und Spielhäusern, die gemeinsam mit den Schülern/Jugendlichen ausgeliefert und montiert werden.
Werkstattbereich Metall
Der Werkhof verfügt über zwei Räume, in denen verschiedene Metalle (Kupfer
sowohl als Eisen und Silber) bearbeitet und grundlegende Techniken wie Schmieden, Schweißen und Gießen angewendet werden können. Auch hier wird den Jugendlichen die Möglichkeit geboten, ihre Wünsche bzw. Vorstellungen zu realisieren, wobei man betonen sollte, daß Mädchen wie in den anderen Werkstätten
willkommen sind. Zu den bisher gefertigten Gegenständen gehören Glockenspiele, Kerzenleuchter, Rankgerüste, Stühle, Schmuckstücke.
Werkstattbereich Textil
Für diesen Bereich steht ein Raum zu Verfügung in dem die Schüler und Jugendliche das Material Textil kennen lernen, die Vielseitigkeit der Einsatzmöglichkeiten
und die Prozesse der Fertigung erlernen. Wie in allen unseren Werkstätten können die Schüler/Jugendliche auch hier selbst entscheiden, was sie herstellen wollen. Das Angebot reicht über Näharbeiten z. B. Kleidung, Patchwork und
Quilarbeiten usw. Webarbeiten, z. B. Taschen, Schals, Teppiche usw. Flechtarbeiten
z. B. Hängematten usw., kleine Polsterarbeiten sowie alle Fertigkeiten im
Handarbeitsbereich.
Gärtnerei:
Dem Werkhof angeschlossen ist ein Grünbereich mit ‘demeter’–Gemüseanbau,
Garten- und Landschaftsbau und Grünpflege. Hier können unter dem Gesichts-
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punkt der Erweiterung des Werkhofangebotes für Jugendliche der zweiten Zielgruppe diejenigen tätig werden, die sich besonders für den Umgang mit Lebendem, wie Erde und Pflanzen interessieren und sich im Hinblick auf eine spätere
Berufsausbildung in diesem zukunftsträchtigen Sektor orientieren möchten.
Großküche:
Es ist daran gedacht, daß Angebot an Werkstätten um den Küchenbereich zu
erweitern, um im Verbundsystem mit dem Arbeitsamt Förderlehrgänge anbieten
zu können.
Gegenwärtig können Jugendliche aus dem Schülerprojekt, wie solche aus der
Jugendwerkstatt, ein Praktikum in der Küche machen, die die Dortmunder Gesamtschulen und die Fernmeldeämter mit Essen versorgen.
Aufenthaltsräume:
Ein großer, in Eigenleistung ansprechend ausgestattet und gegliederter Mehrzweckraum ist morgendliche Anlaufstelle für die Jugendlichen, die hier frühstükken und zu Mittag essen können.
An jedem Freitag wird in der darin eingebauten Küche von einer wechselnden
Schülergruppe vegetarisch gekocht und anschließend gemeinsam mit den anderen Jugendlichen und den Pädagogen gegessen. Ebenso wird er genutzt für die
wöchentlichen Teambesprechungen der Pädagogen, außerdem dient er als Videoraum für den Stütz- und Förderunterricht, sowie für Einzel- bzw. Kleingruppenunterricht.
Der Grünbereich hat einen Pausenraum für alle Mitarbeiter, in dem gemeinsam
gegessen wird. Zusätzlich wird ein Bürocontainer mit zwei Räumen aufgestellt, in
dem die Jugendlichen der Jugendwerkstatt fachtheoretischen Unterricht erhalten
und wohin sie sich zurückziehen können.
Absprachen mit der nahe gelegenen Gesamtschule erlauben es, sowohl den im
Freien gelegenen Sportplatz als auch die Turnhalle für sportliche Aktivitäten der
Jugendlichen zu nutzen.
Beratungsstelle
Für die Beratungsstelle steht ein weiter Raum für die Beratungstätigkeit zur Verfügung. Die Beratungsstelle bietet Jugendlichen und Schülern die Möglichkeit, sich
zu orientieren. Sie gibt Hilfestellung für Jugendliche und junge Erwachsene von 16
bis 21 Jahren, bei der Bewältigung von speziellen Problemen, zum Beispiel
Lehrstellenabbruch, Probleme mit Eltern, schulisches Versagen, kulturelle Isolation, soziale Unangepaßtheit, Straffälligkeit und Drogenprobleme.
Es wird eine Übergangsperspektive geboten, wenn Jugendliche nach der Schule
keine Lehrstelle gefunden haben oder ihre psychische Konstitution so schlecht ist,
daß sie von sich aus keine Lehrstelle finden oder Angebote des Arbeitsamtes wahrnehmen können. Die Beratungsstelle bietet Orientierungs- und Informationshilfen
für ein breiteres Spektrum an berufsbildenden und ausbildungsfördernden Maßnahmen, die speziell auf diese Jugendlichen zugeschnitten sind. Für die Jugendli-
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chen im Werkhof wird eine Persönlichkeitsstabilisierung angestrebt, die sie befähigen soll, ihr weiteres Berufsleben zu meistern.
Methode
Die pädagogische Arbeit umfaßt eine ganzheitliche Persönlichkeitsförderung der
einzelnen MaßnahmeteilnehmerInnen, in der die künstlerisch–handwerkliche Betreuung eine wesentliche Rolle spielt. Um die durch Fremdbestimmung in Schule
und Konsumwelt destabilisierten und demotivierten Jugendlichen zu erreichen,
setzen die Werkhofpädagogen bei dem Bedürfnis nach manueller Tätigkeit und
dem Wunsch nach Herstellung sinnvoller Gegenstände an.
Dabei orientiert sich ihre Vorgehensweise ganzheitlich, indem sie die geistig–
emotionalen, wie die körperlich–handwerklichen Fähigkeiten des einzelnen Jugendlichen anspricht, berücksichtigt und fördert.
Je nach den gegebenen Umständen werden individuelle Produkte gefertigt, oder
eine Gruppe entschließt sich zu einem gemeinsamen Projekt, wobei die Anleiter
bei Vorschlag, Auswahl und Entscheidung darauf achten, daß die Realisierung den
Jugendlichen motivierende Erfolgserlebnisse ermöglicht. Manchmal ist es möglich, für die Umsetzung einer Idee mit der Materialbeschaffung zu beginnen - beispielsweise im Holzbereich beim Aussuchen eines gefällten Baumes, was Gelegenheit zur Reflexion von dessen Umfeld bietet. Zur Vorbereitung einer Arbeit mit
hartem Material dient das Modellieren in Ton, wie überhaupt Plastizieren und das
Bearbeiten von Speckstein, das zum Beispiel den Tastsinn übt.
Bei der Gestaltung einer Idee sind alle Sinne gefragt, denn nicht allein die Funktionalität und Brauchbarkeit bestimmen den Wert des Produktes. Zur Planung
dessen, was hergestellt werden soll, wird Zeichen, Messen, Rechnen nötig, während bei der Ausführung die geeigneten Techniken und Geräte benutzt werden
müssen.
In beiden vorgenannten Phasen kann es zum Einschub von Übungen der notwendigen Fertigkeiten kommen. Eine laufende Kontrolle ermöglicht die Korrektur
von Fehlern.
Das Ergebnis seines Tuns zeigt dem Jugendlichen am Ende der Projektarbeit unmittelbar, was gelungen ist. Das wiederum ist geeignet, ihn zu weiterem Tun, zur
Eigeninitiative zu ermutigen.
Zeitrahmen
Die Werkhofmaßnahme erstreckt sich für Schüler, wie Jugendliche auf maximal
9 Monate bis zu einem Jahr. Die Ferien orientieren sich für die Schüler an denen der
Schulen. Die berufschulpflichtigen Jugendlichen besuchen den Unterricht der für
sie zuständigen Berufschulen. Schüler wie Jugendliche können die Werkstatt wechseln, frühestens jedoch nach vier Wochen.
Verteilung der Teilnehmer auf die Werkstätten:
Im Schülerprojekt werden 15 Schüler aufgenommen, die zwischen dem Bereich
Holz, Metall und Textil wählen können
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In der Jugendwerkstatt können 15 berufschulpflichtige Jugendliche zwischen dem
Bereich Holz und Garten, Metall und Textil wählen. Für alle Werkbereiche wird mit
Blick auf die Werkanleiter eine ausgewogene Verteilung angestrebt.
Zusätzliche Aktivitäten
Dabei handelt es sich um Unternehmungen, die geeignet sind, daß Gesichtsfeld
der Jugendlichen zu erweitern und ihnen die Schwellenangst zu nehmen vor Einrichtungen, die nicht zu ihrem alltäglichen Umfeld gehören. Als Beispiel seien genannt, der gemeinsame Besuch eines Museums oder eines Theaterstückes, die
Besichtigung eines Wasserwerkes. Auch Fuß- und Radwanderungen während gemeinsamer Ferientage gehören dazu.
Personal
Bei der Betreuung, Anleitung und Unterricht der Jugendlichen arbeiten Sozialpädagogen, Werkanleiter und Lehrer in Absprache nach gemeinsam entwickeltem
Konzept, daß beide Zielgruppen umfaßt. Wöchentliche Teambesprechungen helfen bei der Lösung aktueller Schwierigkeiten und sorgen für die nötige Flexibilität.
Eine inhaltliche Aufgabenteilung ergibt sich aus den Einsatzbereichen Werkstatt,
Unterricht, Umfeld, wobei im Blick auf den einzelnen Jugendlichen eine unterschiedlich intensive Kooperation erforderlich sein wird.
Zusammenfassung: Der Werkhof als Mittelpunkt.
Die pädagogische Konzeption der Arbeit mit den Schülern am Werkhof
Dortmund-Scharnhorst ist durch die umfassende Förderung und Entwicklung von
Interesse und Motivation gekennzeichnet, welche von den MitarbeiterInnen des
Projekts als grundsätzliche Vorraussetzung zur Vermittlung von schulischen und
beruflichen Bildungsinhalten angesehen werden. Durch die praktische, handwerkliche Arbeit in den Werkstätten, den theoretischen Unterricht, sowie das Erleben
von sozialem Miteinander (z. B. bei den Mahlzeiten bzw. dem gemeinsamen Kochen) wird eine einseitige Förderung und Bevorzugung kognitiver Fähigkeiten überwunden. Der Einsatz aller Sinnesfähigkeiten bewirkt eine Veränderung der Erlebensund Wahrnehmensweise, welche dem SchülerInnen einen persönlichen Bezug zu
sich und dem Werkhof ermöglicht.
Die Erfahrung eines Gemeinschaftsgefühls, des Aufgenommenseins innerhalb
der Gruppe in Zusammenhang mit den vielseitigen Kennenlernen in den verschiedenen Werkstätten, der Einblick in die eigenen Bedürfnisse und Verhaltensweisen
lassen die Mechanismen der Gesellschaft transparent werden und ermöglichen
die Bewältigung spezifischer Probleme wie Verhaltensstörungen, erhöhte Aggressivität, psychische Labilität, Kontaktschwäche, Hemmungen im Sozialverhalten,
Lernschwäche, Bildungsmüdigkeit im allgemeinen.
Praktisches Lernen am Werkhof ist somit nicht nur als zur Schule zurückführende Maßnahmen, bzw. als berufspraktische Vorbereitung ausschließlich zu betrachten; vielmehr gilt es, hervorzuheben, welche weitreichende Bedeutung es für den
heranwachsenden Jugendlichen hat, durch die praktische Arbeit in der Gruppe
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wichtige Begabungen entfalten zu können und damit zum Lernen insgesamt wieder neue Zugänge zu finden. Neben dem Angebot von Berufsorientierung und
Förderung sozialer und berufsbefähigender Kompetenz versucht der Werkhof, neue
Formen des Erfahrungsfeldes ‘Lernen am Arbeitsplatz’ zu entwickeln und zu erproben.
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Lernwerkstatt für Schulverweigerer im
Internationalen Jugendzentrum der Stadt Frankfurt a. M.
(Stadt Frankfurt a. M., Jugendamt, Abt. Kinder- und Jugendförderung
–Internationales Jugendzentrum–)
I. Ausgangspunkt, Zielgruppe und Rahmenbedingungen
Die Lernwerkstatt als eine Einrichtung des Zentrums für Erziehungshilfe (ZfE) ist
ein Teil des Internationalen Jugendzentrums, einer Freizeit-, Kultur- und
Berufsbildungsstätte des Jugendamtes der Stadt Frankfurt am Main, Abteilung Kinder- und Jugendförderung.
Im Zuge der Konzeptionierung des ZfE stellte sich die Frage, wie können wir die
Schulverweigerer erreichen?
Diese Problematik wurde an uns vom Internationalen Jugendzentrum herangetragen. Auf dem Hintergrund unserer Erfahrungen in der offenen Jugendfreizeitund Berufsbildungsarbeit mit sozial- und bildungsmäßig benachteiligten ausländischen und deutschen Jugendlichen sahen wir die Notwendigkeit ein spezifisches
sozial- und berufspädagogisches Angebot für die stark verhaltensgestörten Jugendlichen ab 14 Jahren anzubieten.
Es handelt sich dabei um die Jugendlichen der besonders schwierigen Gruppe
der erziehungshilfebedürftigen 14jährigen Schülern, die oftmals von der herkömmlichen Schule nicht mehrerreicht werden oder dort aufgrund ihres Verhaltens nicht
mehr tragbar sind. Mit Hilfe eines alternativen Lernangebotes sollen diese Jugendlichen neu motiviert werden.
Ohne eine Teilnahme an einem Lernangebot besteht bei diesen Jugendlichen
die Gefahr, daß sie in den Zeitraum von zwei bis drei Jahren bis zu einem berufsvorbereitenden bzw. -bildenden Angebot endgültig den Zugang zu Bildungs- und
Betreuungsangeboten verlieren.
Darüber hinaus wären diese Jugendlichen in besonderem Maße den Gefährdungen in Frankfurt ausgesetzt (Beschaffungskriminalität, Drogen und Jugendbanden).
Die erste Lernwerkstattgruppe hat im Mai 1993 ihre Arbeit aufgenommen. Es ist
geplant ab Herbst 1995 eine zweite Lernwerkstattgruppe einzurichten. Zur Zeit
besucht die zweite Gruppe von sechs Jugendlichen im Alter von 14 Jahren die Lernwerkstatt. Die Gruppe wird von einer Sozialarbeiterin, einem Meister und einem
Sonderschullehrer betreut und unterrichtet.
Insofern streben wir eine Integration von Sozial,- Berufs- und Schulpädagogik
an. Wir nehmen die Jugendlichen im Alter von 14 Jahren auf, sie befinden sich
dann im 8. Schulbesuchsjahr.
Die Betreuungszeit in der Lernwerkstatt beträgt in der Regel zwei Jahre, so daß
die Jugendlichen das 8. und 9. Schulbesuchsjahr in der Lernwerkstatt absolvieren.
Der Jugendhilfeteil der Lernwerkstatt, also die Arbeit der Sozialarbeiterin und
des Werkpädagogen, stellt ein Tagesheim gemäß 5 27 i. V. m. § 32 KJHG dar und
wird über Pflegesatz finanziert, der derzeitige Tagessatz beträgt 248,00 DM.
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II. Ziele und Arbeitsweise der Lernwerkstatt
1. Aufnahmeverfahren
Für das Gelingen der Arbeit in der Lernwerkstatt ist es erforderlich, daß eine
intensive Zusammenarbeit mit den Jugendlichen, den Eltern, dem Zentrum für
Erziehungshilfe und den Einrichtungen der Jugendhilfe (ambulante Dienste, stationäre Dienste und Einrichtungen sowie des Allgemeinen Sozialdienstes) praktiziert wird.
Um der Problematik entgegenzuwirken, daß der Besuch der Lernwerkstatt einen Sanktions- oder Zwangscharakter bekommt, wickeln wir das Aufnahmeverfahren in Ruhe ab. Die Erwartungen, Befürchtungen sowie Problemhintergründe
werden ausführlich mit den Betroffenen erörtert. Die Eltern müssen sich zur Zusammenarbeit bereit erklären und damit einverstanden sein, daß sie 14tägig zum
Elterngespräch in die Lernwerkstatt kommen. Wir versuchen von Anfang an die
genannten Betroffenen einzubeziehen. Im einzelnen gehen wir wie folgt vor:
Als erstes laden wir den bzw. die Jugendliche ein zu einen unverbindlichen
Schnupperbesuch in das Jugendzentrum ein, damit er/sie sich ein erstes Bild von
der Lernwerkstatt machen kann. Falls er/ sie die Lernwerkstatt interessant findet,
kommt er zu einem zweiten Besuch in die Lernwerkstatt, bei dem der Sonderschullehrer abklärt, inwieweit er/sie für einen Unterricht im Spektrum der Sekundarstufe I geeignet ist.
Daran schließt sich ein Informationsgespräch mit dem Jugendlichen, seinen Eltern, dem Sozialarbeiter des ASD und gegebenenfalls einem Mitarbeiter vom Zentrum für Erziehungshilfe an, falls der Jugendliche vom ZfE bereits betreut wurde.
Nach einer Bedenkzeit von ca. zwei Wochen wird dann mit dem zuvor Beteiligten
ein Kontraktgespräch geführt in dem möglichst konkrete Lernziele für das erste
halbe Jahr herausgearbeitet werden. Dabei legen wir Wert darauf, daß jeder der
Beteiligten erklärt, wie er zur Erreichung der Lernziele beitragen kann. In diesem
Gespräch wird von unserer Seite verdeutlicht, daß die Verantwortung für die Zukunft des Jugendlichen bei ihm selbst und seinen Eltern liegt. Unsere Beziehungs-,
Beratungs- und Lernangebote können nur eine Unterstützung der familiären Erziehung und der eigenen Bemühungen des Jugendlichen darstellen, damit der Jugendliche seine Fähigkeiten ausbilden und realistische wie auch sinnvolle Zielsetzungen entwickeln kann. Nach einem halben Jahr kommen die Betroffenen wieder
zu einem Bilanzgespräch zusammen, um Erfahrungen auszutauschen, Erreichtes
zu reflektieren und neue Lernziele gemeinsam herauszuarbeiten.
2. Methodik und Didaktik
Die Vorgeschichte der Jugendlichen ist gekennzeichnet durch Schulverweise aufgrund ihres oft hochaggressiven Verhaltens oder durch langjährige hartnäckige
Verweigerung die Schule zu besuchen. Diese Jugendlichen sind stark neurotisch,
sehr verhaltensgestört und weisen erheblich dissoziale Verhaltensweisen auf. Sie
sind stark geprägt von Versagens- und Mißerfolgserlebnissen und haben ein geringes Selbstwertgefühl, sie sind kaum beziehungs- und damit auch nicht gruppenfähig, sie verfügen nur über eine geringe Konzentrationsfähigkeit und ein schwa-
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ches Durchhaltevermögen. Sie sind mißtrauisch und weisen eine starke motorische Unruhe auf.
Um die Jugendlichen, zur Teilnahme an der Lernwerkstatt zu motivieren ist es
erforderlich, sie ständig persönlich anzusprechen und tragfähige Beziehungen zu
ihnen aufzubauen. Wir machen daher den Jugendlichen ein starkes positives
Beziehungsangebot und geben ihnen einen großen Raum, damit sie sich einbringen können mit allen ihren Interessen, Neigungen, Eigenarten und Verhaltensweisen. Dabei wenden wir uns jedem einzelnen persönlich zu, ermuntern ihn und
geben ihnen eine starke Anerkennung. Insofern ist Ausgangspunkt und Basis der
Arbeit mit den Jugendlichen die Beziehungsarbeit im Sinne einer einfühlenden und
akzeptierenden Haltung, die bestimmt ist durch ein individualisierendes Eingehen
auf die Bedürfnisse, Interessen und Verhaltensweisen der Jugendlichen.
Wir bieten den Jugendlichen vielfältige Formen der sportlichen Betätigung und
der Freizeitgestaltung an. Dazu zählen Billard, Hapkido, Volley- und Basketball, Kikker sowie Tischtennis, Krafttraining, Musik und Video, Ausflüge und Erlebnisfahrten.
Als eine besonders wirkungsvolle, sozialpädagogische Arbeitsweise haben sich die
werkpädagogischen Angebote erwiesen. Durch ein individuelles Eingehen auf die
Interessen und Bedürfnisse der Jugendlichen können ihnen Erfolgserlebnisse vermittelt werden, die sie in ihrer Persönlichkeit fördern und stabilisieren und auch
am Aufbau von Lernmotivationen beitragen. Diese werkpädagogische Arbeit ist
projekt- und produktbezogen und kann in den folgenden Bereichen angeboten
werden: Weihnachtsgeschenke, Fahrradreparaturen, Metallbearbeitung und einschließlich Gas- und Elektroschweißen, Löten, Elektrotechnik und Elektronik, Computertechnik, Zweiradmechanik, Modellbau, Kochen, Kunsthandwerk, Holzarbeiten. Mit der werkpädagogischen Arbeit ist auch eine Berufsorientierung verbunden,
die die Jugendlichen bei ihrer Berufswahl unterstützen soll. Gerade für Jugendliche
mit geringen Schulkenntnissen und einem wenig entwickelten schulischen Lernen
bieten die werkpädagogischen Angebote die Möglichkeit zu Erfolgserlebnissen zu
gelangen.
Um das Kennenlernen der Jugendlichen untereinander wie auch das zwischen
Jugendlichen und Mitarbeitern zu fördern, wird ca. vier Wochen nach Beginn der
Lernwerkstatt eine einwöchige Erlebnisfreizeit durchgeführt. Eine zweite Freizeit
wird zu Beginn der Sommerferien im zweiten Jahr veranstaltet. Die Arbeit mit den
Jugendlichen macht es erforderlich, daß während der gesamten Arbeitszeit der
Lernwerkstatt ein Betreuungs- und Beratungsangebot vorhanden ist, daß die Jugendlichen bei der Bewältigung ihrer Verhaltensstörungen und Konflikte hilft, so
daß sie nicht in ihren alten Mustern verhaftet bleiben, sondern neue sozialere Verhaltensweisen, Einstellungen und Motivationen herausbilden können.
Das Ziel des ersten Jahres in der Lernwerkstatt ist es, daß durch eine intensive
sozial- und sonderpädagogische Betreuung die Jugendlichen gruppenfähig werden, sie Lernmotivationen aufbauen, sie in ihrer Konzentrations- und Lernfähigkeit
gefördert werden und eine Arbeitshaltung entwickeln. Eine Vorbereitung auf den
Hauptschulabschluß kann erst im zweiten Förderungsjahr durchgeführt werden.
Die Jugendlichen erhalten einen stark individualisierenden Schulunterricht, der
sich an den Rahmenplänen der Sekundarstufe 1 orientiert. Durch die Einbeziehung
von Computern in Form von Lernprogrammen und Computerspielen wird die
Motivation der Jugendlichen gefördert. Der Unterricht wird in Kleingruppen von
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drei bis vier Jugendlichen erteilt. Zur Zeit erhalten zwei Jugendliche, die aufgrund
ihres Sozialverhaltens und ihres Leistungsstandes nicht in der Kleingruppe unterrichtet werden können, einen Einzelunterricht.
Im weiteren Verlauf der Lernwerkstatt werden die Jugendlichen zu einer Auseinandersetzung mit ihrer aktuellen Lebenssituation und ihren Zukunftsperspektiven
angeregt. Wenn bei den Jugendlichen dazu eine Bereitschaft geweckt wurde, können wir ihnen auch helfen ihr negatives Selbstbild, ihre Minderwertigkeitsgefühle
oder auch ihre Selbstüberschätzungen abzubauen. Neben dem Erlernen allgemeinbildender und fachpraktischer Fähigkeiten können die Jugendlichen auch Schlüsselqualifikationen wie Durchhaltevermögen, Einsatzbereitschaft, Anpassungsfähigkeit, Orientierungsfähigkeit, Pünktlichkeit und Kooperationsfähigkeit herausbilden.
Die Entwicklung einer realitätsgerechten Einschätzung ihrer Fähigkeiten und eine
adäquate Berufswahl sind dann die nächsten Schritte, bei denen wir die Jugendlichen unterstützten.
Nach der Teilnahme an der Lernwerkstatt werden die Jugendlichen in eine Berufsausbildung, eine weiterführende Schule oder in ein Berufsvorbereitungs- oder
Berufsgrundbildungsjahr übergeleitet. Damit die Jugendlichen die weiteren
Bildungsmaßnahmen durchhalten, führen wir eine intensive sozialpädagogische
Nachbetreuung durch. Die Sozialarbeiterin ist weiterhin Ansprechpartnerin für die
Jugendlichen, die Eltern und die jeweiligen Bildungs- und Sozialeinrichtungen.
III. Zusammenfassende Erfahrungen
1. Die Arbeit der Lernwerkstatt ist eine permanente Beratungs- und Beziehungsarbeit, in der ständig individualisiert und situativ gearbeitet werden muß, um dadurch die jeweiligen Verhaltensschwierigkeiten aufzufangen und die Jugendlichen
zur Mitarbeit und zur Reflexion über ihre jeweiligen Verhaltensproblematiken zu
motivieren .
2. Aufgrund der genannten Persönlichkeitsstörungen ist-es erforderlich, daß die
Arbeit mit den Jugendlichen sozial-, sonder- und heilpädagogisch ausgerichtet sein
muß, wobei alle drei Mitarbeiter/innen diese Orientierung in ihren jeweiligen
Arbeitsansätzen berücksichtigen und umsetzen. Neben den fachspezifischen Qualifikationen ist eine sehr gute Kontaktfähigkeit und ein stark entwickeltes Einfühlungsvermögen in die psychosoziale Problematik der Jugendlichen bei den Mitarbeitern erforderlich, um mit diesen Jugendlichen in sozial- und heilpädagogischer
Hinsicht arbeiten zu können. Die unterschiedliche Bezahlung von Sozial-, bzw.
Werkpädagogen und Lehrer ist in keinerweise gerechtfertigt.
3. Es ist einerseits eine psychisch und physisch stark belastende Arbeit, die die
Mitarbeiter an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit heranführt. Zum anderen ist
es auch eine sehr befriedigende Arbeit, wenn man die Fortschritte in der
Persönlichkeitsentwicklung und in der Lernfähigkeit feststellen kann.
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Folgende Träger/Einrichtungen beteiligten sich an dem
Programmteil „Projekte stellen sich vor“:
Kreisvolkshochschule Aurich
Jugendwerkstätten
Raiffeisenstr. 8-10
Schule des Lebens
(WIBB gGmbH)
Berliner Str. 32
26603 Aurich
(Tel.: 04941/64147, Frau Weber)
15378 Hennickendorf (Brandenburg)
(Tel.: 03343/445175, Herr Thimm)
Stadt–als–Schule
Dessauer Str. 24
BuntStift e. V.
Holländische Str. 208
10963 Berlin
(Tel.: 030/2651383, Herr Bubenzer)
34127 Kassel
(Tel.: 0561/98353-0, Frau Waasen)
Werkhof in Scharnhorst
Buschei 30
Städtische Hauptschule
Ringelnatzstraße 12
44328 Dortmund
(Tel.: 0231/23738, Frau Mewes-Turz)
50996 Köln
(Tel.: 0221/3591373)
Lernwerkstatt
im Zentrum für Erziehungshilfe
Internationales Jugendzentrum
Bleichstr. 8-10
Jugendhilfe Köln e. V.
Jugendwerkstatt Mülheim
Berliner Str. 31-33
60313 Frankfurt
(Tel.: 069/212-31768, Herr Mauer)
Freie Schule Hamburg
in der Honigfabrik
Projekt Hauptschulabschluß
Industriestr. 125
21107 Hamburg
(Tel.: 040/4322833, Frau Schwalbe)
51063 Köln
(Tel.: 0221/641064/5, Herr Kröger-Willms)
Hauptschulabschlußkurse Sindelfingen
Landkreis Böblingen
Böblinger Str. 8
71065 Sindelfingen
(Tel.: 07031/94-511, Frau Bender)

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