Langeweile

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Langeweile
Philosophie Essay
Langeweile, Freizeit und die Kunst des Nichtstuns
Brian Ackermann K1
Langeweile ist ein unangenehmes Gefühl. Wir spüren sie oft und sie ist für uns so selbstverständlich,
dass wir kaum einen Gedanken an sie verschwenden. Sie nur möglichst schnell loswerden, das ist das
Ziel. Warum auch nicht? Wie der Wortlaut schon sagt nimmt man Langeweile als einen Zeitraum
wahr, der einem unerträglich viel länger vorkommt, als er es tatsächlich ist und man möchte diesem
unangenehmen Zustand durch irgendeine Beschäftigung so schnell wie möglich entfliehen. Man
könnte meinen Langeweile sei das Fehlen von Beschäftigung. Doch ist dem so? Man ist beschäftigt,
wenn man eine Aufgabe, eine Arbeit, zu bewältigen hat. Doch auch einer Aufgabe kann man
überdrüssig werden und man sehnt sich wieder nach Freizeit. Also einer freien Zeit, in der man keine
Arbeit zu erledigen hat. Jedoch wird die Freizeit daraufhin oft nur wieder mit neuen Aktivitäten,
Sport treiben, Verreisen und dem Besichtigen irgendwelcher kulturell höchst bedeutsamen
Sehenswürdigkeiten, aufgefüllt. Das nennt man dann Erholung. Sollte man das Nichtstun, die
Untätigkeit also, um jeden Preis vermeiden und ist die Langeweile das Warnsignal unseres Körpers
vor dieser vermeintlich sinnlosen Verschwendung von Lebenszeit? Doch wie kann man das wissen
ohne sich einmal näher mit dem Phänomen der Langeweile auseinanderzusetzen? Genau das möchte
ich in meinem folgenden Essay tun. Um der Langeweile auf die Spur zu kommen, möchte ich mit
einer Bestandsaufnahme einiger bisherigen wissenschaftlicher Forschungen zu diesem Thema
beginnen. Einmal die Frage nach den physischen Abläufen im Körper, insbesondere innerhalb der
Neurobiologie, während man Langeweile empfindet, dann verhaltenswissenschaftliche und
psychologische Forschungen zur Langeweile. Dabei unterscheide ich noch zwischen Langeweile
während der Arbeit und während der Freizeit, da beides jeweils unter unterschiedlichen
Bedingungen stattfindet. Anschließend führe ich einige Standpunkte aus der Philosophie von Kant,
Schopenhauer und Heidegger aus um auch hier auf bereits gesammelte Erkenntnisse zurückgreifen
zu können. Zum Schluss möchte ich nämlich sowohl die Erkenntnisse aus der Philosophie, wie auch
aus den Wissenschaften auf die Soziologie der heutigen Spaß- und Leistungsgesellschaft übertragen.
Auf diese Weise will ich letztendlich zu einer Schlussfolgerung über den Nutzen oder das Unnützen
der Langeweile kommen. Nun beginne ich also mit einer Bestandsaufnahme der wissenschaftlichen
Untersuchungen über Langeweile.
Zunächst gilt es zwischen den Bedingungen, unter denen Langeweile aufkommt, zu unterscheiden:
Nämlich zwischen der Langeweile bei der Arbeit und der Langeweile während der Freizeit. Beginnen
möchte ich an dieser Stelle mit der Langeweile bei der Arbeit. Genauer, bei der Langeweile, die sich
einer konkreten Tätigkeit zuordnen lässt. Diese Art der Langeweile lässt sich daher natürlich auch am
besten wissenschaftlich untersuchen. Langweilig wird eine Arbeit dann, wenn sie monoton wird. Das
bedeutet, man benötigt zur Ausführung derselben immer die gleichen Bewegungsabläufe ohne
besondere Abweichungen, sodass sie nach und nach immer automatisierter abläuft. Diese
stumpfsinnige Art zu Arbeiten ist spätestens seit der industriellen Revolution nicht mehr aus der
Arbeitswelt wegzudenken. Das Phänomen Langeweile gewinnt auch für die Ökonomie an Bedeutung.
So führte die Technische Universität Dortmund vor einigen Jahren Untersuchungen an 91 Arbeitern
der Opelwerke Bochum durch, in denen die Auswirkungen ihrer gleichförmigen Arbeit auf ihrer
geistige Fitness untersucht werden sollte. Dazu mussten jeweils 23 ältere, 23 jüngere
Fließbandarbeiter und 23 alte, 22 junge Arbeiter, die nicht am Fließband standen, dieselben
psychometrischen Tests machen. Dabei wurden permanent die Gehirnstrommuster der Probanden
aufgezeichnet. Das Ergebnis des Experimentes war, dass die Gehirnaktivität der älteren
Nichtfließbandarbeiter denen ihrer jüngeren Kollegen mehr ähnelten, als es bei den
Fließbandarbeitern der Fall war. Anhand der ausgefüllten Tests wurden bei den alten
Fließbandarbeitern vor allem Defizite im Bereich des Arbeitsgedächtnisses festgestellt. Das ist der
Teil des menschlichen Erinnerungsvermögens, das es einem ermöglicht seine Umwelt zu verstehen,
neuartige Probleme zu lösen, komplexe Zusammenhänge zu verstehen und sich neues Wissen
anzueignen. Auf lange Sicht wird die Leistungsfähigkeit des Gehirns durch Langeweile also
geschmälert.
Der Bereich, in dem die Langeweile aber wohl am meisten ins Gewicht fällt, ist die Schule. So gut wie
jeder Schüler wird einem Beispiele von Fächern, Lehrern oder Themen nennen können bei denen er
sich zu Tode gelangweilt hat. Obwohl jeder bestätigen kann, wie allgegenwärtig Langeweile im
Unterricht ist, lassen sich darüber kaum Untersuchungen finden. Einer der Wenigen, die sich diesem
Problem annehmen, ist Erziehungswissenschaftler Thomas Götz. Er untersuchte an 50 Gymnasien
Schüler der Klasse 5 bis 9, indem er sie nach ihren Erfahrungen mit Langeweile während der Schulzeit
befragte. Laut einer seiner Umfragen langweilen Schüler sich im Durchschnitt ein Drittel der
gesamten Schulzeit. Womit die Frage nach der Quantität schon mal geklärt sein dürfte. Die
Beschreibungen der Schüler wie sie Langeweile wahrnehmen und erleben, waren dagegen
überraschend. Langeweile kann ganz verschiedene Arten von Emotionen verursachen: Da werden
Bewegungsdrang und Aggression genauso wie innere Leere und Trägheit berichtet.
Dementsprechend klassifizierte Götz die Langeweile auch in vier verschiedene Arten:
- Die kalibrierende Langeweile, die den größten Teil der Schüler (60%) befällt. Dabei ist der
Schüler inaktiv, starrt vielleicht aus dem Fenster und schweift mit seinen Gedanken soweit
ab, dass er sich für seine Umgebung kaum noch interessiert. Das Besondere an dieser Art von
Langeweile ist allerdings, dass man durch einen bestimmten Schlüsselreiz, eben irgendetwas,
das als aufregend oder überraschend wahrgenommen wird, wieder „reaktiviert“ werden
kann. Und sei es durch den Lehrer, der einen mit Kreide bewirft.
- Die indifferente Langeweile, unter der 18 % der Schüler litten. Sie zeichnet sich durch völliges
Desinteresse und geistiges Abschalten aus. Man geht mit dem Kopf quasi auf „Stand-by“.
Daher sind die Chancen für eine Aktivierung des Betreffenden gering.
- Die zielsuchende Langeweile beschrieben 16% der Schüler. Sie zeichnet sich durch
Ruhelosigkeit und der Suche nach einer Handlungsalternative aus. Zum Beispiel das Reden
mit dem Nachbarn, oder Störung des Unterrichts.
- Zu guter Letzt empfinden 6% der befragten Schüler während des Unterrichts reaktante
Langeweile. Sie äußert sich durch Aggression und Hilflosigkeit, was auch zu aggressivem
Verhalten gegenüber Mitschülern oder dem Lehrer führen kann.
Was aber all diese Äußerungsformen der Langeweile gemeinsam haben ist ein
Aufmerksamkeitsdefizit der Betroffenen. Wer gelangweilt ist nimmt keine neuen Informationen, kein
„Input“, mehr von außen auf. Das bedeutet ein Drittel der Bemühungen des Lehrkörpers den
Schülern Wissen zu vermitteln laufen im Grunde völlig ins Leere. Wie in der Arbeitswelt verringert
also auch in der Schule die Langeweile die Leistung der Betroffenen. Wie groß der dadurch
entstandene Schaden ist lässt sich wohl nur schwer einschätzen, doch um eine Idee zu bekommen,
haben die Unternehmensberater Philippe Rothlin und Peter Werder in ihrem Buch „Diagnose
Boreout“ kalkuliert, dass aufgrund von Langeweile am Arbeitsplatz bis zum Jahr 2007 der
Bundesrepublik Deutschland Folgekosten von rund 250 Milliarden Euro entstanden seien.
Demzufolge ist das Bild der Langeweile während der Arbeit also durchweg negativ. Schließlich nützt
sie weder dem Schüler in der Schule noch dem Arbeiter am Arbeitsplatz. Für den Arbeitgeber und die
Schulinstitution an sich bedeutet sie lediglich einen Produktivitätsverlust. So müsste Langeweile also
etwas sein, das als Kostenfaktor ausgemerzt werden muss und für das noch das passende
Gegenmittel gefunden werden muss. Dies hätte eine Pathologisierung der Langeweile zur Folge.
Um herauszufinden wie sinnvoll diese Herangehensweise wäre, möchte ich mich aber zunächst
genauer mit den Ursachen und den Folgen der Langeweile auseinandersetzen.
Als Ursache von Langeweile kann man bisher diese Drei festhalten:
1. Langeweile aus Überdruss, zum Beispiel aufgrund einer monotonen Tätigkeit wie bei den
Fließbandarbeitern
2. Langeweile aus erzwungener Untätigkeit, zum Beispiel wegen Über- oder Unterforderung in
der Schule
3. Langeweile aus Sinnesleere, wenn man hinter dem was man tut, oder tun soll keinen Sinn
erkennt
Nun komme ich zu einer bestimmten Art von Langeweile, die sich keiner dieser drei Ursachen
zuordnen lässt: Der Langeweile während der Freizeit. Das bedeutet, dass einem im Grunde alle
Möglichkeiten tätig zu werden offen stehen, man der Langeweile aber trotzdem nicht entgeht. Daher
kommen als Ursache schon mal keine der drei oben Genannten in Frage, weil sie alle von einer
notwendigen Tätigkeit herrühren, die man nicht freiwillig selbst gewählt hat. Auch während unserer
Freizeit kommt es vor, dass die Zeit beginnt sich zu dehnen wie ein feuchtes Kaugummi. Die großen
Philosophen nannten dies auch „existenzielle Langeweile“. Wissenschaftlich untersucht wurde
inzwischen schon wie dieses Gefühl der sich dehnenden Zeit entsteht. Durch neurologische
Messungen fand man heraus, dass es einen permanenten Taktgeber in unserem Gehirn nicht gibt.
Erst wenn das Gehirn irgendeinen Bemerkenswerten Reiz von außen registriert, lassen sich
regelmäßig getacktete Hirnströme im Bereich des Kortex beobachten. Normalerweise feuert der
Kortex Signale wild durcheinander. Erst durch die Ausschüttung von Dopamin sendet er Signale im
Takt. Die Dopaminausschüttung ist es, die von äußeren Reizen beeinflusst wird. Das hat zur Folge,
dass der Mensch vergangene Zeit nach der Anzahl von Ereignissen einschätzt. Deshalb kommt uns
ein zwei Stunden Block Buster im Kino, bei dem ein Effekt den nächsten jagt, um vieles kürzer vor als
eine Unterrichtsstunde von 45 Minuten, in der nicht viel passiert außer dem Vortrag des Lehrers
vorne und dem ein oder anderen Tafelanschrieb. In der Rückschau dagegen kommt einem langweilig
verbrachte Zeit viel kürzer vor. Eine allgemeine Eigenschaft der Langeweile ist also die verschobene
Zeitwahrnehmung. Etwas, das ebenfalls untrennbar mit der Langeweile verbunden ist, ist das
Nichtstun. Zwar kann auch durchaus bei einer Tätigkeit Langeweile aufkommen, doch gerade
während der Freizeit hat man doch hauptsächlich mit der Langeweile zu kämpfen, bei der man
untätig ist. Wissenschaftlich erforscht wurde das Nichtstun erstmals von einem Neurobiologen
Namens Marcus Raichle. Er entdeckte 1998 nur durch Zufall etwas Neues bei Arbeiten mit dem
Kernspintomographen, die eigentlich zum Standardverfahren gehören. Bevor nämlich irgendwelche
Messungen der Hirnaktivität bei einem bestimmten Versuchsaufbau vorgenommen werden, muss
eine Ausgangsmessung vorgenommen werden. Das heißt eine Messung der Hirnaktivität während
der Proband einfach gar nichts tut, um diese Werte dann mit denen während dem Versuch
vergleichen zu können und eine Änderung festzustellen. Dabei fiel Raichle auf, dass, während diesem
„auf null setzen“ der Messungen, die Hirnaktivität nicht etwa stark zurückgeht, sondern fast
unvermindert fortgesetzt wird. Nur verlagern sich die Hirnströme auf andere Bereiche und zwar
immer dieselben. Er taufte diese Hirnregionen kurzerhand Leerlauf-Netzwerk, das später auch bei
träumenden und komatösen Patienten gemessen werden konnte. Allerdings ist das wissenschaftliche
Operieren mit dem Nichtstun ziemlich problematisch. Schließlich lässt sich kein exakter
Versuchsaufbau konstruieren, wenn man dem Betroffenen Anweisungen wie „denken sie jetzt
einfach mal an Garnichts“ geben muss. Deshalb lassen sich Theorien über die Funktion des LeerlaufNetzwerkes eben so leicht aufstellen, wie sie schwer zu widerlegen sind. Dennoch gibt es ein paar
plausible Erklärungsansätze. Sie basieren einfach auf der Überlegung welche Bedingungen bei allen
Fällen, bei denen Aktivität des Leerlauf-Netzwerks festgestellt wurde, gleichermaßen gegeben waren.
Nämlich fehlende Informationen von außen. Durch diesen Mangel an „Input“ wird das Gehirn
anscheinend dazu veranlasst eigenständig weiterzuarbeiten. Ein Wissenschaftler, der sich auch mit
diesem Phänomen befasst, ist der Neuroendokrinologe Jan Born von der Universität Lübeck. Er
untersucht die Vorgänge im Gehirn im Schlaf und ist davon überzeugt, dass der Ausdruck „Leerlauf“
für diese Hirnaktivität völlig unpassend ist. Ganz im Gegenteil:
„Für den abgeschotteten Zustand des Gehirns, den Marcus Raichle mit »Default-Modus« beschrieben
hat, verwendet der Schlafforscher lieber das Wort »Offline-Modus« – vergleichbar mit einem
Computer, der keinen Zugang zum Internet hat und nur auf die Informationen auf seiner Festplatte
zugreifen kann. … »Der Input, den Hör- und Sehsinn uns normalerweise liefern, fehlt im Schlaf
vollkommen«, sagt er. »Das bedeutet aber nicht, dass wir deshalb in einen Leerlauf fallen, wenn wir
schlafen. Tatsächlich erledigt unser Gehirn in diesen Phasen eine lebensnotwendige Aufgabe: Es käut
das wieder, was wir vor dem Einschlafen erlebt haben. «“ (siehe Quelle E)
Dass diese Informationsverarbeitung und Sortierung auch möglich sind, wenn wir uns langweilen,
kann man sowohl aufgrund der neurobiologischen Messungen, als auch aufgrund unserer
Erfahrungen aus dem Alltag annehmen. Man stelle sich folgende Situation vor: Man kommt spät
abends von einem großartigen Konzert zurück, ist auf dem Weg nach Hause, verpasst gerade eben
den einzigen Bus, den man nehmen kann, muss eine Stunde auf den Nächsten warten und was
passiert, während man resigniert beobachtet wie der Zeiger über das Ziffernblatt der Armbanduhr
kriecht? Die Erlebnisse und Eindrücke des Abends gehen einem nochmal durch den Kopf! Was
bewirkt aber nun genau diese Informationsverarbeitung durch das Leerlauf-Netzwerk? Laut einem
Hirnforscher Namens Gerhard Roth werden bei diesem Vorgang neue neuronale Verbindungen
geknüpft. Das heißt konkret, dass alte Informationen vom Gehirn noch einmal neu in Zusammenhang
gebracht werden und so kreatives Denken in Gang gebracht wird. Die Psychologen sprechen dabei
vom Serendipitäts-Prinzip. Dieses Prinzip besagt, dass zielgerichtetes Denken sich oft nur in
eingeschränkten Bahnen bewegt und die Kreativität im schlimmsten Fall regelrecht abwürgt. Die
Serendipität ist laut Definition »die zufällige Entdeckung von wichtigen, nicht gesuchten
Erkenntnissen durch einen theoretisch vorbereiteten Geist« (siehe Quelle F Seite 3). Also
Geistesblitze durch Nichtstun. Das, was durch diese Serendipität entsteht würde ich daher als Muße
bezeichnen. Denn die Fähigkeit aus alten Kenntnissen neue Ideen zu gewinnen, ist eine
Voraussetzung um schöpferisch Tätig zu werden. Insofern kann man die Muße als positives
Gegenstück zur Langeweile sehen: Bei der Langeweile wird man unabsichtlich untätig, bei der Muße
unabsichtlich schöpferisch tätig. Nur bleibt die Frage offen wann aus dem Nichtstun die Langeweile
und wann die Muße resultiert. Oder bedingt das eine das andere? Hat die Langeweile doch einen
Nutzen?
Um der Antwort auf diese Fragen näher zu kommen, werde ich nun kurz einige Einschätzungen aus
der Philosophie zu diesem Thema einstreuen. Den Anfang macht Immanuel Kan mit seinen
Überlegungen zur Anthropologie, der Lehre vom Menschen selbst. Aus Kants Sicht gliedert sich die
Untersuchung der Anthropologie grob in zwei Bereiche: Die Physiologische, bei der
entwicklungsgeschichtliche und biologische Fragen eine Rolle spielen und die Pragmatische, die auf
die Frage hinzielt „was der Mensch als frei handelndes Wesen aus sich selber macht, machen kann,
oder machen soll“ (siehe Quelle G S. 27) und zur der auch seine Untersuchung der Langeweile zählt.
Er erörtert die Langeweile unter der Betrachtung von Lust und Unlust, die man Zeit seines Lebens
empfindet, wobei aus Lust Vergnügen und aus Unlust Schmerz resultiert. Für ihn ist das ganze Leben
ein Wechselspiel dieser beiden Gefühle, die man sich mittels seiner Sinne verschafft. Empfindet man
Vergnügen möchte man in diesem Zustand verweilen, während man versucht dem Schmerz zu
entkommen. Vergnügen sorgt für Stillstand, Schmerz für Änderung. Weiter stellt Kant fest, dass jedes
Vergnügen immer nur das Aufheben eines Schmerzes sein kann und der gesunde Zustand des
Menschen eine immer wieder neu stattfindende „Beförderung“ des Lebens aus einem
vorangegangenen Schmerz heraus ist. Nur durch Schmerz und die resultierende Verbesserung der
Lebensbedingungen wird unser Dasein und die Zeit unseres Lebens mit Inhalt gefüllt. In der
Langeweile aber, so Kant, ist das Wechselspiel zwischen Schmerz und Vergnügen aufgehoben. Man
empfindet weder eine Hemmung noch eine Beförderung der Lebenskraft. Obwohl die Zeit weiterhin
vergeht, wird sie durch nichts mehr ausgefüllt. Dadurch wird das Leben auf seine bloße Faktizität
reduziert und verursacht eine solche innere Leere an Empfindungen in einem, dass selbst der Tod vor
diesem „horror vacui“ vorzuziehen sei. Ganz ähnlich dachte Schopenhauer über dieses Thema.
Schließlich gibt es kaum einen Philosophen, der so sehr die Schattenseiten des menschlichen Daseins,
Krankheit, Leid, Schmerz, Egoismus und Tod hervorhebt. Nach Schopenhauer ist alles Leben im
wesentlichen Leiden und kosmologisch betrachtet sind wir eh alle nur ein winziger Fliegenschiss auf
dem Parkett des Universums. Es ist nicht verwunderlich, dass kein anderer so nachdrücklich die
lastende und lähmende Gestalt der Langeweile geschildert hat. Wie Kant meint er, dass die Basis
allen Wollens ein Mangel, also ein Schmerz, ist und Glück die vorübergehende Befreiung von Mangel.
Da jedoch auf jede Befriedigung immer ein neuer Schmerz folgt und man so immer wieder in der
Ausgangslage landet, ist das Erreichen von Glück für Schopenhauer keine Beförderung des Lebens
wie bei Kant, sondern nur ein bloßes und schnell wieder verfliegendes Hinwegtäuschen über den
Schmerz. Wenn man sich langweilt, so Schopenhauer, wird der Prozess der vorübergehenden
Wunschbefriedigung gehemmt und entsetzlich in die Länge gezogen. Der Wille strebt weiterhin nach
einem glücklichen Zustand, findet aber keinen Weg dazu. Daher entwickelt sich ein „Streben ohne
bestimmtes Objekt“, bei dem einem letztendlich die eigene Existenz an sich bewusst wird und damit
einhergehend die Gehaltlosigkeit derselben, die nur durch die Illusion des Begehrens
aufrechterhalten wird. Hätte das Dasein einen positiven Gehalt könnte es gar keine Langeweile
geben. Wie Kant sieht auch Schopenhauer eine Pendelbewegung in der menschlichen Existenz. Doch
bei ihm wechseln sich nicht Schmerz und eine Beförderung des Lebens ab. Stattdessen ist der
Mensch hin und her geworfen zwischen Schmerz und Langeweile. Den zwei Polen des Menschen,
denen niemand entrinnen kann. Am differenziertesten hat sich aber wohl Martin Heidegger mit der
Langeweile befasst. Er beginnt mit folgendem, etwas befremdlichen Befund: „In der Langeweile
werden wir von Langweiligem gelangweilt, sodass wir uns dabei langweilen.“ Diese Aussage mag auf
den ersten Blick völlig schwachsinnig erscheinen. Genauer betrachtet enthält sie aber auf den Punkt
gebracht drei Erscheinungsformen der Langeweile, die Heidegger unterscheidet: Die erste ist das
Gelangweilt werden von etwas, die zweite das Sichlangweilen bei etwas und die dritte, das „es ist
einem langweilig“. Ähnlich wie bei meiner eigenen Zwischenbilanz der möglichen Ursachen der
Langeweile bei der Arbeit, kategorisiert auch Heidegger die Langeweile nach ihren äußeren
Umständen. Heideggers erste Form von Langeweile, dem Gelangweilt werden von etwas, hat einen
identifizierbaren Gegenstand als Ursache. Die Umgebung lässt einen dabei so leer, dass man zu
keiner Informationsaufnahme fähig ist. Er stellt fest, dass dabei sowohl die Faktizität der eigenen
Existenz bewusst wird, als auch dass man sich zugleich hingehalten fühlt. Die Dehnung des
Zeitgefühls, so erkennt Heidegger, „bestimmt und trägt das innerliche Leerlassen“ (Quelle G S. 69).
Diese erste Form der Langeweile würde meine Langeweile bei der Arbeit mit beinhalten, also zum
Beispiel die Fließbandarbeiter. Bei der zweiten Form von Langeweile lässt sich die Langeweile
ebenfalls einer konkreten Situation zuordnen, aber im Gegensatz zur ersten Form geht die Leere, die
man empfindet, nicht von der Situation, in der man sich befindet, aus, sondern von einem selbst.
Man kann das vielleicht mit einem langweiligen Kaffeetrinken beschreiben. Man erleidet von diesem
Treffen keine riesigen Qualen, aber wird auch nicht wirklich davon ausgefüllt. Das entscheidende ist
die Gleichgültigkeit mit der man an die Situation herangeht. Heidegger sagt: „man plätschert so mit.“
Man entscheidet sich für Handlungen, die einen leer lassen. Diese Form würde ich als eine Art
Zwischenform, die ich in meiner Bestandsaufnahme nicht behandelt habe, zwischen der Langeweile
bei der Arbeit und bei der Langeweile während der Freizeit sehen. Denn ich denke, dass die
Langeweile aus einem selbst heraus in beiden Fällen vorkommen kann. Die dritte und letzte Form
besagt: Es ist einem langweilig. Hier geht es um die existenzielle Langeweile, die einzige Form der
Langeweile die von Schopenhauer und Kant beschäftigt hat. Insofern geht Heidegger also wesentlich
präziser vor als seine Vorgänger. Sie wird spürbar wenn einem sowohl das Seiende, als auch das
eigene Ich gleichgültig werden. Alles bedeutet einem gleich viel und gleich wenig. Wie auch Kant und
Schopenhauer erkennt er in der Langeweile ein Stocken des Lebensprozesses durch die totale
Entleerung dessen Inhalts. So kann man Zusammenfassen, dass bei der ersten Form von Langeweile
wenigstens noch ein Gegenstand identifizierbar war, der sie bedingt, in der Zweiten Form dieser
feste Gegenstand bereits eingebüßt wird und in der letzten Form auch das Ich leergefegt wird. Nach
Heidegger kann man nur von anderen Dingen oder Menschen gelangweilt werden, „weil im Grunde
des Daseins diese ständige Möglichkeit – das >es ist einem langweilig< - lauert.“
(siehe Quelle G S. 79)
Also abschließend ein durchweg negativer Umriss der Langeweile. Dennoch wird in allen drei
Ausführungen nochmals untermauert von welcher existenziellen Bedeutung die Langeweile für den
Menschen ist und dass es trotz der vermeintlichen Banalität des Themas Sinn macht, sich damit zu
befassen. Wie sieht es also aus mit dem Nutzen oder Unnützen der Langeweile? Schopenhauer und
Kant waren der Überzeugung, dass die Langeweile, obwohl sie uns so unerträglich ist, nicht als
antreibender Schmerz dienen kann. Verständlich also, dass in der heutigen Gesellschaft eine
regelrechte Angst vor der Langeweile herrscht. In der Antike gab es eine strikte Trennung von Arbeit
und Freizeit. Nur wer frei von Arbeit war konnte auch wirklich frei sein. Ein anderes Bild bietet sich in
unserer heutigen kapitalistisch orientierten Gesellschaft. Von den Managern großer Unternehmen
wird die Freizeit genauso durchgeplant wie der Beruf. Die Freizeit ist kein Selbstzweck sondern Mittel
zur Erholung und Gewinnmaximierung. Und obwohl wir uns in einem derart wohlhabenden Zeitalter
befinden, dass man sich jegliches Nichtstun leisten könnte, packt man auch in den Ferien den
Terminkalender voll mit Freizeitaktivitäten. Bloß keinen Moment ungenutzt lassen! Das Nichtstun
und die Langeweile sind generell negativ konnotiert. Niemand möchte als Langweiler gelten. Man
muss den Begriff Langeweile nur einmal in die Suchmaschine seiner Wahl eintippen. Finden kann
man Seiten wie „ich-habe-langeweile-und-schreibe-nur-mist.de“. Aus Langeweile kommt nur
Unnötiges zustande. „Der Typ hat doch wirklich zu viel Zeit!“ ist die landläufige Meinung. Ich glaube,
dass dem nicht so ist, zumindest solange man sich noch im Bereich der Langeweile mit Konkreter
Ursache befindet. Gerade evolutionsbiologisch macht die Entwicklung der Langeweile durchaus Sinn.
Und zwar aufgrund eines simplen Problems, das unser Gehirn ohne sie hätte. Sehr schön illustriert
hat das Douglas Adams in seinem Roman „Einmal Rupert und zurück“:
„Alles, was logisch denkt, kann von etwas anderem ausgetrickst werden, das mindestens ebenso
logisch denkt, wie es selbst. Der einfachste Weg einen völlig logisch denkenden Roboter
auszutricksen, besteht darin, ihm immer und immer wieder dieselbe Reizfolge einzugeben, bis er in
einer Schleife festhängt. Demonstriert wurde dies durch die berühmten, bereits vor Jahrtausenden
am MILSEÜO (Maxi-Megalonisches Institut für Langsame und Schmerzhafte Erforschung des
Überraschend Offensichtlichen) durchgeführten Heringsandwich-Experimente. Man hatte einen
Roboter darauf programmiert zu glauben, er möge Heringsandwiches. Das war eigentlich der
schwierigste Teil des gesamten Experiments gewesen. Nachdem man den Roboter darauf
programmiert hatte zu glauben, er möge Heringsandwiches, wurde ein Heringsandwich vor ihm
abgelegt. Woraufhin der Roboter sich dachte: >> Ah! Ein Heringsandwich! Ich mag
Heringsandwiches! << Anschließend beugte er sich vor, schaufelte sich das Heringsandwich in seine
Heringsandwich-Klappe und richtete sich wieder auf. Zu seinem Unglück war der Roboter allerdings
so konstruiert, dass das Heringsandwich infolge des Aufrichtens sofort wieder aus seiner
Heringsandwich-Klappe rutschte und dem Roboter vor die Füße fiel. Worauf der Roboter sich dachte:
>> Ah! Ein Heringsandwich…! << usw. und den Vorgang wieder und wieder und wieder wiederholte.
Dass sich das Heringsandwich dabei nicht staubig langweilte oder einfach davonkrabbelte, um sich
einen netteren Zeitvertreib zu suchen, lag bloß daran, dass es letzendlich nur aus einem toten Stück
Fisch und zwei Brotscheiben bestand und sich dessen, was eigentlich vorging, noch geringfügig
weniger bewusst war als der Roboter selbst. Auf diese Weise enthüllten die Wissenschaftler des
Instituts die treibende Kraft hinter allen Veränderungen, Entwicklungen und allem Fortschritt im
Leben, nämlich: Heringsandwiches. Sie veröffentlichten eine Abhandlung über diesen
Zusammenhang, die allgemein als extrem dumm kritisiert wurde.“
(siehe „Einmal Rupert und zurück“ S.66-67)
Tatsächlich geht es auch mir hier nicht um praktische Funktionen von Heringsandwiches sondern
immer noch um Langeweile. Ich denke, dass sie genauso wie sie einen existenziellen Bestandteil des
Lebens ausmacht auch eine treibende Kraft für Veränderungen ist. Selbst wenn der Mensch von
seiner Determinierung her in allen Bereichen befriedigt wäre, wie der Roboter, der Sandwiches durch
die Gegend fliegen lassen würde, bis er verrostet ist, kommt die Langeweile als ein irrationaler
Mangel ins Spiel, der wieder für eine Beförderung des Lebens sorgen kann und so nach Kant das
Leben wieder mit Sinn füllt. Auf dieser Ebene könnte man die Langeweile daher als
Schutzmechanismus unseres Gehirns, davor in einer Schleife von immer gleichen Verhaltensmustern
festzuhängen, bezeichnen. Damit wird ein Grundprinzip der Evolution auf das Verhalten übertragen:
Verbesserung durch willkürliche Innovation. Demnach wäre die alles entleerende dritte Art der
Langeweile nach Heidegger eine Art Überreaktion dieses Schutzmechanismus. Tritt aber Langeweile
während der Arbeit auf, ist das ein dringendes Zeichen, dass eine Änderung nötig ist. Wie man bei
den Opelarbeitern eingangs festgestellt hat, hat ein Ignorieren dieser Schutzfunktion sogar konkrete
negative Auswirkungen auf die Leistung des Gehirns zur Folge. Daher ist in diesem Bereich des
Lebens eine Pathologisierung der Langeweile tatsächlich sinnvoll, weil sie die betroffenen tatsächlich
schädigt. Anders sieht es jedoch im Bereich der Freizeit aus. Zur Gestaltung der Freizeit lässt sich
nämlich kein so eindeutiges Urteil über die Langeweile treffen. Als Schutz vor der Langeweile sucht
man permanent Zerstreuung in Freizeitaktivitäten, oder heutzutage Eben auch am leichtesten, dem
Internet. Aus der Philosophie hat man leider gelernt, dass man auch dadurch der Langeweile nur
vorübergehend entgehen kann. Man begegnet ihr also zwangsläufig früher oder später. Und welche
Möglichkeiten bietet das Nichtstun? Aufgrund des Serendipität-Prinzips, das in unserem Hirn
existiert, kann man davon ausgehen, dass Nichtstun während der Freizeit zu Inspiration und Muße
führen kann. Doch im Nichtstun lauert auch wieder der Mittagsdämon vor dem es Schopenhauer und
Kollegen so graut. Aufgrund dessen und vielleicht auch wegen dem anerzogenen Drang zur Aktivität
in der heutigen Leistungsgesellschaft, fällt es wohl vielen schwer sich auch einfach mal auf das
Nichtstun einzulassen. Niemand anders als Loriot alias Vicco von Bülow hat es geschafft diesen Tick
unseres kollektiven Bewusstseins so präzise auf den Punkt zu bringen wie er es mit diesem Trickfilm
getan hat:
http://www.youtube.com/watch?v=6hDUBd-Sni0
Die Langeweile ist ein Zustand mit dem sich jeder auseinandersetzen muss und ich denke je
gehetzter man versucht sich ihm zu entziehen, desto härter fällt er wieder auf einen zurück. Denn in
der Langeweile werden wir mit uns selbst konfrontiert und je besser man sich mit der Langeweile
arrangieren kann, desto besser kann man sich folglich auch mit sich selbst arrangieren. Non-Stop
Internetanbindung und pausenlose Zerstreuung sind nicht die Lösung. Im Bereich der Muße und
Inspiration wird man so ehr abgestumpft. Deshalb empfehle ich den Mut zur Langeweile.
Quellenangabe:
A: http://www.welt.de/wissenschaft/article9240039/Fliessbandarbeiter-altern-schneller-im-Kopf.html
B: http://www.sueddeutsche.de/wissen/gemischte-gefuehle-langeweile-windstille-der-seele-1.1010752
C: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,533315,00.html
D: http://www.legasthenietherapie-info.de/news-103.html
E: http://www.zeit.de/2010/01/N-Gehirn-im-Leerlauf/seite-2
F: http://www.zeit.de/2010/49/Geistreiches-Nichtstun
G: „Besuch vom Mittagsdämon – Philosophie der Langeweile“ von Friedhelm Decher
Außerdem:
-http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,443706,00.html
-http://www.spiegel.de/spiegelwissen/0,1518,726230,00.html
-„Einmal Rupert und zurück“ von Douglas Adams
-Video „Feierabend“ aus dem Kanal auf Youtube.com von „loriotclassics“

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