Alberto Gerosa - Andrej Belyjs "Die silberne Taube"

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Alberto Gerosa - Andrej Belyjs "Die silberne Taube"
Andrej Belyjs Die silberne Taube
Die silberne Taube ist der erste Roman des russischen symbolistischen Autors Andrej Belyj Pseudonym von Boris Bugaev (1880-1934) -. Er entstand 1909.
Die Handlung des Romans spielt sich am Vorabend der russischen Revolution von 1905 ab. Der
Städter und Dichter Peter Darjalskij versucht, seine innere Unruhe und seine Sehnsucht nach einer
sozialen Bestimmung zu stillen, indem er die Großstadt verläßt und sich in die Provinz begibt, wo
seine Braut Katja bei ihrer Großmutter, der Baronin Todrabe-Graaben, wohnt, und er sich dem
Volk annähert und sich seinen Sitten anpaßt. Während seines Aufenthaltes am Land begegnet
Darjalskij Matrena, der Magd des Tischlers Kudejarow, einem „pockennarbigen Weib“, das eine
mysteriöse Anziehung auf Peter auszuüben vermag. Matrena läßt Darjalskij in ihren Bann geraten,
weil sie einer Sekte angehört, deren Haupt der alte Tischler ist und deren Angehörige sich
„Tauben“ nennen, die davon überzeugt sind, das von der Union zwischen dem jungen Peter und
Matrena erzeugte „Kind der Taube“ werde den Anfang eines neuen, im Zeichen des Heiligen
Geistes befindlichen Zeitalters einleiten. Nach einer Auseinandesetzung, bei der die Baronin den
exzentrischen Kasaner Chemie-Studenten Tschucholka, der seinen ehemaligen Studienkollegen
Darjalskij besucht, beleidigt und Peter, der ihn verteidigt hatte, ohrfeigt, beschließt Darjalskij, das
Gut der Baronin und Katja zu verlassen und begibt sich ins nahe Dorf Zelebeewo, wo er sich auf
ein tief sinnliches, ja sogar wildes Verhältnis mit Matrena einläßt und ein neues Zuhause in der
Hütte Kudejarows, dessen Geselle er auch wird, findet. Darjalskij glaubt, sich dem Einfluß von
Matrena und den „Tauben“ entziehen zu können, indem er sich von seinem Freund Schmidt, einem
alten Sommergast der Gegend, der sich mit Astrologie und Magie beschäftigt, beraten läßt und dem
Ratschlag folgt, Zelebeewo zu verlassen, aber die Sekte fängt ihn und bringt ihn in einem rituellen
Mord um.
Eines der faszinierendsten Elemente dieser schaudernerregender Geschichte ist, daß sie sich nicht in
einer unbestimmten, fernen Vergangenheit abspielt, sondern sie ist durchdrungen von der Aktualität
der Zeit, in der sie entstand, und zwar in all ihrer Brisanz. Nicht nur kommen im Roman barocke
Beschreibungen von „Maschinen“1, die wie von Herren mit jüdisch-tatarischen Gesichtszügen
gefahrene „rote Teufel“2 durch das Land sausen, vor; nicht nur widerhallen auf den Feldern und in
den Teestuben der tiefen russischen Provinz u. a. die Lieder vom Burenkrieg („Transvaal, mein
Heimatland, du brennst in Kampfesglut. In des Baumes Schatten der tapfre Bure ruht“3) und
kursieren Gerüchte über die Anwesenheit von japanischen Agenten, die das Volk aufwiegeln4 (die
Handlung spielt sich ja in der Zeit des russisch-japanischen Krieges ab), sondern die Unruhen unter
den Bauern sind ein Motiv, das durch die ganze Erzählung immer wieder derart auftaucht, daß man
den Eindruck einer in die Zeit verschiebbaren, doch nicht mehr zu vermeidenden Abrechnung
gewinnt. Die Unruhe, die auf dem russischen Lande herrscht, kommt bald in den sozialistischen
Losungen, die von den Bauern formuliert werden, bald in den Erwähnungen von damaligen
politischen Gruppierungen wie den Sozialrevolutionären oder den Sozialdemokraten, bald in den
Hinweisen auf die häufigen Streiks, Brandstiftungen und Aufstände am Lande durch die Bauern
1
Andrej Belyj, Die silberne Taube, Insel Verlag: Frankfurt am Main, 1987, S. 239.
Ebd.
3
Ebd., S. 337.
4
Vgl. ebd., S. 54.
2
und revolutionäre Popen zum Ausdruck. Ferner, so widerspruchsvoll eine solche Überlappung auch
immer sein mag, ist eine grundsätzliche Ähnlichkeit zwischen den Vorgehensweisen und den
Anforderungen der mystischen Sekte der „Tauben“ und denjenigen der antireligiösen Bewegungen,
von denen im Roman die Rede ist, festzustellen. Genauso wie eine subversive linke Gruppe druckt
die Sekte Aufrufe, die „das Volk gegen die Popen und gleichzeitig gegen die Obrigkeit
aufhetzten“5; wie in einer gut disziplinierten Terrorgruppe beauftragen ihre Häupte einen ihrer
Angehörigen „nicht nur eine geheime Miliz aufzustellen, sondern diese Miliz auch den streikenden
Sozialisten abspenstig zu machen; außerdem sollte er ihr die Gesetze des neuen Glaubens
beibringen und auf diese Weise eine Art Freiwilligentruppe für die ,Taubengemeinschaft’
schaffen“6 und folglich kommt sie wie alle revolutionären Gruppierungen unter die Lupe der
Polizei: „Man hatte beschlossen, politische Versammlungen und die Verteilung von Aufrufen für
eine Zeitlang einzustellen, denn die Polizei war den ,Tauben’ bereits auf der Spur; allzu
offenkundig hatten sie ihre Flugblätter mit dem schwarzen Kreuz in Lichow verteilt, und um ein
Haar wäre alles herausgekommen, denn nach den Unruhen in Gratschicha und der Rebellion des
Popen Nikolai hatte die Polizei in Lichow ganz besonders strenge Maßnahmen ergriffen, und nun
war sogar eine Eskadron Militär in die Stadt beordert worden“7 .
Schließlich schreibt Belyj selbst, daß die „Tauben“ „die Vereinigung der ganzen Welt in der Kirche
der ,Tauben’ und die Befreiung der Bauern“8 anstreben, in einer Synthese von mystischer und
sozialistischer Utopie. Oder von Vergangenheit und Gegenwart, wenn man so will. Oder, noch, von
Osten und Westen. Kein Zufall, daß Belyj plante, eine Roman-Trilogie zu verfassen, deren Titel
eben Vostok i Zapad — Osten und Westen und deren erster Teil eigentlich Die silberne Taube war.
Tatsächlich befaßte die Spannung dieser gegensätzlichen Pole Generationen von russischen
Intellektuellen seit der Zeit Peter des Großen über die Debatte zwischen Slawophilen und Westlern
bis zu den Symbolisten. Sowohl Mereschkowskij als auch Blok, Dobroljubow, Solov‘ev und,
selbstverständlich, Belyj selbst, haben diese Spannung erlebt und sie in einigen ihrer bedeutendsten
Werke auseinandergesetzt. Darjalskij weist laut Belyj selbst und laut den Kritikern Züge von all
diesen Autoren auf. In der Berliner Redaktion seiner Erinnerungen, Natschalo veka — Der Anfang
des Jahrhunderts, schreibt Belyj u. a.: „... Alle Typen der „Taube“ setzten sich aus verschiedenen
Zügen von sehr vielen Leuten, die ich in der Wirklichkeit gekannt habe […], zusammen: eine Reihe
von den Zügen Darjalskijs ist S. M. Solov‘ev abzuschreiben“9. Sergej Michajlowitsch Solov‘ev
(1885–1942) war Dichter, Schriftsteller, mit dem berühmten und für den russischen Symbolismus
besonders wichtigen Philosophen Vladimir Solov’ev verwandt und jahrelang enger Freund Belyjs.
Die Parallelen zwischen dem Protagonisten der Silbernen Taube und Solov‘ev sind zahlreich und
sehr deutlich auf allen Ebenen, vom Aussehen über die biographischen Erlebnisse bis zu den
weltanschauulichen Einstellungen. Wie Solov‘ev, hatte auch Darjalskij seine Eltern früh verloren;
wie Darjalskij genoß Solov‘ev eine Ausbildung im Bereich der Philologie der Antike und glaubte,
unter den russischen Bauern das Erbe Griechenlands zu erkennen: Belyj erinnert, daß er „den
Mythos der Hellas mit der erfundenen Legende über den russischen Bauern vereinigte; er sah […]
5
Ebd., S. 76.
Ebd., S. 211.
7
Ebd., S. 261.
8
Ebd., S. 220.
9
Vgl. A. V. Lavrov, Dar‘jalskij i Sergej Solov‘ev - O biographitscheskom podtekste v «Serebrjanom golube» Andreja
Belogo, in: Novoe literaturnoe obozrenie, N. 9: Moskau, 1994, S. 94.
6
in dem Tanz nach den Tönen der Ziehharmonika den Tanz auf den Elysischen Feldern“10. In der
Silbernen Taube schreibt Belyj über Darjalskij: „Er hatte sich eine neue, sonderbare Wahrheit
geschaffen […]. Diese Wahrheit war höchst widersinnig und unglaubwürdig und bestand in
folgender Idee: er glaubte, daß das Hellenentum, das seiner Meinung nach dem russischen Geiste
verwandt war, in dem Herzen des russischen Volkes weiterlebe. In den Riten der griechischkatholischen Kirche, in den rückständigen Begriffen des orthodoxen (nach seiner Ansicht
heidnischen) Bauern sah er ein neues Licht, das Licht eines kommenden neuen Hellenentums.“11
Diese verklärte, intellektualisierende, abstrakte Auffassung des russischen Volkes, durch die sich
außer Solov‘ev und dem Protagonisten des belyjschen Romans Mengen anderer Autoren und
Denker auszeichneten — jetzt sei nur Leo Tolstoi mit seiner Lehre des sblischenie k narodu —
Annäherung dem Volk erwähnt — wird sich für Darjalskij als einen verhängnisvollen Fehler
erweisen. Der Fehler Darjalskijs und aller anderen, die dieser Auffasung sind, besteht darin,
Rußland durch die westlichen Kategorien auszulegen, oder, genauer gesagt, das auf das Westliche
unreduzierbare Östliche Rußlands zu übersehen. Rußland hat wenig mit der aus dem Hellenentum
stammenden Zivilisation zu tun, über die Thomas Mann in seinen Betrachtungen eines
Unpolitischen schreibt, sie zeichne sich durch den dem Wort und der französisch-anwälterischen
Rhetorik gegebenen Vorrang aus, sondern es gehört — wie Deutschland, behauptet Thomas Mann
— jener Kultur, die den Vorrang der Musik und dem Schweigen und somit den in Worten
unaussprechlichen Geheimnissen der Seele gibt. Im Kapitel Der Fischfang schreibt Belyj: „Eine
Unmenge Worte, Laute, Zeichen hat der Westen zum Erstaunen der Welt hervorgebracht. Aber
diese Worte, Laute und Zeichen sind Blendwerk, das die Menschen fortlockt — wohin? Das
schweigsame russische Wort aber, das von dir ausgeht, bleibt bei dir: ein Gebet ist dieses Wort.
[…] Im Westen herrscht das gesprochene Wort. Aber das Wort ist nicht die Seele: die Seele trauert
um das Unsagbare, sehnt sich nach dem Unausgesprochenen. […] Viele Bücher hat der Westen,
viele ungesagte Worte das weite Rußland. Rußland ist der Fels, an dem das Buch zerschellt, das
Wissen zu Staub wird, an dem sich das Leben selbst entzündet.“12 Belyj scheint in seinem Roman,
die Meinung zu vertreten, daß der Sieger dieses Kampfes der Osten sein wird. Die Figur von Pawel
Pawlowitsch Todrabe-Graaben, der aus dem „westlichen“ Petersburg kommt, den typisch
westlichen Beruf des Juristen ausübt und in die Provinz fährt, um die Angelegenheiten seiner
Mutter, der Baronin, zu ordnen und dabei umsonst versucht, Darjalskij von der hypnotischen
Anziehung durch Matrena und Kudejarow zu retten, ist sich wohl bewußt, daß der von ihm
verkörperte Westen und seine feinen, aber in ihrer Feinheit abstrakten und somit lebensfernen, ja
sogar einigermaßen lebensfeindlichen Werte (wovon sein auf den Tod hinweisender Familienname
ein typischer nomen omen ist), zur Dekadenz verurteilt ist, wobei die Zukunft dem Osten — und
dem Süden — gehört: „Die Russen degenerieren, und die Westeuropäer auch. Nur die Mongolen
und die Neger vermehren sich noch.“13 Um so mehr, daß in den Genen des russischen Volkes das
Östliche steckt, weswegen sie besonders dazu neigen, sich eigenwillig dem Osten zu unterwerfen:
„Rußland ist ein mongolisches Land; wir haben alle Mongolenblut, und deshalb können wir den
10
Andrej Belyj, Meschdu dvuch revolutsij, S. 80.
Andrej Belyj, Die silberne Taube, S. 139.
12
Ebd., S. 299-301.
13
Ebd., S. 305.
11
gelben Sturm nicht aufhalten: früher oder später müssen wir uns alle vor dem Kaiser von China in
den Staub werfen ...“14, sagt der Petersburger Justizsenator zu Darjalskij.
Die Blendung durch das als Heimliches mißverstandene Unheimliche war derart groß, daß sich
Sergej Solov‘ev auf dem Land in eine Köchin namens Elenka verliebte, weil er in ihr eine Art
Verkörperung der homerischen Helena erkannte, und daß Darjalskij in dem pockennarbigen,
„groben, liederlichen Bauernweib“15 Matrena, einer wahrhaftigen Besessenen, einer Hexe, eine Art
Madonna zu sehen vermochte. Diese Verwechslung von Dämonischem und Göttlichem läßt eine
weitere eingebende Persönlichkeit für die Figur Darjalskijs erahnen: Aleksandr Blok. Bloks
Prekrasnaja Dama stellt die Verkörperung des Ewig-Weiblichen, die Heilige dar, und doch weist
sie zugleich als „Unbekannte“ die Auszeichnungen einer Prostituierten auf. Das mag mit der
Faszination zusammenhängen, die Blok — genauso wie Darjalskij — für die unter dem Volk
verbreiteten Sekten empfand. Blok suchte im russichen inoffiziellen, der Orthodoxie abweichenden
Volksglauben jene dauerhafte, mystische Wahrheit, die er in den zahlreichen Bekenntnissen, die die
russischen Dekadenten mehr als Moden als Wahrheiten übernahmen, nicht finden konnte: „Es ist
lustig, sich das […] Häufchen der russischen Intelligenz, die im Laufe eines Jahrzehntes einen
Haufen Weltanschauungen wechselte und sich in 50 feindliche Parteien teilte, und das
Vielmillionenvolk, das seit dem XV. Jahrhundert einen und denselben […] hartnäckigen Gedanken
über Gott (in der Sektiererei) vertritt, anzuschauen“16. Dieselben Kreise gelten auch der
Verspottung Belyjs in der Silbernen Taube: „Eine […] junge Dame zuckte nur die Achseln, wenn
von Rußland die Rede war, und später pilgerte sie zu Fuß nach Sarow. Ein Sozialdemokrat lachte
über den Aberglauben des Volkes — und wie endete er? Er trat plötzlich aus der Partei aus und
tauchte dann bei der Geißlersekte in Nordostrußland auf. Ein Dekadenter beklebte die Wände
seines Zimmers mit schwarzem Papier und tat andere, ähnlich verrückte Dinge. Mit einem Mal
verschwand er; nach vielen Jahren sah man ihn wieder — als Pilger.“17 Die Bloksche Prekrasnaja
Dama — Neznakomka teilt nicht wenige ihrer Züge mit der Muttergottes der Chlysty (Geißler).
Tatsächlich besuchte Blok 1908 die Versammlungen der Chlysty18, wozu sicher die Bekanntschaft
mit N. Kljuev beitrug. Wie M. M. Bachtin in seinen der Silbernen Taube gewidmeten Seiten
schreibt, „In […] der Sekte der Chlysty haben der Heilige Geist und die Muttergottes den Vorrang
über dem Vater und dem Sohn. Der Heilige Geist verklärt alles, und diese Verklärung ist nicht nur
eine geistige, sondern auch eine körperliche, sinnliche, sexuelle. Die religiöse Offenbarung taucht
nur im Moment der körperlichen Offenbarung auf: in der Geburt, wo der Heilige Geist geboren
wird. Daher gibt es bei den Chlysty eine eigene Muttergottes, die als die am meisten sinnlich
anregende ausgewählt wird.“19 Auch Pawel Florenskij merkte „die tiefen Berührungspünkte
zwischen den ,Versen des feinsten russischen Dichters’ und den ,Gedanken der gröbsten russischen
Sekte.’“20 Übrigens, obwohl Belyj verneinte, daß die „Tauben“ seines Romans eine literarische
14
Ebd.
Ebd., S. 216.
16
Aleksandr Blok, in: Sobranie sotschinenij, VIII, Moskau, Leningrad: 1960-1963, S. 219.
17
A. Belyj, Die silberne Taube, S. 301.
18
Vgl. V. N. Toporov, O »blokovskom« sloe v romane Andreja Belogo «Serebrjanyj golub‘», in: Moskva i „Moskva“
Andreja Belogo. Sbornik statej, Izdatel’stvo RGGU, 1999, S. 221.
19
M. M. Bachtin, Zapisi kursa lektsii po istorii russkoj literatury, in: Sobranie sotschinenij, T. 2, «Russkie slovari:
Moskau 2000, S. 330.
20
V. N. Toporov, O »blokovskom« sloe v romane Andreja Belogo «Serebrjanyj golub‘», S. 220.
15
Tarnung der Chlysty seien, bleibt die Ähnlichkeit zwischen der Lehre dieser Sekte und der
Handlung der Silbernen Taube verblüffend.
Darjalskij sagt: „Rußland birgt ein unsagbares Geheimnis in sich“21. Diesen Satz könnte man so
ummünzen: „Die silberne Taube birgt ein unsagbares Geheimnis in sich“. Vor allem die Natur, eine
beseelte, fast schellingsche Natur: Das Gestrüpp, das Abendrot scheinen beseelt zu sein, ja sogar in
verschiedenen Stellen scheint es Darjalskij, daß sie ihm zuflüstern. Wahrscheinlich hängt das mit
der Lehre Gogol‘s, der ein Meister der Beseelung des Unbeseelten war, zusammen. Schließlich sind
die Hinweise auf Gogol‘ im Roman zahlreich und deutlich. Sowohl der Ort Gugolewo, wo sich das
Gut der Familie Katjas befindet, der die idyllische, gütige Seite der ansonsten bedrohlichen
Gegenden von Zelebeewo und Lichow darstellt, als auch der Name des Generals Tschishikow sind
dankbare Hinweise, bald durch die phonetische Ähnlichkeit mit dem Name des Autors der
Vetschera na chutore bliz Dikan’ki — Abende auf dem Vorwerk bei Dikan’ka, bald durch die
Identität mit dem Name des Protagonisten der Toten Seelen verdeutlicht, auf den Meister Belyjs,
dem der symbolistische Autor ein umfangreiches Essay, namens Masterstvo Gogolja — Die
Meisterschaft Gogol’s, widmete.
Noch geheimnisvoller ist aber die prophetische Macht dieses Romans. Die silberne Taube ist
nämlich nicht nur prophetisch in ihrer Schilderung einer kommenden Revolution, sondern in der
Figur des Tischlers Kudejarow verrät sie verblüffende Ähnlichkeiten mit dem kurz nach der
Erscheinung des Romans beim Zarenhof großes Ansehen gewinnenden, rätselhaften sibirischen
Bauern und Mystiker Rasputin. Belyj selbst war sich dieser seiner prophetischen Gabe wohl
bewußt: „Ich spürte den Rasputinschen Geist vor der Erscheinung in der Öffentlichkeit Rasputins;
ich habe ihn in der Figur meines Tischlers erfunden; sie ist die ländliche Vergangenheit
Rasputins“22. Und als genauso prophetisch erweist sich der Roman Belyjs, wenn er nach der
Erwähnung von den „Worten eines Dichters, den er früher einmal sehr liebte“23: „Budto ja v
prostranstvach novych — v beskonetschnych vremenach“ — „Wie in neuen Weiten / bis in alle
Ewigkeit“24, schreibt, daß, wenn dieser Dichter „in der Stadt bleiben wird, wird er sterben“. Die
Worte wurden oft in kleinen Variationen von Belyj und Blok verwendet, und scheinen eine
Anspielung auf den 1921 erfolgten Tod Bloks zu sein, der in der Enge und in der für ihn
unzureichend, unerträglich gewordenen Luft des sowjetischen Petrograds erstickte …
Alberto Gerosa ([email protected])
21
Andrej Belyj, Die silberne Taube, S. 305.
Andrej Belyj, Meschdu dvuch revoljutsij, S. 215.
23
Vgl. Andrej Belyj, Die silberne Taube, S. 303.
24
Ebd.
22