Andrej Belyj, ein russischer Schriftsteller im „braunen

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Andrej Belyj, ein russischer Schriftsteller im „braunen
Andrej Belyj, ein russischer
Schriftsteller im „braunen“
Berlin
Literaturessay
von
Hanns-Martin
Wietek
(weitere
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Es war das sogenannte Silberne Zeitalter in der russischen
Literatur – die Zeit der russischen Symbolisten Anfang des 20.
Jahrhunderts. Politisch gesehen war es eine schlimme Zeit:
zwei Revolutionen (1905 und 1917), der Russisch-Japanische
Krieg (1904/05), der Erste Weltkrieg und (in der Folge)
mehrere Wellen der Emigration aus Russland. Literarisch
gesehen war es eine höchst fruchtbare Zeit: Mit
Schriftstellern wie Dmitrij Merežkovskij, Konstantin Balmont,
Zinaida Gippius, Fëdor Sologub, Aleksandr Blok und Andrej
Belyj gelangte die russische Literatur zu neuer Blüte.
Andrej Belyj, eigentlich Boris Nikolaevič Bugaev (*14.
jul
. /
26. greg. Oktober 1880 in Moskau, †8. Januar 1934 in Moskau),
war einer der bedeutendsten von ihnen.
Sein Vater war Professor für Mathematik an der Universität in
Moskau und seine Mutter eine glühende Musik- und
Literaturliebhaberin. Die Eltern bildeten zwei Pole, zwischen
denen der junge Andrej unaufhörlich hin und hergerissen war.
Die Anerkennung, die er von seinen Eltern nicht bekam, als er
mit 16 Jahren anfing, Gedichte und Prosa zu schreiben, bekam
er von der Familie des Religionsphilosophen Vladimir Solovëv,
die im selben Haus auf dem Moskauer Arbat wohnte wie er;
Vladimir Solovëv wurde prägend für seine geistige und
künstlerische Entwicklung. Unter dem Einfluss von Friedrich
Nietzsches Denken und Richard Wagners Musik schuf er seine
ersten symbolistischen Werke: Prosadichtungen, die wie
musikalische Kompostionen aufgebaut sind und die er
„Sinfonien“ nennt. 1903 lernt Belyj Aleksandr Blok kennen, mit
dem ihn bis zu dessen Tod 1921 eine enge Freundschaft mit
extremen Höhen und Tiefen verband und in dessen Frau er sich –
nach einer Dreiecksbeziehung mit Valeri Brjusov und Nina
Petrovskaja – verliebte. 1906 „flüchtete“ er für drei Monate
nach München, wo er Rudolf Steiners Anthroposophie
kennenlernt, in der er später die Erkenntnis seines Leben
finden sollte. Drei Jahre später lernte er die Frau kennen,
die zu seinem Schicksal wurde: Asja Turgeneva, die Großnichte
von Ivan Turgenev. Zusammen machten sie ausgedehnte Reisen
durch die alte Welt und suchten, angeregt durch einige okkulte
Erfahrungen, im Mai 1912 Rat bei Rudolf Steiner in Köln. Von
da an waren sie seine glühenden Verehrer und Schüler und
wichen ihm nicht mehr von der Seite. 1913 veröffentlichte
Belyj seinen Roman Petersburg, der heute als das
symbolistische Hauptwerk schlechthin gilt, aber schon für die
Zeitgenossen schwer verständlich war. Es bedarf großen
philosophischen und anthroposophischen Wissens, um diesen
mysterienhaften, symbolischen Roman zu verstehen – wer es hat,
wird ihn genießen.
Ab 1914 halfen er und Asja im anthroposophischen Zentrum in
Dornach beim Aufbau des Goetheanum und 1916 fuhr er allein
nach Moskau zurück, weil er glaubte, bald zum Kriegsdienst
einberufen zu werden. Dazu kam es zwar nicht, doch Belyj saß
fürs Erste im revolutionären Moskau fest. Erst 1921, nach
einem mehrmonatigen Krankenhausaufenthalt und nach dem Tod von
Aleksandr Blok, bekam er ein Ausreisevisum. Die anfängliche
Euphorie über die Revolution war der Erkenntnis der wahren
Seite des Bolschewismus gewichen, und ahnend, dass sein
Verhältnis zu Asja zerrüttet war, kam er depressiv in Berlin
an. Dort kam es noch schlimmer: Nicht nur, dass ein Gespräch
mit ihr sein Gefühl bestätigte, Asja, die inzwischen ebenfalls
in der Stadt lebte, demütigte ihn auch noch, indem sie
öffentlich behauptete, nie mit ihm verheiratet gewesen zu
sein. Dass ihn zusätzlich sein hoch verehrter Meister Rudolf
Steiner schnitt, brachte ihn an den Rand eines seelischen
Zusammenbruchs. Klavdija Nikolaevna, eine Anthroposophin, die
er bei Steiner kennengelernt hatte, reiste schließlich 1923
aus Moskau an, um ihn zurückzuholen.
Wieder in Moskau widmete er sich wie schon vor seiner
Berlinreise der anthroposophischen Arbeit, diesmal gemeinsam
mit Klavdija Nikolaevna. Die politischen Bedingungen wurden
aber immer schlechter, so dass sie bald im Untergrund arbeiten
mussten. 1931 wurde Klavdija Nikolaevna verhaftet, aber Belyj
erreichte durch ein Schreiben an Stalin, dass sie freigelassen
wurde und ihn heiraten konnte.
Am 15. Juli 1933 erlitt Belyj nach einem übermäßigen Sonnenbad
einen Hitzschlag und eine Gehirnblutung, von der er sich nicht
wieder erholte. Er starb am 8. Januar 1934 in Klavdija
Nikolaevnas Armen an einer „Lähmung der Atemwege“.
Schon im Jahr 1907 hatte er festgelegt, was auf seinem
Grabstein stehen sollte:
„Vertraute dem goldenen Glitzern,
und starb von den Pfeilen der Sonne…“
Ebenso wie der erwähnte Roman Petersburg sind Belyjs Werke nur
unter bestimmten Voraussetzungen mit Genuss zu lesen – wobei
noch hinzukommt, dass durch die Übersetzung wesentliche
Element wie Rhythmus und Klang verloren gehen.
Ein Werk jedoch, das er über seine Zeit in Berlin geschrieben
hat, ist ein gutes Zeitdokument und zumindest in Teilen heute
noch bedenkenswert: Im Reich der Schatten, Berlin 1921–1923.
Andrej Belyjs Gefühlswelt war noch nie ganz einfach gewesen,
aber als er 1921 nach Berlin kam, war seine Lebenssituation
tatsächlich über alle Maßen trostlos: Sein Freund Blok war
gestorben – was im Übrigen nicht nur ihn, sondern die gesamten
Moskauer Literaten erschüttert hatte und für viele das Fanal
zur Ausreise gewesen war –; die Hoffnungen, die er in die
Revolution gesetzt hatte, waren enttäuscht worden; er hatte
mehrere Monate Krankenhaus hinter sich und er fürchtete um die
Beziehung zu seiner Lebensgefährtin Asja Turgeneva.
Ilja Ėrenburg schreibt in seinen Memoiren »Menschen, Jahre,
Leben« dazu:
Im Jahr 1919 habe ich Andrej Belyj folgendermaßen beschrieben:
»Riesengroße, weit aufgerissene Augen: lodernde Feuerzungen
auf dem bleichen erschöpften Gesicht. Eine übermäßig hohe
Stirn mit einer Insel zu Berge stehender Haare. Sein
Versvortrag gleicht dem Raunen der Sibylle. Dabei wirbeln
seine Arme: er pointiert den Rhythmus – nicht der Gedichte,
sondern seiner geheimen Gedanken. Das ist fast komisch; und
zuweilen wirkt Belyj wie ein erstklassiger Clown. Aber wenn er
neben ihnen steht, empfinden die Umstehenden eine große Unruhe
und das Gefühl eines elementaren Unbehagens. Belyj ist größer
und bedeutender als seine Bücher. Er ist ein irrender Geist,
der sein Fleisch nicht findet, ein Strom ohne Ufer. Warum
wirkt sogar das flammende Wort »Genie«, wenn von Belyj die
Rede ist, wie ein Titel? Belyj hätte Prophet werden können –
sein Wahnsinn ist von göttlicher Weisheit erleuchtet. Doch der
sechsflügelige Seraph, der zu ihm niederstieß, machte nur
halbe Arbeit. Er riss die Augen des Dichters auf, er ließ ihn
überirdische Rhythmen vernehmen, er schenkte ihm den Stachel
der Schlange – aber sein Herz blieb unberührt.« Als ich diese
Zeilen verfasste, kannte ich Andrej Belyj nur von seinen
Büchern und von flüchtigen Begegnungen her. Später traf ich
ihn oft in Berlin und im Seebad Swinemünde und begriff, dass
meine Worte über den Seraph und Belyjs Herz daneben getroffen
hatten. Was ich für seelische Kälte hielt, war Schmerz, waren
zerbrochene Flügel, war ein zerstörtes Leben und ein
übermäßiges Schillern des Wortschatzes. …..
Er inspirierte sich an Steiner und an der Anthroposophie,
baute am Dornacher Tempel: nicht mit der linken Hand wie
Woloschin, nein – in vollem Ernst und in großer Ekstase. Im
Berlin des Jahres 1922 gab es eine Unzahl von Tanzdielen, die
rastlosen halbhungrigen jungen Deutschen tanzten darin
stundenlang den in Mode kommenden Foxtrott. Welchen Traum
träumte Belyj, als er zum ersten Mal Jazzklänge hörte? Warum
begann er, wie rasend zu tanzen, warum erschreckte er mit
seinen Seheraugen die kleinen Verkäuferinnen? Er war früh
ergraut. Sein Gesicht war braun gebrannt, die Augen lösten
sich immer mehr aus dem Gesicht heraus, sie führten ihr
eigenes Leben.
Alles in ihm war Unglück: die Liebesdramen, die Freundschaft
mit Blok, die ewigen Enttäuschungen, die Einsamkeit als
Schriftsteller.
Als Belyj nach Berlin fuhr, fuhr er zu den Erben einer großen
Kultur und kam in einer finsteren, gedrückten Stadt an, in der
Armut und Not und gleichzeitig eine zügellose Vergnügungssucht
herrschten. Dazu war die Stadt die „Stiefmutter aller
russischen Städte“, wie sie Chodasevič analog zur „Mutter
aller russischen Städte“ Kiew nannte: 400.000 Russen lebten
damals in Berlin und Belyj war ganz erschüttert, als er in
Charlottenburg an einem Geschäft ein Schild mit der Aufschrift
„Man spricht auch Deutsch“ vorfand. Aus „Charlottenburg“ war
im Volksmund „Charlottengrad“ oder „Berlinograd“ geworden.
Dort traf man alle möglichen Kollegen, die man seit Jahren
nicht mehr gesehen hatte. Belyj empfand Berlin als eine Stadt
der auferstandenen Toten.
Es war, als ob das gesamte Kulturleben von St. Petersburg,
Moskau, Kiew und Odessa in das russische Berlin verpflanzt
worden wäre. Alles was Rang und Namen hatte – auf
literarischem, künstlerischem und politischem Gebiet – war
anwesend; alle aufzuzählen, würde Seiten in Anspruch nehmen.
Belyj jedoch suchte keinen russischen Mikrokosmos. Er war in
das deutsche Berlin gekommen, in das Berlin des 18. und 19.
Jahrhunderts, der Blütezeit des Humanismus, um dort auf die
Erben dieser von ihm so sehr geschätzten Kultur zu treffen,
die er bei seiner ersten Reise 1906 in München noch
vorgefunden hatte. Doch diese Erben gab es im Berlin der
1920er-Jahre nicht. (Noch in der Nach-Gorbatschow-Zeit
glaubten viele Russen, dieses Erbe in Deutschland zu finden,
und waren enttäuscht von der Realität.)
Innerlich zerrissen nach der Trennung von Asja und dem
Zerwürfnis mit Steiner stürzte er sich ins wilde Leben. In den
frühen zwanziger Jahren schwappte der „american way of life“
nach Deutschland: Jazz, Foxtrott, Bars, Tanzlokale, schwarze
Musiker. Belyj war mittendrin; er war der wildeste Tänzer –
nicht nur einmal wurde die Tanzfläche für ihn geräumt, weil er
zu wildesten Rhythmen exhibitionistisch herumtobte –, und
Alkohol gehörte natürlich dazu. Seine Vertraute Marina
Cvetaeva nannte sein Tanzen den „reinsten Flagellantismus“.
Doch die zügellosen Phasen wechselten mit depressiven ab,
seine Freunde hatten es manchmal schwer, ihn zu ertragen – und
bei alldem schrieb er, als ob sein Ende bevorstünde. Es war
schriftstellerisch eine seiner produktivsten Phasen und viele
fragten sich, wann er denn schlafen würde.
Im Oktober 1923 fuhr er nach Moskau zurück. Dort schrieb er
1924 sein Essay „Einer der Wohnsitze des Reichs der Schatten“
(in deutscher Sprache auch publiziert unter dem Titel „Im
Reich der Schatten“). Und darin lässt er seinem Zorn, seiner
Enttäuschung und seiner Angst freien Lauf. Man möchte nicht
meinen, dass das der Belyj geschrieben hat, der gerade noch in
Berlin getobt hatte. Die Deutschen hatte er als stumpfsinnig,
hoffnungslos, ja vertiert empfunden – nichts war mehr von der
großen Kultur geblieben! Auch die Menschen in Moskau lebten im
Elend, aber sie hatten ein hoffnungsfrohes Leuchten im Blick,
sie sahen eine Zukunft vor sich. (Inwieweit sich hinter
Letzterem auch eine gewisse Verbeugung vor der neuen
kommunistischen Macht verbirgt, wäre noch zu untersuchen.)
Unter diesem Eindruck beschrieb er den Untergang nicht nur der
deutschen, sondern der ganzen europäischen Kultur. Das Symbol
für diesen Untergang war für ihn der „Neger“. Dieser Begriff
mutet heute befremdlich an, aber damals hatte das Wort noch
nicht diesen abwertenden Beigeschmack, der erst durch den
„Nigger“ aus Amerika nach Europa gekommen ist, und im
Russischen gibt es diese Konnotation nicht – wie das Wort
„Indianer“ oder „Eskimo“ ist es dort eine ganz neutrale
Bezeichnung für den Angehörigen einer anderen Ethnie oder
Kultur (wobei dieser aus der Sicht der „Weißen“, der
Kolonialherren, perspektivbedingt meist ein Mensch ohne Kultur
war). In Belyjs Augen drängten die Neger überall in die Kultur
Europas – seien es die aus den Jazzbands Amerikas oder die
Soldaten aus den Kolonien der Franzosen. Für ihn waren sie
Barbaren, die die europäische Kultur zerstörten, wie schon die
germanischen Barbaren die römische Kultur zerstört hatten. Und
sie zerstörten sie von innen heraus, mit Hilfe der Europäer,
die ihre Sitten und Gebräuche annahmen. Braun wurde für Belyj
die Farbe des Untergangs, er fand sie in der Tristheit des
Berliner Lebens wieder und auch im aufkommenden
Nationalsozialismus – und in seinem Essay finden sich Stellen,
denen man (leider!) fast prophetischen Charakter zuschreiben
muss.
Belyj war, das muss man angesichts der für heutige Leser
problematischen Terminologie ganz deutlich sagen, kein Rassist
oder gar Faschist; dem Nationalsozialismus stand er kritisch
gegenüber, denn auch die „braunen Horden“ waren für ihn
„Kulturzerstörer“. Er war vielmehr geprägt von konservativen
Kulturvorstellungen und geschüttelt von der Abscheu vor dem
neuen, entmenschlichten Deutschtum, das zu seiner Berliner
Zeit im Entstehen begriffen war. Seine „in Bildern
kondensierte“ Darstellung der Stadt ist Ausdruck seiner
Enttäuschung angesichts eines Berlins, das auf der einen Seite
verarmt vor sich hin moderte, während es auf der anderen Seite
ekstatisch, aber blindlings einer neuen, importierten Kultur
huldigte, eines Berlins, das von der kulturellen Größe des
früheren Deutschlands mit seinen Dichtern, Denkern,
Komponisten und Malern nichts mehr wusste.
Literatur:
Belyj, Andrej: Im Reich der Schatten – Berlin 1921–1923 (1987)
Erenburg, Ilja: Menschen, Jahre, Leben (1978–1990)
Mierau, Fritz: Russen in Berlin – Literatur, Malerei, Theater,
Film 1918–1933 (1990)
Schlögel, Karl: Berlin – Ostbahnhof Europas. Russen und
Deutsche in ihrem Jahrhundert (1998)
Urban, Thomas: Russische Schriftsteller im Berlin der
zwanziger Jahre (2003)

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