Der Fachdiskurs im Konstitutionalisierungsprozess der

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Der Fachdiskurs im Konstitutionalisierungsprozess der
ISSN 2029-6134 print
Development of Public Law / Viešosios teisės raida / Entwicklungen im öffentlichen Recht 2010 (1): 186–212
Verfassungsentwicklung in Litauen und Polen im Kontext der Europäisierung / Lietuvos ir Lenkijos konstitucijų raida europeizacijos kontekste
Prof. Dr. Sebastian Heselhaus
Universität Luzern
Der Fachdiskurs im Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen
Menschenrechtskonvention (EMRK) am Beispiel Deutschlands
und der Schweiz
I. Rückschritte im Konstitutionalisierungsprozess?
Das Verhältnis der EMRK zum nationalen Recht ist ein wichtiges Element des unter der
EMRK eingeleiteten völkerrechtlichen Konstitutionalisierungsprozesses hin zu einem
gemeineuropäischen Standard des Grundrechtsschutzes. Dieses Verhältnis wird in den
Verfassungen Litauens und Polens unterschiedlich geregelt. Während die Verfassung
der Republik Litauen die ratifizierten völkerrechtlichen Verträge lediglich zu einem
Bestandteil des litauischen Rechts erklärt351, weist die Verfassung der Republik Polen
solchen Verträgen, wenn ihrer Ratifizierung ein Zustimmungsgesetz voraus gegangen
ist, einen Vorrang vor dem einfachen Gesetzesrecht zu352. Diese Divergenz lädt dazu ein,
rechtsvergleichend die aktuelle Entwicklung in den Konventionsstaaten Deutschland
und Schweiz zu untersuchen.
Nachdem Deutschland lange Zeit als ein Garant der Gewährleistungen der EMRK gegolten hat, scheint dies durch die „Neu“-Bestimmung des Verhältnisses zum Gerichtshof
für Menschenrechte (EGMR) in Strasbourg durch das deutsche Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) in Frage gestellt worden zu sein353. Das könnte auf andere Konventionsstaaten
351
Art. 138 Abs. 3 Verfassung Litauens. Siehe Art. 150 lit. Verf. in der Fassung vom 13.07.2004.
352
Art. 91 Abs. 2 Verfassung Polens; vgl. zur unmittelbaren Anwendung des Völkerrechts Art. 91 Abs. 1, zur
Aufnahme in die allgemeinen Rechtsquellen der Republik Polens Art. 87 Abs. 1 und Art. 9 Verfassung Polens,
demzufolge Polen das verbindliche Völkerrecht „befolgt“.
353
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BVerfGE 111, 307 ff.; K.-O- Sattler, Machtkampf der roten und blauschwarzen Robenträger aus Karlsruhe
und Luxemburg, Das Parlament, 2004, Nr. 52-53; K. Grupp / U. Stelkens, Zur Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention bei der Auslegung des deutschen Rechts, DVBl.
2005, 133 (134); J. Meyer-Ladewig / H. Petzold, Die Bindung deutscher Gerichte an die Rechtsprechung des
EGMR – Neues aus Straßburg und Karlsruhe, NJW 2005, 15 (19); S. Oeter, Rechtsprechungskonkurrenz
zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof
für Menschenrechte, VVDStRL 66 (2007), S. 361 (385); verhaltener M. Ruffert, Die Europäische Menschenrechtskonvention und innerstaatliches Recht, EuGRZ 2007, 245 (251 ff.); kritisch H. J. Cremer, Zur
Bindungswirkung von EGMR-Urteilen / Anmerkung zum Görgülü-Beschluss des BVerfG vom 14.10.2004,
EuGRZ 2004, 683 (684); R. Hofmann, The German Federal Constitutional Court and public international
law, new decisions, new approaches? GYIL 47 (2004), 9 ff.; E. Klein, Zur Bindung staatlicher Organe an Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, JZ 2004, 1176 ff.; zustimmend L. Hummel,
Anmerkung zum Beschluss des BVerfG vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04 (Umfang innerstaatlicher
Bindungswirkung der Entscheidungen des EGMR), IStR 2005, 35; K. Vogel, Völkerrechtliche Verträge und
innerstaatliche Gesetzgebung. Eine neue Entscheidung des BVerfG hat Bedeutung auch für die Beurteilung des treaty override. IStR 2005, 29 f.; zurückhaltend S. Roller, Die menschenrechtskonventionsgemäße
Auslegung – Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Oktober 2004 (2 BvR 1481/04) –, DRiZ
2004, 337 ff.
Der Fachdiskurs im Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) am Beispiel Deutschlands und der Schweiz
und damit auf den Konstitutionalisierungsprozess der EMRK von Lissabon bis
Wladiwostok ausstrahlen. Hat doch in der Europäischen Union (EU) die Rezeption
der Auseinandersetzung um das sog. Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und
EuGH gezeigt, dass dem BVerfG eine gewisse Orientierungsfunktion zukommt354. So
könnten mittel- und osteuropäische Staaten, die in ihren neuen Verfassungen diesem
Prozess Respekt zollen und der EMRK einen Rang zwischen einfachen Gesetzen und
der Verfassung einräumen, geneigt sein, ihre Linie zu überdenken355. Auch das schweizerische Bundesgericht (BGer) wird die Entwicklung mit besonderer Aufmerksamkeit
verfolgen: Haben doch zum einen die Verbürgungen der EMRK bis zur Novellierung
der schweizerischen Bundesverfassung (BV) 1999 Lücken im fehlenden umfassenden
nationalen Grundrechtskatalog geschlossen. Zum anderen vermögen sie – anders als
die schweizerischen Bundesgrundrechte – auch unter der neuen Bundesverfassung die
Unanwendbarkeit entgegenstehender Bundesgesetze zu begründen356.
Im Folgenden soll die auf den ersten Blick so unterschiedliche dogmatische Situation
in den beiden Konventionsstaaten aufgearbeitet und die aktuelle Situation rechtspolitisch
evaluiert werden. Auf dieser Basis ist zum derzeitigen Konstitutionalisierungsprozess unter
der EMRK Stellung zu nehmen.
II. Die Stellung der EMRK im deutschen Recht: Erosion durch Flexibilität?
1. Faktoren zunehmender Spannungen
In nun 55 Jahren sind Spannungen zwischen der EMRK und dem deutschen Grundgesetz
selten aufgetreten. Denn der unter dem Grundgesetz maßgeblich vom BVerfG
gewährleistete effektive Grundrechtsstandard ist demjenigen unter der EMRK
zumindest ebenbürtig. Die rechtsvergleichend wohl einmalige Prüftiefe der deutschen
Grundrechtsrechtsprechung hat die Bedeutung des EGMR und der Gewährleistungen
der EMRK für die Fachgerichtsbarkeit nicht immer deutlich genug werden lassen. Das
darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die wenigen Spannungsfälle strukturelle
Ursachen gehabt haben357.
Systematisch können drei Hauptkonstellationen von Abweichungen unter dem
Grundgesetz unterschieden werden: solche aufgrund der besonderen deutschen
354
S. den Überblick bei I. Pernice, Das Verhältnis europäischer zu nationalen Gerichten im europäischen Verfassungsverbund, Berlin 2006, S. 27 ff.
355
Zu entsprechenden Anfragen aus Polen, Russland, der Türkei und der Schweiz L. Wildhaber, Bemerkungen
zum Vortrag von BVerfG-Präsident Prof. Dr. H.-J. Papier auf dem europäischen Juristentag 2005 in Genf,
EuGRZ 2005, 743 (744); s. auch J. Mayer-Ladewig/H. Petzold, (Fn. 353) NJW 2005, 15 (16).
356
Näher dazu unter III.1.
357
S. den Überblick bei S. Mückl, Kooperation oder Konfrontation?, Das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, Der Staat 44 (2005) 3, 403 (404). Vgl. den
Überblick bei J. Bergmann, Das Bundesverfassungsgericht in Europa, EuGRZ 2004, 620 (622).
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Vergangenheit, aufgrund unterschiedlicher Bestimmung von Schutzbereichen oder unterschiedlicher Gewichtung der Schutzintensität. Ersteres betrifft den sog. Radikalenerlass,
der linken politischen Extremisten den Zugang zum öffentlichen Dienst (zu) weit versperrte, in dem spezifisch deutschen Konzept einer sog. wehrhaften Demokratie und den
daraus gezogenen (zu) weit gehenden Konsequenzen ohne Differenzierung nach dem
persönlichen Verhalten oder der Tätigkeit im öffentlichen Dienst358. Im Hinblick auf die
Entschädigungspflicht für Enteignungen erschiene ein „einpassen“ ebenfalls schwierig, da
das vom BVerfG entwickelte formale Konzept keinen Raum für faktische Enteignungen
lässt359. Auch im Fall der Feuerwehrabgabe kann von einer strukturellen Differenz gesprochen werden360.
Während die entsprechenden Entscheidungen des EGMR in Deutschland immer umgesetzt worden sind, ist im Fall Görgülü die Bindungswirkung durch einzelne
Fachgerichte negiert worden361. Dies kann nicht ohne Zusammenhang mit dem anhaltenden Konflikt zwischen Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) und EGMR in der Frage
der Auslieferungshindernisse bei Folterdrohungen seitens Privater im Zielstaat gesehen
werden362. Kern dieses Konfliktes ist das grundsätzlich unterschiedliche Verständnis des
Umfangs der grundrechtlichen Schutzpflichten im Hinblick auf Maßnahmen Privater
im Ausland. Dagegen ist es im Caroline-Fall um konfligierende Grundrechtspositionen
gegangen. Das Entstehen solcher Konfliktlagen ist kein pathologisches Ereignis im Konsti­
tutionalisierungsprozess, sondern dessen Folge. Gerade bei Grundrechtskollisionen kann
die besondere deutsche Prüftiefe tendenziell zu Normkonflikten mit der EMRK führen,
wenn der EGMR seinerseits die den Staaten eingeräumte margin of appreciation für eine
Abwägung enger zieht363. Doch ist befürchtet worden, dass die aktuelle Stellungnahme des
BVerfG zur Bedeutung der EMRK zu einer grundsätzlichen Verschiebung der Gewichte
führen könnte364.
358
EGMR Urteil v. 26.09.1995, Vogt / Deutschland [GK – Grosse Kammer] 7/1994/454/535, Ser. A no. 323, EuGRZ
1995, 590.
359
S. zur Rechtsprechung des BVerfG H.-J. Koch/R. Rubel/S. Heselhaus, Allgemeines Verwaltungsrecht, 3. Aufl.
2003, § 9 Rn. 97 ff., 109 ff.
360
Die Diskriminierung von Männern durch die Feuerwahrabgabe, EGMR v. 18.7.1994, EuGRZ 1995, 392 ff., ist
in einer strukturell überholten Sicht der Rollenbilder der Geschlechter begründet gewesen.
361
S. dazu BVerfGE 111, 307 ff.
362
S. BVerwG, NVwZ 1997, 1127; BVerwG, NVwZ 1999, 311; zur Abweichung von der Rechtsprechung des EGMR
s. J. Meyer-Ladewig, EMRK, 2. Aufl. 2006, Art. 3 Rn. 22-25a; vgl. J. Bergmann, (Fn. 357) EuGRZ 2004, 620
(623).
363
EGMR, EuGRZ 2004, 404 ff.; kritisch zur engen Prüfung des EGMR H. Keller/M. Bertschi, Erfolgspotenzial
des 14. Protokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention, EuGRZ 2005, 204 ff.; zustimmen J.P. Müller,
Koordination des Grundrechtsschutzes in Europa – Einleitungsreferat, ZSR 2005, 9 (17).
364
L. Wildhaber, (Fn. 355), EuGRZ 2005, 743 f.; kritisch auch S. Kadelbach, Der Status der Europäischen Menschenrechtskonvention im deutschen Recht – Anmerkungen zur neuesten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, JURA 2005, 480 (486); FAZ vom 20.10.2004, S. 1; NZZ vom 20.10.2004, S. 1.
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2. Der Entwurf eines neuen Kooperationsverhältnisses zwischen
Karlsruhe und Strasbourg
a) Wesentliche Elemente des Ansatzes des Bundesverfassungsgerichts
Die Spannweite des vom BVerfG entworfenen Kooperationsverhältnis reicht von
einer quasi-grundrechtlichen Absicherung der EMRK bis zur ihrer Verwerfung unter
Berufung auf nachfolgendes einfaches Gesetzesrecht. Ausgangspunkt des BVerfG ist
ein Bekenntnis zum Dualismus, wodurch das nationale Recht für die Bestimmung
des Verhältnisses zum Völkerrecht maßgeblich wird365. Über das Zustimmungsgesetz
werde die EMRK in nationales Recht transformiert und gelte im Rang eines
Bundesgesetzes. Daher komme ihr unmittelbar kein höherer Rang, geschweige denn
Verfassungsrang zu. Diesem Befund stellt das BVerfG das Bekenntnis des Grundgesetzes
zur Völkerrechtsfreundlichkeit gegenüber. Daraus folgert es den Grundsatz der
völkerrechtsfreundlichen Auslegung, und zwar nicht nur des einfachen Gesetzesrechts,
sondern sogar des Verfassungsrechts, insbesondere der Grundrechte366. Die EMRK und
die sie konkretisierende Rechtsprechung des EGMR dienten als Auslegungshilfen, sind
aber nicht unmittelbar selbst verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab367. Da aber diese
Völkerrechtsfreundlichkeit nur im „Rahmen des demokratischen und rechtsstaatlichen
Systems des Grundgesetzes“ gelte, widerspreche es ihr nicht, wenn „der Gesetzgeber
ausnahmsweise Völkervertragsrecht nicht beachtet, sofern nur auf diese Weise ein
Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist“368. Das Gericht
konstatiert einen „weit zurückgenommenen Souveränitätsvorbehalt“369. An anderer
Stelle erklärt es allgemeiner, dass „ die Konvention nicht automatisch Vorrang vor
anderem Bundesrecht“ genieße370.
Die EMRK verlange nicht zwingend nach einem Vorrang ihrer Verbürgungen, sondern
begnüge sich unter Umständen mit einer Entschädigung. Allerdings erwähnt das BVerfG
nicht, dass der EGMR seit kurzem, eine strukturelle Abweichung von der EMRK feststellen kann371. Diese zielt ihrer Funktion nach auf eine Behebung durch den betroffenen
Konventionsstaat, also ein innerstaatliches Tätigwerden. Sie greift in Fällen wiederholter
365
BVerfGE 111, 307 (315 f.) oder Deutschsprachiges Fallrecht (DFR), hrsgg. v. A. Tschentscher (Stand: 1.7.2008),
http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv111307.html, Rn. 30 ff; vgl. die nachfolgenden Entscheidungen in der gleichen
Sache: BVerfG, 1 BvR 2790/04 vom 28.12.2004, BVerfG, 1 BvR 1664/04 vom 5.4.2005, BVerfG, 1 BvR 2790/04
vom 10.6 2005.
366
BVerfGE 111, 307 (315 bzw. Rn. 30).
367
BVerfGE 111, 307 (317 bzw. Rn. 32).
368
BVerfGE 111, 307 (319f. bzw. Rn. 35 f.).
369
BVerfGE 111, 307 (319 bzw. Rn. 36).
370
BVerfGE 111, 307 (328, 329 bzw. Rn. 62).
371
S. die Entschließung des Ministerkommitees des Europarates DHRes. (2004) 3 vom 12.5.2004; aufgegriffen in
EGMR, Slg. 2004-V.
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Verstöße, d.h. möglicherweise auch bei strukturellen Abweichungen durch ein allgemeinabstraktes Gesetz.
Abgesichert werden die Vorgaben des BVerfG durch die Pflicht deutscher Gerichte, „im
Rahmen geltender methodischer Standards“ bei Auslegungs- und Abwägungsspielräumen
[...] der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben“372. Betroffene können
Verletzungen dieser Vorgabe vor dem BVerfG rügen. Prüfungsmaßstab der fachgerichtlichen Entscheidung ist dabei nicht nur das Willkürverbot, sondern das einschlägige
Grundrecht i.V. mit dem Rechtsstaatsprinzip373. Das BVerfG folgert ferner aus einerseits
rechtsstaatlichen Anforderungen nach Art. 20 Abs. 3, Art. 59 Abs. 2 i.V. mit Art. 19 Abs. 4
GG sowie andererseits Art. 13 und Art. 52 EMRK, dass die Bindungswirkung der EMRK
nicht nur die Vertragsstaaten als solche treffe, sondern alle drei öffentlichen Gewalten374.
Eine unmittelbare Bindung in der Sache wird auf die res iudicata beschränkt375. Sind die
Gerichte zur erneuten Entscheidung über einen Gegenstand, zu dem der EGMR eine
Verstoß gegen die EMRK festgestellt hat, berufen, dürfen sie nicht vorschnell auf eine
Entschädigung in Geld ausweichen, soweit eine Restitution weder an tatsächlichen noch
an rechtlichen Gründen scheitern würde376.
Vorbehalte gegenüber dem EGMR werden aber deutlich, wenn das BVerfG gebietet,
dass jenseits der (eng verstandenen) res iudicata dessen Entscheidungen nicht „schematisch vollstreckt“ werden dürften377. Dabei bürdet das BVerfG den Fachgerichten eine
Pflicht zur Wertung auf, deren relativ vage Formulierung zu Recht Anlass zu deutlicher
Kritik gegeben hat378. Grundlage soll eine Pflicht zur „Berücksichtigung“ sein, die eine
erkennbare Auseinandersetzung mit der einschlägigen Entscheidung verlangt. Dies gelte
insbesondere für die vom EGMR in seiner Abwägung berücksichtigten Aspekte379. Will
das Fachgericht abweichen, wird eine nachvollziehbare Begründung verlangt380. Dies folge
aus der rechtsstaatlichen Kompetenzordnung und der Bindung an Recht und Gesetz381.
Konfliktfälle sieht das BVerfG insbesondere bei mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen,
in denen es auf die Abwägung verschiedener subjektiver Rechtspositionen ankommt. Jede
Änderung der rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnisse könne eine neue Bewertung
372
BVerfGE 111, 307 (328, 329 bzw. Rn. 62).
373
BVerfGE 111, 307 (329, 330, bzw. Rn. 63).
374
BVerfGE 111, 307 (322, 323f. bzw. Rn. 45 f.).
375
BVerfGE 111, 307 (320 f. bzw. Rn. 39, 41): die Sach- und Rechtslage kann sich bei erneuten nationalen Verfahren
ändern.
376
BVerfGE 111, 307 (326f. bzw. Rn. 55 f.).
377
BVerfGE 111, 307 (323 bzw. Rn. 47).
378
H. J. Cremer, (Fn. 353) EuGRZ 2004, 683 (684).
379
BVerfGE 111, 307 (324 bzw. Rn. 49).
380
BVerfGE 111, 307 (324 bzw. Rn. 50).
381
BVerfGE 111, 307 (323 bzw. Rn. 47).
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erforderlich machen, insbesondere wenn beteiligte Grundrechtsträger in dem Verfahren
vor dem EGMR nicht als „Verfahrenssubjekt wirksam in Erscheinung treten“ konnten382.
Damit sei eine „wertende Berücksichtigung“ gefordert, um die Rechtsprechung des EGMR
in „durch eine differenzierte Kasuistik geformte nationale Teilrechtssysteme“ einzupassen383.
b) Rechtspolitische Würdigung: Kooperation über Konfrontation?
Die Entscheidung des BVerfG ist in der Literatur unterschiedlich aufgenommen worden.
Zustimmung finden größtenteils die Aussagen, die die Völkerrechtsfreundlichkeit des
Grundgesetzes betonen384. Dagegen werden die Vorbehalte enthaltenden Passagen
zum Teil heftig kritisiert. Eine Reduzierung der Bindungswirkung der EMRK auf
eine persuasive Überzeugung wird befürchtet. Es bestehe die Gefahr einer negativen
Sogwirkung auf andere Staaten385.
Rechtspolitisch versucht das BVerfG einen bemerkenswerten Spagat zwischen diametral entgegen gesetzten Konfliktfällen. Im Görgülü-Fall ging es darum, das renitente OLG
zur Einhaltung der völkerrechtlichen Vorgaben anzuhalten. Dies geschieht nunmehr im
Wege der Kopplung von EMRK-Verbürgung mit dem einschlägigen Grundrecht i.V. mit
dem Rechtsstaatsprinzip und die Pflicht zur verfassungskonformen Auslegung. Wo kein
Raum mehr für diese Auslegungsmethode wäre, hilft die Vorlage an das BVerfG bzw. die
Verfassungsbeschwerde seitens des Betroffenen effektiv.
Dagegen hat das BVerfG im Caroline-Fall die vom EGMR vorgenommene Abwägung
zwischen Persönlichkeitsschutz von Prominenten und freier Berichterstattung der Presse
kritisch gesehen386 und weist Wege, durch eine Befolgung nur des völkervertragsrechtlichen Minimums, quasi durch einen forensischen „Dienst nach Vorschrift“, Kritik zu
formulieren und praktisch einen länger anhaltenden Diskurs zwischen den Gerichten zu
erzwingen. Jeder neue, von der res iudicata differenzierte Einzelfall müsste wiederum durch
alle Instanzen gezogen werden. Wenn er letztlich zum EGMR gelangt, müsste sich dieser
mit den von den nationalen Gerichten vorgebrachten Argumenten auseinandersetzen.
Technisch eröffnet das BVerfG diesen Weg mit der Betonung der Bedeutung einer geänderten Sach- und Rechtslage oder der Verfahrensbeteiligung neuer Betroffener. Inhaltlich
belebt es den Diskurs mit der Verpflichtung der Fachgerichte, die Vorgaben der EMRK
382
BVerfGE 111, 307 (324 bzw. Rn. 50).
383
BVerfGE 111, 307 (327f.), Rn. 58 f.
384
Christian Walter, Die europäische Menschenrechtskonvention als „Konventionsgemeinschaft“: Praktische
Wirkungen in der deutschen Rechtsordnung, in: Christoph A. Spenlé (Hrsg.), Die Europäische Menschenrechtskonvention und die nationale Grundrechtsordnung. Spannungen und gegenseitige Befruchtung, Basler
Schriften zur europäischen Integration Nr. 83, 2007, S. 53 (57 f.).
385
K.-O. Sattler, Machtkampf der roten und blauschwarzen Robenträger aus Karlsruhe und Luxemburg, Bundesverfassungsgericht contra Europarats-Gerichtshof, Das Parlament 2004, Nr. 52-53 (Internet-Ausgabe), S. 1 ff.;
s. auch die weiteren Nachweise in Fn. 355.
386
Diese Einschätzung teilt J.F. Lindner, Grundrechtsschutz in Europa – System einer Kollisionsdogmatik, EuR
2007, 160 (182).
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bzw. des EGMR zu bewerten. Allerdings könnte es auch den (Irr-) Weg eröffnen, bei unliebsamen Entscheidungen des EGMR Entschädigung statt Restitution zu gewähren.
Grundsätzlich ist ein solcher Diskurs zwischen Gerichten im Rahmen eines Konstitu­
tionalisierungsprozesses zu begrüßen387. So hat vergleichsweise im Europarecht das im
Maastricht-Urteil überpointierte Kooperationsverhältnis gegenüber dem EuGH bei aller
Kritik an seiner dogmatischen Herleitung bewirkt, dass der EuGH den kritikwürdigen Weg
einer zu geringen Prüfung der Eingriffstiefe im Einzelfall388 nicht weiter verfolgt hat, sondern sich in der Rs. T.-Port klar zum Individualschutz durch die EU-Grundrechte – wenn
auch in einem obiter dictum – bekannt hat389. Insofern kann auch unter der EMRK ein
richtig verstandener Druck zur Optimierung von Entscheidungsbegründungen beitragen
und damit für den Konstitutionalisierungsprozess gerade förderlich sein. Diesen Prozess
erkennt das BVerfG als die Aufgabe an, „eine gemeineuropäische Grundrechtsentwicklung
zu fördern“390. Ihm wäre es aber abträglich, den Maßstab der EMRK auf eine Überprüfung
der äußeren Grenzen der Verhältnismäßigkeit zu reduzieren391. Zudem widerspräche
das tendenziell der entgegen gesetzten Forderung an den EuGH nach einer strengeren
Grundrechtsprüfung392. Vielmehr müssen sich auch diffizile Abwägungen im nationalen
Recht der (maßvollen) völkerrechtlichen Kritik stellen. Nimmt der EGMR diese schwierige Aufgabe an, sind an die Qualität seiner Entscheidungen und Begründungen hohe
Anforderungen zu stellen. Gerade weil die Richterinnen und Richter am EGMR unabhängig von den Vertragsstaaten operieren, kann ein wohlwollend-kritischer Diskurs unter
den Gerichten hilfreich sein.
Die Gefahren des Lösungsmodells des BVerfG liegen in der Vagheit des Konzepts
einer „wertenden Berücksichtigung“. Darin bleibt die zunächst den Fachgerichten obliegende Methode der völkerrechtsfreundlichen Auslegung unscharf. Die Vorgabe des
BVerfG, Entscheidungen des EGMR in sog. Teilrechtssysteme „einzupassen“, legt einen
fallorientierten Ansatz nahe. Dieser entspricht aber nicht der realen Bedürfnislage, denn
die Spannungen zwischen deutschen Recht und EMRK sind im Wesentlichen strukturell
bedingt, so dass eine Einzelfalllösung ohne strukturelle Neuorientierung kaum möglich
erscheint.
387
Positiv auch die Einschätzung von H.-J. Cremer, (Fn. 353 ) EuGRZ 2004 683 (694).
388
EuGH, Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4973 (Rn. 82-99) – Deutschland / Rat (Bananenmarktordnung).
389
EuGH, Rs. C-68/95, Slg. 1996, I-6065 (Rn. 40, 42) – T. Port. Einen Vergleich mit der Maastricht-Entscheidung
zieht S. Kadelbach, (Fn. 364) JURA 2005, 480 (485).
390
BVerfGE 111, 307 (324 bzw. Rn. 62), positiv zum „legitimen Dialog der Jurisdiktionen“ C. Walter, (Fn. 384) S.
53 (60 f.).
391
Vgl. aber spätere Stellungnahmen des ehemaligen Präsidenten des BVerfG Papier, zitiert nach SZ vom 14.
Januar 2008, S. 6, und von Verfassungsrichter W. Hassemer im Interview der SZ vom 10.6.2008, <http://www.
sueddeutsche.de/deutschland/artikel/971/179421/> .
392
Denn der EuGH orientiert sich bei der Entwicklung der EU-Grundrechte stark an der EMRK, vgl. Art. 6
EUV.
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So basiert der Caroline-Fall auf der früheren von den deutschen Fachgerichten
entwickelten pauschalen Differenzierung zwischen sog. absoluten und relativen Personen
der Zeitgeschichte. Erstere sollten eine Berichterstattung über ihr Privatleben weitgehend in Kauf nehmen müssen393. Dieses Modell kam zwar den Bedürfnissen (von Teilen)
der Presse entgegen und sorgte durch seine holzschnittartige Grobheit einerseits für
Rechtsicherheit. Es hatte aber durch seine Typisierung eine angemessene Einzelfallberück­
sichtigung gerade unterbunden. Grade im Fall der Prinzessin Caroline von Hannover
ergeben sich dagegen grundrechtliche Bedenken. Denn über ihr Privatleben wird aufgrund ihres „Marktwertes“ immer wieder in der Regenbogenpresse berichtet, obgleich sie
sich und ihre Kinder seit Jahren konsequent aus der Öffentlichkeit zurückgezogen bzw.
von ihr ferngehalten hat. Diesen Mangel des alten deutschen Konzepts hat das BVerfG
indirekt eingestanden, als es der Bundesregierung gutachterlich empfohlen hatte, den
Fall nicht vor den Großen Senat des EGMR zu bringen394. Offensichtlich hielt man die
Erfolgsaussichten für zu gering, obwohl die bisherige Praxis der Großen Kammer durchaus
zeigt, dass den Anliegen der betroffenen Staaten mehr Verständnis entgegengebracht wird
als vor der Kleinen Kammer395. Allerdings hat sich der EGMR nicht darauf beschränkt,
den Einzelfall zu entscheiden, sondern selbst relevante Abwägungskriterien entwickelt,
die auf eine relativ zurückhaltenden Interpretation der Rechte der Presse hindeuteten396.
Doch ist in der Folgezeit zu beobachten gewesen, dass sich Fachgerichte und BVerfG397
einerseits sowie EGMR andererseits inhaltlich aufeinander zu bewegt haben. Erstere haben
sich vom überkommenen Topos der Person der Zeitgeschichte verabschiedet und verwenden einen neuen, stärker die Abwägung im konkreten Einzelfall betonenden Ansatz398.
Zugleich lässt das jüngere Fallrecht des EGMR eine stärkere Gewichtung der Rechte der
393
Vgl. noch OLG Karlsruhe, NJW 2006, 617; W. Schaller, Das Verhältnis von EMRK und deutscher Rechtsordnung vor und nach dem Beitritt der EU zur EMRK, EuR 2006, 656 (662).
394
Stellungnahme des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts vom 1. September 2004 zur Entscheidung der
Bundesregierung im so genannten Caroline-von-Hannover-Verfahren vor dem EGMR, EuGRZ 2004, 540.
395
Vgl. (EGMR) vom 28. 1. 2004, Beschwerden Nr. 46720/99, 72203/01 und 72552/01 – Jahn u.a./Deutschland;
EGMR, Urteil v. 08.07.2003 – Hatton u.a. v. Vereinigtes Königreich (Große Kammer).
396
EGMR, Urteil vom 24. Juni 2004, No. 59320/00, (Rn. 72) – Von Hannover / Deutschland (=NJW 2004,
2647) stellt darauf ab, ob die Person offizielle Funktionen ausübt; zustimmend R. Stürner, Caroline-Urteil des
EGMR – Rückkehr zum richtigen Maß, AfP 2005, 213 ff.; kritisch M. Bartnik, Caroline á la française – ein
Vorbild für Deutschland?, AfP 2006, 489 (494); zu weit gehend W. Schaller, (Fn. 393) EuR 2006, 656 (661), der
der Meinung ist, der EGMR hätte die Interessen der Boulevard-Presse völlig dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit entzogen: EGMR, Urteil vom 24. Juni 2004, No. 59320/00, (Rn. 76 ff.) – Von Hannover / Deutschland
(=NJW 2004, 2647) geht aber immer von einer Abwägung zwischen konfligierenden Grundrechten aus.
397
BVerfG vom 26.2.2008, 1 BvR 1602/07, 1 BvR 1606/07, 1 BvR 1626/07.
398
Vgl. OLG Hamburg, AfP 2006, 179 (180); KG, NJW 2005, 2320 (2322), die die abwägungsrelevanten Faktoren
anreichern; wie hier J. Bergmann, Diener dreier Herren? – Der Instanzrichter zwischen BVerfG, EuGH und
EGMR, EuR 2006, 101 (114); a.A. W. Schaller, (Fn. 393) EuR 2006, 656 (660). Deutlich in Richtung EGMR
aber BGH, Urteile vom 28.6.2007 – VII ZR 81/06 und VII ZR 8/06, s. dazu J. Hager, JA 2008, 62 f.
193
Sebastian Heselhaus
Presse erkennen399. Es ist sicher nicht abwegig anzunehmen, dass die Kurskorrektur seitens
des EGMR dem vom BVerfG erzwungenen Diskurs zu verdanken ist.
War also in der Sache durchaus Kritik im forensischen Diskurs angezeigt gewesen,
hätte es aber beim konkreten Anlass völlig ausgereicht, im Rahmen der Bindung an die
EMRK die Differenzierung von tragenden Gründen und obiter dicta hervorzuheben.
Die weitergehenden Äußerungen aus Karlsruhe stellen eine (unnötige) Drohgebärde
gegenüber Strasbourg dar. Sie stehen aber im Zusammenhang mit Befürchtungen in
Karlsruhe, dass die Globalisierung die deutsche Lesart des Rechtsstaats aufweichen
könnte400. Dieses Ergebnis hätte aber auch erreicht werden können, wenn man den Rang
der EMRK dogmatisch überzeugender401 zwischen Bundesgesetzen und Grundgesetz
eingeordnet hätte und damit der EMRK nur durch das Grundgesetz Grenzen gezogen
hätte. Dies würde auch das Rechtsstaatsprinzip in Zeiten der Globalisierung ausreichend
sichern, wie die Fortführung der Görgülü-Entscheidung zeigt. Zunehmend macht das
BVerfG Ausführungen zur EMRK – formal zwar über die deutschen Grundrechte, in der
Sache aber mit unmittelbarem Bezug zur Rechtsprechung des EGMR – als Maßstab für
die Auslegung des einfachen Gesetzesrechts402. Dabei zeichnet sich ein deutlicheres Bild
der Prüfung ab: Im Falle von widerstreitenden Menschenrechtsaspekten wird die EMRKVerbürgung als Schranke des einschlägigen deutschen Grundrechts geprüft403. In der dann
vorzunehmenden Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt das BVerfG die Aspekte
der Rechtsprechung des EGMR in der Sache wie Allgemeinwohlaspekte. Steht hingegen
einfaches Bundesrecht im Spannungsverhältnis mit EMRK-Verbürgungen, so wägt das
BVerfG diese wie Aspekte des Allgemeinwohls ebenfalls mit den EMRK-Rechten in einer
Verhältnismäßigkeitsprüfung ab. Dabei interpretiert das Gericht das Fallrecht zur EMRK
und tritt so in einen effektiven Diskurs mit dem EGMR404. Unterlassen die Fachgerichte
die geforderte Überprüfung anhand der EMRK, werden sie dafür gerügt405. Damit wird
die EMRK stärker in das forensische Interesse gerückt und der Konstitutionalisierungs­
399
Vgl. EGMR, Application no. 71111/01 vom 14.6.2007, Rn. 27 ff.
400
Nach dem damaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Papier gefährdet die „Globalisierung ... unsere
Rechtskultur“, zitiert nach SZ vom 14. Januar 2008, S. 6.
401
Dazu unter c)dd).
402
BVerfGE 112, 1– SBZ-Enteignungen; s. auch BVerfG, NJW 2007, 499 (501) – konsularischer Beistand; BVerfG, 2
BvR 332/05 vom 12.5.2005; BVerfG, 2 BvR 2314/04 vom 9.12.2004, Rn. 3; BVerfG, 2 BvR 2491/07 vom 23.1.2008,
Rn. 6; BVerfG, 2 BvR 364/07 vom 23.1.2008, Rn. 29 ff.; BVerfG, 2 BvR 2354/04 vom 13.11.2007, Rn. 21. S. zum
Presserecht BVerfG, 1 BvR 565/06 vom 13.6.2006, Rn. 11 ff.; BVerfG, 1 BvR 2606/04, 1 BvR 2845/04, 1 BvR
2846/04, 1 BvR 2847/04 vom21.8.2006, Rn. 32.
403
BVerfG vom 26.2.2008, 1 BvR 1602/07, 1 BvR 1606/07, 1 BvR 1626/07 Rn. 72.
404
BVerfG, 2 BvR vom 6.5.2008, Rn.40; BVerfG, 1 BvR 3255/07 vom 25.2.2008, Rn. 45 f. weist rechtsvergleichend
auch auf die Interpretation der EMRK durch den Österreichischen Verfassungsgerichtshof hin; BVerfG, 1
BvR 2722/06 vom 20.2.2008, Rn. 86 f.; BVerfG, 1 BvR 2231/03 vom 21.3.200, Rn. 33 ff.; BverfG, 2 BvR 170/06
vom 16.3.2006, Rn. 21; BVerfG, 1 BvR 2084/05 vom 13.12.2006, Rn. 36 ff. – Jagdrecht; vgl. auch BVerfG
vom 26.2.2008, 1 BvR 1602/07, 1 BvR 1606/07, 1 BvR 1626/07 Rn. 72; zur Zulässigkeit dieses Vorgehens und seiner geradezu Notwendigkeit angesichts des Fehlens eines Vorlageverfahrens C. Walter, (Fn. 384), S. 53 (61).
405
194
BVerfG, 2 BvR 304/07 vom 10.5.2007, Rn.31 ff.; BVerfG, 1 BvR 3219/06 vom 9.2.2007, Rn. 15; BVerfG, 1 BvR
2622/05 vom 13.6.2006, Rn. 13.
Der Fachdiskurs im Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) am Beispiel Deutschlands und der Schweiz
prozess unter der EMRK weiter verdichtet. Die Frage, ob die EMRK im Verfassungsrang
steht, wird dann nur noch für die sog. schrankenlosen Grundrechte relevant406. Zugleich
wird deutlich, dass das BVerfG bei fehlender Parallelität von Grundrechten und EMRKVerbürgungen dem einfachen Bundesgesetzgeber nicht allgemein ein bewusstes Abweichen
von der EMRK gestattet, sondern dies einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzieht. Es sei
die Vermutung gewagt, dass diese Prüfung nur dann zugunsten des Gesetzgebers ausgeht,
wenn er sich auf verfassungsrechtliche Gründe berufen kann407.
c) Dogmatische Würdigung
aa) Überkommen geglaubter Dualismus und Rang als einfaches Bundesgesetz
Das Bekenntnis des BVerfG in der Görgülü-Entscheidung zu einem strikten Dualismus ist
insofern überraschend, als es die in der Vergangenheit zu verzeichnende Entwicklung hin
zu einem gemäßigten Dualismus konterkariert408. Konsequent bestätigt das BVerfG seine
ständige Rechtsprechung, wonach die EMRK gemäß der allgemeinen Regel des Art. 59
Abs. 2 S. 1 GG im Rang eines Bundesgesetzes im nationalen Recht gilt mit der bekannten
Folge, dass sie grundsätzlich nach der lex posterior später erlassenen Bundesgesetzen in
der Anwendung weichen müsste409. Kritikwürdig ist, dass das BVerfG im Konfliktfall
nicht (nur) auf verfassungsrechtliche Wertentscheidungen abstellen will, sondern
inhaltlich unbeschränkt eine Souveränitätsfrage aufwirft. Dieser Ansatz steht in einem
Spannungsverhältnis zum Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes,
wonach der Gesetzgeber in der Regel seine völkerrechtlichen Pflichten erfüllen will und
deshalb in der Regel eine konventionskonforme Auslegung geboten sei. Diese stoße aber
an ihre Grenzen, wenn der Gesetzgeber klar erkennbar von den Vorgaben der EMRK
abweichen wolle, und Letztere keine Parallele in den deutschen Grundrechten fänden410.
Argumentationstechnisch wird der Rekurs auf einen überholten strikten Dualismus
deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass alle anderen vom BVerfG konkret
erwähnten Normen des Grundgesetzes – insbesondere Art. 24, Art. 25 und Art. 1
Abs. 2 GG – für eine besondere Gewichtung der völkerrechtlichen Bindungen sprechen,
d.h. tendenziell gegen weite nationale Spielräume. Die vom Gericht vorgenommene
„Sammelbegründung“ ist geeignet, die Bedeutung der einzelnen Normen zu verdecken.
406
Dort reichen zur Eingriffsrechtfertigung nicht bloße Interessen des Allgemeinwohls aus. Doch wird man in
diesen Fällen weitgehend die parallele Auslegung von EMRK-Verbürgungen und Grundrechten heranziehen
können. Dagegen stellt „Souveränität“ in diesem Prüfprogramm keinen Argumentationstopos dar, kritisch
insofern zum BVerfG auch S. Kadelbach, (Fn. 364) JURA 2005, 480 (486).
407
Vgl. die Prüfungsreihenfolge in BVerfG, 1 BvR 1664/04 vom 5.4.2005 unter II.2.a)aa): Berücksichtigung der
EMRK, die aber nicht zu „Ergebnisse[n], die mit dem Grundgesetz unvereinbar sind “, führen darf.
408
Vgl. BVerfGE 90, 286 (364), BVerfGE 104, 151 (209).
409
Vgl. dazu F. Czerner, Das völkerrechtliche Anschlusssystem der Ar. 59 II 1, 25 und 24 I GG und deren Inkorporierungsfunktion zugunsten der innerstaatlichen EMRK-Geltung, EuR 2007, 537 (539).
410
BVerfGE 111, 307 (317 f., 323 f.; 328 f.); vgl. BVerfGE 74, 358 (370).
195
Sebastian Heselhaus
bb) Die EMRK als zwischenstaatliche Einrichtung nach Art. 24 Abs. 1 GG?
Einen übergesetzlichen Rang könnte die EMRK erlangen, wenn man sie als sog.
zwischenstaatliche Einrichtung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG auffasste. Diese Vorschrift
erlaubt die Übertragung entsprechender Hoheitsrechte an betreffende Einrichtungen411.
Entscheidendes Kriterium ist der Durchgriff in den staatlichen Hoheitsbereich412.
In der Pershing-Entscheidung hat das BVerfG die Anforderungen daran allerdings
gelockert und auf eine unmittelbare Wirkung in der deutschen Rechtsordnung
verzichtet413. In einem engen Sinn hat der EGMR gerade keine Durchgriffsbefugnisse;
er ist auf Feststellungsentscheidungen begrenzt, die gerade keine kassatorische Wirkung
entfalten414. Eine weite Interpretation stellt hingegen auf die zunehmenden Möglichkeiten
des EGMR ab, insbesondere durch Piloturteile Einfluss auf die nationale Rechtsordnung
zu nehmen.415 Dieser ist allerdings eher indirekter Natur416. Eine weitere Verstärkung
der Befugnisse des EGMR ist auch bei fortschreitendem Konstitutionalisierungs­prozess
wenig wahrscheinlich417. Festzuhalten ist, dass die Anwendung von Art. 24 Abs. 1 GG
bis zur Grenze der „Veränderung der Grundstruktur der Verfassung“ eine Übertragung
von Hoheitsbefugnissen zuließe418.
cc) Indirekte Supranationalität über Art. 23 GG?
Noch weniger kann die EMRK als eine supranationale Einrichtung im Sinne von Art. 23
GG angesehen werden. Allerdings könnte sie über den Umweg der Europäischen Union
einen übergesetzlichen Rang erlangen. Denn schon jetzt werden ihre Gewährleistungen
411
Bis 1992 war die Vorschrift Grundlage für die Öffnung gegenüber der supranationalen Gewalt der EG gewesen.
Seitdem regelt Art. 23 GG das Verhältnis zur EU.
412
R. Streinz, in: M. Sachs, GG-Kommentar, 4. Aufl. 2007, Art. 24 Rn. 12 m.w.N.
413
BVerfGE 68, 1 (80 f.; 93 ff.), vgl. BVerfGE 90, 286 (350) – Somalia; ablehnend R. Streinz, (Fn. 412) Art. 24
Rn. 36.
414
L. Wildhaber, (Fn. 355), S. 507 f. m.w.N.; F. Czerner, (Fn. 409) EuR 2007, 537 (540 f.), m.w.N. zur Rspr. des
EGMR; zur Pershing-Entscheidung des BVerfG T. Giegerich, Wirkung und Rang der EMRK in Deutschland, in:
R. Grote/T. Marauhn (Hrsg.), Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz,
2006, Kap. 2 V, Rn. 49. In neuerer Zeit gibt der EGMR aber auch Hinweise, wie eine Wiedergutmachung aussehen könnte, näher dazu J. Mayer-Ladewig/H. Petzold, (Fn. 353) NJW 2005, 15 (18) m.w.N.
415
S. die Entschließung des Ministerkomites des Europarates DHRes. (2004) 3 vom 12.5.2004; aufgegriffen in
EGMR, Slg. 2004-V, EGMR (GK), Rep. 2004 V – Broniowski; näher dazu L. Caflisch, Neues zur Formulierung
und Umsetzung von Urteilen des europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, in: Liber amicorum J. Delbrück, Weltinnenrecht, 2005, S.101 ff.; weitere Hinweise zur Rechtsprechung in J. Mayer-Ladewig/H. Petzold,
(Fn. 3) NJW 2005, 15 (20).
416
Das geben auch die Vertreter dieser Sicht zu, C. Walter, (Fn. 384), S. 53 (65 f.); nach M. Ruffert, (Fn. 353)
EuGRZ 2007, 245 (254) soll die rechtschöpferische Tätigkeit des EGMR als „Ausübung von Hoheitsrechten“
aufgefasst werden können.
417
A.A. aber A. Bleckmann, Verfassungsrang der Europäischen Menschenrechtskonvention?, EuGRZ 1994, 149
(153); T. Giegerich, (Fn. 414) Rn. 49.
418
BVerfGE 37, 271 (280).
196
Der Fachdiskurs im Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) am Beispiel Deutschlands und der Schweiz
über die Rechtsprechung des EuGH in der EU effektiv verbürgt419. Zudem ist der Beitritt
zur EMRK faktisch Voraussetzung eines EU-Beitritts. Darüber hinaus würde mit dem
im Lissabonner Vertrag vorgesehen Beitritt der EU zur ERMK Letztere direkt für die EU
verbindlich420. Eine daraus folgende Bindungswirkung für die Mitgliedstaaten der EU
ergibt sich bereits heute in zwei Fällen, bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts und
(umstritten) beim Handeln im Rahmen des Gemeinschaftsrechts421. Zwar wären diese
Bindungswirkung entsprechend begrenzt und ihr unmittelbarer Ansatzpunkt wären
formal Vorgaben des Gemeinschaftsrechts, doch wäre nur schwer zu vermitteln, warum
dann inhaltlich unterschiedliche Standards für das Handeln deutscher öffentlicher
Gewalt bestehen sollen422.
dd) Die EMRK als Ausdruck einer allgemeinen Regel des Völkerrechts nach Art. 25 GG?
Nach Art. 25 GG gehen die „allgemeinen Regeln des Völkerrechts“ den Gesetzen
vor. Zu den allgemeinen Regeln zählen nach einhelliger Ansicht jedenfalls das ius
cogens und das dispositive Völkergewohnheitsrecht423. Dagegen kann der notwendige
Allgemeinheitsgrad nicht von Normen des Völkervertragsrechts erreicht werden424. Aus
diesem Grund könnte die EMRK nur dann in Art. 25 GG einbezogen werden, wenn
sie Ausdruck von (regionalem) Völkergewohnheitsrecht wäre. Sicherlich kann die dazu
erforderliche allgemeine Akzeptanz (von einer opinio iuris getragene Übung) nicht für
alle Zusatzprotokolle, die die EMRK kontinuierlich fortentwickeln, in gleicher Weise
festgestellt werden. Doch könnte dies immerhin für die von allen europäischen Staaten
vorbehaltlos akzeptierten Verbürgungen angenommen werden. Zur Begründung
reicht aber weder die bloße Tatsache der Ratifikation allein noch der Präzisierungsgrad
der Verbürgungen in der EMRK aus425. Denn solche Eigenschaften weisen viele
völkerrechtliche Verträge auf, ohne dass sie als Ausdruck von Völkergewohnheitsrecht
gewertet werden. Hinzuzunehmen ist der spezifische Konstitutionalisierungs­prozess
unter der EMRK, der durchaus normative Folgen gezeitigt hat, etwa wenn der Beitritt zur
EMRK als Voraussetzung einer Mitgliedschaft in der EU angesehen wird. Ferner hat er zu
einer rasanten Steigerung der Zahl der Vertragsstaaten beigetragen und dem EGMR eine
faktische Machtposition verschafft, in der dieser Vorbehalte von Konventionsstaaten eng
interpretieren bzw. verwerfen konnte, ohne damit rechnen zu müssen, dass diese deshalb
419
Vgl. Art. 6 EUV.
420
Vgl. schon heute Art. 300 EGV.
421
Näher dazu S. Heselhaus, Grundrechte und Kompetenzen, in: ders./C. Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 3 Rn. 34 ff. m.w.N.
422
Vgl. den Ansatz von W. Schaller, (Fn. 393) EuR 2006, 656 (662 ff.).
423
S. einerseits BVerfGE 18, 441 (449) und andererseits BVerfGE 15, 25 (33); zustimmend I. Pernice, in
H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. II. 2. Aufl. 2006, Art. 25 Rn. 18 f.
424
BVerfGE 100, 266 (269).
425
So aber T. Giegerich, (Fn. 414), Rn. 54.
197
Sebastian Heselhaus
die Konvention verlassen würden. Nicht zuletzt kann in der seit den 1990er Jahren zu
erkennenden gemeineuropäischen Grundrechtsentwicklung in neueren Verfassungen
ein Ausweis einer opinio iuris auch für das Völkergewohnheitsrecht gesehen werden426.
Das BVerfG hat sich solchen Überlegungen nicht verschlossen, aber grundsätzlich eingewandt, dass der Nachweis entsprechend der Vorgabe „allgemein“ weltweit und nicht nur
regional zu erfolgen habe. Dabei lässt es dann allerdings eine Übung „zahlreicher Staaten“
ausreichen427. Überzeugend ist es, mit Stimmen in der Literatur428 auf eine funktionale
Sicht abzustellen, d. h. auf die Anerkennung in den sachlich oder räumlich einschlägigen
Bereichen des Völkerrechts: etwa als Küstenstaat oder als Industriestaat429. In diesem
Sinne kann eine Bindung als europäischer Grundrechtsstaat begründet werden430. Die
Konsequenz wäre unbestritten ein Vorrang vor den einfachen Gesetzen.
Allerdings ist umstritten, ob die allgemeinen Regeln des Völkerrechts nach Art. 25
GG im Rang unterhalb des Grundgesetzes431, auf einer Stufe mit ihm stehen432 oder
gar Überverfassungsrang aufweisen433. Letzteres wird vor allem mit einem Hinweis
auf die Entstehungsgeschichte der Norm begründet. Doch erscheint die Aussage von
v. Brentano, dass „Völkerrecht unter allen Umständen dem Bundesrecht und dem
Bundesverfassungsrecht“ vorgehe434, als überbewertet. Denn die Norm betrifft in ihrer endgültigen Fassung eben nicht alles „Völkerrecht“, sondern nur dessen allgemeine Regeln. Zudem ist die Formulierung, dass es sich um einen „Bestandteil des
Bundesverfassungsrechts“ handle, nicht angenommen worden. Viel spricht dafür, dass
sich Deutschland den zwingenden Vorgaben des Völkerrechts unterordnen wollte und das
damit der Rang vom Inhalt der betreffenden Völkerrechtsnormen abhängig ist. Danach
wäre nur ius cogens mit Überverfassungsrang ausgestattet435. Im Übrigen erschiene ein
Verfassungsrang für dispositives Völkergewohnheitsrecht merkwürdig, weil es dann aus
426
Vgl. die Überlegungen von C. Walter, (Fn. 384), S. 53 (63) zur EMRK als „Konventionsgemeinschaft“. Vgl. auch
die Zuordnung der EMRK durch den Auswärtigen Ausschuss des Bundestages zu den allgemeinen Regeln des
Völkerrechts in BT-Drs. 1/3338, 3 f.
427
BVerfGE 95, 96 (129). Vgl. zur Einbeziehung des „völkerrechtlichen Mindeststandards“ BVerfG, 2 BvR 1090/05
vom 22.11.2005, Rn. 33
428
Vgl. D. Ziegenhahn, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in
Strafsachen, 2002, S. 525.
429
I. Pernice, (Fn. 423) Art. 25 Rn. 20 m.w.N.
430
A. A. F. Czerner, (Fn. 409) EuR 2007, 537 (546 f.).
431
So die überwiegende Ansicht M. Zuleeg, in: E. Denniger u.a. (Hrsg.) AK-GG, Art. 24 Abs. 3/Art. 25 Rn. 22
ff. m.w.N. S. BVerfGE 6, 309 (363) in Abweichung von BerfGE 1, 208 (233).
432
S. A. Bleckmann, (Fn. 417), EuGRZ 1994, 149 (155); Steinberger, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des
Staatsrecht Bd. VII, § 173 Rn. 59 ff.
433
Differenzierend I. Pernice, (Fn. 423) Rn. 25, jedenfalls für Normen des ius cogens.
434
Vgl. zur Entstehungsgeschichte R. Streinz, (Fn. 412) Art. 25 Rn. 4 ff.
435
I. Pernice, (Fn. 423) Art. 25 Rn. 25; vgl. M. Ruffert, Der Entscheidungsmaßstab im Normverifikationsverfahren
nach Art. 100 II GG, JZ 2001, 633 (635 f.).
198
Der Fachdiskurs im Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) am Beispiel Deutschlands und der Schweiz
Verfassungsgründen nicht mehr dispositiv wäre. Daher ist letztlich die Verortung zwischen Gesetzen und Verfassung der überzeugendere Weg. Dem ist das BVerfG aber leider
nicht gefolgt.
ee) Aufwertung der EMRK über das Rechtstaatsprinzip?
In der Literatur wird vorgeschlagen, die EMRK-Verbürgungen als solche zu Bestandteilen
des Rechtsstaatsprinzips zu erklären. Folge sei ihr Verfassungsrang und im Rahmen des
Art. 79 Abs. 3 GG sogar eine Einbeziehung in die sog. Ewigkeitsklausel436. Als Rechtsstaat
könne ein Staat nur gelten, wenn er alles ihn bindende nationale, internationale und
supranationale Recht beachte437. Abgesehen von der sehr fragwürdigen Einbeziehung
von (jedenfalls jenseits eines menschenrechtlichen Mindeststandards) dispositivem
Völkervertragsrecht in die inhaltlich umstrittene Ewigkeitsklausel übersieht dieses
Argument, dass auch die Rangfrage und das Kollisionsrecht Teil des Rechtsstaatsprinzip
sind. Und wenn dadurch einer Rechtsebene der Vorrang eingeräumt wird, so geschieht
das nicht nur ohne Verstoß, sondern gerade in Umsetzung des Rechtsstaatsprinzips.
Das BVerfG ist in der Görgülü-Entscheidung einen anderen Weg gegangen und hat bei
Verletzungen der EMRK-Verbürgungen die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde in
Verbindung mit dem einschlägigen deutschen Grundrecht und dem Rechtsstaatsprinzip
vorgesehen438. Eine Parallele zur Konstruktion des Rechts auf ein faires (Verwaltungs-)
Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V. mit dem Rechtsstaatsprinzip439 wird deutlich: Dort
muss der Gesetzgeber die einmal getroffene Entscheidung für ein subjektives Recht konsequent durchhalten. Da aber die lex posterior-Regel nach dem BVerfG die Bindung
an „Recht und Gesetz“ nach Art. 20 Abs. 3 GG konkretisiert, die unbestritten Teil des
Rechtsstaatsprinzips ist, kann aus dem Rechtsstaatsprinzip ein spezifischer Schutz für die
EMRK-Verbürgungen nur dann gefolgert werden, wenn man diesem eine entsprechende
materielle Komponente zugesteht. Dann stünde aber die betreffenden Aspekte nicht mehr
zur freien Disposition des einfachen Gesetzgebers.
ff) Einbeziehung über Art. 1 Abs. 2 GG?
In Art. 1 Abs. 2 GG bekennt sich das Grundgesetz zu den „unverletzlichen und
unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft,
des Friedens und der Gerechtigkeit“. Damit wird die Qualität und Bedeutung der
Menschenrechte verdeutlicht440 und ein Bezug zur Tradition der Menschenrechte
in den westlichen Demokratien sowie den davon inspirierten internationalen
436
T. Giegerich, (Fn. 414), Rn. 58 sieht dass als „Vorteile“ an.
437
T. Giegerich, (Fn. 414), Rn. 59.
438
BVerfGE 111, 307 (329, 330, bzw. Rn. 63).
439
BVerfGE 101, 397 (405) – Rechtspfleger.
440
BVerwGE 113, 48 (50).
199
Sebastian Heselhaus
Menschenrechtsverbürgungen hergestellt441. Hatte der Parlamentarische Rat die
allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Blick, kann vergleichbar die später in
Kraft getretene EMRK herangezogen werden.
In der Literatur wird vereinzelt versucht, die internationalen Menschenrechtsverbür­
gungen über Art. 1 Abs. 2 GG in das Grundgesetz zu inkorporieren442. Das würde tendenziell zu einem Übernahmeautomatismus führen, der sich kaum mit der inhaltlichen
Vagheit der Vorschrift verträgt443. Einhellig wird die Vorschrift aber als ein weiterer Beleg
für die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetztes und die Heranziehung namentlich
der EMRK zur Interpretation der deutschen Grundrechte angesehen444, doch sind die
Details umstritten.
Das BVerfG spricht vom „Kernbestand an internationalen Menschenrechten“, ohne
den Begriff weiter zu erläutern445. Jedenfalls wendet es die Vorschrift auf die EMRK an,
ohne eine Einengung auf das ius cogens vorzunehmen. Die Anwendung auf die EMRK
ist überzeugend, wenn die Bezugnahme auf die Welt in Art. 1 Abs. 2 GG im Sinne von
„völkerrechtlich“ interpretiert wird. Dann ist aber auch die Einbeziehung anderer grundlegender internationaler Menschenrechtsverbürgungen nicht ausgeschlossen. Den Umfang
der von dieser Norm geforderten Bindung lässt das BVerfG im Unklaren. In der Sache
sprechen die Ausführungen des Gerichts für eine normative Leitfunktion der EMRK,
die sich kaum mit einer Reduzierung auf den Kern einzelner Grundrecht verträgt. Und
in diesem Umfang stünde die Norm auch einem bewusstes Abweichen des einfachen
Gesetzgebers ohne eine verfassungsrechtliche Unterfütterung entgegen.
Insgesamt zeigt sich, dass die angebotenen Grundgesetznormen nur die EMRK-freundliche Seite des vom BVerfG entwickelten Konzepts der „Berücksichtigung“ abzubilden
vermag, nicht aber die Einschränkungen im Hinblick auf ein „Einpassen“. Auch durch
die Gesamtsicht aller einschlägigen Normen können diese Brüche in der dogmatischen
Begründung nicht überspielt werden. Vorzugswürdig wäre der Lösungsweg über Art. 25
GG gewesen, der der Bedeutung der EMRK angemessen Rechung trägt und zugleich den
gerichtlichen Dialog fördert.
441
H.D. Jarass, in: Jarass/B. Pieroth, GG-Kommentar, 9. Aufl. 2007, Art. 1 Rn. 27.
442
R. Echterhölter, Die Europäische Menschenrechtskonvention im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung,
JZ 1955, 689 (691).
443
Vgl. H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), (Fn. 423) Art. 1 II Rn. 19.
444
H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), (Fn. 423) Art. 1 II Rn. 20.
445
BVerfGE 111, 307 (328 f. bzw. Rn. 62).
200
Der Fachdiskurs im Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) am Beispiel Deutschlands und der Schweiz
III. Die EMRK im schweizerischen Recht: Kontinuität oder Umbruch?
1. Eckpunkte der jüngeren Praxis
a) Parallelität und Diskurs
Die Situation in der Schweiz ist in ihrem Ausgangspunkt höchst unterschiedlich von
der unter dem Grundgesetz gewesen. Denn die schweizerische Bundesverfassung (BV)
enthielt bis zu ihrer als Nachführung bezeichneten Revision 1999 keinen umfassenden
Grundrechtskatalog. Grund ist nicht eine fehlende Grundrechtssensibilität gewesen,
sondern die Annahme, dass die lange eher schwach eingestufte Bundesgewalt in der Praxis
kaum eines solchen Korrektivs bedürfe446. Auftretende Lücken hat das Bundesgericht
vor allem durch eine extensive Interpretation positivierter Grundrechte unter Rekurs
auf völkerrechtliche Verbürgungen, in Ausnahmefällen aber auch über die Anerkennung
ungeschriebener Grundrechte schließen können447. Dabei hat ihm die Bezugnahme auf
die EMRK und deren reichhaltige Rechtsprechung die Begründungslast erleichtert.
In dieser Rechtsprechung verbindet sich die betonte Völkerrechtsfreundlichkeit der
Bundesverfassung mit einer Aufwertung der Stellung des Bundesgerichts448.
Denn Art. 190 BV statuiert wie die gleich lautende Vorgängernorm, dass „Bundesgesetze
und Völkerrecht [...] für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden
massgebend“ sind. Obgleich der Wortlaut für einen gleichen Rang beider Rechtsakte
spricht, ist ihre Bedeutung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts unterschiedlich. So kann bei Bundesgesetzen im Falle eines Verstoßes gegen Grundrechte der
Bundesverfassung lediglich deren Verfassungswidrigkeit festgestellt werden: Sie bleiben
aber anwendbar; ihre Aufhebung ist Sache des parlamentarischen Gesetzgebers449. Diese
grundlegende Weichenstellung wird regelmäßig wenig überzeugend und plakativ als eine
Entscheidung zugunsten des Demokratieprinzips gegenüber dem Rechtsstaatsprinzip
zu erklären versucht450. Näher liegt es hingegen, diese Norminterpretation im Lichte eines französisch inspirierten Konzeptes der Gewaltenteilung zu sehen, das die Macht des
Richters stark begrenzen will. Demgegenüber hat das Bundesgericht den die Schweiz bindenden völkerrechtlichen Verträgen im Grundsatz einen Vorrang vor den Bundesgesetzen
zuerkannt, der im Konfliktfall zur Nichtigkeit des Bundesrechts führt451. In Koalition
446
Interessant sind die Parallelen zur Notwendigkeit eines Grundrechtsschutzes in der Anfangsphase der EG, s.
S. Heselhaus, (Fn. 421) § 3 Rn. 1 ff.
447
S. die Entwicklung der Rechtsprechung zu Art. 10 BV und R. Kiener/W. Kälin, Grundrechte, 2007, §§ 12
(Persönliche Freiheit) und 37 (Recht auf Hilfe in Notlagen).
448
Vgl. die Bewertung bei C. Walter, (Fn. 384) S. 53 (67).
449
R. Kiener/W. Kälin, (Fn. 447), S. 67 f.; Y. Hangartner, Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht. Aus­
legeordnung eines Kernproblems von Verfassungspraxis und Verfassungsreform, SJZ 94 (1998), 201 (205).
450
Das greift indes zu kurz, denn zum einen sind auch Verfassungsnormen demokratisch – und zwar stärker – legitimiert und zum anderen wird der demokratische Gesetzgeber in den Kantonen nicht geschützt.
451
Nachweise zur Rechtsprechung bei R. Kiener/W. Kälin, (Fn. 447), S. 16 ff. Zu den Ausnahmen der sog. Schubert-Praxis s. unter 2.
201
Sebastian Heselhaus
mit der Völkerrechtstreue ist so eine (beschränkte) Verwerfungskompetenz gegenüber
Bundesgesetze etabliert worden. Dementsprechend zieht das Bundesgericht häufig
Verbürgungen der EMRK bei der Entscheidungsfindung heran452. Mit der Bindung der
Bundesgesetze an die EMRK ist die Grundlage für einen stetigen Dialog mit dem EGMR
gelegt. Dieser wird sich in der Praxis auf eine kritische Begleitung beschränken und kaum
zu einer Konfrontation führen453. Denn eine fundamentale Kritik der Rechtsprechung des
EGMR würde unweigerlich die Frage aufwerfen, ob unter dem Gewaltenteilungsgrundsatz
nicht das Parlament vorrangig zu einer solchen Konfrontation legitimiert wäre.
Die besondere Völkerrechtsfreundlichkeit wird auch in der neuen Bundesverfassung
beibehalten, die nunmehr über einen umfassenden Grundrechtskatalog verfügt, der nicht
zuletzt auf eine sog. Nachführung an den völkerrechtlichen Gewährleistungsstandard
abzielt. Darauf gestützt prüft das Bundesgericht zuweilen bei Rügen einer Verletzung von
EMRK-Verbürgungen allein die Bundesgrundrechte mit dem Hinweis, dass der Schutz
der EMRK nicht über den der Bundesgrundrechte hinausgehe 454. Rechtlich ist diese
Beschränkung wenig überzeugend, denn ein Verstoß gegen die EMRK könnte auch zur
Nichtigkeit von Bundesgesetzen führen. Allerdings scheint dieses Vorgehen rechtspolitisch
von dem Willen beseelt zu sein, eine eigenständige schweizerische Grundrechtsdoktrin
zu entwickeln.
Ein Zugeständnis an die Macht des Bundesparlaments liegt in der sog. SchubertPraxis, wonach ein Verstoß gegen Völkerrecht dann unerheblich sein soll, wenn er bewusst
vom Bundesparlament gewollt gewesen ist455. Insofern besteht eine Parallele zum neueren
Konzept des deutschen Bundesverfassungsgerichts.
b) Konfliktfelder
Konfliktfelder ergeben sich zunächst im Rahmen der in der Schweiz besonders
ausgeprägten Volksrechte, Referenden auf Gesetzesebene und Initiativen auf
Verfassungsebene. Das Recht des Volkes, grundsätzlich normative Veränderungen auf
diesen Ebenen herbeizuführen, wird nämlich vom Völkerrecht begrenzt: das für die
Schweiz verbindliche Völkerrecht muss bei Referenden beachtet werden, das zwingende
Völkerrecht bei Verfassungsinitiativen456. In der politischen Auseinandersetzung wird
die EMRK teilweise zur Hegung des Volkswillens instrumentalisiert. In diesem Sinne
ist der polemische Vergleich des Völkerrechts mit den historischen „Vögten“ von
452
S. etwa BGE 130 I 369 – WEF-Journalist I; s. auch BGE 130 I 369. Kritisch dazu J.P. Müller, (Fn. 363) ZSR 2005,
9 (19), weil damit die Verfassungsgarantien in der BV nicht immer ausgeschöpft würden.
453
Vgl. BGE vom 27.4.2006 (6P.25/2006 und 6S.53/2006).
454
BGE 132 I 49, 56 E.5.3.
455
S. unter 2.
456
Nach Art. 139 (neu) Abs. 2 BV muss eine Initiative auf Teilrevision der Bundesverfassung u.a. wegen einer Verletzung „zwingende[r] Bestimmungen des Völkerrechts“ für ungültig erklärt werden; näher dazu R. Baumann,
Völkerrechtliche Schranken der Verfassungsrevision, ZBL 2007, 181 ff.
202
Der Fachdiskurs im Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) am Beispiel Deutschlands und der Schweiz
Christoph Blocher zu verstehen, der seinerseits die Volksrechte oft politisch erfolgreich
instrumentalisiert hat457.
Ein Beispiel ist die sog. Sicherheitsverwahrung, d. h. die präventive Frei­
heitsbeschränkung458. Vor dem Hintergrund Aufsehen erregender Verbrechen ist aufgrund einer Volksinitiative mit Art. 123a BV eine lebenslange Sicherheitsverwahrung bei
Sexual- oder Gewaltstraftätern eingeführt worden. Sie steht in einem Spannungsverhältnis
zu Art. 5 EMRK, der eine regelmäßige Überprüfung der Voraussetzungen für die
Aufrechterhaltung einer präventiven Freiheitsentziehung verlangt. Sehr pragmatisch versucht das Bundesparlament bei der Umsetzung dieser Verfassungsnorm den Vorgaben
der EMRK gerecht zu werden459.
Spannungspotenzial enthalten auch zwei weitere Volksinitiativen: In der mittlerweile
vom Volk und den Ständen abgelehnten sog. Einbürgerungsinitiative ging es darum, eine
gerichtliche Überprüfung von Einbürgerungsentscheidungen der Gemeinde abzuwehren,
indem diese zu einer politischen Frage erklärt werden sollten. Auch hier sind Bedenken
in Bezug auf die EMRK-Konformität aufgekommen460. Die sog. Minarett-Initiative, die
auf ein generelles Verbot des Baus von Minaretten zielt, könnte gegen die Religionsfreiheit
nach Art. 9 EMRK verstoßen461. Jedoch ist fraglich, ob die Religionsfreiheit zu den „zwingenden“ völkerrechtlichen Vorgaben im Sinne des Art. 139 BV zu zählen ist. Immerhin
wird von politischen Organen eine weite Auslegung der Vorschrift propagiert, die auch
notstandsfeste Menschenrechtsverbürgungen umfassen soll 462. Zu diesen zählt Art. 9
EMRK aber gerade nicht. Allerdings weist eine andere internationale Menschenrechts
verbürgung, nämlich die Religionsfreiheit nach Art. 18 IPbpR, einen entsprechenden
Schutz auf.
2. Die Aufgabe der sog. Schubert-Praxis?
Eine gewisse Entspannung scheint sich hingegen im Bereich des Verhältnisses zum
einfachen Bundesgesetzgeber abzuzeichnen. Denn die sog. Schubert-Ausnahme
wird in der jüngeren Rechtsprechung zunehmend problematisiert. Im Fall Schubert
457
Kritisch zu den Aussagen Blochers <http://www.nzz.ch/nachrichten/schweiz/aktuell/blochers_aussagen_sind_
unhaltbar_1.539980.html.>.
458
Näher dazu M. Heer, Nachträgliche Verwahrung – ein Gesetzgeberischer Irrläufer, AJP/PJA 2007, 1031 ff.
459
Näher dazu M. Forster, Lebenslange Verwahrung: zur grundrechtskonformen Auslegung von Art. 123a BV,
AJP/PJA 2004, 418 ff.; s. auch die Botschaft zur Volksinitiative „Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter“ vom 4.4.2001, BBl. Nr. 31, 2001, S. 3433.
460
Sie schlagen aber nicht durch, da mögliche Diskriminierungen nach Art. 14 EMRK nur überprüft werden
können, wenn der Schutzbereich eines anderen Grundsrechts der EMRK betroffen ist. Es gibt aber eben kein
Grundrecht auf Einbürgerung. näher dazu A. Auer/N. v.Arx, Direkte Demokratie ohne Grenzen? Ein Diskussionsbeitrag zur Frage der Verfassungsmässigkeit von Einbürgerungsbeschlüssen durch das Volk, AJP/PJA
2000, 923 ff.
461
Vgl. T. Hasler, Minarett-Initiative wohl ungültig, tagesanzeiger online vom 21.5.2007.
462
S. dazu T. Hasler, Minarett-Initiative wohl ungültig, tagesanzeiger online vom 21.5.2007.
203
Sebastian Heselhaus
ging es um einen Vertrag zwischen der Schweiz und Österreich-Ungarn aus dem
Jahr 1875463. Formal war die Schweiz eindeutig an diesen gebunden, auch wenn er
von einem Gesetzgeber unter einer anderen Verfassung und mit unterschiedlicher
demokratischer Legitimation geschlossen worden war. 1970 wollte der schweizerische
Gesetzgeber die in diesem Vertrag vorgesehene Inländergleichbehandlung (auch) beim
Grundstückserwerb nicht mehr anwenden. Statt den Vertrag zu kündigen und über die
verbleibenden Teile neu zu verhandeln, wich er auf nationaler Ebene bewusst von den
Vorgaben jener Niederlassungsfreiheit ab. Daraufhin suspendierte die österreichische
Seite die korrespondierenden Vertragsbestimmungen, hielt aber den Vertrag im Übrigen
aufrecht464. Seitdem wird unter der sog. Schubert-Praxis verstanden, dass die Bindung
an das Völkervertragsrecht dann nicht durchgreife, wenn der Bundesgesetzgeber
ausdrücklich im Widerspruch dazu legeferieren wollte. Das Bundesgericht hat in
zahlreichen Fällen auf die Entscheidung Bezug genommen. Regelmäßig handelt es sich
dabei im strikten Sinn um obiter dicta, weil in der Sache kein absichtliches Abweichen
des Gesetzgebers vom Völkerrecht nachgewiesen werden konnte465. Vereinzelt ist es aber
auch in der Sache zu einer Bestätigung gekommen466, jedoch auch zur Bejahung eines
Vorrangs völkerrechtlicher Verträge467.
Eine wichtige Modifikation dieser Praxis erfolgte 1999 im PKK-Fall. In der Sache ging es
um die Beschlagnahme von Propagandamaterial der kurdischen Arbeiterpartei PKK in der
Schweiz, gegen die nach den schweizerischen Gesetzen kein Rechtsmittel zur Verfügung
gestanden hat. Entgegen dieser Regelung folgerte das Bundesgericht den Anspruch auf
Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischem Gericht unmittelbar aus Art. 6 EMRK,
gab dieser also den Vorrang vor einem klar entgegenstehenden Bundesgesetz468. In der
Begründung stützte es sich auf die Pflicht zur Einhaltung völkerrechtlicher Verträge nach
Art. 26, 27 WVK, deren Bedeutung bei Menschenrechtsverbürgungen besonders hoch
sei: „Daraus ergibt sich, dass im Konfliktfall das Völkerrecht dem Landesrecht prinzipiell
vorgeht [...]. Dies hat zur Folge, dass eine völkerrechtswidrige Norm des Landesrechts im
Einzelfall nicht angewendet werden kann [...]. Diese Konfliktregelung drängt sich umso
mehr auf, wenn sich der Vorrang aus einer völkerrechtlichen Norm ableitet, die zum
Schutz der Menschenrechte dient“469.
Diese Entwicklung ist rechtspolitisch sicher ein Ausdruck des erfolgreichen
Konstitutionalisierungs­prozesses unter der EMRK. Doch geht die dogmatisch relativ
463
BGE 99 Ib 39, 44 f. E.4.
464
Formal liegt in der Suspendierung eine Retorsion, die Antwort auf den schweizerischen Vertragsbruch.
465
Vgl. BGE117 IV 124, E.4.b) und c); BGE 111 V 201, E. 2.b); BGE 118 Ib 277, E.3.b) – Ficheneinsicht.
466
BGE 112 II 1, 13 (E.8) – (Wohnbau AG Giswil). Der Entscheid erging aber zeitlich vor dem PKK-Entscheid
und betraf keine internationale Menschenrechtsverbürgung.
467
BGE 122 II 485 E.3.a).
468
De facto wurde Art 98 lit. a OG um einen ungeschriebenen Zulässigkeitsgrund ergänzt.
469
BGE 125 II 417 (1999) – PKK
204
Der Fachdiskurs im Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) am Beispiel Deutschlands und der Schweiz
vage Begründung darüber hinaus und umfasst alle völkervertragsrechtlichen Menschen­
rechtsverbürgungen. Auch hat sich das Bundesgericht den Weg offen gehalten, diesen
Vorrang auf alle Völkerrechtsverträge auszudehnen: „Ob in anderen Fällen davon abweichende Konfliktlösungen in Betracht zu ziehen sind (vgl. z.B. BGE 99 Ib 39, 44 f. E.4), ist
vorliegend nicht zu prüfen.“ Die damit angesprochene Schubert-Entscheidung betraf mit
dem Niederlassungsrecht zwar ein subjektives Individualrecht, doch war dieses anders als
Menschenrechtsverbürgungen auf Staatsangehörige des Vertragspartners begrenzt und
stand unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit.
Die PKK-Entscheidung ist mittlerweile in ständiger Rechtsprechung im Hinblick auf
Art. 6 EMRK bestätigt worden470. Zudem ist sie in anderen Konstellationen ohne den
Hinweis auf die Schubert-Praxis zitiert worden471. Zur Begründung ist unter der alten
Bundesverfassung vom Bundesgericht mit Hinweis auf den Grundsatz pacta sunt servanda
angedacht worden, dass im Konfliktfall zwischen Bundesgesetz und Völkerrecht (EMRK)
eine Berufung auf die lex posterior-Regel unzulässig sei und das Völkervertragsrecht einzuhalten sei. Zusammenfassend hat das Bundesgericht festgestellt, dass unter der alten
Bundesverfassung „der Überprüfung einer eidgenössischen Gesetzesbestimmung auf ihre
Vereinbarkeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention nichts entgegenstehe“472.
Dies hat das Bundesgericht unter der neuen Bundesverfassung problematisiert, interessanter Weise aber nicht mit Bezug zu den spezifisch auf das Verhältnis zum Völkerrecht
ausgerichteten Verfassungsnormen, sondern mit dem Hinweis, dass der Vorschlag des
Bundesrates zur Einführung einer umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit nicht umgesetzt worden sei473. Hier klingt die subsidiäre Funktion der EMRK gegenüber einer
fehlenden umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit an. Dennoch hält das Bundesgericht
eine Überprüfung von Bundesgesetzen anhand der EMRK für erforderlich, weil die
Konsequenzen jener Zurückhaltung bei der Verfassungsrevision nicht klar seien474.
Offen bleibt im Ergebnis, ob für „andere Fälle“ im Sinne der PKK-Entscheidung die sog.
Schubert-Ausnahme weiterhin gelten könnte. Der Begründungsansatz über pacta sunt
servanda spräche dagegen.
Im Vergleich mit Deutschland akzeptiert das Bundesgericht im Ansatz eine stärkere
Bindungswirkung der EMRK. Sie bleibt rechtsvergleichend aber hinter der Völkerrechts­
freundlichkeit anderer Staaten, etwa der Niederlande, zurück475. Rechtssoziologisch sind
470
Bestätigt in BGE 128 III 113, E.3.a), wo im Ergebnis ein Verstoss verneint worden ist; vgl. auch BGE 128 IV
117, E. 3.b).
471
BGE 131 V 66, E.3.2 sogar allgemeiner für internationale Konventionen; s. auch BGE 133 II 450, E.6.2 und
BGE 130 I 312, BGE 130 I 388; BGE 132 V 6; BGE 131 II 352.
472
BGE 128 IV 201, 206 E1.3. mit Nachweisen auf die Rechtsprechung.
473
BGE 128 IV 201, 206 E1.3.
474
BGE 128 IV 201, 206 E1.3.
475
In den Niederlanden gehen Verträge, die der Zustimmung der Generalstaaten vor der Ratifikation bedurft
haben, nationalen Gesetzen vor, Art. 66 Ndl. Verfassung, näher dazu Bauer, Die niederländische Verfassungsänderung von 1956 betreffend die auswärtige Gewalt, ZaöRV 18 (1957/1958) 137 ff.
205
Sebastian Heselhaus
die Gründe für die besondere Bedeutung des Völkervertragsrechts in der Schweiz vielschichtig. Da ist zunächst der Gründungsmythos eines „Eides“ zwischen den Kantonen,
der auf einen staatsrechtlichen Vertrag rekurriert, den diese einhalten müssen476 Hinzu
tritt der historische Umstand, dass mit der auf dem Wiener Kongress vorgesehenen
ständigen Neutralität der Schweiz die Einhaltung des Völkervertragsrechts – seitens
der Schweiz, aber auch der anderen europäischen Staaten – zu einem Garanten der
Souveränität der Eidgenossenschaft geworden ist. Vielleicht hat erst die positive Erfahrung
der Respektierung der Neutralität selbst im Zweiten Weltkrieg die Grundlage dafür geschaffen, mit der Schubert-Ausnahme einen souveränen nationalen Handlungsspielraum
wieder zu besetzen, den viele Nachbarstaaten für sich im Ergebnis reklamieren. Dass diese
Ausnahme aber nicht für die EMRK gelten soll, entspricht deren Substitutierungsfunktion
für eine fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit.
3. Dogmatische Begründungsansätze
In der Literatur werden verschiedene dogmatische Ansätze angeboten, die entweder
der Rechtsprechungslinie folgen oder weitergehend eine umfassende Bindung an das
Völkervertragsrecht vorsehen.
a) Art. 190 BV bzw. Art. 113 BV a.F.
Ein erster Ansatzpunkt wäre Art. 190 BV, der die Bindung des Bundesgerichts an die
Bundesgesetze und die völkerrechtlichen Verträge betrifft. Dem Wortlaut nach enthält
er aber keine Kollisionsregel, sondern scheint sogar die völkerrechtlichen Bindungen mit
denen der einfachen Bundesgesetze gleichzusetzen. Eine Differenzierung kann nur unter
Rückgriff auf andere Verfassungsbestimmungen begründet werden. Der Rekurs auf den
im Wesentlichen gleich lautenden Art. 113 Abs. 3 BV a.F. hilft nicht weiter477. Denn
der Schluss, dass damit zugleich die Rangfrage zwischen Völkerrecht und Verfassung
entschieden worden sei, ist nicht zwingend, weil das schweizerische Recht zwischen der
Rangfrage und der Kontrollkompetenz unterscheidet478. Vielmehr geht es um Aspekte
der Gewaltenteilung in Bezug auf die Letztentscheidung über die Verfassungswidrigkeit
von Bundesgesetzen, die unter der Bundesverfassung dem Parlament vorbehalten wurde
und wird. Auch müsste ein allein auf Art. 190 BV gestützter Vorrang für das gesamte
Völkervertragsrecht gelten.
476
Insbesondere können sie nicht einseitig den Bund, wie durch den Sonderbund versucht, verlassen.
477
Im Ergebnis ähnlich A. Epiney, Das Primat des Völkerrechts als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips. Ein
Diskussionsbeitrag zur Stellung des Völkerrechts im Verhältnis zum innerstaatlichen Recht, ZBL 1994, 537
(549). Art. 113 Abs. 3 BV a.F. bestimmte – als Vorläuferregelung zu Art. 190 BV –, dass „die von der Bundesversammlung erlassenen Gesetze und allgemein verbindlichen Beschlüsse sowie die von ihr genehmigten
Staatsverträge für das Bundesgericht maßgebend“ sind. Allerdings folgert G. Biaggini, Das Verhältnis der
Schweiz zur internationalen Gemeinschaft. Neuerungen im Rahmen der Verfassungsreform, AJP/PJA 1999,
722 (728), daraus, dass kein Vorrang der Bundesgesetze vor dem Völkerrecht bestehe.
478
So muss das Bundesgericht auch verfassungswidrige Bundesgesetze anwenden, ohne dass daraus eine
Umkehrung des Rangverhältnisses zwischen Verfassung und einfachem Recht folgen würde.
206
Der Fachdiskurs im Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) am Beispiel Deutschlands und der Schweiz
b) Pacta sunt servanda
Die Einhaltung der von den Staaten eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen
verlangen sowohl der gewohnheitsrechtliche Grundsatz pacta sunt servanda als
auch Art. 26 WVK. Insbesondere kann eine Verletzung des Völkerrechts nicht mit
entgegenstehendem nationalen Recht gerechtfertigt werden. Die Staaten sind für einen
Verstoß völkerrechtlich verantwortlich und es trifft sie die Pflicht zur Wiedergutmachung
oder zur Leistung von Schadensersatz. Allerdings bezieht sich die völkerrechtliche
Verantwortlichkeit allein auf die internationale Ebene und lässt die innerstaatliche
Bewertung unberührt. Ein Einbruch in das nationale Recht und die Souveränität
der Staaten geschieht aber, soweit eine eventuell innerstaatlich zu bewerkstelligende
Wiedergutmachung verlangt wird. Dagegen trifft das Völkerrecht keine Aussage darüber,
wie ein Staat einen möglichen Verstoß innerstaatlich verhindern soll. Insbesondere besteht
keine Pflicht, dem Völkerrecht einen Rang über den Gesetzen oder gar der Verfassung
einzuräumen. Auch die EMRK beschränkt sich grundsätzlich auf eine Übereinstimmung
im Ergebnis479.
c) Vorgaben des Völkerrechts in monistischer Sicht
Teilweise wird versucht, die Rangfrage zwischen Völkerrecht und nationalem Recht
aus der Entscheidung der Schweiz für die monistische Sichtweise des Verhältnisses von
Völkerrecht und Landesrecht abzuleiten480. Nach der monistischen Theorie entstammt
alles Recht einer einzigen Ur-Rechtsquelle. Völkerrecht und nationales Recht bilden
keine getrennten Rechtsordnungen. Dementsprechend beansprucht Völkerrecht im
Monismus als solches ohne Transformation innerstaatlich Geltung481. Aus der dahinter
stehenden Einheit von Landes- und Völkerrecht folgt aber nicht zwingend, welches
Recht im Konfliktfall Vorrang beansprucht482. Ein strikter Monismus bejaht den Vorrang
des Völkerrechts, während ein gemäßigter Monismus nur die im Völkerrecht geforderte
Ergebnisentsprechung als vorgegeben hinnimmt und einen Vorrang des nationalen
Gesetzesrechts nicht ausschließen muss483. In der Bundesverfassung findet sich aber kein
klares Bekenntnis zum strikten Monismus484.
d) Rechtsstaatsprinzip und Monismus
Das Rechtsstaatsprinzip umfasst unbestritten nicht nur die Geltung des Rechts, sondern
auch die Regelung der Normhierarchie bzw. des Kollisionsrechts. Deshalb gewährleistet
479
Dazu s. oben.
480
Vgl. dazu A. Epiney, (Fn. 477), ZBL 1994, 537 ff. m.w.N.
481
Da aber auch im Monismus auf die innerstaatliche Veröffentlichung des Vertrages abgestellt werden muss,
wird ein darin liegender Anwendungsbefehl für erforderlich gehalten.
482
S. Kadelbach, (Fn. 364) JURA 2005, 480 (483).
483
Näher dazu F. Becker, Völkerrechtliche Verträge und parlamentarische Gesetzgebungskompetenz, NVwZ 2005,
289 (290 ff.).
484
Y. Hangartner, (Fn. 449) SJZ 94 (1998), 201 (206 f.).
207
Sebastian Heselhaus
es unter monistischer Sicht zwar die Geltung des verbindlichen Völkerrechts als
integraler Bestandteil des nationalen Rechts. Es kann ihm allein aber keine Vorrangregel
entnommen werden. Daher beziehen manche Ansätze in der Literatur neben dem
Rechtsstaatsprinzip eine angebliche Entscheidung für einen strikten Monismus mit ein.
Im Kern lautet das Argument, dass ein wichtiger Bestandteil des Rechtstaatsprinzips die
Herrschaft des Rechts sei. Dieses sei verbindlich und zwar solange, bis es durch dasselbe
Organ in demselben Verfahren aufgehoben werde, wie es erlassen worden ist485. Über
die Entscheidung für den Monismus werde auch das betreffende Völkerrecht Teil des
verbindlichen Rechts in der Schweiz. Daraus wird gefolgert, dass es zwingend einzuhalten
sei und seine verbindliche Wirkung nur durch einen entsprechenden actus contrarius,
d.h. etwa die Kündigung des völkerrechtlichen Vertrages, aufgehoben werden könne.
Doch kann die Verbindlichkeit einer Norm auch im Monismus auf andere Weise
enden als durch ihre Aufhebung durch das erlassende Organ, nämlich durch den
Vorrang einer anderen Norm. Das ist im strengen Monismus unmittelbar einsichtig,
wenn das nationale Recht hinter verbindlichem Völkerrecht zurücktreten muss. Dass
ein Anwendungsvorrang – also keine Befolgung im konkreten Fall trotz fehlender
Nichtigkeit – als rechtstaatlich erachtet werden kann, belegt in den EU-Mitgliedstaaten
das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht. Auch würde die strikte
Verbindlichkeit des Völkerrechts im Grunde einen Überverfassungsrang einfordern, um
auszuschließen, dass ein Staat auf Basis seines Verfassungsrechts gegen völkerrechtliche
Vorgaben verstößt. Ein solcher wird aber unter der Bundesverfassung nur dem zwingenden Völkerrecht eingeräumt. Daraus ist zu folgern, dass die Schweiz nicht einem strikten
Monismus folgt. Da der gemäßigte Monismus nicht ausschließt, dass der Primat sogar dem
nationalen Recht zukommen kann486, würde die tradierte schweizerische Schubert-Praxis
ihm nicht grundsätzlich widersprechen. Dann wäre allerdings die strikte Bindung an die
EMRK begründungbedürftig. Zur Lösung ist eine juristische Analyse gefordert, welcher
Spielart der Theorie des gemäßigten Monismus die neue Bundesverfassung folgt.
e) Art. 5 Abs. 4 BV: strikte Bindung oder Güterabwägung?
Im Hinblick auf das Verhältnis zum Völkerrecht ist Art. 5 Abs. 4 BV neu in die
Bundesverfassung aufgenommen worden, wonach Bund und Kantone in der Schweiz das
Völkerrecht „beachten“. Aus dem Zusammenhang mit der Bindung des Bundesgerichts
an die völkerrechtlichen Verträge nach Art. 190 BV folgt, dass die Beachtungspflicht
umfassend durch den Staat, insbesondere die Gerichtsbarkeit, aber eben auch durch die
Legislativorgane sicherzustellen ist. Der Wortlaut ist in Bezug auf den Bindungsgrad
dieser „Beachtungs“-Pflicht nicht eindeutig. Der Grad ist zweifellos höher als es das in
Art. 6 EU-Vertrag gewählte Wort „achten“ ausdrückt, das lediglich auf eine mittelbare
Bindung abzielt. Doch ist offenbar bewusst auf die nahe liegende Regelung eines Vorrangs
verzichtet worden. Somit ist der Wortlaut offen für eine Bindung lediglich im Ergebnis.
485
A. Epiney, (Fn. 477) ZBL 1994, 537 (553 ff.).
486
P. Kunig, Völkerrecht und staatliches Recht, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Aufl. 2004, Zweiter
Abschnitt, Rn. 32.
208
Der Fachdiskurs im Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) am Beispiel Deutschlands und der Schweiz
Aber die Norm schließt mit der Einbeziehung der Legislativorgane jedenfalls aus, dass
die Bindung zur freien Disposition des einfachen Bundesgesetzgebers gestellt wird. Art. 5
Abs. 4 BV verweist nicht auf eine Einhaltung von Vorgaben auf der völkerrechtlichen
Ebene, sondern verlangt eine Sicherung im nationalen Recht.
Nun ließe sich zur Rettung der Schubert-Praxis einwenden, dass die Revision der
Bundesverfassung den alten Text der Rechtsprechung nachführen sollte und keine größeren inhaltlichen Veränderungen vornehmen wollte. Das Argument verfängt aber
nicht, da zu der nachzuführenden Rechtsprechung auch die PKK-Entscheidung von
1999 zählt. Wie gezeigt gehen nachfolgende Entscheidungen zur Rechtslage unter der
alten Bundesverfassung in die Richtung einer umfassenden Bindung des Bundesgerichts
an das Völkervertragsrechts487. So kann gerade aus der Absicht der Nachführung gefolgert werden, dass diese Entwicklung unter der alten Rechtslage nicht von der neuen
Bundesverfassung konterkariert werden darf. Politisch ist die Betonung der Nachführung
einer Strategie geschuldet gewesen, die die Revision von politischen Sprengsätzen frei halten wollte, um nicht konträre Volksinitiativen zu provozieren. Ungeachtet dieser sicherlich
nicht auf ein Lippenbekenntnis zu reduzierenden Leitlinie, ist es dennoch zum einen vereinzelt durchaus zu Fortentwicklungen, etwa im Grundrechtskatalog, gekommen488. Auch
Art. 5 Abs. 4 BV geht seinem Wortlaut nach über die frühere positivierte Verfassungslage
hinaus, indem er dem Bundesgericht auch die Bindung an das Völkergewohnheitsrecht
aufgibt. Zum anderen ist ein Zugewinn an dogmatischer Klarheit bei einer Veränderung
des Verfassungstextes nicht zu vermeiden, vielmehr gerade erwünscht. Und dies muss
notwendig Auswirkungen auf eine Praxis haben, die wie im Schubert-Fall ihre dogmatischen Grundlagen nie offen gelegt hat.
Deshalb besteht kein Anlass, die im Grundsatz eindeutige Formulierung in Art. 5 Abs. 4
BV zu relativieren. Fraglich ist aber, ob es sich um eine absolut zwingende Regelung handelt
oder ob sie offen für Ausnahmen ist. In der Literatur wird mit Blick auf die Schubert-Praxis
und das Ziel einer Nachführung vorgeschlagen, die Norm als Prinzip zu interpretieren489.
Das lässt sich zwar wie gezeigt nicht auf das Ziel der Nachführung stützen, doch spricht
für die Klassifizierung als Verfassungsprinzip der systematische Zusammenhang mit dem
Rechtsstaatsprinzip in Art. 5 Abs. 1 BV und dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzip
in Art. 5 Abs. 2 BV. Dergestalt wäre die Vorgabe zwar für Ausnahmen offen, doch müssten
diese eng interpretiert werden und sich rechtlich nachvollziehbar auf widerstreitende
verfassungsrechtliche Grundentscheidungen stützten. An dieser Stelle könnten Aspekte
des Demokratieprinzips und des Gewaltenteilungsgrundsatzes in ihrer schweizerischen
Ausprägung erheblich werden490.
487
Die Schubert-Praxis bestätigende Entscheidungen liegen zeitlich vor der PKK-Entscheidung.
488
Vgl. die Garantie der Menschenwürde in Art. 7 BV oder den besonderen Schutz von Kindern und Jugendlichen
nach Art. 11 BV.
489
G. Biaggini, (Fn. 477) AJP/PJA 1999, 722 (728), der aber darauf hinweist, dass nach der Botschaft des Bundesrates, BBl. 1997 I 135, der Norm keine Vorrangregel immanent sei.
490
Vgl. A. Epiney, (Fn. 477 ) ZBL 1994, 537 (551).
209
Sebastian Heselhaus
f) Aspekte des Demokratieprinzips und der Gewaltenteilung
Wie im Hinblick auf die Bindung an die Bundesgesetze unter Art. 190 BV liegt der
Kern der Auseinandersetzung nicht in einer plakativen Gegenüberstellung von
Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip, sondern in der besonderen Ausprägung der
Gewaltenteilung zwischen Bundesparlament und Bundesgericht491. Das Bundesgericht
selbst sieht einen gewissen Zusammenhang mit der unterbliebenen Entscheidung für
eine Verfassungsgerichtsbarkeit, d.h. einer Aufwertung der Rolle des Bundesgerichts492.
Im Hinblick auf einen Verstoß von Bundesgesetzen gegen Bundesgrundrechte sind die
Aspekte der spezifischen parlamentsfreundlichen Ausprägung der Gewaltenteilung
mit dem verfassungsrechtlichen Gewährleistungsanspruch der Grundrechte im Wege
praktischer Konkordanz zu harmonisieren. In diesem Sinne achtet das Parlament selbst
bereits beim Erlass von Normen auf die Einhaltung des Völkerrechts, insbesondere
der internationalen Menschenrechtsverbürgungen. Das Parlament hat die Aufgabe
zu entscheiden, wie die auftretende inhaltliche Divergenz bereinigt werden kann.
So kommt ihm die Kompetenz zu, im Falle eines bewussten Abweichens von einem
völkerrechtlichen Vertrag, die Kündigung des betreffenden völkerrechtlichen Vertrag
zu veranlassen493/ Gerade im Schubert-Fall hätte das Bundesparlament vor Erlass des
Gesetzes den Vertrag mit Österreich-Ungarn zumindest teilweise kündigen können.
Insofern werden die Kompetenzen des Bundesparlaments nur relativ wenig eingeengt.
Ein bewusstes Abweichen könnte unter Art. 5 Abs. 4 BV nur ausnahmsweise zulässig
sein, etwa wenn der Gesetzgeber im Völkerrecht eröffnete Spielräume, durch einen
Beitrag zur Staatenpraxis die Auslegung beeinflussen zu können, nutzen möchte494.
Dann will er den Vertrag aber gerade nicht brechen. Sofern der Gesetzgeber dieses Motiv
klar angibt, wäre zu erwägen, ob sich die bundesgerichtliche Kontrolle nicht zeitweise
zurückhalten müsste.
g) Besonderheiten im Hinblick auf menschenrechtliche Verbürgungen
Bei internationalen menschenrechtlichen Verbürgungen werden solche möglichen
Spielräume weiter verengt. Sie sind regelmäßig multilaterale Verträge. Spezifisch für die
EMRK ist auf den von ihr eingeleiteten Konstitutionalisierungs­prozess über die Grenzen
Europas hinaus hinzuweisen. Deutliches Zeichen ist die allgemein akzeptierte dynamische
Interpretation der EMRK als ein „living instrument“ ähnlich einer Verfassung495. Ein
491
Da die Gesetze der kantonalen Parlamente verworfen werden können, greift nicht das Demokratieprinzip
umfassend, sondern nur in Verbindung mit dem Bundesstaatsprinzip.
492
BGE 128 IV 201, 206 E1.3.
493
Anders bei unkündbaren Verträgen s. Art. 141 Abs. 1 lit. d Nr. 1 BV.
494
Vgl. zu dieser Fortentwicklung des völkerrechtlichen Vertrages durch die Staatenpraxis Y. Hangartner, (Fn.
449) SJZ 94 (1998), 201 (207).
495
S. nur EGMR, Urteil vom 25.4.1978, Serie A 26, Rn. 31 – Tyler, näher dazu C. Grabenwarter, Europäische
Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2005, S. 39 m.w.N.
210
Der Fachdiskurs im Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) am Beispiel Deutschlands und der Schweiz
Ausstieg eventuell gekoppelt mit einem Wiederbeitritt unter Anbringung zahlreicher
Vorbehalte erscheint politisch im Europarat nicht vertretbar. Eingedenk dieser
faktischen Bindung hat der EGMR vereinzelt größere Vorbehaltserklärungen für nichtig
erklärt und sich vom möglichen Austritt der betreffenden Staaten nicht beeindrucken
lassen496. Zudem verfügt die EMRK über ein verbindliches Rechtsschutzsystem, das
die Möglichkeiten einer Interpretationsänderung durch Staatenpraxis grundsätzlich
ausschließt497.
Hinzu tritt, dass internationale menschenrechtliche Verbürgungen unter der
Bundesverfassung von 1999 eine Aufwertung erfahren, da sie sich zum Ziel gemacht hat,
insbesondere den verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutz dem internationalen verbindlichen Standard nachzuführen498. Zu Recht formuliert daher das Bundesgericht seitdem bei
Rügen eines Verstoßes gegen die EMRK, dass unter der Bundesverfassung davon auszugehen ist, dass deren Gewährleistungsgehalt von den Bundesgrundrechten umfassend abgedeckt wird499. Die Präambel erkennt mit der Betonung von Freiheit und Offenheit gegenüber der Welt solchen Verbürgungen eine besondere Qualität zu500. Auch wenn man der
Präambel wenig interpretatorisches Gewicht zuweisen möchte, belegt die Neufassung des
Grundrechtskatalogs den prägenden Einfluss internationaler Verbürgungen. Systematische
Erwägungen stützen demnach eine besondere Bedeutung menschenrechtlicher internationaler Abkommen. Nicht zuletzt ist zu beachten, dass in den oben unterschiedenen
Konstellationen eines vorübergehenden Abweichens vom Völkerrecht bei Grundrechten
der Vertrauensschutzaspekt in besonderer Weise relevant wird und damit in der Abwägung
das Gewicht auf der strikten Bindung an das Völkerrecht überwiegt.
4. Zwischenfazit
Aus der hier entwickelten Sicht ist die in der bundesgerichtlichen Praxis aufscheinende
strikte Bindung der Schweiz an die EMRK zu bejahen. Damit wir die Rolle des
Bundesgerichts in der Verbindung von zentralem und dezentralem Rechtschutz unter
der EMRK gestärkt. Die forensische Praxis wird damit einen Dialog zwischen den
Gerichten vorantreiben, bei dem der Spruchpraxis des EGMR eine tragende Bedeutung
zukommt. Die Überzeugungskraft der Entscheidungen des Bundesgerichts beruht allein
auf seiner methodisch sauberen Argumentation, denn das letzte Wort im Fall eines
Abweichens verbleibt beim Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg. Doch können
die anerkannten juristischen Methoden gewisse Spielräume eröffnen.
496
Dabei konnte er sich auf die engen Kriterien nach Art. 57 EMRK stützen, C. Grabenwarter, (Fn. 495) S. 8 ff. m.
w.N.
497
S. aber die Schutzverstärkung durch die Entschließung des Ministerkommitees des Europarates DHRes. (2004)
3 vom 12.5.2004; aufgegriffen in EGMR, Slg. 2004-V.
498
Stimmen, die wie A. Peters/I. Pagotto, Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht in der Schweiz, ius.
full 2/04, 54 (63) eine Güterabwägung fordern und dabei menschenrechtlichen Verbürgungen einen Vorrang
einräumen wollen, müssen diese Weichenstellung in der BV nachweisen.
499
BGE 132 I 49, 56 E.5.3.
500
S. zur normativen Funktion der Präambel der BV B. Ehrenzeller, in: ders./P. Mastronardi/R.J. Schweizer/
K.A. Vallendar (Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung, 2002, Präambel, Rn. 9 ff.
211
Sebastian Heselhaus
IV. Vergleichende Schlussbetrachtung und Ausblick:
Konstitutionalisierung unter Vorbehalt?
Sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland ist Bewegung in die Frage des
Verhältnisses zwischen EMRK und nationalem Recht gekommen. Trotz unterschiedlicher
Ausgangslagen scheinen die Differenzen in der Praxis nicht gravierend zu sein bzw. zu
werden, sofern der EGMR auf eine hohe Qualität seiner Entscheidungsbegründungen
setzt und die zunehmende Zahl von Klagen nutzt, um eine Dogmatik zu entwickeln,
die Vorhersehbarkeit und Rechtsklarheit gewährleistet501. Die Auseinandersetzung
mit den Entscheidungen des EGMR bringt deren Verbürgungen national ins
Bewusstsein, kann dem EGMR aber auch vertretbare Lösungsvarianten aufzeigen.
Der Konstitutionalisierungs­prozess bedarf des Diskurses in der legal community502,
der wiederum an den EGMR hohe Erwartungen bezüglich der Argumentation und
Methodik richtet. Das jüngere Fallrecht zeigt, das der EGMR gewillt ist, diese Aufgabe
erfolgreich zu erfüllen, so dass in der gerichtlichen Praxis der Konstitutionalisierungs­
prozess der EMRK weiter vorangetrieben wird. Diese Erkenntnis sollte für europäische
Staaten – nicht nur anlässlich von Jubiläen wie in Polen und Litauen – Anlass sein, die
eigene Bindung an die EMRK in Verfassungstext und -praxis darauf hin zu befragen, ob
sie nicht ausgeweitet werden kann.
Siehe Anhang, Tabelle Nr. 1 (beachtenswerte Regelung Nr. 7, 10), Tabelle Nr. 3 (ähnliche
Regelung Nr. 2) und ausschnittsweise abgedruckten Beschluss des lit. VerfG vom 14.03.2006
und vom 9.11.2010 – Hrsg.
501
Zu diesem Aspekt W. Hassemer (Fn. 391). Zum rechtsvergleichenden Ansatz des EGMR s. L. Wildhaber, The
Role of Comparative Law in the Case-Law of the European Court of Human Rights, in: Festschrift für G. Ress,
2005, S. 1101 (1104).
502
Vgl. H.-J. Cremer, (Fn. 353) EuGRZ 2004, 683 (694); dagegen wollen H. Keller/M. Bertschi, (Fn. 363) EuGRZ
2005, 204 (210) sowie J.P. Müller, (Fn. 363) ZSR 2005, 9 (16 ff.) die Prüfungskompetenz des EGMR im Fall
einer vorangegangen Überprüfung durch ein nationales Verfassungsgericht begrenzen.
Prof. dr. Sebastian Heselhaus
Liucernos universitetas
Europos žmogaus teisių konvencijos konstitucionalizacijos
diskursas pagal Vokietijos ir Šveicarijos pavyzdį
Santrauka
Europos žmogaus teisių konvencijos (toliau – EŽTK, Konvencija) ir nacionalinės teisės
santykis yra svarbus tarptautinės teisės konstitucionalizavimo proceso, pradėto siekiant
sukurti bendrą europinį žmogaus teisių apsaugos standartą, elementas.
212