Die digitale Welt als Wahlhelfer
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Die digitale Welt als Wahlhelfer
Nr. 4 | 28. April 2013 Mani Matter Die Biografie | Judith Kuckart Wünsche | Mo Yan Frösche | Doris Knecht Besser | Porträt von Alaa al-Aswani | Mario Vargas Llosa Alles Boulevard | Werner Ort Heinrich Zschokke | Urs Schoettli Die neuen Asiaten | Weitere Rezensionen zu Ernst Herbeck, Navid Kermani, Carlo Ginzburg, Stephen Hawking und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese Exklusives Aktionsbundle eReader + hochwertige Galeli-Neoprentasche Ihr Gutscheincode: BCHBu n dl e Jetzt einlösen unter www.buch.ch/tolino-bundle Nur CHF 129.- Wählen Sie aus folgenden Galeli-Neoprentaschen: statt 153.90 • Entspanntes Lesen wie auf Papier dank E-Ink HD Display. • Mit integrierter Beleuchtung auch im Dunkeln lesen. schwarz schwarz/weiss • Bis zu 7 Wochen Akkulaufzeit. • Bis zu 2‘000 eBooks immer dabei, dank 2 GB grossem Speicher. • Über das integrierte WLAN neue eBooks blitzschnell laden, auch ohne Computer. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TW0MDc0MgQAjR8bOQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWMrQ4CQQwGn6ibrz_bbqkk5y4nCL6GoHl_RRaHGDcz51lz4Mf9uJ7HoxiwSbyChWvmHBJeS2TAomBIAesNS4PNzf98AqcrtLdDMEI2gtRJspdxs-5D7xo6Pq_3F12xuK2AAAAA</wm> • Mit der Cloud können Sie alle Ihre eBooks sichern und jederzeit mit Ihren Endgeräten synchronisieren. www.buch.ch www.buch.ch/tolino-bundle Alle Preise inkl. MwSt. und ohne Gewähr. schwarz/grün Inhalt Den roten Faden finden Mani Matter (Seite 19). Illustration von André Carrilho Der italienische Historiker Carlo Ginzburg reflektiert in seinem neuen Essayband über die Schwierigkeit eines Forschers, «im Labyrinth aus Ideen, Hypothesen, Lektüren, das tausend Irrwege bereithält», den roten Faden zu finden (Seite 18). Wie wahr! Häufig stehen auch wir vor der Situation, zwischen «wahr, falsch und fiktiv» entscheiden zu müssen – im Kontakt mit unbekannten Personen, fremden Kulturen, in unerwarteten Situationen. Solche Orientierung bietet zum Beispiel Urs Schoettli in seinem Buch über die «neuen Asiaten». In seinem instruktiven Gang durch Politik, Mentalität und Geschichte von zwölf Ländern Ostasiens legt er für uns einen eigentlichen Pfad der Erkenntnis: Wie verläuft der Aufstieg der Tigerstaaten? Worin unterscheiden sie sich? Wie kann ihnen der Westen begegnen (S. 21)? Eine bereichernde Lektüre. Dasselbe in der Belletristik. Der Besuch bei Alaa al-Aswani in Kairo hilft uns, die politische Unruhe in Ägypten besser zu verstehen und einen Blick auf inner-islamische Konflikte zu werfen (S. 12). Oder der lebendige Kleinstadtroman von Judith Kuckart, der den Lebensträumen einer Generation kurz vor 50 nachspürt (S. 4). Kuckarts Protagonistin Vera, die neun Monate aus der Provinz flüchtet, macht nichts anderes, als in ihrem Leben den verloren gegangenen roten Faden wieder zu finden. Viel Spass mit diesen und anderen Büchern! Urs Rauber Belletristik Kurzkritiken Sachbuch 4 Judith Kuckart: Wünsche 15 Amanda Adams: Scherben bringen Glück 6 Beowulf. Das angelsächsische Heldenlied Von Martin Zingg Von Stefana Sabin Jean Paul: Erschriebene Unendlichkeit 7 Von Manfred Papst Mo Yan: Frösche Von Sieglinde Geisel 8 Doris Knecht: Besser 9 Joey Goebel: Ich gegen Osborne Von Sandra Leis Von Janika Gelinek 19 Wilfried Meichtry: Mani Matter Lisbeth Herger, Heinz Looser: Zwischen Sehnsucht und Schande 20 E. O. Wilson: Die soziale Eroberung der Erde Von Kathrin Meier-Rust Von Thomas Feitknecht Von Kathrin Meier-Rust Von Urs Rauber 21 Urs Schoettli: Die neuen Asiaten Von Urs Rauber Gregor Spuhler: Anstaltsfeind und Judenfreund Hans Belting: Faces Von Urs Rauber Von Gerhard Mack 10 Ernst Herbeck: Der Hase!!!! 16 Mario Vargas Llosa: Alles Boulevard – Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst 11 E-Krimi des Monats Nika Lubitsch: Der 7. Tag 17 Andreas Jungherr, Harald Schoen: Das Internet in Wahlkämpfen Von Christine Brand Carlo Ginzburg: Faden und Fährten Sebastian Conrad: Globalgeschichte Sachbuch Von Bruno Steiger Von Ina Boesch Von Geneviève Lüscher Von Simone von Büren Dirk Luckow: Harry Callahan 18 Navid Kermani: Ausnahmezustand Von Geneviève Lüscher 22 Joschka Fischer, Fritz Stern: Gegen den Strom Von Reinhard Meier Markus Theunert: Co-Feminismus Von Walter Hollstein 23 Werner Ort: Heinrich Zschokke 1771–1848 Von Katja Gentinetta Von Tobias Kaestli 24 Gerhard A. Ritter: Hans-Dietrich Genscher, das Auswärtige Amt und die Deutsche Vereinigung Von Andreas Hirstein Von Gerd Kolbe 25 Jane Hawking: Die Liebe hat elf Dimensionen Paul Parsons, Gail Dixon: Stephen Hawking im 3-Minuten-Takt Kurzkritiken Belletristik 11 Sophokles: Elektra Von Manfred Papst Von André Behr Im Reich der Wünsche Hans Adelmann: Einfacher leben Von Regula Freuler Von David Strohm Georges Perec: Anton Voyls Fortgang 26 Joseph Barber: Das Huhn Von Manfred Papst Von Geneviève Lüscher Andrzej Stasiuk: Buch über das Sterben Das amerikanische Buch Meredith Mason Brown: Touching America’s History Von Regula Freuler Von Andreas Mink Porträt 12 Alaa al-Aswani, Schriftsteller und Zahnarzt Agenda PAMELA RUSSMANN «Wir Ägypter sind wieder im Rennen» Von Michael Holmes Kolumne 15 Charles Lewinsky Das Zitat von Iwan Gontscharow Die Österreicherin Doris Knecht glossiert im neuen Roman die Wiener Schickimicki-Szene (Seite 8). 27 Die Druckwerkstatt der Dichter Von Manfred Papst Bestseller April 2013 Belletristik und Sachbuch Agenda Mai 2013 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Raffaela Breda (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected] 28. April 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Roman Judith Kuckart gelingt das überzeugende Tableau einer kleinen Stadt und ihrer Menschen, die von vagen Hoffnungen und geplatzten Träumen erfüllt sind Flucht aus der Provinz Judith Kuckart: Wünsche. Dumont, Köln 2013. 301 Seiten, Fr. 28.90, E-Book 24.90. Von Martin Zingg Silvester in einer deutschen Kleinstadt. Vera wird schwimmen gehen, ihr Mann Karatsch wird inzwischen, zusammen mit dem gemeinsamen Sohn Jo, erste Vorbereitungen treffen für die traditionelle Silvesterparty, die zugleich Veras Geburtstagsfest sein wird. An diesem Tag wird sie 46 Jahre alt. Wie jedes Jahr wird auch diesmal der Film gezeigt werden, in welchem die 14-jährige Vera einst mitgespielt hat, zusammen mit anderen längst erwachsenen Kindern, die an diesem Abend auch zugegen sein werden. Die Vorführung des Films, der seinerzeit auch kurz in den Kinos lief, ist ein Ritual geworden, und es sind immer dieselben Freunde aus der Kleinstadt, die dazu eingeladen werden. Es sieht alles nach einem geordneten und sorgfältig inszenierten Rückzug aus dem eben zu Ende gehenden Jahr aus. Dass das neue Jahr anders aussehen wird, kündigt sich allerdings auch an, bereits an Silvester. Judith Kuckart 1959 in Schwelm (Westfalen) geboren, lebt Judith Kuckart heute als Schriftstellerin und Regisseurin in Berlin und Zürich. Nach dem Studium und der Tanzausbildung leitete sie von 1986 bis 1998 das Tanztheater Skoronel. Seit 1998 arbeitet sie als freie Regisseurin. Zu ihren jüngsten Veröffentlichungen gehören die Romane «Kaiserstrasse» (2006) und «Die Verdächtige» (2008), daneben schrieb sie Theaterstücke und Hörspiele. Sie hat zahlreiche Preise erhalten, zuletzt den Annette-vonDroste-Hülshoff-Preis 2012. 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2013 «Wünsche»: So heisst der jüngste Roman von Judith Kuckart, und der Titel, das stellt sich bald heraus, ist doppeldeutig. Zum einen sind es unklare, oft unabgegoltene und wohl unerfüllbare Wünsche und Lebensträume, die einige Figuren umtreiben und aus der gewohnten Bahn drängen – und damit zugleich die Handlung des Romans voranbringen. Zum andern ist «Wünsche» auch der Name einer Familie, die in der Kleinstadt einst einiges Ansehen genoss, weil sie das einzige Kaufhaus am Ort besass. Die Geschwister Friedrich und Meret Wünsche sind die Erben des kleinen Unternehmens, und Friedrich will nach dem Tod der Mutter das längst heruntergekommene Kaufhaus wieder zu einem Einkaufsparadies machen. Das «Haus Wünsche», so seine Strategie, soll mit «Retro-Look», durch einen bewussten Schritt in die Vergangenheit, wieder attraktiv werden. Die alten Türen sollen wieder her, die alten Verkaufstische, mehr Personal – all das eben, was in anderen Kaufhäusern inzwischen geändert worden ist. Eine Mischung von Alt und Neu, mit der Möglichkeit, ganz zeitgemäss auch per Internet zu bestellen. Am Vorabend des neuen Jahres steht die Eröffnung des neu-alten Kaufhauses bevor: «Neue Zeiten», sagt Friedrich, «brechen an, indem wir die Zeit zurückdrehen.» Für sein vermeintlich utopisches Projekt ist Friedrich Wünsche eigens in die Kleinstadt zurückgekehrt, nach langen Aufenthalten in anderen Städten und erfolgreicher Tätigkeit in grossen Betrieben. Er ist dabei zu Geld gekommen, und was er sich in seiner Heimatstadt nun vornimmt, hat auch mit Erinnerungen an die Kindheit und Jugend zu tun. Unterwegs aber ist Friedrich von seiner Frau Annalisa verlassen worden, sie hat sich mit den beiden Kindern nach Italien abgesetzt, er ist allein. Auch seine Schwester Meret war eine Weile weg, auch sie ist wieder zurück. Mit ihrem Bruder teilt sie nun ein statt- liches Haus. Und gelegentlich nimmt sie einen Mann zu sich, die Liste ihrer Liebhaber ist ziemlich lang. Friedrich und Meret kennen Vera aus frühen Kindheitstagen. Diese gemeinsame Vergangenheit wird im neuen Jahr, dessen Anbruch Vera gar nicht mehr in der Kleinstadt erlebt, immer wieder heraufbeschworen werden. Vera arbeitet als Lehrerin, an einer Berufsschule unterrichtet sie Maler- und Lackiererklassen in Gestaltungstechnik und Deutsch. Ihr Sohn Jo, eigentlich Joseph, mit ganzem Namen Joseph Conrad, wird bald zur See fahren und dabei eine Ausbildung machen. Mit ihrem Mann Karatsch, der 65 Jahre alt ist, kommt sie leidlich aus. Und insgesamt hat sie wohl Glück gehabt. Als junges Mädchen aus problematischen sozialen Verhältnissen ist sie seinerzeit von ihm und dessen Frau Suse aufgenommen worden, nach Suses Tod hat Karatsch sie geheiratet. Neue Identität annehmen Vera, und das löst gleich mehrere Erzählstränge von Judith Kuckarts Roman aus, geht an Silvester in ein Hallenbad – kehrt aber von dort nicht mehr nach Hause zurück, zu Mann und Kind und all den Gästen, die sich allmählich einfinden. Sie hat beim Aufbruch Handy und Haustürschlüssel zu Hause liegen lassen, ein Zeichen, das erst hinterher gedeutet werden wird. War sie bloss vergesslich? Oder hatte sie schon eine Absicht vor Augen? Im Hallenbad kommt Vera, einer plötzlichen Eingebung folgend und mit einem Trick, an den Ausweis und die Kleider einer anderen Frau heran. Das Hallenbad verlässt Vera Conrad nun als Salomé Schreiner, die gemäss neuem Ausweis zehn Jahre jünger ist, auch etwas frischer im Gesicht, Vera aber durchaus ähnlich scheint. Noch am gleichen Tag fährt sie nach Köln und bucht einen Flug, kurze Zeit später ist sie in London. Weiss Vera denn, was sie will? Sie wäre, sagt sie sich gelegentlich, gerne überraschenden Begegnung kommen, die Karatsch mit jener Frau hat, der Vera den Ausweis entwendet hat: Salomé Schreiner. Ein beinahe unwahrscheinliches Zusammentreffen, aber im Gedränge der Kleinstadt scheint es unausweichlich, dass die beiden irgendwann aufeinanderstossen. Und natürlich finden die beiden einander nicht unsympathisch – aber plötzlich stellt sich die Geschichte mit Vera dazwischen. Immer kommt etwas dazwischen, und fast immer ist es die Vergangenheit: man kennt sich hier seit immer, war mit einander in der Schule, kreuzt die Wege. Den Ort verlässt man nicht. Und wer ihn dennoch verlässt, kehrt irgendwann zurück. Auch Vera kommt nach neun Monaten wieder in die Stadt zurück, ausgerechnet in dem Moment, wo sich ihr Mann, ihr Sohn und Friedrich nach London aufgemacht haben, um sie zu holen. LAIMA CHENKELI Filigrane Erzählweise Schauspielerin geworden, aber nach einem sehr kurzen Auftritt vor Jahrzehnten hat sie nie mehr etwas in dieser Art unternommen. Bloss geträumt hat sie immer wieder, wie so viele andere in ihrer Kleinstadt auch gerne träumen von etwas anderem. Bereits mit fünf Jahren ist Vera einmal ausgebüchst, mit dem Dreirad. Später hat sie allerhand ausgeheckt, zusammen mit Meret. In London, einem Ort mit ungleich mehr Möglichkeiten, als ihre Heimatstadt bieten kann, bleibt sie lange ratlos. Aber sie ist zugleich offen und unkompliziert. Öfter geht sie hinter irgendwelchen Menschen her und lässt sich überraschen vom zufälligen Ziel. In der Zwischenzeit, als noch niemand weiss, wo Vera steckt, geht das Leben in der Kleinstadt weiter. Karatsch ist ratlos, Jo ist auf See. Die Menschen, das wird immer deutlicher und ist bald einmal beklemmend, leben hier in einer stickigen Enge. Sie laufen einander immer wieder über den Weg, und so kann es selbst zu der doch ziemlich Judith Kuckart schreibt über Traum und Aufruhr in einem kleinstädtischen Netz von Beziehungen. Und die erste Person, die sie trifft, ist Meret. Ihr kann sie, warum sie damals weggegangen und jetzt zurückgekommen ist, nur so erklären: «Weg bin ich wegen all der Leute, die ich schon so lange kenne. Aus dem gleichen Grund bin ich wieder zurückgekommen. Ich dachte immer, das ist schlimm, dass ich bei uns nur die sein kann, die alle kennen. Jetzt weiss ich, genau die kann ich nur sein.» Das Tableau der kleinen Stadt und ihrer von vagen Hoffnungen und geplatzten Träumen belagerten Menschen ist Judith Kuckart auf eine sehr schöne Weise gelungen. Der Roman ist ausserordentlich dicht und fein gewoben, aufmerksam und durchlässig für unzählige Details, die ein weites Netz spannen. Zusammen entwerfen die vielen kleinen Verweise auf unaufdringliche Weise das Bild einer Welt mit fast schon wasserdichten Verhältnissen, gegen die selbst kühnste Träume am Ende nicht ankommen. Ein Rest an Traum und Aufruhr bleibt dennoch, ein unerklärlicher Rest, den diese Figuren bis zuletzt bewahren dürfen. Auch daraus, aus dem genauen Blick seiner Autorin und einer filigranen Erzählweise, schöpft dieser Roman seine Lebendigkeit. l Ein soziales Projekt der Stiftung Tosam www.tosam.ch www.buchplanet.ch – Onlineshop für gebrauchte Bücher <wm>10CAsNsjY0MDAx1TW0MLOwNAEAI27oHQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWMqw5CQQwFv6ibnr62SyW57gZB8DUEzf8rWBxikiPmzHmWD_5xPW6P415gNidk5LLyZSNmFJaM1GITEYZekHAg_c8mxgpl7a0QG4k0JuE7tGN6Q3eg95llvJ-vD4fLb8N-AAAA</wm> Weitere Infos: http://www.buchplanet.ch/ueber-uns-html Wir sind ein junges, dynamisches Team, in einem aufstrebenden Onlineshop mit ökologischen, sozialen Zielen und suchen für die Erhaltung unserer Arbeitsplätze Gönner und GönnerInnen. http://facebook.com/buchplanet.ch http://blog.buchplanet.ch Onlinespende: http://payment.buchplanet.ch/spende.php 28. April 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Epos Der Bericht von den Heldentaten des Gotenprinzen geht immer noch unter die Haut Beowulf. Das angelsächsische Heldenlied. Aus dem Altenglischen von Johannes Frey. Reclam, Stuttgart 2013. 130 Seiten, Fr. 10.40. Von Stefana Sabin Es ist ein Epos aus uralten Zeiten, das eine englische sprachliche und literarische Tradition begründet hat: «Beowulf». Der Bericht über die Heldentaten des Gotenprinzen Beowulf wurde, so nimmt man an, jahrhundertelang gesungen, bevor er um 1000 niedergeschrieben wurde. Die einzige überlieferte Handschrift galt lange als verschollen, wurde wiedergefunden, dann ignoriert, dann beschädigt, gelangte erst ins British Museum, dann in die Sammlung der British Library, wurde transkribiert, ediert, aus dem ursprünglichen unverständlichen angelsächsischen Dialekt in modernes Englisch übersetzt (zuletzt 2000 vom Nobelpreisträger Seamus Heaney), von der Romantik zum identitätstiftenden Nationalepos geadelt, von der Moderne zur Schullektüre trivialisiert und schliesslich in einem grossangelegten philologisch-elektronischen Projekt 1995 digitalisiert. Anders als das Rolands- und das Nibelungenlied, die auch wegen der geographischen Übereinstimmung zwischen dem Ort der Handlung und dem späteren Nationalstaat zur kulturellen Selbstfindung dienlich wurden, spielt «Beowulf» weit von den britischen Inseln entfernt im Norden Europas, im heutigen Südschweden und Dänemark; von Schweden, Dänen, Friesen und Goten ist die Rede. Dänen kommen schon in der ersten Zeile vor: In der neuen Übersetzung von Johannes Frey wird von «Ger-Dänen vergangener Tage» berichtet, die für ihren König «die grösste der Hallen» bauen und dort in «Frohsinn und Freude» leben, bis ein «Feind aus der Hölle / sein Treiben begann und Tücke vollbrachte». So kommt Beowulf übers Meer, um König Hrothgar beizustehen; er will «dem Riesen allein im Gerichtssaal begegnen» und mit ihm kämpfen: «Held gegen Held.» Zuerst tötet Beowulf den Geist Grendel, dann Grendels Mutter, er wird als Retter gefeiert, reich beschenkt und kehrt mit den Schätzen heim zu König Hygelac; als zuerst dieser und dann dessen Sohn Heardred sterben, wird Beowulf selbst König. Fünfzig Jahre regiert er friedlich, aber als sein Reich von einem Drachen überfallen wird, muss er als alter Mann noch einmal in den Kampf. Zwar gelingt es ihm, den Drachen zu bezwingen, aber dabei wird er selbst tödlich verwundet. «Er selbst wusste nicht, / wie sein Abschied von Erden sein Ende aussah.» Statt eines Happy Ends der Tod des Helden im Kampf, seine feierliche Bestattung und das Klagen des Volkes: «Er wäre ein wahrhafter Held, / ein König auf Erden, und von allen der Beste: / gerecht und auch freigebig, freundlich und gütig / und zu ewigem Ruhm immer bereit.» Wie viele kanonische Werke wurde «Beowulf» immer wieder auch ins Deutsche übersetzt, nachgedichtet und nacherzählt. 2007 hat Gisbert Haefs in BRIDGEMANART Beowulf neu erzählt Beowulf kämpft mit dem Unhold Grendel. Lithografie von John Henry F. Bacon (um 1910). einer Prosafassung Beowulf zu einem «Krieger in der Not» entmystifiziert, dessen ungewollter Kampf mit dem Drachen die Unausweichlichkeit des Todes in einer von der Schicksalsmacht Wyrd regierten Welt suggeriert. Frey dagegen deklariert das Epos, in dem sich germanische Sagenstoffe mit christlichen Motiven vermengen, schon im Untertitel als «Heldenlied» und bewahrt ihm sein Pathos. Er begradigt nicht und behält gattungsübliche Redundanzen bei; und indem er den hohen Ton heldischer Dichtung nachmacht, gekünstelt archaisierende Wortfindungen und Stabreime einsetzt, lässt er die atmosphärische Aura des Originals und seine «literarische Schönheit und Wucht» durchscheinen. ● Briefe Jean Paul zeigt sich auch in seiner Korrespondenz als phantasievoller Wortschöpfer Voll Sprachwitz und geistigem Wagemut Jean Paul: Erschriebene Unendlichkeit. Briefe. Hanser, München 2013. 783 Seiten, Fr. 46.90. Von Manfred Papst Zum 250. Geburtstag des wunderbaren Erzählers Jean Paul (1763–1825) sind mehrere umfangreiche Biografien erschienen (vgl. «Bücher am Sonntag», März 2013), aber kaum etwas von ihm. Das Leben des Autors, das sich zwischen Hof, Leipzig, Schwarzenbach und Berlin, Meiningen, Coburg und Bayreuth abspielte, scheint die Menschen mehr zu interessieren als seine von Sprachwitz und geistigem Wagemut durchwirkten Romane, Erzählungen und theoretischen Schriften. Von der vorbildlichen Hanser6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2013 Ausgabe seiner Werke verkaufen sich jährlich nur neun bis zehn Exemplare: Das beklagt der Verleger Michael Krüger in seinem Blog. Ein freundlicheres Schicksal möchte man einer vortrefflichen Briefauswahl wünschen, welche die Jean-Paul-Experten Markus Bernauer, Norbert Miller und Helmut Pfotenhauer nun im gleichen Verlag vorlegen. Sie ist die erste ihrer Art seit fast hundert Jahren und zeigt Jean Paul in all seinen Facetten: als Schwärmer, Plauderer und Phantasten, als wortmächtigen Schilderer und zärtlichen Causeur, als selbstkritischen, ungemein offenen Geist, der auch die Niederungen des Alltags nicht scheut. Ob er an Goethe, Herder («Einziger und Erster!»), Jacobi oder Schlegel schreibt, an seine Mutter, die Kinder oder sein «geliebtes Weib»: Stets weiss er sich auf den Adressaten einzustellen. Er beherrscht die Klaviatur verschiedenster Tonfälle und bleibt doch immer er selbst. Den Freundinnen seiner Jugend schreibt er charmant virtuos verspielt, mit den Dichterfreunden diskutiert er über souverän poetische Fragen und Probleme des Zeitgeists. Die Auswahl «Erschriebene Unendlichkeit» beruht auf der achtbändigen, 1956 bis 1964 im Akademie-Verlag erschienenen Edition der Briefe Jean Pauls im Rahmen der Historisch-kritischen Ausgabe von Eduard Berend und folgt deren Wortlaut exakt. Das erhöht den Reiz der Lektüre, ohne sie zu erschweren. Erhellende Zwischentexte, Anmerkungen und ein tadelloses Register ergänzen den schön gestalteten Band. ● Roman Der chinesische Literaturnobelpreisträger Mo Yan hat ein harmloses Buch über die chinesische Ein-Kind-Politik geschrieben Erlebnisse einer Frauenärztin Mo Yan: Frösche. Aus dem Chinesischen von Martina Hasse. Hanser, München 2013. 500 Seiten, Fr. 34.90, E-Book 27.90. Im Nachwort zu seinem Roman «Frösche» aus dem Jahr 2009, also lange vor dem Nobelpreis und den Debatten über seine politische Haltung, richtet Mo Yan sich offenkundig an westliche Leser. Er beschreibt, in welche Konflikte ein chinesischer Autor gerät, wenn er «heikle Themen» anspricht. «Man braucht für heikle Fragen Mut, man braucht gute Fähigkeiten, sich schriftlich zu äussern, aber man braucht genauso das ehrliche Schriftstellergewissen.» Wenn ein Autor vor heiklen Themen zurückscheue, heisse es, er habe sich von den Funktionären kaufen lassen. Wende er sich jedoch heiklen Fragen zu, werde er gleich «der Liebedienerei gegenüber dem Westen» bezichtigt. Eine Zeitlang habe er sich Mühe gegeben, nirgends anzuecken, so Mo Yan, doch damit sei es nun vorbei. «Nur meinem Gewissen Rechenschaft schuldig, suche ich mir die Themen aus, über die ich schreiben möchte.» Nun, das erwartet man von einem Autor, den man ernst nehmen soll, eigentlich immer, egal unter welchen Bedingungen er schreibt. Schon in der Wendung «heikle Themen» steckt die Akzeptanz der Zensur. Ob das dem Autor bewusst ist? Grausig, oft tödlich Das heikle Thema, das der Nobelpreisträger Mo Yan in seinem Roman «Frösche» zur Sprache bringt, ist die EinKind-Politik, mit der China seit 1979 das Bevölkerungswachstum eindämmt, mit drastischen Massnahmen wie Zwangssterilisation und erzwungenen Spätabtreibungen. Der Roman umfasst ein halbes Jahrhundert chinesischer Geschichte, angefangen von der Zeit der Hungersnot 1960, in dem der 1953 geborene Ich-Erzähler als Kind Kohle gegessen hat, bis ins Jahr 2008, wo die Neureichen im Ferrari herumfahren und die EinKind-Politik etwa durch ein organisiertes (und trauriges) Geschäft mit Leihmüttern ausgetrickst wird. Die Protagonistin Gugu, geboren 1937 und Tante des Ich-Erzählers, ist Landfrauenärztin, und sie hat fast alle Figuren, die in dem Buch vorkommen, ans Licht der Welt befördert, inklusive dem Ich-Erzähler. Gugu ist eine energische, begabte, tüchtige Frau. In den 1960er Jahren, als die Chinesinnen noch viele Kinder für ihr Land gebären sollten, war sie eine der ersten, die sich auf die westliche Geburtshilfe verstand, doch ab 1979 stellt sie sich mit ihrer ganzen, zum Fanatismus neigenden, Leidenschaft in den Dienst der Ein-Kind-Politik. Oft ist es ein Wettlauf mit der Zeit zwischen den Schwangeren und dem Abtrei- REUTERS Von Sieglinde Geisel Das Erstgeborene hat Glück und darf leben. Seit 1979 wird in China mit der Ein-Kind-Politik das Bevölkerungswachstum eingedämmt. Wie eine Landärztin mit diesem Verbot umgeht, ist Thema in Mo Yans neuem Buch. bungskommando, denn «ist es erst durch die Ofentür, zählt es als Mensch (...). Ist es ein Mensch, geniesst es den Schutz des Gesetzes.» Die Szenen, die Mo Yan schildert, sind grausig, und oft enden sie tödlich, so auch bei der Spätabtreibung, zu welcher der Ich-Erzähler seine erste Frau zwingt. Ein Geflecht von Schuld und Verhängnis durchzieht das Buch, das sich als Briefroman ausgibt: Der Empfänger der Briefe ist der Japaner Sugitani san, Sohn eines Generals aus dem japanisch-chinesischen Krieg. Er bittet die Chinesen um Verzeihung für die Taten seines Vaters, während der IchErzähler wiederum sagt, dass er durch seine Berichte an den japanischen Brieffreund sein eigenes Verbrechen sühne. Fast jeder versündigt sich in diesem Roman in irgendeiner Weise an den anderen, allen voran Gugu, die sich zum Instrument einer als notwendig empfundenen, gleichzeitig unmenschlichen Politik hat machen lassen. Diese Politik wird letztlich im Buch nicht in Frage gestellt: Die Kritik des Westens an der chinesischen Bevölkerungspolitik sei «unangebracht», so der Ich-Erzähler, schliesslich sei die Eindämmung der Bevölkerungsexplosion im Interesse der ganzen Menschheit. Fiktion und Realität durchdringen sich in den Romanen Mo Yans. Manche Szenen fransen ins Surreale aus, und das Theaterstück über Gugu, von dem im Roman ständig die Rede ist, ist im letzten Kapitel des Buchs abgedruckt und gewinnt gleichzeitig seine eigene Wirklichkeit, wenn etwa der Regisseur in die Handlung einzugreifen versucht. Doch was auf den ersten Blick virtuos aussieht, bleibt erstaunlich flach. Die ausufernde Frosch-Symbolik etwa – die Schriftzeichen für Frosch und Baby werden im Chinesischen gleich ausgesprochen – wirkt angestrengt. Gugu leidet an einer Froschphobie (Froschquaken klingt für sie wie das Weinen von Neugeborenen). Kaulquappen erinnern zwar an Spermien, gelten jedoch auch als Verhütungsmittel. Der Erzähler selbst hat sich als Theaterautor das Pseudonym Kaulquappe gegeben, als Schriftsteller wiederum vergleicht er sich mit einem Frosch, der auf einem Seerosenblatt auf Mücken wartet – etc. Farbiges Bauernmilieu Bei aller Farbigkeit und Drastik des Bauernmilieus wirken die Figuren wie Fallbeispiele, an denen etwas demonstriert wird. «Frösche» ist ein Buch über ein Thema. Wir erfahren viel über die chinesische Bevölkerungspolitik – mit welchen Methoden die Ein-Kind-Politik durchgesetzt wurde, welche Bussen für die «überzähligen Kinder» bezahlt werden mussten, welche Lockerungen die späteren Jahre brachten. Doch wie es sich anfühlte, unter der Ein-Kind-Politik zu leben, was es für die einzelnen Menschen (vor allem die Mütter) bedeutete, in der intimen Frage des Kinderkriegens derart gewaltsam fremdbestimmt zu werden, welche Trauer damit verbunden ist – das erzählt Mo Yan nicht. Und so bleibt der Roman, trotz aller aufwühlenden Ereignisse, die er schildert, seltsam harmlos. ● 28. April 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Die österreichische Autorin Doris Knecht legt mit «Besser» ihr zweites grosses Werk vor. Darin beschreibt sie, warum sich ihre Heldin als Hochstaplerin fühlt Von der Unterschicht in die Wiener Schickeria regelmässig als DJane auf. Doch damit nicht genug: Knecht, die Meisterin der Kurzstrecke, probiert auch die Langstrecke aus. Vor zwei Jahren veröffentlichte sie mit dem Roman «Gruber geht» ihr literarisches Debüt, landete einen Überraschungserfolg und obendrein auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Derzeit wird das Buch verfilmt. Schildert Doris Knecht in ihrem Erstling das Leben eines frauenfressenden Kotzbrockens, der eines Tages an Krebs erkrankt und eine minimale Läuterung durchmacht, so kippt der Zweitling der Autorin auf den letzten vierzig Seiten um in Kitsch. Die zornige Antonia Pollak («Ich wollte einen Gott, um ihn zu verfluchen») erlebt aufgrund des Mordes an ihrer Putzfrau eine Katharsis, die zu viel des Guten ist. Die Stärken dieses Romans liegen anderswo – in der Milieustudie der Wiener Schickeria sowie in Figurenporträts. Wir wissen nun, warum und wie langjährige Freundschaften an Vegetarismus zerbrechen können. Wir wundern uns zusammen mit Antonia über Freunde, die zu einer Einladung immer ihre Nanny mitbringen, und denken nach über die Frage: «Wer hat […] die Hoheit über Rechte und Pflichten des Kindermädchens, die Arbeitgeber oder die Gastgeber?» Was immer Doris Knecht unters Mikroskop legt und seziert, sie beobachtet exakt wie eine Naturwissenschafterin und schreibt launig und klug wie eine Kolumnistin, ohne den Befund zu werten. Wobei ihre Sprache gelegentlich zu sehr ihre eigene ist und weniger die einer sozialen Aufsteigerin. Doris Knecht: Besser. Rowohlt, Berlin 2013. 285 Seiten, Fr. 28.50, E-Book 25.90. Von Sandra Leis JODY HORTON / GALLERY STOCK Antonia Pollak führt ein Leben, von dem viele träumen: Sie hat einen umsichtigen Mann, der als Immobilienhändler und Kunstsammler in den schicken Wiener Kreisen verkehrt. Sie hat zwei (meistens) schnucklige Kleinkinder, die – dem österreichischen Sozialstaat sei Dank – bereits den Kindergarten besuchen. Sie verfügt über eine Kreditkarte und hat viel freie Zeit, in der sie sich als Künstlerin betätigen kann. Im Moment allerdings ist sie eine «Künstlerin i. R.», was sich nach ihren eigenen Angaben jederzeit wieder ändern kann. Alles paletti also, möchte man meinen. Doch das ist bloss die makellose Oberfläche. Darunter versteckt Antonia einen Liebhaber, der für Abwechslung im geordneten Alltag sorgt. Und, das ist gravierender, sie vertuscht ihre Vergangenheit, von der ihr Mann keine Ahnung hat. Sie ist die Tochter einer alkoholkranken Mutter und gerät als Teenager schliesslich auf die schiefe Bahn. Später wird sie heroinsüchtig, trägt eine wie auch immer geartete Mitschuld am Tod einer alten Frau und verirrt sich in die Fänge eines ominösen Mannes, dessen äusserliches Merkmal eine grosse rote Narbe am Hals ist. Dieser Mann, der Inbegriff des Bösen, lauert ihr schliesslich in ihrem neuen properen Leben auf. Die beiden Welten drohen miteinander zu kollidieren, doch Antonia weist das Böse in die Schranken. Das alles ist sehr dick aufgetragen und wirkt arg konstruiert – mehr behauptet denn erzählt. Spitzfedrige Kolumnistin Glaubwürdig hingegen ist die Hauptfigur und Ich-Erzählerin, wenn sie schildert, wie es sich anfühlt, als Kind aus der Unterschicht plötzlich Teil der Wiener Schickeria zu sein. Und immer wieder die Blicke zu spüren, die sie der Hochstapelei überführen könnten. Antonia gehört durch Heirat zwar dazu, doch nie ganz. Ihr, die an enge, kleine Zimmer gewohnt war, sind grosse Räume immer noch fremd. Und sie weiss, dass sie nie so fantastisch aussehen wird wie andere in diesen Kreisen. «Auf diese angeboren makellose Art, wie es nur höhere Töchter draufhaben. So einen Teint kriegt man in der Unterschicht nicht zugeteilt, nicht mal in der Mittelschicht. […] Das hat man in den Genen oder man hat es nicht», heisst es im Roman «Besser» von Doris Knecht. 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2013 In feinen Restaurants fühlt sich Antonia unwohl. Ihren Adam behandeln die Kellner mit natürlichem Respekt. Bei ihr spüren sie, dass sie nichts verloren hat «in der Schönheit und Eleganz dieses Raumes». Bekannt geworden ist die gebürtige Vorarlbergerin als spitzfedrige Kolumnistin; in der Schweiz hat sie lange für den «Tages-Anzeiger» und «Das Magazin» geschrieben. Heute ist Knecht täglich im «Kurier» zu lesen; ihre wöchentliche Familienkolumne erscheint im «Falter». Die Fangemeinde ist riesig, für manch einen ist Knecht gar «die Garbo der Kolumnenkunst». Und wer sie leibhaftig erleben will, der besucht am besten die Wiener «rhiz-bar» – dort legt sie Einladung mit Kind und Nanny: Doris Knecht seziert Freundschaften. Süffig zu lesen Zu Hochform läuft Doris Knecht auf, wenn sie einzelne Menschen beschreibt: Jennifer, die immer wieder von neuem an die grosse Liebe glaubt und trotzdem stets den gleichen Typ Mann auswählt. Oder Moritz, der beste Freund der Heldin, der neben ihrer Schwester als Einziger alles über sie weiss. Kurz vor Abschluss seines Medizinstudiums hat er aufgehört zu studieren. Nicht weil er die Prüfungen nicht geschafft hätte, sondern weil er plötzlich merkt, dass er doch nicht Arzt sein will. Er wollte weniger, als er haben konnte. «Weniger, als man von ihm als Sohn einer Medizinerfamilie erwartete. Er empfand das als unerträgliche Last.» Moritz wird Krankenpfleger in der Psychiatrie, wo er die Protagonistin kennenlernt. «Besser» ist ein süffiger Unterhaltungsroman. Doch die Geschichte von der Frau mit der dunklen Vergangenheit funktioniert nicht. Da wird viel geraunt und angedeutet und zu wenig glaubhaft oder beängstigend erzählt. ● Roman Der US-Autor Joey Goebel erzählt von einem Teenager, der als Einziger an seiner High School nicht dauernd an Sex und Pizza denkt Ich will nicht immer so kritisch sein Joey Goebel: Ich gegen Osborne. Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog. Diogenes, Zürich 2013. 432 Seiten, Fr. 32.90, E-Book 25.40. Von Simone von Büren Die Schule als gesellschaftlicher Mikrokosmos ist in der angelsächsischen Literatur immer wieder ein ergiebiges Motiv – jüngst etwa im fulminanten Roman «Skippy stirbt» (Kunstmann 2011) des Iren Paul Murray, der anhand der Zustände an einer katholischen Internatsschule die irische Angewohnheit kritisiert, heikle Episoden der eigenen Geschichte über Generationen hinweg zu verschweigen. In Joey Goebels viertem Roman «Ich gegen Osborne» repräsentiert eine High School in Kentucky gar die Welt: «Osborne war die Welt in ihrer unabwendbarsten Form.» Zumindest steht sie für ein Amerika, das Ende der neunziger Jahre – der Roman spielt an einem einzigen Tag im Frühling 1999 – die aussereheliche Affäre seines Präsidenten zu verarbeiten versucht. Auch an der Osborne High School dreht sich alles um Sex, um «die Grosse Dumme Rumhurerei», wie es James Weinbach, der 17-jährige Ich-Erzähler, nennt. Der klapperdürre Teenager, der im Anzug zur Schule kommt und den generellen Mangel an Höflichkeit und Stil in seiner Altersgruppe beklagt, arbeitet an seinem ersten Roman über eine «geheimnisvolle Krankheit, die dazu führt, dass sich alle zurückentwickeln». In einer Mischung aus Wut und Überheblichkeit sieht er seine Mitschüler als «pickelgesichtige Trottel» mit «Kaugummi kauenden Kiefern», als hormongesteuerte «Deppen, die nur an Pizza dachten». Am ersten Schultag nach den Osterferien eskaliert James’ Wut, als seine bisherige Verbündete Chloe mit coolen Schuhen und überhaupt unangenehm verändert ausgerechnet mit seinem Erzfeind Hamilton, dem «ungekrönten König aller Bumser», anbändelt. Um sich an ihr und der ganzen hirnlosen Bande zu rächen, bringt James den Rektor durch Erpressung dazu, den Abschlussball abzusagen, und rückt dadurch ausnahmsweise ins Zentrum des Geschehens. Goebel, der mit literarischen Grössen wie T. C. Boyle und John Irving verglichen worden ist, gestaltet «Ich gegen Osborne» als Gefühlsprotokoll eines schwierigen Tages. Er unterteilt ihn in Lektionen und viele durch Minutenangaben gekennzeichnete Abschnitte. In der detaillierten emotionalen Aufzeichnung der Schulstunden von 7.47 bis 15.34 dominieren James’ Wuttiraden, die so witzig wie langfädig geraten. Man hätte sich neben einem strengeren Lektorat mehr von diesen feinfühligen Momenten gewünscht, in denen die Gefühle durchscheinen, die die grosse Wut nur verdeckt: James’ Liebe für Chloe, seine Sehnsucht nach der Leichtigkeit seiner Altersgenossen, die Trauer um seinen eben verstorbenen Vater und seine Unsicherheit: «Wenn ein Seufzer menschliche Form annehmen könnte, würde er wohl wie ich mit siebzehn aussehen.» Die Wut ist nicht neu im Werk des 33-jährigen Autors. Schon in früheren Romanen hat Goebel scharfzüngig abgerechnet mit gesellschaftlichen Missständen und engstirnigen Haltungen in Amerika, wenn er zum Beispiel fünf Aussenseiter in einer gottverlassenen Kleinstadt gegen das System anrennen liess («Freaks», in Deutsch 2007 erschienen) oder die Entfremdung zwischen Trailer-Park-Bewohnern und den republikanischen Politikern beschrieb, die ihre Stimme vertreten sollten («Heartland», 2010). Auffallend ist im neuen Roman die Häufung von James’ Einsichten und Vorsätzen am Ende: Ich mag nicht immer so überkritisch sein, ich will die Menschen mögen, ich hätte meine Energie gescheiter in meinen Roman investiert, ich möchte andere unbeschwert anfassen können. Sogar in Anbetracht der überdurchschnittlich unbeständigen Emotionalität von Teenagern geschehen diese Veränderungen zu plötzlich, um psychologisch plausibel zu sein. Es wirkt eher so, als ob der Autor sich vorgenommen hätte, auf einer positiven Note aufzuhören, versöhnlich statt verbittert. Vielleicht gibt es in den USA unter Obama ein bisschen weniger Anlass für Wut als unter G. W. Bush? ● Harry Callahan Ein Fotoklassiker neu zu entdecken Die Farbe der Tür ist verwittert, aber das Licht verzaubert das Blau und schafft mit dem Rot der Äpfel einen intensiven Klang. Für einen Moment ist der Alltag verzaubert, und eine banale Situation wird der Zeit entrückt. Harry Callahan fand solche Motive bei seinen zahllosen Streifzügen durch amerikanische Städte. Er fotografierte Schaufenster, Gebäude und Passanten, und auf vielen Bildern glauben wir etwas von der Atmosphäre eines Ortes und eines Jahrzehnts zu erkennen. Die Aufnahme von den roten Äpfeln wurde 1951 in Chicago gemacht, man kann darin die Schlichtheit und die Sehnsucht der Nachkriegsjahre spüren. In Providence und Atlanta hält der Fotograf Häuser und Bürobauten wie abstrakte Strukturen fest, die der industriellen Anonymität jener Jahre entsprechen. Callahan hat sich früh vom Realismus der Street Photography abgewandt und das Bildmedium künstlerisch emanzipiert. Das geschah mit skulpturalen und zeichnerischen Abstraktionen auf den Schwarz-Weiss-Aufnahmen und mit einer neuen Handhabung der Farbe. Der 1912 geborene Fotograf war einer der ersten, die sie als Kompositionsmittel verstanden, gleich ob er in Portugal, Irland oder Amerika fotografierte. In Amerika hoch geschätzt, ist Harry Callahan in Europa noch wenig bekannt. Der Band, der eine Ausstellung in Hamburg begleitet (Deichtorhallen, bis 16. Juni 2013) stellt das Werk in seinen Facetten vor. Gerhard Mack Dirk Luckow, Sabine Schnakenberg (Hrsg.): Harry Callahan. Kehrer, Heidelberg 2013. 256 Seiten, 198 Abbildungen, Fr. 77.90. 28. April 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Lyrik Der schizophrene Künstler Ernst Herbeck (1920–1991) verbrachte Jahrzehnte in der Nervenheilanstalt Gugging bei Wien. Dort ermunterte ihn sein Psychiater zum Schreiben Eine Art universales Ur-Gewisper Ernst Herbeck: Der Hase!!!! Ausgewählte Gedichte. Jung und Jung, Salzburg 2013. 264 Seiten, Fr. 33.90. 1966 gab der Psychiater Leo Navratil in der kleinen, heute legendären Studie «Schizophrenie und Sprache» erstmals Einblick in das literarische Schaffen seines Patienten Ernst Herbeck. Dieser schrieb damals noch unter dem Pseudonym Alexander. Sein erstes Gedicht verfasste er 1960, im Alter von 40 Jahren, als Insasse der niederösterreichischen Landesnervenklinik Gugging. Das Gedicht, sicherlich eines der ergreifendsten der deutschsprachigen Literatur, kann nicht oft genug zitiert werden: «Im Herbst da reiht der / Feenwind / da sich im Schnee die / Mähnen treffen. / Amseln pfeifen heer / im Wind und fressen.» Was daran, nebst all den geradezu virtuos anmutenden formalen Tricks und Regelbrüchen, bis heute tief bewegt, ist wohl die horrende Kälte in den Versen, ebenso die Abwesenheit alles Menschlichen. Es tritt in diesem «Naturgedicht» eine Verlorenheit zutage, die man nur erschütternd nennen kann. Den Eindruck, man habe es mit einer Art universalem Ur-Gewisper zu tun, bestätigt der Dichter selbst, in einem wenig später entstandenen Vierzeiler, wo er sich als einen Propheten bezeichnet, dem es möglich geworden sei, «Gottes Vers zu ebnen». Befremdlich schöne Poesie Navratils stets reich dokumentierte Hinweise auf Herbeck sorgten vorab in Literatenkreisen für Aufregung. Nicht nur bei Ernst Jandl und Friederike Mayröcker lösten die so befremdlich schönen Gedichte ein begeistertes Echo aus, auch W. G. Sebald feierte, etwa in seinem Essayband «Die Beschreibung des Unglücks», die Hervorbringungen seines leidgeprüften Kollegen. Mittlerweile sind etliche Sammlungen von Herbecks Texten erschienen. Die hier anzuzeigende jüngste Auswahl besorgte Gisela Steinlechner, die viel bislang Unveröffentlichtes zusammengetragen und den Band mit einem ebenso kenntnisreichen wie inspirierten Nachwort versehen hat. Der Buchtitel stellt mit seinem vielfach bekräftigten «Hasen» den Grundtenor einer Poesie heraus, die unserer als entleert wahrgenommenen Welt so etwas wie Substantialität einschreiben möchte. Oder zu möchten hat. Denn aus eigenem Antrieb auch nur ein einziges Wort zu Papier zu bringen, blieb dem seelisch 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2013 MICHAEL HOROWITZ / ANZENBERGER Von Bruno Steiger Therapiestunde mit dem Zwangspoeten Ernst Herbeck, im Hintergrund sein Psychiater Leo Navratil. Nervenklinik Gugging, 1978. Derangierten zeitlebens versagt. Herbeck schrieb nur in der Therapiestunde, auf Drängen von Navratil hin, der ihm jeweils den Titel vorgab. Ein leiser Widerwille des zum Dichten Angehaltenen kommt nicht selten explizit zum Ausdruck, etwa in dem eingangs zitierten Meisterwerk, wo Herbeck das Motiv «Der Morgen» mutwillig in ein frostiges, ausserhalb jeder denkbaren Tageszeit liegendes Herbstszenario umbiegt. Auch für die Fälle, wo Herbeck der vorgegebene Titel nur gerade einen kleinen Einwurf wert war, finden sich zahlreiche Beispiele in dem Buch, etwa zum einigermassen provokant wirkenden Stichwort «Selbstbewusstsein», das der nikotinsüchtige Zwangspoet mit einem souveränen «Wenn man raucht erübrigt es / sich.» abtut. Von solitärem Rang Auf die Frage, ob die vier Ausrufezeichen des Titelgedichts vom zeitlebens unter der angeborenen Lippen-KieferGaumenspalte («Hasenscharte») leidenden Dichter oder gar von seinem Arzt stammen, lässt sich keine schlüssige Antwort finden. Wie auch immer sie ausfiele, am solitären Rang von Herbecks Werk würde sie nichts ändern. Wie Gisela Steinlechner in ihrem Nachwort hervorhebt, lässt sich bei Herbeck eine Stimme vernehmen, «die ebenso an die Grundlagen wie an die Grenzen der Poesie rührt». Gerade damit unterscheiden sich die Gedichte in aller wünschenswerten Deutlichkeit von den Designprodukten der heute gängigen Spit- zenlyrik. Auch wenn gesagt werden kann, dass die Texte des 1991 «ungeheilt» Verstorbenen ihren frühen Widerhall vorab in einem von Sprachkritik und Experimentierfreude geprägten Umfeld fanden, eignet ihnen eine Ursprünglichkeit, die sich jeder literaturgeschichtlichen Einordnung entzieht. Eine gewisse Nähe von Herbecks Texten zu den dichterischen Erzeugnissen des Multikünstlers Dieter Roth darf gleichwohl festgestellt werden. Bei beiden ist das Prädikat «zustandsgebunden» nicht gänzlich fehl am Platz. Für Herbeck ebenso wie für Roth hatte der Schreibakt erste Priorität, noch vor allen poetischen Absichten und Formvorstellungen. Herbecks Frage an seinen Arzt, ob er «unbedingt alles» schreiben solle, dürfte sich auch Dieter Roth gestellt haben. In einem frappant an Gertrude Stein erinnernden kleinen Prosastück spricht Herbeck von «neutralen Texten», die sich in seiner Lyrik wie noch im Schrifttum der Profanwelt unablässig vermehren und verzweigen würden. Es könnte nicht zuletzt diese von allem kunsthaften Streben befreite «Neutralität» sein, in der die Sprache selbst zu Wort kommt. Die an unsere ältesten Bewusstseinsschichten rührende Authentizität einer «Literatur von Geisteskranken» ist damit nicht hinreichend erklärt. Ihre verstörende, noch diesseits aller «Hermetik» liegende Unauflösbarkeit ist es denn auch, die sie vor jedem Simulationsversuch schützt – zum Glück für uns Normalneurotiker und, es lässt sich nur erhoffen, noch für lange Zeit. ● E-Krimi des Monats Im Hotel zugestochen Nika Lubitsch: Der 7. Tag. MVG-Verlag, München 2013. 192 Seiten, Fr. 13.40, E-Book 3.40. Keine vier Franken kostet der E-BookKrimi mit dem blutigen Cover. Das hält die Erwartungen tief. Zumal er im Eigenverlag erschienen ist. Und doch: Wochenlang führte «Der 7. Tag» der Berlinerin Nika Lubitsch die KindleKrimi-Bestsellerliste an. Viele Leser kommentierten begeistert. Darum an dieser Stelle eine Rezension zu einem 4-Franken-Krimi aus einem Eigenverlag. Das Wichtigste vorweg: Das Buch bietet mehr, als es verspricht. Der Krimi ist unkonventionell erzählt, gegliedert in mehrere Teile, in denen gleiche Umstände aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert werden. Und: Er ist spannend. Man liest ihn in einem Zug, was aber auch heisst: Sehr anspruchsvoll ist die Lektüre nicht. Dafür trumpft der Plot am Schluss mit einer überraschenden Wendung auf. Die Handlung dreht sich um Sybille Thalheim, eine Frau, die alles hat, was es zum Glücklichsein braucht – und alles verliert. Ihr Leben verwandelt sich aufgrund eines Ereignisses in einen Albtraum: Ihr Ehemann verschwindet. Sie verliert ihr ungeborenes Kind, ihr Geld, ihr Haus, auch ihre Mutter stirbt. Alles zerfliesst. Und dann taucht der Vermisste plötzlich wieder auf: Als Toter in einem Hotelzimmer, mit 18 Messerstichen ermordet. Sybille Thalheim wird verhaftet – und wegen Mordes verurteilt. Obwohl sie sich nicht an die Tat erinnern kann – oder nicht erinnern will?, wie sie sich selber fragt. «Manche Menschen werden als Opfer geboren. Bis vor zwei Jahren glaubte ich, dass ich nicht dazu gehöre. Seit sechs Monaten sitze ich in einer Zelle und warte darauf, für ein Verbrechen verurteilt zu werden, das ich nicht begangen habe», schreibt sie in ihr Tagebuch, in dem sie die Ereignisse vor Gericht als Ich-Erzählerin schildert. Wie in einem Puzzle muss sich der Leser die Geschichte selbst zusammensetzen – mit Sybille Thalheims Bericht, mit Zeitungsartikeln über das Verfahren und mit Erzählungen aus der Aussenperspektive. Nur wer alle Seiten kennt, realisiert, dass alles anders war, als man sich dachte. «Der 7. Tag» ist nun auch als Taschenbuch erschienen. Ein später Erfolg für Nika Lubitsch. Bereits mit 26 hat die heute 60-Jährige versucht, einen Krimi zu publizieren. Ein einziger Verlag hat ihr Manuskript nicht entsorgt, sondern zurückgeschickt. Im Kommentar stand: «Wir verlegen keine Kochbücher.» Von Christine Brand ● Kurzkritiken Belletristik Sophokles: Elektra. Griechisch/Deutsch. Übersetzung K. Steinmann. Reclam, Ditzingen 2013. 197 Seiten, Fr. 9.40. Im Reich der Wünsche. Die schönsten Märchen deutscher Dichterinnen. Hrsg. Shawn C. Jarvis. C. H. Beck. 368 S., Fr. 28.40. Die Geschichte der griechischen Königstochter Elektra, die mit ihrem Bruder Orest Blutrache an ihrer Mutter und an ihrem Stiefvater übt, wurde literarisch immer wieder gestaltet. Sophokles, Aischylos und Euripides haben sich des mythologischen Stoffs auf ganz verschiedene Weise angenommen. Das Drama des Sophokles legt der renommierte Luzerner Übersetzer Kurt Steinmann, dem wir eine formidable neue Odyssee verdanken, nun in einer mustergültigen neuen Edition vor: Seine Versübertragung ist exakt und auf dem neuesten Stand der Forschung, aber auch sprech- und spielbar. Die zweisprachige Ausgabe wird Philologen erfreuen, das luzide, ausführliche Nachwort von Markus Janka, welches die Tragödie gedanklich und zeitlich zwischen Aischylos und Euripides verortet, spricht auch Kulturhistoriker an. Manfred Papst Für dieses von Isabel Grotze Holtforth bestrickend schön illustrierte Buch benötigt man ein gewisses literaturhistorisches Interesse. In nicht wenigen der 21 Märchen aus der Feder von 21 deutschen Autorinnen, zu denen Katharina die Grosse (1729–1796) ebenso gehört wie Fanny Lewald (1811–1889), die Frauenrechtlerin Hedwig Dohm (1831–1919) und die promovierte Philosophin Ricarda Huch (1864–1947), dominieren pädagogische Ansinnen über Fabulierlust. Das mag auch mit der Grund sein, weshalb sie weitgehend unbekannt beziehungsweise vergessen sind, was – nebenbei bemerkt – auch die Mehrheit der Grimm’schen Märchen betrifft. Wenn auch nicht als Gute-Nacht-Geschichten für die Kinder, so lohnt sich die Lektüre dennoch: Als Türöffner zu anderen Texten dieser Schriftstellerinnen, die zu Unrecht kaum mehr gelesen werden. Regula Freuler Georges Perec: Anton Voyls Fortgang. Roman. Deutsch von E. Helmlé. Diaphanes, Zürich 2013. 410 Seiten, Fr. 21.90. Andrzej Stasiuk: Kurzes Buch über das Sterben. Deutsch von Renate Schmidgall. Suhrkamp 2013. 112 S., Fr. 11.90, E-Book 9.90. Der französische Autor und Filmemacher Georges Perec (1936-1982) zählte zur legendären Oulipo-Gruppe, die sich den waghalsigsten Sprachexperimenten verschrieb. 1969 verfasste er aufgrund einer Wette den Roman «La Disparition», in dem der Buchstabe E kein einziges Mal auftaucht. Das ist zuerst einmal eine Spielerei. Doch das Buch bietet über die blosse Artistik hinaus eine vergnügliche und erhellende Lektüre. Erzählt wird eine krude Geschichte zwischen Revolutionskomödie und Krimiparodie. Eugen Helmlé hat das Kunststück fertiggebracht, den Roman ohne ein einziges E (den häufigsten Vokal sowohl im Französischen als auch im Deutschen) zu übertragen. 1986 ist seine kongeniale Übersetzung bei Zweitausendeins erschienen; nun liegt sie, erweitert um ein kundiges Nachwort von Ralph Schock, neu vor. Ein helles Vergnügen für alle Sprach-Turner! Manfred Papst 1960 in Warschau geboren, seit Jahren aber in der Abgeschiedenheit der Niederen Beskiden lebend, gehört Andrzej Stasiuk zu den wichtigsten polnischen Autoren seiner Generation: ein kritischer Kopf, der sich Anfang der 1980er Jahre in der pazifistischen Oppositionsbewegung engagiert hat und wegen Desertion aus dem Militärdienst anderthalb Jahre im Gefängnis sass. Aus den Erfahrungen, die er dort gemacht hat, entstand 1992 sein aufsehenerregendes Debüt «Die Mauern von Hebron». In seinem neuesten Buch, das vier Geschichten enthält, setzt er sich mit seinen persönlichen Erfahrungen mit dem Sterben und dem Tod auseinander. Mal geht es um seine Grossmutter, mal um seine Hündin, dann wieder um enge Freunde. Allesamt sind es autobiografische Texte, in denen sich analytische Selbstbefragung und Mitgefühl sicher die Waage halten. Regula Freuler 28. April 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Porträt Der Schriftsteller und Arzt Alaa al-Aswani kämpfte auf dem Tahrir-Platz für Freiheit und demokratische Rechte in Ägypten. Nun sieht er sie gefährdet durch eine Diktatur der Muslimbrüder. Michael Holmes hat den Autor in seiner Praxis in Kairo besucht «Wir Ägypter sind wieder im Rennen» Fragt man liberale Aktivisten, welche die ägyptische Revolution im Frühling 2011 geplant und zum Sieg geführt haben, nach ihren Vorbildern, fällt ein Name besonders oft: «Ohne Alaa alAswani wäre all das nicht möglich gewesen». Sie sprechen gern von diesem Mann, der ihnen Mut, Selbstachtung und Hoffnung gibt. «Er schreibt, was wir fühlen.» Alaa al-Aswani ist Schriftsteller, Revolutionär und Zahnarzt. Seine Praxis liegt in Garden City, einem wohlhabenden, gepflegten Stadtteil Kairos am östlichen Nilufer mit Luxushotels, Villen im klassisch-europäischen Stil und grünen Gärten. Sie ist klein – zwei Zimmer, hellgrüne Wände, kaum ein Bild. Vom Balkon hängt die ägyptische Fahne. Der Hausherr empfängt im eleganten Anzug – fester Händedruck, breites Lächeln. Er ist gross, kräftig, charismatisch und mit einem natürlichen Selbstbewusstsein gesegnet. Wäre er nicht so freundlich, könnte er fast bedrohlich erscheinen. Der Zahnarzt setzt sich hinter seinen Schreibtisch. Ich nehme neben dem Zahnarztstuhl Platz. Wie hat er selbst die Revolution erlebt? «In den Tagen der Revolution auf dem Tahrir und auf vielen anderen Plätzen in ganz Ägypten haben wir uns in bessere Menschen verwandelt. Wer frisch verliebt ist, wird oft zu einem besseren Menschen. Während dieser Tage waren wir alle verliebt», erklärt der Schriftsteller. Man habe sich gegenseitig geholfen, war hervorragend organisiert und blieb friedlich, Alaa al-Aswani Alaa al-Aswani wurde 1957 in Kairo in eine weltoffene Mittelschichtfamilie geboren. Sein Vater war Anwalt und Schriftsteller. In Kairo besuchte er eine französische Schule. Das Studium der Zahnmedizin führte ihn nach Chicago. Heute lebt er mit seiner Frau und drei Kindern in Kairo. Im Jahre 2002 veröffentlichte er den ersten Roman «Der Jakubijan-Bau», ein Bestseller in der arabischen Welt, heute in 23 Sprachen übersetzt. 2006 erschien der Roman «Chicago» (Lenos 2012). Das Buch «Im Lande Ägypten» (Fischer 2012) versammelt die wichtigsten Zeitungskolumnen und politischen Kommentare des Autors. «Demokratie ist kein Picknick! Alle westlichen Gesellschaften haben Jahrzehnte gebraucht, bis ihre Demokratien voll entwickelt waren.» men. Al-Aswani bricht dabei viele Tabus der ägyptischen Gesellschaft: Ein junges Mädchen wird von ihren Arbeitgebern zum Sex genötigt. Der Sohn des Türhüters darf nicht Polizist werden, wird grausam gefoltert und mutiert zum rachedurstigen Gotteskrieger. Ein sensibler Schwuler verschafft sich als Chefredakteur einer angesehenen Zeitung Respekt. Und an der Spitze der kleptokratischen Machtpyramide steht der Präsident. Weil er die Sorgen und Sehnsüchte der kleinen Leute in der Riesenmetropole Kairo schildert, wird al-Aswani oft mit dem ägyptischen Nobelpreisträger Nagib Machfus verglichen. Hat al-Aswani die Revolution kommen sehen? «Ich habe grosse Veränderungen erwartet – im Gegensatz zu fast allen westlichen Experten», sagt der Autor. Schon 2010 war er überzeugt, dass Ägypten reif für einen Wechsel sei. Er höre den jungen Aktivisten, seinen Patienten und Lesern genau zu, wenn sie ihm aus ihrem Leben erzählten. Inzwischen fragen sich viele, ob die Revolution nur ein schöner Traum gewesen sei. Die ersten Wahlen nach der Revolution waren trotz Unregelmässigkeiten die freiesten in der Geschichte des Landes. Trotzdem brachten sie mit einer knappen Mehrheit die islamistische Muslimbruderschaft an die Macht. Die Einheit vom Tahrir-Platz ist darüber zerbrochen. Als Besucher in Kairo erlebt man, wie täglich Demonstrationszüge gegen die Regierung von Mohammed Mursi durch die Strassen ziehen. Häufig kommt es zu schweren Auseinandersetzungen. Noch immer werden Demonstranten verprügelt, gefoltert, erschossen. In rechtsfreien Räumen häufen sich Diebstähle und Vergewaltigungen. Touristen meiden das Land ebenso wie die dringend benötigten Investoren. Das Wirtschaftswachstum sinkt. Haben sich die Revolutionäre geirrt? Ist Ägypten noch nicht reif für die Demokratie? Al-Aswanis Antwort kommt sofort: «Nein! Demokratie ist kein Picknick.» Alle westlichen Gesellschaften hätten Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte gebraucht, bis ihre Demokratien voll entwickelt waren. «Wir Ägypter sind nach dreissig Jahren Missherrschaft endlich wieder im Rennen.» Wie ein Bruchpilot am Steuer Immer wieder steht der Schriftsteller auf, schreitet durch den Raum. «Die Diktatur hat uns paralysiert. Jetzt sind wir auf dem richtigen Weg.» Die Auseinandersetzung mit dem politischen Islam sei eine Prüfung, die drei Jahrzehnte hinausgeschoben worden sei. Die MubarakDiktatur habe die Islamisten gestärkt. Doch nun verlören die Muslimbrüder an Popularität: «Selbst völlig ungebildete Menschen sehen, dass diese Regierung unglaublich inkompetent ist.» Auch die neue Regierung erfüllt keine der grundlegenden Aufgaben. Lärm, Abfall und Korruption sind allgegenwärtig. Der Verkehr ist lebensgefährlich. Der Zahnarzt bohrt tief. Al-Aswanis Zeitungskolumnen führen immer wieder zu Debatten. Mit spitzer Feder hat er schon 2005 bis 2010 die brutale Repression, Vetternwirtschaft, religiöse Doppelmoral und Frauenverachtung angeprangert. Den Extremisten aller Seiten wirft er vor, die höchsten Ideale der Ägypter in ihr genaues Gegenteil zu verkehren. Als Patriot streitet er für das Recht, das eigene Land zu kritisieren. Als frommer Moslem verteidigt er ▲ 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2013 selbst als Menschen vor aller Augen von Scharfschützen ermordet wurden und niemand wusste, wer als nächster stirbt. 2002 wird Alaa al-Aswani mit seinem Meisterstück «Der Jakubijan-Bau» schlagartig berühmt. In seinem ersten Roman zeichnet der Autor ein vielschichtiges, buntes Panorama der ägyptischen Gesellschaft. Der mehrstöckige Wohnkomplex im Art-déco-Stil ist zunehmend dem Verfall preisgegeben und beherbergt Dutzende Charaktere, die viele Ägypter an reale Personen denken lassen. Auf dem Dach hausen die Ärmsten in schäbigen Hütten. Unter ihnen wohnen die Bessergestellten, meist durch Härte, Tricks und Beziehungen zu Geld gekom- BALTEL / SIPA / DUKAS «Während dieser Tage waren wir alle verliebt», sagt der Kairoer Zahnarzt und Bestsellerautor Alaa al-Aswani über die Zeit auf dem Tahrir-Platz. 28. April 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Porträt ANDRE PAIN / EPA ▲ den toleranten Islam gegen die Islamisten. Und fast alle Texte enden mit der Parole: «Demokratie ist die Lösung.» Al-Aswani zählt zu den Gründern der Widerstandsgruppe «Kefaya», wurde bespitzelt, verleumdet. Nach der Revolution nahm er in einer legendären Fernsehdebatte den von Mubarak ernannten Premierminister Ahmad Shafiq so in die Mangel, dass dieser am folgenden Tag zurücktrat. Auch fromme Ägypter, sagt al-Aswani, der gerne Bilder braucht, begännen zu verstehen, wie gefährlich der politische Missbrauch der Religion sei: «Die Muslimbrüder haben das Flugzeug namens Ägypten entführt. Jetzt versuchen sie verzweifelt herauszufinden, wie man eine solche Maschine fliegt.» Mit kindlichem Vergnügen spielt der Zahnarzt einen tollpatschigen Bruchpiloten, der hektisch am Steuer dreht und wahllos Knöpfe drückt. «Mursi hat keinen Realitätsbezug» Dann wird er ernst. «Wir leben heute in einer faschistischen Diktatur». Die Muslimbrüder, die glaubten, den Willen Gottes zu kennen und mithin alles zu dürfen, selbst foltern und morden, versuchten die Macht ganz an sich zu reissen. Gerade Schriftsteller wie Mario Vargas Llosa oder Gabriel Garcia Marquez hätten wunderbar beschrieben, wie Diktatoren zunehmend den Kontakt zur Realität und zum Volk verlieren, weil sie von Bewunderern umgeben sind, die ihnen nur sagen, was sie hören wollen. «Mubarak hatte am Ende seiner Herrschaft jeden Kontakt zur Realität verloren. Mursi hat ihn schon verloren, als er Präsident wurde.» Trotz allem bleibt er optimistisch: Die ägyptische Zivilgesellschaft sei stark. Einfache ebenso wie prominente Ägypter kritisierten heute offen die Regierung, auf der Strasse, im Fernsehen, in den Zeitungen: «Wir werden einander beistehen. Wir haben keine Angst und sind auf alles vorbereitet. Wir erleben die zweite Welle der Revolution.» 2006 hat al-Aswani seinen Roman «Chicago» veröffentlicht, der im Milieu ägyptischer Studenten an der University of Illinois spielt, wo er selbst studiert hat. Unter Stipendiaten und emigrierten Akademikern tobt der Konflikt zwischen Tradition und Moderne, verinnerlichten Kulturnormen und Freizügigkeit. Es geht im Buch um Abtreibung, Selbstbefriedigung und die Liebe zwischen einem Ägypter und einer Jüdin. Das Niveau des «Jakubijan-Bau» erreicht «Chicago» nicht mehr. Die Darstellung Amerikas enthält Klischees und Übertreibungen. AlAswani versteht offensichtlich mehr von den Institutionen als vom Alltag der westlichen Welt. In zahlreichen Kolumnen hat er seinen ägyptischen Lesern in einfachen Worten die Prinzipien der offenen Gesellschaft erläutert. NEU BEI AHRIMAN: Der Protest geht weiter: 25. Januar 2013, zweiter Jahrestag des Volksaufstandes auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Auch deshalb verdient seine scharfe Kritik an der massiven westlichen Unterstützung für Mubarak unsere Aufmerksamkeit. Vom Westen als einer Einheit zu sprechen, sei genauso falsch wie alle Vorurteile gegen «die» Araber, meint Alaa al-Aswani: «Die meisten Menschen im Westen wollen Menschenrechte für alle. Dennoch glauben sogar einflussreiche Denker, dass die armen Länder nicht bereit seien für die Demokratie.» Er zündet sich eine Zigarette an und öffnet eine Coladose. Die meisten westlichen Regierungen würden sich nicht für die Leiden der Ägypter interessieren. Sie kämen gut mit korrupten Diktaturen zurecht, weil diese, immer für ausreichend «Viele Künstler unterstützen die Revolution. Aber Kunst kann Politik nicht verändern. Kunstwerke sensibilisieren für die Bedürfnisse und Ängste anderer Menschen.» Schmiergeld, die westlichen Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen bedienten. «Nun unterstützen die USA sogar die Muslimbrüder.» Er zuckt mit den Schultern. Man sieht ihm die Enttäuschung an. Welche Rolle spielen die Kulturschaffenden beim ägyptischen Frühling? «Viele Künstlerin- nen und Künstler unterstützen die Revolution.» Aber Kunst könne die Politik nicht verändern. Grosse Kunstwerke sensibilisierten für die Bedürfnisse, Ängste und Situationen anderer Menschen, sie schenken Mitgefühl: «Wenn Menschen einander verstehen, werden sie sich auch um die Rechte ihrer Mitmenschen kümmern.» In seinem nächsten Buch will al-Aswani von der Auseinandersetzung um die Einführung des Autos in den 1940er-Jahren in Ägypten erzählen. Viel verrät er heute noch nicht. Im Mittelpunkt stehe die Beziehung zwischen den feinen Mitgliedern des Kairoer Automobilclubs und ihrer ägyptischen Dienerschaft. Wird er dereinst einen Roman über die ägyptische Revolution schreiben? «Ich hoffe sehr!», ruft er aus. «Aber ebenso wie man sich nicht dazu entschliessen kann, sich am Montagabend zu verlieben, kann man sich auch nicht dazu zwingen, einen Roman zu schreiben. Der richtige Zeitpunkt lässt sich nicht vorhersagen.» Seine Abschiedsworte sind voller Zuversicht: «Vielleicht sehen wir uns ja schon bald auf dem Tahrir wieder. So Gott will.» Dort stehen jetzt nur noch wenige Zelte. Barfüssige, verdreckte Strassenkinder betteln um Geld oder Essen. Ein junger Mann zeigt mir die Narben eines Messerangriffs. «Ich wäre fast gestorben in unserer Revolution. Wofür?» Er ist den Tränen nahe. «Kopf hoch, die halbe Welt weiss wofür», entgegne ich. Er denkt nach. Dann nickt er und lächelt. «Na klar! Wir dürfen es nie vergessen!» l VO N AN FAN G AN E I N E LÜ G E G EG E N G LE I C H H E IT, LO G I K U N D S E XU E LLE S V E RG N Ü G E N <wm>10CAsNsjY0MDAx0gUSluaWANEM-KcPAAAA</wm> »Kerstin Steinbach gegen die Bewegung der Prüderie.« <wm>10CFWMMQ7DMAwDXySDomyrisYgW9Ch6O6l6Nz_T7WzZeCBw5Hnma3gyn4838crFaiUifDIFq3Qe2qweOuJCiPUNq1wZZA3X6DRDTaWI6gyq052IcfDMdTWw1hrWPl9vn_ttMs1gAAAAA==</wm> JUNGE FREIHEIT Bestellen bei Tel: +49 761 502303, Fax 502247 343 S., zahlreiche Farbabbildungen € 29,80 / ISBN 978-3-89484-821-7 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2013 Kolumne GAËTAN BALLY / KEYSTONE Charles Lewinskys Zitatenlese Der Autor Charles Lewinsky arbeitet in den verschiedensten Sparten. Sein neues Buch «Schweizen – vierundzwanzig Zukünfte» ist soeben im Verlag Nagel & Kimche erschienen. . . . unbearbeitet, eine rohe Tonmasse, voller Kehricht, mit Baugerüsten, herumliegendem Werkzeug und allerlei Gerümpel. Kurzkritiken Sachbuch Amanda Adams: Scherben bringen Glück. Gerstenberg, Hildesheim 2013. 240 Seiten, Fr. 36.90. Sebastian Conrad: Globalgeschichte. Eine Einführung. C. H. Beck, München 2013. 300 Seiten, Fr. 21.90. «Pionierinnen der Archäologie» heisst der Untertitel des reich bebilderten Buches, das sieben beherzte Frauen porträtiert, die im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ihrer Abenteuerlust nicht widerstehen konnten. Darunter sind bekannte Namen wie Agatha Christie oder Gertrude Bell, aber auch unbekannte wie die schöne Amelia Edwards oder Jane Dieulafoy im Herrenanzug mit Kurzhaarschnitt. Alle waren sie mutig, eigenwillig und klug. Sie reisten allein oder in Begleitung ihrer Ehemänner in noch kaum erforschte Weltregionen, um dort längst vergangene Kulturen zu entdecken. Amanda Adams, Autorin und selber Archäologin, möchte diese Frauen aber nicht mythisieren. Sie waren keine Feministinnen und übernahmen gelegentlich sogar patriarchalische Klischees, wie sie kritisiert. Aber gerade das mache sie «umso faszinierender». Geneviève Lüscher Globalgeschichte hat Konjunktur. Sebastian Conrad definiert sie als «eine historische Analyse, bei der Phänomene, Ereignisse oder Prozesse in globale Kontexte eingeordnet werden», und präsentiert dann eine präzise und lesbare Einführung, voller konkreter Beispiele. Er diskutiert die grossen Kontroversen der Globalgeschichte: die Debatte um die Hegemonie des Westens. Oder die Frage nach dem Beginn der Globalisierung und nach den nichtwestlichen Modernisierungsphänomenen. Umfassend beschreibt der Historiker auch die typischen globalgeschichtlichen Themenfelder – wie Migration und Arbeitsmärkte, Geschichte der Ozeane oder auch die Kulturgeschichte: Was sagt «Tim und Struppi» über die Vernetzung der Welt aus? Und er schliesst mit exzellenten Würdigungen der zehn wichtigsten Bücher zum Thema. Kathrin Meier-Rust Lisbeth Herger, Heinz Looser: Zwischen Sehnsucht und Schande. Überarb. Aufl. Hier + Jetzt, Baden 2013. 234 S., Fr. 39.90. Gregor Spuhler (Hrsg.): Anstaltsfeind und Judenfreund. Carl Albert Loosli. Chronos, Zürich 2013. 138 Seiten, Fr. 37.90. Das Autorenpaar Herger und Looser geht auf Spurensuche nach dem Leben der Ostschweizer Stickerin Anna Maria Boxler (1884–1965). Die in der Familie lange tabuisierte Grossmutter von Heinz Looser war unehelich geboren, galt als «liederlich» und «arbeitsscheu». Wegen Abtreibung, Prostitution und Diebstahl verurteilt, wurde sie zum Objekt und Opfer administrativer Fürsorge und Verfolgung: ein tragisches, ein trauriges Schicksal in einer Welt voll Elend, Alkohol und Armut. Die persönliche Betroffenheit und Irritation des Nachkommen ist spürbar; verständlich auch, dass Behörden und Administrativ-Justiz als kalt und gefühllos gezeichnet werden. Die historische Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Fast etwas zu viel wird aus den reichlich gefundenen Akten zitiert. Doch die anschaulich erzählte Geschichte einer Gemassregelten vermag unsere Herzen zu berühren. Urs Rauber Der Berner Schriftsteller Carl Albert Loosli (1877–1959) war ein Unangepasster, ein Mundartdichter, Pamphletist und Homme de Lettres. Als ehemaliger Heimzögling kämpfte er gegen das schweizerische Anstaltswesen – das er reichlich überschiessend mit deutschen Konzentrationslagern verglich – und für das Recht der Jugend auf eine eigenständige Existenz. Später wurde der «Philosoph von Bümpliz» zu einem der ersten und vehementesten nichtjüdischen Kritiker des Antisemitismus; so trat er als Experte im Berner Prozess über die «Protokolle der Weisen von Zion» (1935) auf. Ob das eine mit dem anderen zu tun hat? Dieser Frage und der biografischen Prägung des Seeländer Nonkonformisten sowie seinen gesellschaftspolitischen Wirkungen geht diese spät erschienene Textsammlung nach, die die Resultate einer Loosli-Tagung von 2009 zusammenfasst. Urs Rauber Iwan Gontscharow über einen unfertigen Text Wer zum Teufel hat wieder diese Adjektive herumliegen lassen? Muss denn ums Verrecken der nächste Unfall passieren? Erst letzte Woche ist einer über ein vergessenes «nachhaltig» gestolpert und hat sich die Grammatik gebrochen. Und die Versicherung hat sich geweigert, auch nur einen Rappen zu bezahlen. Weil «nachhaltig» überhaupt kein Wort sei, sondern nur ein modisches Klischee. Und wenn ihr dabei seid: Räumt auch gleich den Haufen mit den «und» weg, gopfertellisiech! Wofür hängen denn überall diese Plakate? «Zuviel und ist ungesund!» Merkt euch das endlich! Sonst hol ich mir meine nächsten Schreiber aus einem Billiglohnland! So ein Trupp Inder schraubt euch eine Trilogie im Akkord zusammen, da könnt ihr dann sehen, wo ihr bleibt! Wie bitte? Was hast du? Einen Bachelor in «Creative Writing»? Jöö! Bist du nicht der Typ, der gestern einen Nebensatz ohne Sicherheitsabsperrung hat in der Luft hängen lassen? Und dann behauptet, das sei kein Fehler sondern Stil? Nicht nur, dass das lebensgefährlich war – die ganze Baustelle ist stillgestanden, wegen diesem Seich! Weil alle auf das Verb gewartet haben, das du vergessen hast. Wir machen hier nicht Kunst, merk dir das, wir machen einen Roman! Meinst du, der Generalunternehmer will den Erscheinungstermin verschieben, bloss weil der Herr Bachelor jedes Mal erst ein Synonym suchen muss, bevor er ein Substantiv festschraubt? Und wer, huerecheibeschiissdräck, hat diese beiden Kapitel aneinander montiert! Ja, die beiden, mit dem Zeitsprung dazwischen, so gross dass sich jeder Leser das Kontinuum verrenkt! Soll sich melden, der Dilettant! Natürlich, jetzt will es wieder keiner gewesen sein! Aber «Ghostwriter» kommt von «Geist», nicht von «Pfusch», merkt euch das endlich! Also, Leute, nehmt euch ein bisschen zusammen! Sonst muss ich dann andere Seiten aufziehen! Ihr seid ja wirklich die letzten Säcke! Nicht einer hat gemerkt, dass das soeben ein brillantes Wortspiel war! Seiten statt Saiten. Von wegen Bücher. Aber so was kriegt ihr ja überhaupt nicht mit! Sucht euch doch einen Hilfsarbeiterjob bei einem Ärzteroman! Für die echte Literatur seid ihr alle überhaupt nicht zu gebrauchen! Und es soll mal sofort einer die viel zu vielen Ausrufezeichen wegräumen, die in diesem Text herumliegen! Ich weiss auch nicht, wo die alle herkommen. 28. April 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Philosophie Mario Vargas Llosa kritisiert in seinem neuen Essay das Verkümmern der Kultur zur seichten Unterhaltung – brillant, aber überzogen Was zählt, ist das Spektakel Mario Vargas Llosa: Alles Boulevard – Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst. Suhrkamp, Berlin 2013. 229 Seiten, Fr. 34.90. Von Katja Gentinetta Was Vargas Llosa bescheiden als Essay ankündigt, ist ein fast 230 Seiten starker Abgesang auf das, was Kultur einmal war: eine den Erfahrungshorizont erweiternde, die Geheimnisse des Lebens enthüllende, unser Empfinden revolutionierende, den Blick in unsere Abgründe öffnende, unsere Überzeugungen stetig überprüfende Summe grosser Werke und Leistungen. In sechs Kapiteln durchforstet er die Massenmedien, den Kunstbetrieb, die «Multikultur», die Erotik, die Politik und die Religion – und stellt ernüchtert fest: «Kultur ist Unterhaltung, und was nicht unterhält, ist keine Kultur.» Der Autor macht kein Hehl daraus, dass er sich in die Reihe der Kulturpessimisten stellt. In Referenz an frühere und zeitgenössische Kulturkritiker stellt er fest, dass sie alle, so unterschiedlich sie sind, in einem Punkt übereinstimmen: nämlich darin, dass die Kultur in einer Krise steckt, ja im Niedergang begriffen ist. Dazu gehört auch der Befund, dass die vielversprechende Demokratisierung der Kultur, gipfelnd in der weit verbreiteten Piraterie, zwar allen Zugang zur Kultur eröffnet hat. Die Kultur selbst aber – Werke, die einen in Bann schlagen, weil sie die Gegenwart zu transzendieren vermögen und die Generationen überdauern – ist dabei auf der Strecke geblieben. Wie sehr unsere Gesellschaft auf Spektakel aus ist, versinnbildlicht ein Bericht über New York im September 2008, wo eine Meute von Pressefotografen nur darauf wartete, dass sich endlich ein Broker aus dem Fenster eines Hochhauses stürzen würde. Wo Nachrichten 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2013 nicht mehr aufgrund ihrer politischen, ökonomischen oder sozialen Bedeutung wichtig sind, sondern aufgrund ihres Neuigkeits- und Skandalisierungspotenzials, schwinden die Grenzen zwischen seriösem Journalismus und Boulevard. Vargas Llosa ist jedoch umsichtig genug, dass er diese Entwicklung nicht allein den Medien anlastet, sondern letztlich der Gesellschaft selbst, die nach dieser Art der Information verlangt. Zur «Kultur light» gehört auch, dass nicht mehr Künstler oder Intellektuelle, sondern Köche und Modedesigner die Referenzfiguren von heute sind. Intellektuelle reden und schreiben zwar noch, werden aber nicht wahrgenommen – ausser, sie spielen «das Spiel des Tages» mit. Wohltuend direkt begründet der Schriftsteller, den man als vehementen Verfechter der Freiheit kennt, den Ansehensverlust der Intellektuellen auch mit deren weit verbreiteten Sympathien für Totalitarismen. Den wahren Grund aber sieht er im geringen Ansehen des Denkens selbst – und dem Primat der Bilder sowie, möchte man noch ergänzen, der Zahlen. Schein über Sein Ein Begriff, der Vargas Llosas Kulturkritik wie ein roter Faden durchzieht, ist die Frivolität, wobei es ihm nicht um das Bedenkenlose, Leichte, Leichtfertige geht. Er beobachtet vielmehr eine grundlegende Umkehrung der Werte: Form geht über Inhalt, Schein über Sein, Spektakel über Ernsthaftigkeit. Frivol – und als solche Mitverursacher der Geringschätzung des Denkens – sind für Vargas Llosa auch die postmodernen Philosophen. Er beruft sich dabei auf andere Kritiker, schildert aber in einer witzigen Passage seine eigene angestrengte, aber wenig erhellende Derrida-Lektüre. Frivolität ortet Vargas Llosa auch in der Politik. Nicht nur, weil sich die Politiker lieber mit Film- oder Fussballstars ablichten lassen als mit Philosophen Konfetti-Show bei den Präsidentschaftswahlen in den USA (7. November 2012). oder Wissenschaftern, sondern weil – hier wird er geradezu prophetisch – in der «Kultur des Spektakels (...) der Komiker der König» ist. An die Stelle des Programms ist die Plattitüde getreten, an jene der Argumente Äusserlichkeiten. Worauf der Autor letztlich zielt, ist die Verschiebung – er spricht von einem qualitativen Sprung – unseres gesamten Koordinatensystems. Es sind nicht mehr Theorien, Weltanschauungen oder Äusserungen von klugen und kritischen Zeitgenossen, die unseren Blick für die Welt schärfen. Heute sind es Werbeagenturen, Marketingtechniken und Medien, die über Geschmack, Empfinden und Phantasie herrschen. Unterhaltung ist das Höchste, und im Zuge der Internet Immer häufiger verhilft das World Wide Web zum Erfolg in der Politik Die digitale Welt als Wahlhelfer Andreas Jungherr, Harald Schoen: Das Internet in Wahlkämpfen. Konzepte, Wirkungen und Kampagnenfunktionen. Springer VS, Wiesbaden 2013. 185 Seiten, Fr. 34.20. political correctness darf auch nicht mehr unterschieden werden zwischen gut und schlecht. Wo alles wertvoll ist, gibt es keinen Wert mehr. Wenn alles Kultur ist, gibt es keine Unkultur. E-Book ist nicht das Ende Die Befunde, die Vargas Llosa anführt, sind zahlreich, und sie vermögen als Einzelanalysen zu überzeugen. In den pessimistischen Grundtenor einzustimmen, fällt dennoch schwer. Nicht nur, weil man im E-Book, mit dessen Kritik er seinen Essay schliesst, nicht das Ende des Buchs sehen mag; und auch nicht, weil man Fortschritt allenthalben erblickt, denn ein Grossteil dieses Fortschritts ist, wie Vargas Llosa richtig be- merkt, Spezialisten verdankt, denen ein Disziplinen übergreifender Blick oft abgeht. Nein, vor allem deshalb, weil sich (und Vargas Llosa führt sie an seltenen Stellen an) für jedes Kapitel auch Gegenbeispiele finden liessen. Dennoch oder gerade deshalb ist der Essay eine lohnende Lektüre, weil er in konziser Form und Fülle den Blick auf unsere Gegenwart richtet und dazu auffordert, genauer hinzusehen, manchmal auch einfach wegzusehen und überhaupt wieder den Mut aufzubringen, zu unterscheiden – und zu bewerten. ● Katja Gentinetta ist Philosophin, Lehrbeauftragte der Uni St. Gallen und Gesprächsleiterin der «Sternstunde Philosophie» am Schweizer Fernsehen. REUTERS TANNEN MAURY / EPA Von Andreas Hirstein Spätestens seit den Wahlerfolgen von Barack Obama in den USA wissen die politischen Strategen: Mit dem Internet kann man Wahlen gewinnen. Und das jetzt auch in Europa. Der Aufstieg des italienischen Komikers Beppe Grillo zu einem einflussreichen Politiker und gegen die mediale Übermacht seiner Konkurrenten wäre ohne das Internet undenkbar gewesen. Fast immer sind es die vermeintlichen Underdogs, die sich erfolgreich des neuen Mediums bedienen. Das war in Italien nicht anders als bei den Vorwahlen im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2008. Damals war es der noch unbekannte Senator aus Illinois, der sich gegen Hillary Clinton, die haushohe Favoritin des Partei-Establishments der Demokraten, durchsetzte. Die Blaupause zu Obamas Erfolg hatte 2004 der spätere Parteichef der Demokraten, Howard Dean, geliefert. Zwar unterlag Dean bei der parteiinternen Ausscheidung – Präsidentschaftskandidat wurde der heutige Aussenminister John Kerry. Deans E-Mailbasierter Wahlkampf aber machte in der demokratischen Partei Karriere und begründete den Vorsprung, den die Partei bis heute gegenüber den Republikanern besitzt. Aus Deans Kampagne ging auch die private, den Demokraten nahestehende Firma «Blue State Digital» hervor, die inzwischen weltweit Politikberatung betreibt. In Frankreich half sie François Hollande, in Brasilien der Ministerpräsidentin Dilma Rousseff. Doch ist das Internet wirklich der Auslöser einer gesellschaftlichen Revolution, die bisher machtlosen Randgruppen generell zu mehr Einfluss verhilft? Die Politologen Andreas Jungherr und Helmut Schoen (Uni Bamberg) äussern Zweifel an dieser zwar Talkshow-tauglichen, empirisch aber nicht bewiesenen These. Stattdessen wählen sie einen differenzierteren Ansatz. Es kommt eben ganz darauf an: wie das Wahlsystem eines Landes aussieht, wie intensiv das Internet genutzt wird und wie die rechtlichen Grundlagen etwa des Datenschutzes sind. Was in den USA funktioniert, muss in Ländern wie zum Beispiel der Schweiz noch lange keinen Erfolg bringen und Web-Wahl: Dilma Rousseff. könnte sogar illegal sein. ● 28. April 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Islamische Welt Navid Kermanis Reiseberichte über Krisenregionen von Afghanistan bis Palästina führen zu überraschenden Einsichten Länder, in denen der Ausnahmezustand normal ist Navid Kermani: Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigende Welt. C. H. Beck, München 2013. 253 Seiten, Fr. 28.40, E-Book 19.40. Als Navid Kermani nach langer Zeit in Kairo wieder einmal sein Stammlokal aufsuchte, fragte ihn der Oberkellner, der dort zum Inventar gehört: Wo warst du denn so lange? Diese Anekdote steht am Schluss des Reportagenbandes, der mit dem Besuch in eben jenem Lokal, einem Teehaus, sechs Jahre zuvor beginnt. Für den Autor gibt es in Kairo keinen beständigeren, vom Fortschritt weniger beeindruckten Ort als das Teehaus, wo selbst das «Stühlerücken eine Kulturrevolution» ist. Das Teehaus ist für Kermani ein einzigartiger Pol der Ruhe auf seinen «Reisen in eine beunruhigte Welt». In Ländern wie Syrien, Pakistan, Afghanistan, in Regionen wie Kaschmir oder Palästina herrscht nämlich der Ausnahmezustand. Ein Zustand, der schon so lange dauert, dass er einem fast normal vorkommt. Gegen die Akzeptanz dieser «Normalität» will der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller und Essayist ein Zeichen setzen. Deshalb hat er in den letzten Jahren diese Krisenländer bereist und darüber berichtet. Die Texte sind zwischen 2005 und 2012, wenn auch in sehr viel kürzerer Fassung, in deutschsprachigen Zeitungen publiziert worden, unter anderem in der NZZ. Die Sammlung hat SHAH MARAI / AFP Von Ina Boesch Besinnlicher Moment in einem Friedhof von Kabul, wo die Opfer des Bürgerkriegs ruhen (2007). nichts von ihrer Aktualität eingebüsst, bietet in ihrer Konzentration einen erhellenden Blick auf die vor allem von Muslimen bewohnte Krisenregion vom Mittelmeer bis zum Subkontinent Indien und korrigiert Vorurteile. So fühlen sich beispielsweise in Pakistan, das wir mit Gewalt assoziieren, vier Fünftel der Pakistaner den Sufis nah, die Gewalt ablehnen und Toleranz vorleben. Dank seiner umfassenden Kenntnisse von Sprache, Kultur und Religion der besuchten Länder hat sich der deutschiranische Islamwissenschafter Zugang zu Menschen und Schicksalen erobert, die in den täglichen Nachrichtenbulletins nicht vorkommen. Dabei gelingen ihm berührende Porträts. Etwa von einem Greis, der in Kabul auf dem Fried- hof lebt und sich über das Ende der Taliban freut: «Niemand sagt mir mehr, was ich tun, was ich sagen, wie ich meinen Bart tragen muss.» Und immer leitet Kermani die Frage, wie Menschen mit einem jahrelangen Leben im Ausnahmezustand umgehen. Ganz unterschiedlich: In Kaschmir zum Beispiel haben sie sich «im Ausnahmezustand eingerichtet», sie sind «fed up», niemand mag mehr kämpfen. Ähnlich in Syrien, wo die Bevölkerung tagtäglich mit Kämpfen konfrontiert ist – und dennoch Angst und Hass verloren hat. Als Grenzgänger zwischen den Genres, der ebenso die Kunst des Romanschreibens beherrscht wie die glasklare Sprache des Essays, schafft Navid Kermani Texte von poetischer Kraft und analytischer Einsicht. So wartet er mit überraschenden Erkenntnissen auf, von denen man in der tagesaktuellen Berichterstattung kaum etwas erfährt. Erhellend die Tatsache, dass in Kaschmir sowohl Regierungspolitiker als auch Widerständler das gleiche wollen: Autonomie, offene Grenzen, Rückzug der Armee. Augen öffnend die Erkenntnis, dass in Pakistan Bauern und Handwerker, jedoch nicht Bürger und Intellektuelle das weltliche Staatsmodell stützen. Paradox schliesslich, dass in Syrien das weltliche Regime Hauptsponsor einer islamischen Theokratie ist, während der Westen auf der Seite von teils ausgesprochen religiösen Menschen steht. Man legt das Buch nach der Lektüre beglückt aus der Hand, weil man sowohl berührt als auch belehrt worden ist. ● Wissenschaft Der italienische Historiker Carlo Ginzburg über die Suche nach dem «roten Faden» Im Labor historischen Forschens Carlo Ginzburg: Faden und Fährten. Wahr – falsch – fiktiv. Wagenbach, Berlin 2013. 156 Seiten, Fr. 32.90. Von Janika Gelinek In der Einleitung seines neuen Essaybands rekapituliert der Kulturwissenschafter Carlo Ginzburg die Geschichte von Theseus, der sich mit Hilfe von Ariadnes Faden im Labyrinth des Minotaurus orientiert und bemerkt lakonisch: «Von den Fährten, die Theseus hinterliess, als er im Labyrinth umherlief, erzählt der Mythos nichts.» Mit dieser Eingangsmetapher des strukturverheissenden roten Fadens im Verhältnis zu zahllosen, zunächst ziellosen Spuren, charakterisiert der Historiker den Alltag eines Forscherlebens: das Labyrinth aus Ideen, Hypothesen, Lek18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2013 türen, das tausend Irrwege bereithält, aber eben eines genau nicht – den roten Faden, der gefahrlos zur Erkenntnis führt. Das Handwerk der Historiker ist zusätzlich vor die Herausforderung gestellt, den jeweiligen Gegenstand erzählen zu müssen und dabei das «Geflecht von Wahr, Falsch und Fiktiv zu entwirren, das das Webmuster unseres In-derWelt-Seins bildet.» Diese immer neu zu verhandelnde Grenze zwischen fiktivem und historischem Erzählen, als produktiver Streit im Ringen um die Darstellung von Wirklichkeit, stellt ein Axiom von Ginzburgs Forschungen dar, die auch hier nicht in Form von Thesen, sondern vielmehr als Blick ins Laboratorium präsentiert werden: etwa das close-reading des Dialogs «De la lecture des vieux romans» von 1646, eine Szene in Stendhals «Le Rouge et le Noir» über die Langeweile als his- torisches Phänomen, «Randbemerkungen» über Kracauer, die Begriffsgeschichte der Microstoria. Die Genauigkeit, mit der Ginzburg die Entstehungsbedingungen der einzelnen Texte untersucht und Verbindungen zu ästhetischen und sozialen Ereignissen der Zeit herstellt, die Fülle der von ihm verarbeiteten Literatur, nötigt Bewunderung ab. Gleichzeitig verweigern die Vielfalt der Themen und Paraphrasen, sowie das Fehlen einer einheitlichen Terminologie, was genau eine historische Quelle von einem fiktionalen Text unterscheidet, zuletzt eine schlüssige Erkenntnis, wie Historie und Fiktion, Literatur und Wissenschaft denn nun zusammenhängen könnten. Der rote Faden ist mit Carlo Ginzburg nicht zu finden – doch wer, wenn nicht er, sollte uns sonst durchs Labyrinth von Wissen und Erkenntnis führen? ● Biografie Der Berner Jurist Mani Matter (1936–1972) war nicht nur ein populärer Chansonnier, sondern auch ein scharfsinniger, selbstkritischer Denker «Warum syt dir so truurig?» (vgl. Rezension in Bücher am Sonntag, März 2013). Cambridge wurde für Matter ein Wendepunkt – wissenschaftlich, beruflich, politisch, künstlerisch und persönlich. Er wurde nach der Rückkehr in die Schweiz juristischer Mitarbeiter der Berner Stadtverwaltung, stellte die akademische Karriere zurück und liess seine Habilitationsarbeit unvollendet. Er engagierte sich in der Gruppe Olten, in der sich Autorinnen und Autoren aus Protest gegen die Politik des Schweizerischen Schriftstellervereins zusammenschlossen. Seine Chansons wurden abgründiger, abstrakter, weniger «lustig», so dass sein Freund, der Komponist und Pianist Jürg Wyttenbach, den Ausspruch vom «spröden Altersstil» des Mittdreissigers prägte. Zunehmend belastete ihn die Frage, ob und wie er all seine Verpflichtungen miteinander in Einklang bringen könne. Wilfried Meichtry: Mani Matter. Eine Biographie. Nagel & Kimche, Zürich 2013. 320 Seiten, Fr. 34.90. Von Thomas Feitknecht Ein Jahr in Cambridge Schon 1977 veröffentlichte Franz Hohler den auch heute noch sehr lesenswerten Porträtband über den fünf Jahre zuvor tödlich verunfallten Künstlerfreund. Auf literaturwissenschaftlicher Ebene setzten sich Christine Wirz und Stephan Hammer mit seinem Werk auseinander. Grosse Publikumserfolge waren 2002 Friedrich Kappelers Film «Warum syt dir so truurig» und 2011 die Mani-Matter-Ausstellung, die – nach Zwischenstationen in Schwyz und Bern – jetzt bereits zum zweiten Mal im Landesmuseum Zürich zu sehen ist (bis 8. September). Nun legt der Co-Kurator dieser Ausstellung, Wilfried Meichtry, die erste umfassende Monografie über Mani Matter vor. Der 48-jährige promovierte Walliser Historiker und Germanist hat Erfahrung im Umgang mit anspruchsvollen Biografien. Er ist schon der Geschichte des aus dem Wallis stammenden deutschen Viele unbekannte Seiten JOY MATTER Als Daniel Spoerri 1956 in einem Kellertheater der Berner Altstadt Stücke von Eugène Ionesco und Pablo Picasso als deutschsprachige Erstaufführungen inszenierte, brachte es der aus Zürich angereiste «Weltwoche»-Kritiker Hugo Loetscher auf den Punkt: Bern habe «etwas gemacht, worum sich Zürich, das doch gerne mit Prätention aufgeschlossen ist, nicht einmal richtig bemüht hat: eine Experimentier- und Studioaufführung von Witz und Wert». Zur illustren Schar der Künstler und Intellektuellen jener Zeit in Bern gehörten u. a. Meret Oppenheim, Bernhard Luginbühl, Claus Bremer, Dieter Roth, Otto Nebel und Harald Szeemann. Das war das kulturelle Biotop, in das der Gymnasiast und Student Hans Peter Matter hineinwuchs. Und schon bald galt er selber als einer der wichtigsten Vertreter dieser «Berner Szene». Seinen ersten Bühnenauftritt hatte der 17-jährige Matter als Zeitungsjunge in Thornton Wilders Stück «Unsere kleine Stadt». In den folgenden Jahren trug er auf den Spuren von Georges Brassens seine ersten Chansons vor, an einem Fest des Gymnasiums Kirchenfeld und an Unterhaltungsabenden der Pfadfinderabteilung Patria. Der Name Mani, auf den Hans Peter Matter bei den Pfadfindern getauft wurde, war fortan sein Markenzeichen. Und obwohl er seiner «kleinen» Stadt stets eng verbunden blieb und bis auf ein Forschungsjahr in Cambridge nie länger von dort weg kam, gewann er als Berner Troubadour eine Ausstrahlung, die weit über Bern hinausreicht und bis heute andauert. Jagdfliegers Franz von Werra nachgegangen und hat das gemeinsame Leben der «Verliebten Feinde» Peter und Iris von Roten nachgezeichnet, das in diesem Frühjahr als Dokufiction in die Kinos gekommen ist. Für sein ManiMatter-Buch hatte Meichtry Zugang zu bisher verschlossenen Teilen des Nachlasses im Schweizerischen Literaturarchiv und zu unveröffentlichten Briefen aus Privatarchiven. Eine weitere wichtige Quelle waren Manis Freunde und Angehörige, allen voran seine Frau Joy. In erzählerischen Passagen versucht Meichtry, Lücken in der Überlieferung der Dokumente und in der Erinnerung der Zeitzeugen zu schliessen. Das wichtigste Kapitel, das Meichtry in Mani Matters Leben aufschlägt und als erster ausführlich darstellt, ist der Aufenthalt in Cambridge von Anfang Oktober 1967 bis Ende September 1968. Matter verbrachte dort mit seiner Familie ein Jahr, um an seiner juristischen Habilitationsschrift über «Die pluralistische Staatstheorie» zu arbeiten, die sich u. a. mit dem englischen Politikwissenschafter Harold Laski befasste Einer der frühesten Auftritte: Mani Matter am 12. Juni 1954 an einem Schulfest des KirchenfeldGymnasiums. Das Cambridge-Kapitel ist typisch für Wilfried Meichtrys Vorgehen. Um zu verstehen, was dieser Aufenthalt für Mani Matter bedeutete, reiste der Autor mit Joy Matter in die englische Universitätsstadt. In langen Gesprächen auf der Reise und am Ort selber nähert sich Meichtry den Fragen und Problemen, die Mani Matter damals beschäftigten. Die beiden Reisenden treffen den Philosophen und Soziologen Alexander Stewart, mit dem Mani damals einen regen wissenschaftlichen Gedankenaustausch über Freiheit und Determination pflegte. Zitate aus Manis Tagebuch und aus der Korrespondenz mit dem Vater und mit Berner Freunden wie dem Troubadour Fritz Widmer, dem Juristen Christoph von Greyerz und dem Musikerpaar Urs und Ingrid Frauchiger zeigen, wie sehr ihn die Frage nach dem «Wie weiter?» umtrieb. Eine Antwort fand er nicht, weil er die Komplexität der Dinge kannte. Und er blieb häufig auch ratlos, weil er selbstkritisch bis zur Selbstzerstörung war. Nahtlos fügt Wilfried Meichtry Abschnitte ein, in denen er sich vorstellt, wie «es» gewesen sein könnte. Diese narrativen Stellen sind ein Wagnis – und sie gelingen nicht immer gleich gut. Gelegentlich geraten sie inhaltlich etwas weitschweifig oder bleiben sprachlich in abgegriffenen Formulierungen stecken. Die Anmerkungen sind für ein nichtwissenschaftliches Buch richtigerweise sparsam eingesetzt – allerdings in einzelnen Fällen allzu sparsam: wenn z. B. Mani Matter den Waadtländer Chansonnier Gilles erwähnt, müsste dieser dem deutschsprachigen Publikum von heute wohl näher vorgestellt werden. Aber diese Einwände schmälern den Wert dieser Biografie nicht, die nicht nur spannend zu lesen ist, sondern auch dem Kenner von Mani Matter viele bisher unbekannte Seiten zeigt. ● 28. April 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 ARCO IMAGES Sachbuch Evolution In einem Vergleich der Entwicklung der sozialen Insekten mit jener des Homo sapiens will der grosse Ameisenforscher E. O. Wilson der Natur des Menschen auf die Spur kommen Am Anfang war das Nest E. O. Wilson: Die soziale Eroberung der Erde. Eine biologische Geschichte des Menschen. C. H. Beck, München 2013. 382 Seiten, Fr. 32.90. Von Kathrin Meier-Rust Den Vergleich mit Menschenaffen sind wir gewohnt – doch Ameisen und Termiten? Genau dies unternimmt der 83-jährige emeritierte Harvard-Professor Edward Osborne Wilson, der weltweit grösste Kenner der Welt der Ameisen und Verfasser zahlreicher Standardwerke. Doch während in seinen Klassikern zu den sozialen Insekten im letzten Kapitel dann jeweils auch noch der Mensch zur Sprache kam, ist es diesmal umgekehrt: Von der ersten Seite an geht es dem Forscher darum, die biologischen Ursprünge der menschlichen Natur und damit auch der menschlichen Kreativität, Kultur und Geschichte zu erhellen. Woher wir kommen, was wir sind, wohin wir gehen – das sind die uralten Fragen, die der Naturwissenschafter mit Hilfe der Biologie zu beantworten verspricht. Gelassen-selbstsicher und auch etwas redundant lässt Wilson die Evolutionsgeschichte des Homo sapiens und der Insekten Revue passieren, mal mit Details angereichert, mal in grossen Zügen. Nur wenige Tierarten leben in sozialen Verbänden, und noch viel seltener ist der Schritt zur höchsten Form des sozialen Zusammenlebens, zur sogenannten Eusozialität. Gemeint ist damit das Zusammenleben von mehreren Generationen mit einer Arbeitsteilung, die altruistische Züge zeigt. Abgesehen von Insekten und Menschen haben nur einige Krebsarten sowie die Nacktmulle Afrikas dieses Stadium erreicht. Und selbst die sozialen Insekten machen nur 2 Prozent von einer Million Insektenarten aus – und doch dominieren sie die Welt der wirbellosen Tieren genauso wie der Mensch jene der Wirbeltiere: «Gemeinsam repräsentieren wir die beiden gros20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2013 sen Hegemonien der landbewohnten Welt», schreibt Wilson. Die Frage, wie eine natürliche Selektion, die Fortpflanzung belohnt, sterile Arbeiterbienen hervorbringen konnte, hat schon Darwin beunruhigt. Für Wilson gibt es keine grossen Fragen mehr. Am Anfang zur Entwicklung zur Eusozialität steht immer der Nestbau. Der nächste und entscheidende Schritt verlangt, dass die Jungtiere dieses Nest nicht verlassen, sondern «daheimbleiben» und «mithelfen». In einer letzten Phase entstehen dann die eigentlichen sozialen Systeme oder Staaten, mit ihrem Kastenwesen von spezialisierten Wächtern, Soldaten, Arbeitern und Ammen. Während den Ameisen dieser Schritt schon vor 100 Millionen Jahren gelang, begannen unsere Vorfahren allerdings erst vor 3 Millionen Jahren, sich in grösseren Gruppen um feste Lagerplätze zu scharen. Gruppenselektion umstritten Ob Individuen, die an diesem Nest-Lagerplatz zusammenleben, verwandt sind oder nicht, spielt für Wilson keine Rolle. Denn sobald dieses Zusammenleben gelingt, findet der darwinistische Überlebenskampf nicht mehr nur zwischen verschiedenen Individuen statt, sondern gleichzeitig auch zwischen verschiedenen Gruppen: je besser eine Gruppe sich zu ernähren, zu bewachen und zu verteidigen versteht, desto erfolgreicher wird sie überleben. So harmlos diese These für den Laien klingen mag – ihrem Autor beschert sie die erbitterte Ablehnung der Fachwelt. Seit Jahrzehnten hat sich die Evolutionswissenschaft und mit ihr auch E. O. Wilson darauf geeinigt, dass die natürliche Selektion nur auf der Ebene der Verwandtschaft ansetzt. Die Abkehr von diesem Dogma zugunsten einer bisher verfemten «Gruppenselektion» kommt hier deshalb nicht gut an. Über 130 Evolutionsbiologen unterzeichneten Protestbriefe an «Nature» (wo vor zwei Jahren Wilsons erster wissenschaftlicher Artikel zum Thema er- schien), und entsprechend gehässig wird das Buch nun von einigen Wissenschaftern als «unplausibel» und «selbstgefällig» taxiert. Wilson, der «Die soziale Eroberung der Erde» für eine allgemeine Leserschaft schreibt und wissenschaftliche Kontroversen darin nur am Rande erwähnt, scheint dies wenig anzufechten. Gerade die umstrittene Gruppenselektion ist nämlich für die Entstehung der menschlichen Natur zentral. Denn während die natürliche Selektion beim Individuum den platten Egoismus in all seinen negativen Spielarten fördert, erzeugt der Konkurrenzkampf zwischen Gruppen ganz andere Werte: Es sind Eigenschaften wie Zusammenarbeit, Opferbereitschaft, Empathie, Altruismus oder Pflichtbewusstsein, die dem Überleben der Gruppe dienen. «Die genetische Fitness eines Menschen muss daher eine Folge sowohl der individuellen als auch der Gruppenselektion sein», schreibt Wilson, was dazu führe, dass die Natur des Menschen ein «endemisches Getümmel» darstelle: «In unserer Natur existiert das Schlimmste neben dem Besten, und das wird immer so bleiben.» Nicht nur Krieg und Gewalt sind deshalb unabänderlich mit der menschlichen Geschichte verbunden, auch Religion, Kunst und Kultur will der Naturwissenschafter aus dieser in unserer Biologie tief verankerten Ambivalenz erklären. Biologische Deutung Das neue Buch des grossen Ameisenforschers E. O. Wilson bietet viel Wissenswertes zu den sozialen Insekten, Einsicht in die rätselhafte Entstehung von sozialem Leben und eine einigermassen plausible, wenn auch etwas simplistische Erklärung der Zerrissenheit der menschlichen Natur. Ob sich mit dieser «wahren» biologischen Schöpfungsgeschichte nun wirklich, wie Wilson überzeugt ist, die mythischen und religiösen erübrigen – das mag jeder selbst entscheiden. ● Globalisierung Das 21. ist das asiatische Jahrhundert. Der frühere NZZ-Korrespondent Urs Schoettli zeichnet dessen Hintergründe kenntnisreich nach Tigerstaaten fordern den Westen heraus Urs Schoettli: Die neuen Asiaten. Ein Generationenwechsel und seine Folgen. NZZ Libro, Zürich 2013. 378 Seiten, Fr. 39.90, E-Book 27.90. Von Urs Rauber Seit ein paar Jahren blickt die Welt fasziniert auf die rasanten Entwicklungen in Ostasien. Der Aufstieg Chinas zur zweitgrössten Wirtschaftsmacht der Welt 2010, Indiens Sprung zur IT-Supermacht und Japans ungeheure Innovationskraft weckt in Europa Erstaunen, Begeisterung, aber auch Ängste vor der asiatischen Dominanz. Bei Schoettli, seit 30 Jahren Korrespondent und Kolumnist für die NZZ aus Delhi, Hongkong, Peking und Tokio sowie Asienberater mehrerer Schweizer Unternehmen, ver- binden sich fundierte Landeskenntnisse mit journalistischer Gestaltungskraft. Seine 370 Seiten starke Auseinandersetzung mit Geschichte, Mentalität und Entwicklungspotenzial der asiatischen Völker und Regionen liest sich flüssig und ist trotz Anreicherung mit neustem Zahlenmaterial alles andere als ein trockener Wälzer. Im Zentrum von Schoettlis Betrachtungen steht der Generationenwechsel, der im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts in Asien über die Bühne geht. Er spürt den Veränderungen und Konstanten nach, die sich mit der Übergabe der politischen und wirtschaftlichen Macht von der Generation der 68er auf deren Kinder und Enkel ergeben. In prägnanten Kapiteln wird die Entwicklung der drei Grossmächte China, Indien und Japan aus ihren spezifischen MAN RAY TRUS/ADAGP / PRO LITTERIS Das Gesicht Von der antiken Maske zum Fotoporträt Zweimal Gertrude Stein: Im Hintergrund ein Porträt von Picasso (Paris, 1906), im Vordergrund fotografiert durch von Man Ray (Paris, 1922). Die Schriftstellerin sass vor dem Gemälde gleichsam vor sich selbst, einem gemalten Double. Hans Belting schreibt in «Eine Geschichte des Gesichts», diese Fotografie sei ein «Schlüsselwerk für die Frage nach Maske und Porträt». Um das frühe Gemälde Picassos rankt sich eine Legende: Frau Stein soll dem Künstler über 80mal Modell gesessen haben, ohne dass er es schaffte, ihr Antlitz darzustellen. Schliesslich malte er anstelle ihres Gesichts eine prähistorische Maske, wodurch es zeitlos und doch ein Porträt von Gertrude Stein wurde. Für das Foto von Man Ray verwandelte Stein ihr Gesicht wiederum in eine Maske, als wolle sie dem Porträt ähneln. Der Kunsthistoriker Hans Belting ist den Bildern nachgegangen, die sich der Mensch im Laufe seiner Existenz von sich selbst gemacht hat. Entstanden ist eine auf den europäischen Raum beschränkte Kulturgeschichte des menschlichen Gesichts – nicht des Porträts –, von den Anfängen in der Steinzeit bis zu den modernen Massenmedien. Es ist eine Geschichte des Scheiterns, da sich das Leben in einem Antlitz nicht bannen lässt, es erstarrt immer zur Maske, weshalb Beltings Buch auch eine Geschichte der Maske ist. Geneviève Lüscher Hans Belting: Faces. Eine Geschichte des Gesichts. C. H. Beck, München 2013. 343 Seiten, Fr. 40.90. historischen Bedingungen heraus geschildert. Im Reich der Mitte steht die Überwindung des Erbes von Mao, der «zu den grössten Verbrechern der Menschheitsgeschichte gehört», bevor. Den entscheidenden Anstoss dazu gab Maos Mitstreiter Deng Xiaoping mit seinen Reformen ab 1978: «Reich zu werden, ist wunderbar.» Diese ermöglichten die Zulassung des Privateigentums und den Aufstieg der Mittelschichten – allerdings verbunden mit einem wachsenden Reichtums- sowie dem StadtLand-Gefälle, zunehmender Korruption und dem Weiterbestehen des totalitären Einparteiensystems. Im Gegensatz dazu hatte Indien aus dem britischen Kolonialerbe eine robuste parlamentarische Demokratie sowie Englisch als Verkehrs- und Verwaltungssprache übernommen, was den späteren Aufstieg des Landes zur IT-Supermacht erleichterte. Politische Stabilität garantierte die langanhaltende Macht des Nehru-Gandhi-Clans, dessen sozialistische Politik das Land 1991 jedoch an den Rand des Bankrotts brachte. Zu den spezifisch indischen Herausforderungen gehört die Überwindung des Kastenwesens und der fehlenden Berufsbildung. Für Japan bedeutete die periphere Insellage stets Gunst und Fluch. Der Pazifik wirkt als Barriere sowohl gegen fremde Eroberer wie auch gegenüber fremden Einflüssen. Der japanische Sonderweg ist geprägt durch eine eigentliche «Obsession zur Verbesserung». Ist China ein Meister im Kopieren, besticht Japan durch seine Innovationskraft, in dem man alles, was man aus fremden Kulturen und Zivilisationen übernimmt, ständig perfektioniert. Dieses Rezept liess Japan in den 1970er Jahren zur zweitgrössten (heute: drittgrössten) Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen. Schoettli skizziert auch die ostasiatischen «Tiger» Indonesien (Untertitel: die Überraschung), Malaysia (stille Beständigkeit), Vietnam (das Prinzip zähe Pragmatik), Thailand (machiavellische Eliten), Singapur (Stadtstaat par excellence), Philippinen (ein Stück Lateinamerika), Myanmar (der Nachzügler), Südkorea (Überlebenskünstler) sowie Hongkong und Taiwan (Grosschina). Die Zuschreibungen zeigen, wie präzise es dem Verfasser gelingt, sowohl Eigenheiten wie Unterschiedlichkeiten herauszuarbeiten. Die Bilanz lautet, dass das asiatische Zeitalter, das um die Jahrtausendwende begann, für Europa und die USA eine wirtschaftliche wie sicherheitspolitische Herausforderung darstelle. Eine Herausforderung, die – wenn sie positiv gemeistert werde – zu «einer Welt mit mehr Stabilität und grösserem Wohlstand» führen könne. Voraussetzung allerdings sei, dass der Westen sich mit den Werten der östlichen Kulturen auseinandersetze und den «neuen Asiaten» auf Augenhöhe begegne. ● 28. April 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Politik Der frühere Aussenminister Joschka Fischer und der Geschichtsforscher Fritz Stern im Gespräch über Deutschland, Europa und Amerika Ex-Sponti lernt, historisch zu denken Joschka Fischer, Fritz Stern: Gegen den Strom. Ein Gespräch über Geschichte und Politik. C. H. Beck, München 2013. 224 Seiten, Fr. 28.40, E-Book 19.90. Vor drei Jahren ist im C.-H.-Beck-Verlag unter dem Titel «Unser Jahrhundert» ein mehrtägiges Gespräch zwischen dem früheren Bundeskanzler Schmidt und dem Historiker Fritz Stern erschienen. Die Debatte zwischen den beiden kenntnisreichen Altmeistern wurde schnell zum Bestseller. Nun legt der Verlag einen ähnlich angelegten weltpolitischen Tour d’horizon in Buchform vor. Der Gesprächspartner des 1926 in Breslau geborenen und wegen der NaziHerrschaft nach Amerika geflohenen Historikers Fritz Stern ist diesmal Joschka Fischer, deutscher Aussenminister von 1998 bis 2005, Jahrgang 1948. Der Dialog verläuft also zwischen zwei Vertretern verschiedener Generationen mit höchst unterschiedlicher Lebenserfahrung. Fischers Eltern waren kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von Ungarn nach Süddeutschland gezogen. Sie waren erzkatholisch, klassische CDU-Wähler. Gegen dieses Milieu habe er als jugendlicher Aktivist in der sogenannten Sponti-Szene und als prominenter Vertreter der bundesdeutschen Grünen rebelliert, erklärt er im Gespräch. Ungeachtet des Unterschieds in Alter und Herkunft kommen sich Stern und Fischer in der Beurteilung vieler aktuel- HELMUT FRICKE Von Reinhard Meier Ungleich in Alter und Herkunft, nahe in den Auffassungen: Historiker Fritz Stern (links) und Joschka Fischer am 28.5.2012. ler und zeitgeschichtlicher Phänomene erstaunlich nahe – was der Lebendigkeit dieses informativen Gesprächs keinerlei Abbruch tut. Wer hätte noch zu Zeiten der alten Bundesrepublik je gedacht, dass sich ein führender Grüner je zu einem Kompliment für die «historische Leistung» des früheren CSU-Chefs Franz Josef Strauss bereitfinden würde? Jetzt verweist Fischer darauf, dass es zu den wesentlichen Verdiensten von Strauss gehörte, die Integration der politischen Rechten in Westdeutschland befördert zu haben. Auch Helmut Kohl wird für seine tatkräftige Rolle bei der Vereinigung Deutschlands und bei der Durchsetzung des Euro respektvolles Lob zuteil. Solche rückblickend positiven Einschätzungen ehemals scharfer politischer Gegner bezeugen den beeindruckenden Wandlungs- und Reifeprozess vom jugendlichen Rebellen und Strassenkämpfer Fischer zum Verantwortungsträger, der durch Erfahrung gelernt hat, historisch zu denken. Das bedeutet, die Dinge in einen geschichtlichen Kontext einzuordnen. «Damals lebten wir ja alle noch in unseren Feindbildern», sagt Fischer an einer Stelle im Zusammenhang mit seinen Vorstellungen als junger Grüner im Bonner Bundestag. Kein Wunder, dass der Ex-Aussenminister von ideologisch verbohrten ehemaligen Gesinnungsfreunden heute mit Gift und Galle überzogen wird. Zentrale Themen im Gespräch von Stern und Fischer sind die EU-Krise, die Zukunft Europas und die ideologische Spaltung in den USA. Beide beklagen ein Führungsdefizit in Europa. Das Grundelement der europäischen Einigungsidee sei ein politisches, nicht ein ökonomisches. Wenn aber die Europäer noch Einfluss haben wollten auf das Weltgeschehen, dann müssten sie, meint Fischer, unmissverständlich erklären, «wir gehören zusammen und wir bleiben zusammen, egal was es kostet». Gegenüber Israel und seiner jetzigen Politik äussert sich der Historiker mit jüdischen Wurzeln kritischer als der frühere Aussenminister. Dieser betont, dass es völlig kontraproduktiv sei, als Deutscher den Israeli die Leviten lesen zu wollen. Und er fügt psychologisch tiefblickend und auf das Beispiel Günter Grass verweisend hinzu, dass es bei deutscher Kritik an der israelischen Politik «meistens gar nicht um Israel geht», sondern – unbewusst – um ein Problem der Deutschen mit sich selber. ● Emanzipation Männer-Lobbyist Markus Theunert bleibt abstrakt in seinem Buch über Genderpolitik Feministische Sexisten – die wahren Feinde Markus Theunert: Co-Feminismus. Wie Männer Emanzipation sabotieren – und was Frauen davon haben. Hans Huber, Bern 2013. 209 Seiten, Fr. 35.40. Von Walter Hollstein Erinnern wir uns: Im Frühsommer 2o12 hatte der Kanton Zürich für seine Gleichstellungsarbeit einen «Männerbeauftragten» eingestellt: Markus Theunert. Nach rekordverdächtigen drei Wochen war das Arbeitsverhältnis schon wieder aufgelöst. Wenn Theunert nun ein Buch zur Geschlechterpolitik vorlegt, könnte erwartet werden, dass er dieses persönliche Erlebnis mit der Gleichstellungswirklichkeit in unserem Land kritisch bearbeitet. Doch dem ist nicht so. Allenfalls finden sich einige Seitenhiebe gegen den «Gleichstellungsfeminismus», der sich zu einem «bürokratischen Herr22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2013 schaftsinstrument» gewandelt habe. Dies in der Tat ist das Problem, wie vor längerer Zeit auch schon kritische Feministinnen wie Elisabeth Badinter oder die kürzlich verstorbene Tissy Bruns analysiert haben. Theunert hätte hier ja wahrscheinlich auch mehr als nur einiges zu erzählen gehabt: als Mitglied der Eidgenössischen Frauenkommission, als Lobbyist von männer.ch, als Teilnehmer von Gleichstellungskonferenzen. Doch Theunert vermeidet es, aus dem Nähkästchen zu plaudern. Kann man verstehen. Schliesslich ist er primär Politiker und kann es sich nicht erlauben, die Gleichstellungskaste nachhaltig zu vergrätzen. So baut er denn als bequemen Nebenkriegsschauplatz den Popanz des «Co-Feminismus» auf. Damit meint er Männer, die «die schweigende Mehrheit im Gleichstellungsprozess» bilden. Das sei der wirkliche Feind: «Wölfe im Schafspelz der Geschlechtergerechtigkeit». Sie gehören bekämpft und vor allem demaskiert. «Der Co-Feminist findet Gleichstellung eine gute Sache, solange er damit nichts zu tun hat. Er ist sozusagen ein profeministischer Sexist. Aus Indifferenz, Angst oder Kalkül gibt er den Frauenversteher und drückt sich damit erfolgreich vor der Auseinandersetzung mit seinem Mann-Sein». Über 2oo Seiten entwirft Theunert Typologien, Raster, Kategorien und schliesslich gar «zehn Spielarten» des Co-Feminismus. Das alles bleibt aber gar abstrakt. Irgendwann möchte der geneigte Leser gerne wissen, wer denn nun eigentlich ein Co-Feminist ist. Aber diese Antwort liefert der Autor nicht: kein einziger Namen, null Literatur, nicht einmal ein Verweis, nichts. Meint Theunert am Ende vielleicht sich selber? ● Walter Hollstein ist emeritierter Professor für Soziologie und Autor diverser Bücher zur Männerforschung. Lebenswerk Eine solide Biografie zeigt den Beitrag des Aufklärers Heinrich Zschokke (1771± 1848) zur Entwicklung der modernen Schweiz Ein Deutscher prägte das helvetische Nationalbewusstsein Werner Ort: Heinrich Zschokke 1771– 1848. Eine Biografie. Hier + jetzt, Baden 2013. 720 Seiten, Fr. 69.–. Von Tobias Kaestli Nach dem Ende der Alten Eidgenossenschaft im Jahr 1798 dauerte es 50 Jahre, bis die Schweiz mit der Bundesverfassung von 1848 ihre dauerhafte Staatsform fand. Einer, der während der ganzen Zeitspanne in verschiedensten Funktionen die Transformation der Schweiz in einen modernen Nationalstaat begleitete und förderte, war Heinrich Zschokke. Zschokke war zwar nur ein zweitrangiger Politiker, dafür aber ein erstrangiger Aufklärer und «Volkserzieher». Seine patriotisch- moralischen Erzählungen und seine allgemein verständlichen historischen Abhandlungen entfalteten eine kaum zu überschätzende Wirkung. Von 1798 bis 1836 gab er die populäre Zeitschrift «Der aufrichtige und wohlerfahrene Schweizer-Bote» heraus, in der er im Oktober 1822 das erste Kapitel seiner «Schweizerlandsgeschichte für das Schweizervolk» veröffentlichte. «Von wunderbaren Dingen, Heldenfahrten, guten und bösen Tagen der Väter ist viel gesungen und gelehrt», schrieb er in der Ankündigung. «Nun will ich die alten Sagen verjüngen im Gemüth alles Volks.» Eindrücklich liess er Gessler, Winkelried und andere sagenhafte Gestalten auffahren, spannend schilderte er Tells Apfelschuss, den Rütlischwur, die Schlacht am Morgarten. Vom Lehrer zum Politiker 1822 erschien sein Werk in Buchform bei Sauerländer in Aarau und wurde bis 1847 siebenmal neu aufgelegt. Nach seinem Tod wurde es, von Sohn Emil um die neuesten geschichtlichen Ereignisse erweitert, 1852 und 1859 erneut publiziert. Wahrscheinlich war es die am meisten gelesene Schweizer Geschichte, die es jemals gegeben hat, und sie widerstand lange der kritischen Geschichtsforschung. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war sie Leitlinie für den Geschichtsunterricht in unseren Volksschulen und prägte nachhaltig das Nationalbewusstsein ganzer Generationen junger Schweizerinnen und Schweizer. Wer war Heinrich Zschokke? Geboren als Sohn eines Tuchmachers in Magdeburg absolvierte er das dortige Gymnasium und wurde als Sechzehnjähriger Hauslehrer bei einem Buchdrucker in Schwerin. Nebenher schrieb er volkstümliche Erzählungen und Theaterstücke, war Autor einer Wanderbühne und nannte sich «homme de lettres». Mit 19 Jahren ging er an die Universität Frankfurt an der Oder, wo er beim liberalen Theologen und Philosophen Gotthilf Samuel Steinbart im Eiltempo studierte und doktorierte. Mit 21 Jahren war er Privatdozent. Auf einem Urlaub in seiner Heimatstadt Magdeburg bekam er Gelegenheit, die Kanzel zu besteigen und als Prediger sein rhetorisches Talent zu üben. Zum Pfarrer fühlte er sich aber nicht berufen. Er war kein frommer Christ, eher ein Freigeist und Moralist. Später sollte er in Aarau eine Freimaurerloge gründen. Nach Aufenthalten in Zürich, Bern und Paris wurde Zschokke 1796 Lehrer am renommierten Seminar Reichenau in Graubünden und bald schon dessen Direktor. Er schrieb ein Lehrbuch für die Volksschule und wollte, dass es auf Romanisch übersetzt werde, weil dies die eigentliche Sprache des Volkes sei. Heinrich Zschokke schrieb 1822 die wohl meistgelesene Schweizer Geschichte. Hier auf einem Gemälde als Regierungsstatthalter (um 1800). Doch das Ende der alten Eidgenossenschaft im Jahr 1798 führte ihn auf andere Wege. Der deutsche Pädagoge schloss sich der helvetischen Revolution an; und weil er die Rache der Bündner Aristokraten fürchten musste, floh er nach Aarau, der ersten Hauptstadt der Helvetischen Republik. Er erhielt das helvetische Bürgerrecht, und Philipp Alber Stapfer, der helvetische Kulturminister, ernannte ihn schon bald zum Leiter des Büros für Nationalkultur. Danach war Zschokke Regierungskommissar in Stans und lernte Pestalozzi kennen, der dort die Kriegswaisen betreute. 1804 ernannte ihn der Kanton Aarau zum Oberforst- und Bergrat, 1810 wurde er kantonaler Oberforstinspektor. Gleichzeitig versuchte er sich als Unternehmer, gründete zusammen mit zwei Lohgerbern eine Gerberei und einen Handel mit Leder. In dieser Sparte vermochte er sich aber nicht zu behaupten. Sein schon bald beträchtliches Vermögen erwarb er sich durch das Schreiben, wobei ihm die Geschäftstüchtigkeit seines Verlegers Heinrich Remigius Sauerländer sehr zustatten kam. Während 20 Jahren sass Zschokke im Grossen Rat des Kantons Aargau. Daneben blieb er immer ein ungeheuer produktiver Schriftsteller, Zeitschriftenherausgeber und effektvoller Vortragsredner. Differenziertes Zeitbild Zschokke selbst hat in verschiedenen autobiografischen Schriften über sein Leben Auskunft gegeben. Abgesehen davon, dass diese Schriften heute kaum noch bekannt sind, vermögen sie dem Bedürfnis nach einem umfassenden und kritischen Lebensbild in keiner Weise zu genügen. Erst mit der von der HeinrichZschokke-Gesellschaft initiierten wissenschaftlichen Arbeit von Werner Ort bekommen wir eine solide, interessante, stellenweise vielleicht etwas allzu weit ausholende Biografie in die Hand. In fruchtbarer Art hat der Biograf Geschichtsforschung und Literaturforschung miteinander verknüpft und ein differenziertes Lebens- und Zeitbild geschaffen. Die Stofffülle hat er klug gegliedert und nie lässt er ob all der Erlebnisse und Taten Zschokkes den historischen Kontext vergessen. Mit diesem Werk ist ein grosser Schritt zum besseren Verständnis der Geschichte der Schweiz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts getan. ● 28. April 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Zeitgeschichte Der Historiker Gerhard Ritter schildert Hans-Dietrich Genschers Rolle beim Weg zur deutschen Einheit Kleinarbeit im langen Schatten Helmut Kohls heimdiplomatie. Auch deshalb überraschte Helmut Kohl Ende November 1989 nicht nur die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, sondern den eigenen Aussenminister mit einem im Küchenkabinett des Bundeskanzlers verfassten Zehn-Punkte-Programm, das über «konföderative Strukturen» einen Weg zur Deutschen Einheit aufzeichnete. Genscher blieb, um keine Zweifel zu wecken, gar keine andere Wahl, als Kohl trotz Vorbehalten vor dem Bundestag spontan zur Seite zu stehen. Ritter sieht in Kohls Vorgehen einen Versuchsballon, der bei aller Kritik im Ausland «den Menschen im Osten Deutschlands eine klare Zielvorgabe» gab und in der DDR wesentlich zum Ruf nach der Deutschen Einheit beigetragen habe. Gerhard A. Ritter: Hans-Dietrich Genscher, das Auswärtige Amt und die Deutsche Vereinigung. C. H. Beck, München 2013. 263 Seiten, Fr. 36.90, E-Book 26.90. Von Gerd Kolbe Wer wie Gerhard A. Ritter 23 Jahre nach der Wiedervereinigung ein Buch über dieses wohl spannendste Kapitel deutscher Geschichte am Ende eines ereignisreichen Jahrhunderts schreibt, muss sich, mag er auch ein bedeutender Historiker und eine Art Doyen seiner Zunft sein, unwillkürlich die Frage stellen lassen, was es denn noch wirklich Neues zu analysieren und zu referieren gibt. Literatur über diese Zeit existiert bereits in Hülle und Fülle. Doch sie stammt zu grossen Teilen von den unmittelbar Beteiligten selbst. Ritters Verdienst besteht allemal darin, eine überschaubare Zusammenfassung der Ereignisse zu liefern, Zusammenhänge zu erläutern und Blicke in lange Zeit verschlossene Archive zu gestatten. Kein störungsfreies Tandem Auf diese Weise wird deutlich, dass selbst der amerikanische Aussenminister James Baker anfangs geneigt war, dem zweiten deutschen Staat, der DDR, eine Chance zu geben. Nach einem Besuch in Potsdam berichtete er Präsident Bush senior, dass er von dem «Willen zur Reform und zum friedlichen Wandel» der letzten SED-geführten Regierung beeindruckt sei. Auch in Washington wollte man sich zunächst Zeit lassen mit der Vereinigung. Doch früher als in anderen westlichen Hauptstädten dämmerte im State Departement die Erkenntnis, dass die deutsche Einigung aufgrund ihrer Eigendynamik «vermutlich schneller» verlaufen werde als die europäische. Für die USA war fortan nur noch wichtig, dass Deutschland in der Nato bleibt. Margaret Thatcher und François Mitterrand waren sich in ihrer Ablehnung hingegen einig. Der Franzose gab allerdings im Gespräch mit der Premierministerin zu bedenken, dass man wenig Karten in der Hand habe, um die Deutschen zu stoppen. Als Mitterrand kurz vor Weihnachten 1989 zum Verdruss seines Freundes Helmut Kohl zum ersten und zugleich letzten Staatsbesuch in die DDR aufbrach – die Berliner Mauer war immerhin seit anderthalb Monaten Geschichte –, legte er grossen Wert auf eine Begegnung mit Gregor Gysi, der damals gerade Vorsitzender der in PDS umbenannten SED geworden war und heute noch das Zugpferd der Partei «Die Linke» ist. Mitter24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2013 WOLFGANG KUMM / KEYSTONE Totgeschwiegene Begegnung rand erklärte sein Interesse, «die Bande und Bindungen» mit der DDR «enger zu gestalten». Gysi war bemüht, Mitterrand davon zu überzeugen, dass eine klare Mehrheit der Bevölkerung Ostdeutschlands gegen eine Wiedervereinigung sei, weil sie die DDR zum «Armenhaus» der Bundesrepublik machen würde. So kann man sich irren. Das eigentlich Überraschende an der Begegnung mit Gysi ist, das sie in französischen Archiven totgeschwiegen wird. Mitterrand hatte nicht einmal seinen Aussenminister Roland Dumas informiert. Zum Glück für die Nachwelt fand sich im Nachlass des Ostberliner Aussenministeriums ein Vermerk, der das Gespräch zwischen «Genosse Dr. Gysi und dem Präsidenten der Französischen Republik» festhielt. Es war dies noch einmal eine grosse Zeit der Ge- Erste gesamtdeutsche Bundestagssitzung am 4. Oktober 1990 mit Hans-Dietrich Genscher, Helmut Kohl und Gregor Gysi. Genschers Wirken stand im entscheidenden Zeitraum vom Mauerfall bis zur Wiedervereinigung ganz im Schatten der Aktivitäten Kohls, dem es bei seiner legendären Reise nach Moskau und in den Kaukasus gelang, Staatspräsident Gorbatschow die Vereinigung und den Verbleib Deutschlands in der Nato abzuringen. Dabei war schon bei einem Treffen der beiden Aussenminister einen Monat vorher klar geworden, dass Moskau zu Kompromissen bereit war. Doch Fortschritte konnten den vor den Türen wartenden Journalisten nur vage angedeutet werden. Der Vorgang war schliesslich Chefsache. Unverkennbar verfolgt Ritters Buch den Zweck einer Ehrenrettung. Kohls Bild als «Kanzler der Deutschen Einheit», resümiert Ritter, müsse ergänzt werden durch die Verdeutlichung der mitentscheidenden Rolle Genschers und des Auswärtigen Amtes. Der Autor spricht von einem «nicht immer störungsfrei funktionierenden Tandem». Man könnte auch sagen: Kohl und sein Stab waren für die grossen Linien, die Diplomaten und ihr Chef für die Kleinarbeit wie die Verhandlungen mit den vier Mächten und Polen zuständig. Was schliesslich wäre das Buch eines Historikers wert, gäbe es nicht auch Antworten auf aktuelle Fragen. Ist etwa beim Maastricht-Vertrag über die Währungsunion seinerzeit geschludert worden? Ritter ist rigoros. Die These, Kohl habe mit der Zustimmung zur Europäischen Währungsunion einen Preis für Frankreichs Zustimmung zur Deutschen Einheit gezahlt, sei falsch. Die Weichen zur Währungsunion seien schon früher gestellt worden. Gerhard A. Ritter – und er steht damit nicht allein – bedauert jedoch, dass es damals in der Eile nicht zur Festlegung auf eine gemeinsame Fiskalpolitik kam. ● Astrophysik Das Buch seiner ersten Frau Jane erzählt das Martyrium von Stephen Hawking: ein wacher Geist in einem gelähmten Körper Popstar der Physik Jane Hawking: Die Liebe hat elf Dimensionen. Mein Leben mit Stephen Hawking. Piper, München 2013. 448 Seiten, Fr. 35.90. Paul Parsons, Gail Dixon: Stephen Hawking im 3-Minuten-Takt. Spektrum, Heidelberg 2013. 160 Seiten, Fr. 21.90. In der Wissenschaft gibt es Preise aller Art, aber keine Ranglisten. Sie würden keinen Sinn ergeben, denn selbst so abstrakte Disziplinen wie Mathematik und Theoretische Physik waren immer mehr Mannschafts- als Einzelsport. Die PRMaschinerie jedoch will Helden. Das führt zu Kaskaden von Superlativen. Ein Paradebeispiel für diesen Mechanismus ist der englische Physiker Stephen Hawking, den man gerne auf gleiche Höhe wie Albert Einstein stellt. Hawking, 1942 in Oxford geboren, war 21 und ein hoffnungsvoller Student, als ihm die Ärzte eröffneten, dass er an ALS leidet, einer degenerativen Erkrankung des motorischen Nervensystems. Mit der Diagnose wurde ihm eine Lebenserwartung von wenigen Jahren vorausgesagt. Im Januar wurde er 71. Für seine innovativen Arbeiten zu Schwarzen Löchern und Quantenaspekten des frühen Universums hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt im März den «Fundamental Physics Price», der vom russischen Investor Juri Milner in Eigenregie vergeben wird. Die Thematik von Hawkings Forschungen ist einer der Gründe für seine Popularität, denn Gedanken über den Kosmos sprechen uns naturgemäss an. GUILLERMO GRANJA / KEYSTONE Von André Behr Stephen Hawking leidet an einer Nervenkrankheit, die ihm nur wenige Lebensjahre bescheren sollte – im Januar wurde er 71. Als Schwarze Löcher, die Hawking studierte, bezeichnet man Gebiete des Universums, in denen die Gravitation so stark ist, dass kein Lichtsignal entweichen kann. Etabliert wurde der Begriff durch John Archibald Wheeler Ende der sechziger Jahre. Hawking hatte 1975 postuliert, dass diese Objekte dennoch Strahlung abgeben und damit viele weitere Untersuchungen angestossen. Da es in Hawkings wichtigsten Forschungen bis Mitte der achtziger Jahre um die möglichen Grenzen der Allgemeinen Relativitätstheorie geht, reihen ihn seine Kollegen durchaus in die oberste Klasse der Physiker nach Einstein ein. Zum zweiten Popstar nach Einstein wurde er freilich aufgrund seines Martyriums als wacher Geist in einem gelähmten Körper. Diese Hilflosigkeit ist für alle schwer auszuhalten. Das schilderte bewegend Hawkings erste Ehefrau Jane Wilde 1999 in ihrer Autobiografie «Music to move the stars», die ihn als Teenager kennen und später lieben lernte, mit ihm eine Tochter und zwei Söhne hat, und über 25 Jahre bis zur Trennung 1990 alle Phasen seines beruflichen Erfolgs und persönlichen Leids durchstand. Das sehr freimütige Buch brachte der promovierten Romanistin Solidaritätsbekundungen anderer Frauen, aber auch einiges an harscher Kritik ein. In der stark überarbeiteten Version von 2007, die nun auf Deutsch vorliegt, spürt man angenehm die Distanz zu jener Krise, als Hawking einer seiner Helferinnen nahe kam und dann heiratete. Inzwischen ist er auch von dieser Frau geschieden und wieder in gutem Kontakt mit Jane. Ihr neues Buch ersetzt keine kritische Biografie von Leben und Werk Stephen Hawkings, zeigt aber eindrücklich, dass es zwischen Lobhudelei und Bashing Wesentlicheres gibt. Hawking selbst wurde als Autor weltberühmt mit seinem Bestseller «Eine kurze Geschichte der Zeit», von dem seit 1988 über 10 Millionen Stück verkauft worden sind. Im Schlepptau dieses Erfolgs erscheinen immer wieder Bücher mit dem gelähmten Mann auf dem Cover, der vorwiegend durch Wimpernschläge kommuniziert. Das jüngste von Paul Parsons und Gail Dixon will ihn uns «im 3-Minuten-Takt» näherbringen. Es tappt an einigen Stellen unschön in die Superlativfalle, etwa wenn Hawking als «ausserordentlich begabt» und Roger Penrose, von dem Hawking sehr viel lernte, nur als «talentierter Mathematiker» bezeichnet wird. ● Autobiografie Frank Stronachs kleiner Bruder erzählt seine Lebens- und Familiengeschichte 2000-mal auf die Hundwiler Höhe Hans Adelmann: Einfacher leben. Warum Frank Stronachs kleiner Bruder 2072-mal den gleichen Berg bestieg. Edition a, Wien 2013. 95 Seiten, Fr. 21.90. Von David Strohm Zwei Brüder, die unterschiedliche Wege gingen und sich doch nie aus den Augen verloren, zwei Charaktere mit gegensätzlichen Vorstellungen vom Leben: Der eine ist ein erfolgreicher Unternehmer geworden, ehrgeizig, rastlos, fleissig. Der andere wurde ein bescheidener Arbeiter. Er findet sein Glück im Kleinen, am Liebsten geht er zu Fuss hinaus in die Natur. Hans Adelmann hat sich mit «Einfacher leben» den eigenen Werdegang von der Seele geschrieben und damit eine persönlich gehaltene Begründung geliefert für die ideellen und materiellen Differenzen, die ihn von seinem sieben Jahre älteren Halbbruder Frank Stronach trennen. Der österreichisch-kanadische Milliardär, Gründer des Autoteile-Konzerns Magna und Spiritus Rector des populistischen, euroskeptischen «Teams Stronach für Österreich», teilt mit dem Autor Kindheit und Jugend in der ländlichen Steiermark. Ihr gemeinsamer Vater war ein überzeugter Kommunist. Die beiden machen – nacheinander – eine Lehre zum Werkzeugmacher. Dann zieht es Frank in die weite Welt, er geht nach Kanada und legt dort den Grundstein zu seiner Karriere und seinem Vermögen. 1958 holt er seinen kleinen Bruder nach, Adelmann wird Stronachs erster Angestellter. Doch ihre Wege trennen sich bald wieder. Hans kann und will die hohen Ansprüche von Frank nicht erfül- len. Er zieht mit seiner Frau Eva in die Ostschweiz, findet Arbeit als Monteur und Abwart. Zwei Töchter machen das Familienidyll komplett. In seiner freien Zeit zieht es Hans Adelmann hinaus, immer und immer wieder erwandert er die Hundwiler Höhe. Im Laufe der Jahre steht er mehr als 2000-mal auf dem Aussichtsberg im Appenzeller Hinterland. «Kein Aufstieg war wie der andere», schreibt er über seinen geliebten Rückzugsort. In einer einfachen Hütte sinniert er über seine Vergangenheit und den eigenen Weg. Die Welt seines Bruders ist ihm fremd geworden. Und doch mag er sich von ihr nicht lösen. 95 Seiten dünn ist das Bändchen mit der Lebensgeschichte eines Mannes, der sich für das bescheidene Glück entschieden hat. Leicht liest es sich, es gibt keine Schnörkel und Schlaufen. Ein einfaches Buch über ein einfaches Leben. ● 28. April 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Zoologie Vom Küken zum Kampfhahn: Die Welt des Huhns ist faszinierend, wie uns ein bibliophiles Buch über das Federvieh lehrt Und jeden Tag ein Ei Joseph Barber (Hrsg.): Das Huhn. Geschichte, Biologie, Rassen. Haupt, Bern 2013. 224 Seiten, Fr. 38.90. Von Geneviève Lüscher Wussten Sie, dass das Huhn vom Dinosaurier abstammt? Dass die kleinsten Hühner nur 500 Gramm wiegen, während es Kampfhähne auf über fünf Kilo bringen? Dass es keinen Hahn braucht, damit die Henne Eier legt? Dass Hühner mit dem einen Auge den Himmel nach Feinden und mit dem anderen den Boden nach Körnern absuchen können? Das nennt man monokulares Sehen; der Mensch kann nur binokular sehen, also denselben Gegenstand mit beiden Augen gleichzeitig; das Huhn ist ihm – wenigstens diesbezüglich – überlegen. Das und vieles andere lernt man im schön gestalteten Buch aus dem Haupt- Verlag. Es stammt aus der Feder von Spezialisten, denen es vorzüglich gelungen ist, ihr Wissen für ein breites Publikum aufzubereiten. Die Hühner wachsen einem jedenfalls ans Herz. Das Urhuhn stammt aus dem ostasiatischen Dschungel. Seine Domestikation begann vor rund 10 000 Jahren. Nach Europa gelangte das Haushuhn aber erst kurz vor der Zeitenwende, viel später als die anderen Haustiere. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts lebten Hühner in kleinen Gruppen auf dem Bauernhof, gehalten wurden sie in erster Linie wegen der täglich «anfallenden» Eier. Wenn die Legeleistung merklich nachliess, kamen sie in den Topf. Erst mit der wenig tiergerechten industriellen Haltung wurde das Huhn entweder zum Eier- oder zum Fleischlieferanten degradiert. Hühner sind «angenehme Hausgenossen». Sie erkennen ihre Halterin und reagieren auf sie. Ihr ausgeprägtes Hierarchieverhalten in der Gruppe unterliegt strengen Regeln, die faszinierend zu beobachten sind. Obwohl mit Flügeln ausgestattet, gehört das Fliegen nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen; nur leichtere Arten können kleine Strecken im Flug überwinden. Dafür erreichen laufende Hühner Spitzengeschwindigkeiten von 14 Stundenkilometern. Im letzten Buchkapitel werden einige der über 1000 Hühnerrassen vorgestellt. Sie unterscheiden sich nicht nur vom Aussehen her, sondern auch vom Charakter. Ein paar sind zutraulich, andere aggressiv. Es gibt ausdauernde Brüterinnen, aber auch Hennen, die ihre Eier vernachlässigen. Viele Arten stammen aus England. Aus der Schweiz hingegen kommt die «Appenzeller Spitzhaube»: Das Zierhuhn mit guten Legeeigenschaften gehört – wen wundert’s – zu den kleinen Geflügelrassen. ● Das amerikanische Buch Hobelspäne und Scherben: Geschichte zum Anfassen Ein Kompass und ein Tagebuch, Hobelspäne eines Galgens und ein Groschenroman über den Goldrausch in Alaska, dazu eine Toiletten-Scherbe von Hitlers Berghof am Obersalzberg. In einer Schublade mögen diese Relikte ein merkwürdiges Sammelsurium abgeben. Zwischen Buchdeckeln wird daraus eine spannende «amerikanische Geschichte zum Anfassen». Dafür ist dem Historiker und Juristen Meredith Mason Brown zu danken, dem die genannten Gegenstände und über ein Dutzend weitere als Grundlage für Touching America’s History. From the Pequot Wars through World War Two (Indiana University Press, 271 Seiten) dienen. Brown hat 2008 nach einer erfolgreichen Karriere bei einer grossen New Yorker Kanzlei mit «Frontiersman» eine vielbeachtete Daniel-Boone-Biografie vorgelegt. Nicht zufällig tritt der legendäre Pionier auch in «Touching America’s History» auf. Für ihn steht der Kompass, den Browns Vorfahre Colonel William Preston (1729–1783) als Landvermesser in Virginia und Kentucky benutzt hat. Er hat dabei mit Boone zusammengearbeitet. Doch im Gegensatz zu diesem konnte der Oberst ausgedehnte Ländereien erwerben, die seinen Nachkommen eine prominente Position nicht nur in Kentucky sicherten. Bald mit weiteren Sippen wie den Browns und den Masons verschwägert, blieben die Vorfahren des Autors als Offiziere und Politiker prominente Akteure auf der Bühne der amerikanischen Geschichte. Gegenstände aus ihrem Nachlass dienen Brown als Einstieg in dieser Histo26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2013 Kriegsbeginn 1859 gehängt wurde; mit ihm ist der Autor indes nicht verwandt. Als Literat tat sich dagegen John Mason Brown (1900–1969) hervor, der Vater des Autors. Dieser brachte als Presseoffizier im Stab von Dwight D. Eisenhower den Goldrausch-Roman in die Heimat zurück, mit dem sich «Ike» am Vorabend der Invasion in der Normandie das Warten auf besseres Wetter verkürzt hatte. Ein Freund des Vaters vertraute dem Autor später das Souvenir vom Berghof an. Der Vater des Autors, Presseoffizier John Mason Brown, 1945 in der Normandie. Autor Meredith Mason Brown (unten). rie. Damit gibt er gerade europäischen Lesern auch Aufschluss über ein Milieu: die Familien, die Amerika aufgebaut und zu seiner Weltmachtposition geführt haben. Der Leser notiert, wie Pioniere ihre Söhne auf Universitäten wie Yale schicken und diese Eliten keine Schranken zwischen Wirtschaft, Militär und Politik kannten. Auch literarisches Talent taucht früh, etwa in den Tagebüchern von John Mason Brown (1837– 1890), auf. Diesen lockte Abenteuerlust in den damals noch wilden Westen, ehe er als Offizier im Bürgerkrieg für den Norden ins Feld zog. Unter seinen Gegnern waren Verwandte wie der Sklavenbesitzer und General William Preston (1816–1887), der nach der Niederlage des Südens vorübergehend in Kanada Zuflucht fand. Die Hobelspäne stammen derweil von dem Galgen, an dem der Abolitionist John Brown kurz vor Eine Ausnahme unter diesen nachgelassenen Relikten bilden zwei indianische Steinäxte aus dem Südosten Connecticuts, die Brown jüngst in seinem Wohnort Stonington erworben hat. Hier setzt seine chronologisch geordnete und mit Karten und Abbildungen leicht zugängliche Schilderung des Massakers von 1637 an, das Briten und indianische Verbündete unter dem Stamm der Pequots angerichtet haben. Damit setzt Brown ein Leitmotiv: In einem kurzen Nachwort lässt er keinen Zweifel daran, dass kriegerische Gewalt wesentlich zum Wachstum der USA beigetragen hat. Aber daneben will er Forscherdrang, Landhunger, intellektuelle Neugierde, Einfallsreichtum, Beharrlichkeit und «Mut im Überfluss» ihren Rang nicht streitig machen. Wenn das Buch einen Mangel hat, dann die marginale Rolle, die Frauen darin spielen. Aber dies stört den prominenten Historiker Joseph J. Ellis nicht, der Brown für diesen innovativen Beitrag zum Verständnis Amerikas lobt. Von Andreas Mink ● Agenda Druckwerkstatt Rixdorfer Wort- und Bilderbögen Agenda Mai 2013 Basel Freitag, 3. Mai, 18.30 Uhr Claude Lachat: Muttertag zum Ersten. Buchvernissage, Lesung und Apéro, musikalisch umrahmt. Alterszentrum Zum Lamm, Rebgasse 16, Tel. 061 690 21 11. Montag, 6. Mai, 20 Uhr Dani von Wattenwyl: Pfauenstolz. Buchvernissage mit Lesung. Thalia Bücher, Freie Strasse 32, Tel. 061 264 26 55. Mittwoch, 22. Mai, 19 Uhr Thomas Hettche: Totenberg. Lesung, Fr. 17.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. 061 261 29 50. Bern Dienstag, 7. Mai, 20 Uhr Patrice Nganang: Mont Plaisant – Der Schatten des Sultans. Lesung und Gespräch, Fr. 15.–. ONO Bühne, Kramgasse 6. Info: www.onobern.ch. stilbildenden Gruppe. Ihr Übervater war der grosse Berliner Malerpoet Günter Bruno Fuchs, der sich aber um 1970 zurückzog. Christian Döring hat als Herausgeber den «Rixdorfern» nun einen liebevoll gestalteten Bildband gewidmet. Grossformatige Abbildungen der Handpressen-Drucke werden ergänzt durch zahlreiche Fotos und Dokumente. Manfred Papst Die Druckwerkstatt der Dichter. Rixdorfer Wort- und Bilderbögen. Die Andere Bibliothek, Sonderband, Berlin 2013. 447 Seiten, Fr. 139.–. Belletristik Sachbuch 1 Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 21.90. 2 Blanvalet. 576 Seiten, Fr. 28.40. 3 Nagel & Kimche. 224 Seiten, Fr. 27.90. 4 dtv. 656 Seiten, Fr. 27.90. 5 Diogenes. 192 Seiten, Fr. 25.90. 6 Luchterhand. 576 Seiten, Fr. 28.50. 7 Piper. 496 Seiten, Fr. 24.90. 8 dtv. 352 Seiten, Fr. 25.90. 9 Eichborn. 396 Seiten, Fr. 27.90. 10 Salis. 276 Seiten, Fr. 34.80. 1 Hanser. 246 Seiten, Fr. 24.90. 2 Droemer/Knaur. 188 Seiten, Fr. 27.90. 3 Hanser. 248 Seiten, Fr. 24.90. 4 Droemer/Knaur. 250 Seiten, Fr. 30.90. 5 Arkana. 351 Seiten, Fr. 28.40. 6 Nagel & Kimche. 204 Seiten, Fr. 25.90. 7 Bibliogr. Institut. 1216 Seiten, Fr. 35.90. 8 Fischer. 319 Seiten, Fr. 28.90. 9 Econ. 312 Seiten, Fr. 27.90. 10 Wörterseh. 224 Seiten, Fr. 34.90. Nora Roberts: Die letzte Zeugin. Eveline Hasler: Mit dem letzten Schiff. Jussi Adler-Olsen: Das Washington-Dekret. Paulo Coelho: Die Schriften von Accra. Franz Hohler: Der Geisterfahrer. Arne Dahl: Zorn. Dora Heldt: Herzlichen Glückwunsch, Sie haben gewonnen. Timur Vermes: Er ist wieder da. Thomas Meyer: Wolkenbruchs wunderliche Reise. Freitag, 10., bis Sonntag, 12. Mai 35. Solothurner Literaturtage. Programm unter: www.literatur.ch. Zürich Donnerstag, 2. Mai, 20 Uhr Bestseller April 2013 Jonas Jonasson: Der Hundertjährige. Solothurn Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens. Manfred Lütz: Bluff! Die Fälschung der Welt. Rolf Dobelli: Die Kunst des klugen Handelns. Petra Bock: Mindfuck – Warum wir uns sabotieren. Bronnie Ware: 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen. Isabelle Neulinger: Meinen Sohn bekommt ihr nie. Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 25. Aufl. Florian Illies: 1913 – der Sommer des Jahrhunderts. Sheryl Sandberg: Lean In. Frank Baumann: Single in 365 Tagen. Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 16.4.2013. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Sibylle Baumann liest Geschichten über Bäume und Träume. Mit der Harfenistin Rahel Schweizer. Palmenhaus, Alter Botanischer Garten, Pelikanstrasse 40. Info: 079 339 01 20. Dienstag, 7. Mai, 19.30 Uhr Ute Kröger: Nirgends Sünde, nirgends Laster. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00. Dienstag, 14. Mai, 20 Uhr Alain de Botton: Religion für Atheisten. Lesung, Fr. 28.–. Kaufleuten, Festsaal, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77. Mittwoch, 15. Mai, 20.30 Uhr Doris Knecht: Besser. Lesung, Fr. 15.–. Orell Füssli Buchhandlung am Bellevue, Theaterstrasse 8, Tel. 0848 849 848. Mittwoch, 22. Mai, 20 Uhr Wilfried Meichtry: Mani Matter. Lesung mit Liedern, Fr. 25.–. Lieder: Jacob Stickelberger. Kaufleuten (s. oben). NATHALIE BENELLI Die «Rixdorfer» zählen zu den interessantesten und langlebigsten deutschen Künstlergruppen der letzten Jahrzehnte. Anfang der 1960er Jahre trafen sich die damals noch jungen Männer erstmals in einem Hinterhof der Berliner Oranienstrasse; bis heute ist das Ensemble aktiv. Es arbeitete mittels ausgedienter Blei- und Holzlettern und verband Wort und Bild in bibliophilen Bilderbogen, Kalendern und Flugblättern. Uwe Bremer, Albert Schindehütte, Johannes Vennekamp und Arno Waldschmidt zählten zum Kern der Susanne Schanda: Literatur der Rebellion. Buchpräsentation. Käfigturm, Marktgasse 67, Tel. 031 322 75 00. CHRISTIAN HELMLE Mittwoch, 22. Mai, 20 Uhr Bücher am Sonntag Nr. 5 erscheint am 26.5.2013 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind ± solange Vorrat ± beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 28. April 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Damit Ihre Neugierde gestillt wird: Wir unterstützen gute Literatur. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TW0NDY3MgIAYoydFg8AAAA=</wm> <wm>10CFWMOw7CMBAFT7TWe_uJvbhE6aIUEf02iJr7V2A6imlGozmOGQ0_7vv52K9JwEOY1lVnZDTt2xyqDd4nnKmg3WieyhH61wuYm8FqNQL_6iLFh_SKGEhE0dak1gDa3s_XB-6dEKuDAAAA</wm> Mehr unter www.zkb.ch/sponsoring Mit einer Karte der Zürcher Kantonalbank erhalten Sie eine Reduktion von 10.– CHF für alle «Kaufleuten Literatur»-Veranstaltungen.