Adolf Muschg Sax - Neue Zürcher Zeitung
Transcrição
Adolf Muschg Sax - Neue Zürcher Zeitung
Nr. 7 | 29. August 2010 Adolf Muschg Sax | Norbert Gstrein Die ganze Wahrheit | Eveline Hasler Interview | Rolf Lappert, David Foster Wallace Plädoyer für Vegetarismus | Max Frisch Die neue Biografie | Timothy Garton Ash Jahrhundertwende | Weitere Rezensionen zu Alberto Moravia, Marie Curie, Nouriel Roubini, Sigmund Freud und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese Panorama der Schweizer Geschichte Neue Bücher bei NZZ Libro «Unser Land darf sich in wirtschaftlicher Hinsicht sehen lassen, ja es wird nicht selten mit einem gewissen Neid beurteilt, wenn wir feststellen, dass wir uns auch im vergangenen Jahr geordnete Finanzen und eine der besten und stabilsten Währungen erhalten konnten.» Jean Hotz, 1949 Hans Peter Treichler Ein Seidenhändler in New York Das Tagebuch des Emil Streuli (1858–1861) Die bewegende Geschichte über die wilden New Yorker Lehrjahre des Zürcher Seidenhändlers Emil Streuli basiert auf den 2000 Seiten seiner täglichen Notizen. Ein einzigartiges kulturgeschichtliches Dokument und ein wahrer Glücksfall dazu: Der heutige Hausherr des Herner Guts hat die Aufzeichnungen zufällig gefunden, nachdem sie während Jahrzehnten unbeachtet im Haus gelegen haben. René Bondt Der Minister aus dem Bauernhaus Handelsdiplomat Jean Hotz und seine turbulente Zeit «Treichler gelingt es, aus den Tagebüchern ein lesenswertes Stadtporträt zu gestalten. Dank den Illustrationen und Treichlers Beschreibungen wird die dynamische Handelsmetropole mehr als lebendig.» Zürichsee-Zeitung Hotz legte in den 40er Jahren die Basis für die bis heute dauernde wirtschaftliche Prosperität der Schweiz und zählte zu ihren profiliertesten Handelsdiplomaten. Das Land verdankt ihm in den Kriegsjahren das wirtschaftliche Überleben. Diese Biografie würdigt die Leistung von Hotz im Kontext der damaligen Schweiz. 304 Seiten / gebunden / Fr. 44.–* / € 34.– 320 Seiten / gebunden / Fr. 39.–* / € 30.– «Die assoziationsreichen Essays lesen sich leicht und lehrreich und bieten eine pointierte Einführung in die Eigenheiten schweizerischer Kultur und Geschichte. Selbst wer diese gut zu kennen glaubt, erfährt Neues.» Neue Zürcher Zeitung Daniel Furrer Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866) Der Mann mit Eigenschaften Georg Kreis Schweizer Erinnerungsorte Aus dem Speicher der Swissness Begriffe wie Rütli, Toblerone, Soldatenmesser, Wilhelm Tell oder Henri Guisan wecken in uns das Gefühl von Heimat. Sie sind Mythen, historische Gemeinplätze, Referenzorte. Georg Kreis erkundet die schweizerische Erinnerungslandschaft und präsentiert eine Auswahl solcher «Orte». Er erzählt dazu ihre Geschichten und reflektiert, wie sie funktionieren. Die Sammlung stärkt das Bewusstsein für das Phänomen der gesellschaftlichen Verständigung und des kollektiven Gedächtnisses. Troxler sass als Arzt am Krankenbett Krankenbet Beethovens. Als Philosoph war er einer der Geburtshelfer der modernen Schweiz. Als Citoyen war er ein eifriger Befürworter der Pressefreiheit. Furrers vielschichtiges Zeitpanorama stellt eine der schillerndsten und faszinierendsten Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts vor, ohne die die heutige Schweiz ganz anders aussähe. Daniel Furrer zeichnet nicht bloss das stürmische Leben Troxlers nach, er liefert auch tiefe Einblicke in seine Aktivitäten als Arzt, Journalist, Lehrer und Philosoph. 606 Seiten / gebunden / Fr. 58.–* / € 45.– 350 Seiten / Klappenbroschur / Fr. 44.–* / € 34.– BESTELLUNG Bitte senden Sie mir mit Rechnung: Ab Fr. 100.– erfolgt die Lieferung in der Schweiz portofrei Ein Seidenhändler in New York Fr. 44.–* / € 34.– / ISBN 978-3-03823-596-5 Der Minister aus dem Bauernhaus Bondt / Fr. 39.–* / € 30.– / ISBN 978-3-03823-636-8 Schweizer Erinnerungsorte Kreis / Fr. 44.–* / € 34.– / ISBN 978-3-03823-591-0 Ignaz Paul Vital Troxler Furrer / Fr. 58.–* / € 45.– / ISBN 978-3-03823-603-0 Name, Vorname NZZ Libro Buchverlag Neue Zürcher Zeitung Strasse, Nr. Postfach, CH-8021 Zürich Telefon +41 44 258 15 05 PLZ, Ort Fax +41 44 258 13 99 [email protected] Telefon E-Mail Datum, Unterschrift Preisänderungen vorbehalten. * Die Franken-Preise sind eine unverbindliche Preisempfehlung. www.nzz-libro.ch Erhältlich auch in jeder Buchhandlung Newsletter und im NZZ-Shop, Falkenstrasse/Ecke Schillerstrasse, Zürich. Inhalt Schreibstube Tessin – im Herbst wie im Sommer Adolf Muschg (Seite 6). Illustration von André Carrilho Durchquert man im Tessiner OnsernoneTal den winzigen Friedhof von Berzona – vom rostigen Eingangstor bis zur Umrandung visàvis sind es knapp ein Dutzend Schritte –, erblickt man direkt unter der südlichen Stützmauer das Rustico von Max Frisch. Den legendären Steintisch, die Bocciabahn, das leere Schwimmbecken: Heute wirkt das sehr verlassen. Sieben Jahre hat Frisch hier an seiner Erzählung «Der Mensch erscheint im Holozän» (1979) geschrieben. Vom tagelangen Novemberregen, der auf das Blech «klöppelt» und das Tal im Matsch versinken lässt. Vom verwitweten Herrn Geiser, seinem Alter Ego, der durch den dichten Nebel stapft und sich ins Haus und ins Alleinsein zurückzieht. Knapp zwanzig Jahre nach Frischs Tod erscheint nun eine Biografie, die Leben und Werk des grossen Erzählers bildhaft miteinan der verknüpft und in die Aktualität holt (Seite 16). Schweizer Autoren sind gut vertreten in dieser Nummer: Adolf Muschg, Rolf Lappert, Hansjörg Schneider und Eveline Hasler. Letztere wohnt ebenfalls im Tessin, nicht allzu weit von Frischs Refugium entfernt. «BamS»Redaktorin Geneviève Lüscher hat sie in Ronco sopra Ascona, hoch über dem Lago Maggiore, besucht und mit ihr bei prächtigem Wetter über ihr neues Werk gesprochen. Und die Frage gestellt, wie sie es schafft, aus historischen Stoffen Bücher zu kreieren, die immer wieder auf der Bestsellerliste landen (Seite 12). Urs Rauber Belletristik Kolumne 4 15 Charles Lewinsky 6 7 8 9 Rolf Lappert: Auf den Inseln des letzten Lichts Jonathan Safran Foer: Tiere essen David Foster Wallace: Am Beispiel des Hummers Karen Duve: Anständig essen. Ein Selbstversuch Von Regula Freuler Adolf Muschg: Sax Von Sandra Leis Das Zitat von Jean Cocteau Kurzkritiken Sachbuch 15 Jürgen Schefzyk, Wolfgang Zwickel: Judäa und Jerusalem Von Geneviève Lüscher Karl Lüönd: Macht und Ehrlichkeit Ian Buruma: Die drei Leben der Ri Koran Von Urs Rauber Hansjörg Schneider: Hunkeler und die Augen des Ödipus Von Kathrin MeierRust Maile Meloy: Tochter einer Familie Von Urs Rauber Von Marli Feldvoss Von Sacha Verna Von Simone von Büren Bernhard von Arx: Konfrontation Fritz Schwarz: Wenn ich an meine Jugend denke DOMINIC BÜTTNER Nr. 7 | 29. August 2010 Adolf Muschg Sax | Norbert Gstrein Die ganze Wahrheit | Eveline Hasler Interview | Rolf Lappert, David Foster Wallace Plädoyer für Vegetarismus | Max Frisch Die neue Biografie | Timothy Garton Ash Jahrhundertwende | Weitere Rezensionen zu Alberto Moravia, Marie Curie, Nouriel Roubini, Sigmund Freud und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese Heinrich Kühn: Die vollkommene Fotografie Sachbuch Von Stefana Sabin Doron Rabinovici: Andernorts 16 IngeborgGleichauf:Jetztnicht dieWut verlieren Schweizer Erfolgsautorin Eveline Hasler (Seiten 12–14). Von Thomas David 18 Susanne Schmidt: Markt ohne Moral 24 Barbara Goldsmith: Marie Curie Von Monika Burri 19 Timothy Garton Ash: Jahrhundertwende 25 Christopher Isherwood: Löwen und Schatten Von Gerhard Mack 10 Norbert Gstrein: Die ganze Wahrheit 11 Alberto Moravia: Der Ungehorsam Kurzkritiken Belletristik 11 Bänz Friedli: Ich pendle, also bin ich Von Manfred Papst Daniel Kehlmann: Lob. Über Literatur Von Regula Freuler Richard Yates: Ruhestörung Von Regula Freuler Dieter Forte: Tetralogie der Erinnerung Von Manfred Papst Interview 12 Eveline Hasler, Schriftstellerin «Ich schreibe doch keine Romane!» Von Geneviève Lüscher Von Claudio Habicht Von Gerd Kolbe Von Urs Rauber 20 Nouriel Roubini, Stephen Mihm: Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft Von Charlotte Jacquemart 21 Anna Seghers: Tage wie Staubsand Von Manfred Koch Max Kerner, Klaus Herbers: Die Päpstin Johanna Von Geneviève Lüscher 22 Gabriele Katz: Käthe Kruse Von Irmgard Matthes Eric Karpeles: Marcel Proust und die Gemälde aus der Verlorenen Zeit Von Kathrin MeierRust Von Stefan Howald Stefanie Bisping: Sygma. Die Macht der Bilder Von Kathrin MeierRust 26 Kati Marton: Die Flucht der Genies Von Zsuzsanna Kovacs Das amerikanische Buch S. C. Gwynne: Empire of the Summer Moon Von Andreas Mink Agenda 27 Orlando Vazau: Museo Fantastico Von Manfred Papst Von Gerhard Mack Bestseller August 2010 Von Sabine Richebächer Veranstaltungshinweise 23 Sigmund Freud: Unterdess halten wir zusammen Belletristik und Sachbuch Agenda September 2010 Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin MeierRust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (ArtDirector), Urs Schilliger (Bildredaktion), Monika Werth (Layout), Bettina Keller, Rita Pescatore, Benno Ziegler (Korrektorat) Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, EMail: [email protected] 29. August 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Ethik Gegner der Fleischindustrie erhalten illustre Unterstützung: Namhafte Schriftsteller machen sich schreibend für Tierschutz via Essverhalten stark Das vegetarische Manifest Rolf Lappert: Auf den Inseln des letzten Lichts. Roman. Hanser, München 2010. 542 Seiten, Fr. 39.90. Jonathan Safran Foer: Tiere essen. Aus dem Amerikanischen von I. Bogdan, I. Herzke, B. Jakobeit. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 384 Seiten, Fr. 33.50. David Foster Wallace: Am Beispiel des Hummers. Essay. Aus dem Amerikanischen von Marcus Ingendaay. Ab November als TB bei Kiepenheuer & Witsch, 64 Seiten, Fr. 12.50. Karen Duve: Anständig essen. Ein Selbstversuch. Galiani, Berlin. Ca. 280 Seiten, Fr. 31.90. Erscheint: Januar 2011. heutzutage, unter vernünftigen Zeitge nossen nicht zuerst die Moral und erst dann das Fressen kommen? Dieser Frage gehen im Bücherherbst gleich drei weitere Romanciers nach: David Foster Wallace («Unendlicher Spass»), mit dessen Freitod am 12. Sep tember 2008 die zeitgenössische ameri kanische Literatur eine ihrer interessan testen Stimmen verloren hat; der New Yorker Jonathan Safran Foer, dessen Débutroman «Alles ist erleuchtet» (2002) überall gefeiert wurde; sowie Rolf Lappert, der für «Nach Hause schwimmen» 2008 den ersten Schwei zer Buchpreis erhalten hat. Von Regula Freuler Lebend ins Kochwasser «Lebt es noch, oder isst du es schon?» Die Frage, mit der Karen Duves neues Buch angekündigt wird, lehnt sich an den Werbeslogan des schwedischen Einrichtungsriesen an. Das ergibt Sinn: Bei beiden geht es um Massenproduk tion, bei Duve um jene von Lebensmit teln, bei Ikea um jene von Möbeln. Die 1961 geborene deutsche Schrift stellerin und Tierfreundin Duve, deren letztes Buch «Taxi» auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, hat sich mit lakonischen Romanen und Erzäh lungen eine Fangemeinde geschaffen. Jetzt schreibt sie ein Sachbuch, basie rend auf einem Selbstversuch: Jeweils zwei Monate lang ernährt sich die Auto rin mit moralisch hohem Anspruch, das heisst biologischorganisch, vegetarisch, vegan und zuletzt frutarisch. Das Ergeb nis werden wir erst im kommenden Januar überprüfen können, wenn das Buch erscheint. Doch ist bereits klar: Es geht um Ethik. Um die Umkehr des berühmten Brechtschen Zitats: Sollte 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. August 2010 Foster Wallace stellt im Kleinformat jene Fragen, denen Foer als Rechercheur in einem Sachbuch und Rolf Lappert in einem faktenunterfütterten Roman wortreicher nachgehen. Der Intellek tuelle besuchte vor einigen Jahren im Auftrag der Zeitschrift «Gourmet» das Maine Lobster Festival. Sein daraus ent standener Essay, «Am Beispiel des Hummers», liest sich als Erkenntnis bericht wider Willen: Wallace ass gerne Fleisch und auch Hummer. Doch als er sah, wie am Festival während dreier Tage Tausende Lobsters lebend in den weltgrössten Hummerkessel wanderten, begann er zu recherchieren. Unterm Strich bleiben zwei Dinge, die den Autor am meisten beschäftigen: die Massenabfertigung beim Töten und die Grausamkeit der Methode. Ist es nicht «feige», das Tier einfach in einen Topf zu werfen und Deckel drauf? Fos ter Wallace zog zwar naturwissenschaft liche Bücher bei, um etwas über das Nervensystem der Hummer zu erfahren, doch seine Argumentation ist eine phi losophische. Er kommt zum Schluss, dass Hummer leiden und dass die Festi valbesucher nicht besser sind, als es die Zirkusbesucher im antiken Rom waren. Essen und Moral: Wer die Produktions umstände tierischer Lebensmittel kennt und trotzdem weiterisst, kann kein guter Mensch sein. Ein Teller Sushi Wie Foster Wallace gehört der 1975 geborene Jonathan Safran Foer zur geis teswissenschaftlichen Bildungselite der USA, und der Erfolg seines Erstlings hat ihm einen millionenschweren Buchver trag beschert. Das sollte man sich vor Augen halten bei der Lektüre seines persönlich mo tivierten Rechercheberichts «Tiere essen», der mit vielen Zahlen ausgestat tet, trotzdem aber leicht lesbar ist. Denn auch wenn Foer behauptet, dass Vegeta rismus die günstigste und dazu vollkom Mit vergleichbarer Leidenschaft, aber anderen Mitteln schrieb der 1958 ge borene, in Irland lebende Schweizer Schriftsteller und Drehbuchautor («Mannezimmer») Rolf Lappert sein vegetarisches Manifest nieder: in bellet ristischer Prosa. Sein soeben erschiene ner neuer Roman «Auf den Inseln des letzten Lichts» handelt vom irischen Geschwisterpaar Megan und Tobey O Flynn, das auf einem Bauernhof aufge wachsen ist. Megan wurde Tierschutz aktivistin, Tobey erfolgloser Musiker. Das Buch spielt in drei Teilen: Zuerst kommt die Suche Tobeys nach Megan, deren Spur sich auf einer philippini schen Insel verloren hat; dann Tobeys Kindheit und Jugend in Irland; am Schluss Megans letzte Wochen auf der Insel, die sie wegen einer Stiftung für Primatenforschung aufgesucht hat. KARL THOMAS / ALLOVER/SUPERBILD Moral unter Klarsichthülle men ausreichende Ernährungsweise sei, stimmt dies nur, wenn man die Ökobi lanz ausser Acht lässt. Foer geht es vor allem um die Grau samkeit der Massentierhaltung. Wes halb er in den USA keine andere Alter native zum Fleischkonsum sieht als den Vegetarismus. Denn 99 Prozent aller Landtiere, die in den USA gegessen wer den oder Milch und Eier produzieren, so habe er ausgerechnet, würden auf diese Weise gezüchtet. «Warum sollte sich Essen von anderen ethischen Bereichen unseres Lebens unterscheiden?», fragt er im ersten Kapitel. Wie Foster Wallace argumentiert Foer auch mit dem Schmerz: Wer solchen bewusst zufüge, sei es einem Menschen oder einem Tier, handle unethisch. Foer schreibt als Mensch, der daran glaubt, mit Aufklärung und Vernunft etwas zu bewirken. Und er schreibt anschaulich: «Stellen Sie sich vor, man serviert Ihnen einen Teller Sushi. Und auf diesem Teller sind auch all die Tiere, die für Ihre Portion Sushi getötet wur den. Der Teller müsste einen Durchmes ser von 1,50 Meter haben.» Wer noch nie von «Beifang» gehört hat, wird nach der Lektüre dieses Buches kaum mehr ohne einen Anflug von schlechtem Gewissen Sushi essen können. «Tiere essen» hat in den USA bei Erscheinen im vergangenen November und jetzt auch bei uns ein grosses Echo ausgelöst. Einem halbwegs gebildeten Europäer von Foers Generation, die bereits die ersten Umwelt und Tier schutzaktivisten als Lehrer hatte, erzählt der Autor allerdings nicht viel Neues. Weiss die Mehrheit der Europäer, um zingelt von BioLabeln im Supermarkt, tatsächlich nicht, wie Massentierhal tung aussieht? Dass wir ihre Bilder erfolgreich verdrängen, steht auf einem anderen Blatt. Der Anblick der Massenabfertigung im Geflügelschlachthaus kann einem die Lust aufs «Güggeli im Chörbli» verderben. Lappert selbst ist seit bald 20 Jahren Vegetarier. Den Mut seiner Hauptfigur Megan habe er zwar nicht, aber ähnliche Ideen hätten ihm in seiner Jugend vorge schwebt, zum Beispiel Walfangschiffe zu versenken. Megans Haltung wird vor allem in den Briefen dargelegt, die sich im ersten Teil des Buches kapitelweise mit Tobeys Suche abwechseln. Es kommt auch eine lange Passage vor, die sich um die Umweltkatastrophe von Bophal dreht. Des weiteren geht es um die «böse» Pharmaindustrie, und Isla misten spielen auch eine Rolle. Nun gibt es unzählige Autoren, die ihren Lesern mehr oder weniger deut lich eine Moral vermitteln wollen. Doch kommt es darauf an, wie die Moral ver packt ist. Bei Lappert ist die Verpackung eine Klarsichthülle. Die Geschichte selbst muss über weite Strecken als Vehikel für die Wertvorstellungen des Autors herhalten. Zwischendurch gelin gen Lappert poetische Sätze, etwa jener, in dem nach einem Konzert Tobeys «die Nacht dämmerungsgrau und bierwarm auf einer Parkbank in den Tag gekippt [war], dekoriert mit Tauben und Pen nern». Doch weitgehend vermisst man das rasche Vorantreiben der Handlung, die Lapperts letzten Roman auszeichne te. So wirkt «Auf den Inseln des letzten Lichts» mit seinen seitenlangen Land schaftsbeschreibungen in erster Linie langatmig. Die Briefe von Megan, einer Vegetarierin, wie sie im Bilderbuch steht, sind geprägt von Pathos und juve nilem Hang zum Absoluten, kombiniert mit suizidaler Neigung. Auch Tobey ist eine überzeichnete Figur. Nur ein Beispiel: Er darf nicht ein fach trauern, sondern sein Autor lässt ihn dazu in die Nacht brüllen, kreischen, singen, beten, sich nackt ausziehen, sich auf der Friedhofserde herumwälzen und sich eingraben. Immerhin verwickelt Lappert seine Leser nicht in klassische Vegetarismus Dispute. Er arbeitet mit Abschreckung, indem er Megan von grausamer Massen tierhaltung erzählen lässt. Ob er einem damit die Lust aufs Fleischessen ver dirbt, sei dahingestellt. Sicher aber ver dirbt er einem die Lust aufs Lesen. l 29. August 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Roman In seinem neuen Opus erzählt Adolf Muschg die Geschichte eines Zürcher Geisterhauses Verwirrende Einfälle – bis zum bitteren Ende durchexerziert Frau des Hauses aufsteigt, dieses zum Schluss in Schutt und Asche legt und dabei selbst umkommt. Die Anwälte und ihre Entourage – dazu gehört auch Sidonie, eine ehemalige Schauspiel schülerin, die als Tote das Amt einer Bundesrätin anstrebt – werden allmäh lich zu Wiedergängern des Freiherrn und seiner Zeitgenossen. Die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten wird zusehends verwischt. Ja, es wird sogar möglich, dass man den eigenen Tod «jahrelang überlebt, ohne es zu merken». Eine schreckliche Vorstellung, doch Muschg findet Gefallen daran und exer ziert sie durch bis zum bitteren Ende. Auch will er, oh Pein, witzig sein – ins besondere in den Passagen rund um die Bundesratswahl und in der Parodie auf Christoph Blocher –, doch es fehlen dem Autor Leichtigkeit und Esprit, um in der politischen Satire Thomas Hürlimann oder Urs Widmer das Wasser reichen zu können. Muschgs Roman verkommt zur Klamotte. Adolf Muschg: Sax. C. H. Beck, München 2010. 459 Seiten, Fr. 39.50. Von Sandra Leis Ein entspanntes Alter ist Adolf Muschg genauso fremd wie dem Nichtschwim mer ein Sprung ins kühle Nass. Mit «Kinderhochzeit», dem ebenso sprach mächtigen wie vor Erzähllust strot zenden, manchmal an der Stofffülle fast erstickenden Roman von 2008, glaubte manch einer, des Dichters spätes Opus magnum in Händen zu halten. Doch weit gefehlt: Muschg, heute 76 Jahre alt, legt erneut nach und liefert nur zwei Jahre später den nächsten Wälzer. Die Zeit drängt, er will zum Schluss unbe dingt noch einen literarischen Triumph und hat sogar den Verlag gewechselt. Nach 35 Jahren Suhrkamp ist er jetzt bei C. H. Beck – Gründe dafür gab es mehre re, das Fass zum Überlaufen gebracht haben dürfte der Umstand, dass Suhr kamp in den Augen Muschgs zu wenig für «Kinderhochzeit» getan hat. Jetzt also soll alles gut werden, nur taugt «Sax» leider so gar nicht zum Lob preisen. War «Kinderhochzeit» stofflich zwar überorchestriert, stilistisch aber von geschliffener Eleganz, so ist «Sax» selbst bei mehrfacher Lektüre inhaltlich verworren und sprachlich oft gestelzt und seltsam spröd. Deftige Sexszenen Worum geht’s? Im Kern erzählt Muschg die Geschichte des Hauses «Zum Eisernen Zeit» in Münsterburg, und zwar von 1970 bis 2013, angereichert mit Rückblenden bis tief ins Mittelalter zurück, wo das Haus dem titelgebenden Johann Philipp Freiherr von Hohensax gehört hat. Dieser Schweizer Adels mann lebte von 1550 bis 1596; seine Mumie ist bis heute erhalten und zu besichtigen in der reformierten Kirche Sennwald (SG). Wer ein wenig recherchiert, stösst auch in Zürich auf ein Haus «Zum Ei sernen Zeit» samt schmiedeeiserner Sonnenuhr an der Fassade, erfährt dann, dass die Liegenschaft 1930 abgerissen wurde und anders als im Roman nicht in der Altstadt, sondern in ZürichUnter strass zu finden war. Also Dichtung und Wahrheit, wie es sich für den Gelehrten Adolf Muschg gehört. Und dass mit Münsterburg Zürich gemeint sein muss, wird spätestens dann überdeutlich, wenn im Roman von «Wasserfeld» und «Herrenmünster» die Rede ist. Vielversprechend ist Muschgs Ein stieg: 1970 erzählt der Besitzer des Hauses, ein Briefmarkenhändler in Geldnöten, seinem RotarierFreund, 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. August 2010 PLAINPICTURE Dichtung und Wahrheit einem Privatbankier, die Gespenster geschichte seines Domizils. Anschau lich berichtet er vom Spuk, der die Fami lie regelrecht knebelte, von der Angst und auch von der Scham, die seine Eltern überkam. «Wie konnte man über Unmögliches reden, ohne sich selbst un möglich zu machen?» Schliesslich rät der Privatbankier zu sogenannten «Tro ckenwohnern», also Menschen, die das Haus zu einem günstigen Mietzins «ordentlich ausnüchtern». Wer das sein könnte, weiss der schlaue Fuchs eben falls und empfiehlt seinen eigenen Sohn mitsamt zwei Kollegen, die eine An waltskanzlei eröffnen. Ob der Bankier gepetzt hat oder nicht – die jungen Advokaten kommen der Altlast des Hauses schnell auf die Schliche und vertiefen sich in die Le bensgeschichte des Philipp von Hohen sax. Tatkräftige Hilfe leistet Marybel, eine Stewardess, die als Sekretärin zur Gestelzt und ambitiös: In Adolf Muschgs neuem Roman, der in Münsterburg alias Zürich spielt, geistern viele Schatten herum. Historisch verbürgt ist die Tatsache, dass der Freiherr Philipp von Hohensax im Besitz der berühmten Manessischen Liederhandschrift war: Ob erworben oder als Kriegsbeute ergattert, in seinem Nachlass befand sich der umfang reichste Codex mittelalterlichen Minne sangs. Muschg wäre nicht Muschg, würde ihn dieser Umstand nicht unge mein befeuern. Und so setzt er in sei nem Roman an zu einem munteren Lie besreigen, dass einem darob geradezu schwindlig werden kann. Wer kopuliert wie und wie oft mit wem? Die Mutter mit dem Sohn, der Sohn mit der Gelieb ten des Vaters und der Vater mit der Freundin des Sohnes, der Stiefvater mit der Adoptivtochter, die Lehrtochter mit dem Lehrmeister und so weiter und so fort. Der Phantasie sind keinerlei Gren zen gesetzt, trotzdem ist Muschgs Spra che seltsam gespreizt. Da heisst es zum Beispiel: «Die junge Frau war noch keine Woche im Geschäft, da hielt sie nach Dienstschluss (…) den Liliensten gel ihres Chefs in der Hand.» Oder: Die Filipinas «waren so umfassend fromm, dass sie zwischen einem Dildo und einem Kruzifix nicht unterschieden». Wer’s glaubt, wird selig, möchte man entnervt ausrufen – die Krux dieses Werks ist etwas anderes: Stofffülle und Personenzahl sind derart immens, dass sie dem Autor entgleiten. Es fehlt den Figuren an Kontur und Charakter, und die vielen kleinen, oft kruden Ge schichten zersplittern in ihre Bestand teile, anstatt sich zu einem Roman ganzen, ja vielleicht sogar zu einem Sinn zu fügen. l Roman Ian Buruma verknüpft die Biografie der Filmdiva Ri Koran mit der Geschichte Japans Ian Buruma: Die drei Leben der Ri Koran. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Hanser, München 2010. 382 Seiten, Fr. 43.70. Von Marli Feldvoss 1940. Auf dem Höhepunkt des Japanisch Chinesischen Krieges eroberte ein Film mit dem Titel «Chinesische Nächte» die Herzen der japanischen Zuschauer, während er die Chinesen verprellte. «Chinesische Nächte» war eigentlich als ein Geniestreich des japanischen Propa gandaapparats gedacht, der mit der sin genden Schauspielerin Ri Koran – auf Chinesisch Li Xianglan – ein Talent ent deckt hatte, das flüssig Japanisch sowie Mandarin sprach und dazu auserkoren war, den Vormarsch der japanischen Aggressoren ins chinesische Kernland mit einer künstlerischen Identifikations figur zu versüssen. Doch dann klatschte in «Chinesische Nächte» die folgenreiche Ohrfeige ins zarte Gesicht der «Chinesin», verab reicht von einem «Japaner». Ein grober Fauxpas der Regie, der in China nie ver gessen wurde. Dennoch sollte die japa nische Nachtigall, die lange für eine Chi nesin gehalten wurde, zum grössten Star Asiens aufsteigen. Doch das Spiel mit den Identitäten sollte ihr Markenzei chen bleiben. Dass sie mit dem Namen Yamaguchi Yoshiko und als Japanerin in der Mandschurei auf die Welt gekom men war, war nur der Auftakt. In der Nachkriegszeit kehrte sie in Japan zu ihrem Mädchennamen zurück, um sich in Amerika in eine Shirley Yamaguchi und in Hongkong zurück in Li Xianglan zu verwandeln. Aufsehen erregte sie mit ihrem dritten Leben als TVJournalistin und mit Interviews mit Kim Il Sung oder Leila Khaled, der TWAFlugzeugentführerin. Sie trat auch als Fürsprecherin der Palästinenser auf. Der kürzliche 90. Geburtstag der japa nischen Diva war in Asien ein Medien ereignis. Der als China und Japankenner aus gewiesene holländische Publizist Ian Buruma hat diese abenteuerliche Figur ohne Zweifel als eine Herausforderung begriffen und deren Biografie als Aus gangspunkt für einen gross angelegten Epochenroman genutzt. Den turbu lenten Lebenslauf der Protagonistin hat er deshalb auf drei sehr unterschied liche Erzähler verteilt, die noch ihre ei genen Biografien mit ins Spiel bringen. Das postmoderne Puzzle sieht dann so aus: Der Japaner Sato Daisuke ist Kultur agent im japanischen Satellitenstaat Mandschukuo und Ri Korans Mentor von Kindesbeinen an; der bei der Film zensur MacArthurs beschäftigte Ameri kaner Sidney Vanoven lernt den Star in der Nachkriegszeit in Tokio kennen und begleitet ihre Karriere in Amerika; der Japaner Saro Kenkichi (später Mitglied der Japanischen Roten Armee) erinnert sich – aus einem libanesischen Gefäng nis heraus – an seine Mitarbeit bei der TVSendung Yoshikos, die ihm später Briefe ins Gefängnis schreibt. «Die drei Leben der Ri Koran» ist ein waghalsiges Erzählgebilde, das sich in die unterschiedlichsten Lebenswege KOBAL COLLECTION Spiel mit asiatischen Identitäten Die drei Leben der Ri Koran – hier als Schauspielerin Shirley Yamaguchi in Hollywood – sind Metaphern auf die Entwicklung Japans im 20. Jahrhundert. und Geschichtsstränge einklinkt, dabei einen Zeitraum von über siebzig Jahren mit vorwiegend japanischer Geschichte und Filmgeschichte bespielt, so dass die Rückkehr zum roten Faden Ri Koran ge legentlich nur mit akrobatischem Ge schick zu bewältigen ist. Durch all die Wechselbäder behält Ian Buruma je doch ein wichtiges Ziel vor Augen, das man vielleicht «die japanische Seele» nennen könnte. Er spielt virtuos und kenntnisreich den Vermittler zu einem Phänomen, das wir gern unter «Japa nisch» abhaken und womit wir unter den Tisch kehren, was so ganz anders und unerklärbar erscheint. Die «Chine sischen Nächte» und der japanische Ex pansionsdrang sind nur eine Facette dieses Wesens, das sich nach Hiroshima in eine vom Westen geprägte demokra tische Welt verabschieden musste. Und trotzdem immer japanisch geblieben ist. Der Roman «Die drei Leben der Ri Koran» und seine exotische Protagonis tin sind deshalb nicht zuletzt als Meta pher auf die Entwicklung Japans im 20. Jahrhundert zu lesen. l Kriminalroman Hansjörg Schneiders Basler Kommissär Hunkeler ermittelt wieder Theaterdirektor verschwindet nach Skandal Hansjörg Schneider: Hunkeler und die Augen des Ödipus. Diogenes, Zürich 2010. 240 Seiten, Fr. 35.90. Von Sacha Verna Hunkeler ist selten so viel herumge hockt. Allerdings hat er dafür jetzt ja auch offiziell Zeit. Kaum ist nämlich das Verbrechen in Hansjörg Schneiders achtem Krimi mit dem Basler Kommis sär geschehen, wird Hunkeler pensio niert. Nun könnte er sich getrost ohne investigative Hintergedanken in der Rio Bar oder dem Milchhüsli verlustieren. Doch wie zu erwarten, gelingt ihm das nicht. Der umstrittene Direktor des Stadttheaters ist verschwunden, und sein havariertes Hausboot wurde mit Blutflecken auf dem Deck im Hafen gefunden. Eine skandalöse Inszenierung von Sophokles’ «König Ödipus» scheint irgendetwas damit zu tun zu haben. Ebenso plausibel ist aber ein Zusam menhang mit dem teilweise dubiosen Milieu am Hafen, in dem sich der Mann ausserhalb des Theaters bewegte. Schneider erweist sich einmal mehr als Meister der atmosphärischen De tails. Das ist entscheidend, zumal Hun kelers Ermittlungsmethode im Mittrin ken, Mitessen und Mithören besteht. Schneider kreiert Roman für Roman kleine Welten, zu denen er seinen Kom missär Zugang finden lässt. Es ist viel interessanter, Hunkeler auf eine Brat wurst mit Rösti in die Aeschenstube oder auf ein mitternächtliches Schnäps chen in die Wirtschaft zum Kiel zu be gleiten, als zu erfahren, wer der Böse wicht ist. Dies umso mehr, als die Unter schiede zwischen guten und bösen Wichten in Krimis längst nicht mehr klar erkennbar sind. Natürlich ist Hunkeler eng verwandt mit Georges Simenons Commissaire Maigret und vor allem mit Friedrich Glausers Wachtmeister Studer. Doch hat Hansjörg Schneider mit seinem le bensfreudigen Pessimisten, mit diesem Eigenbrötler, der von der Gesellschaft nicht lassen kann, eine eigenständige Figur geschaffen. Bleibt nur zu hoffen, dass Hunkeler die investigativen Hinter gedanken beim Herumhocken im Ruhe stand auch weiterhin nicht loswird loswird.. l 29. August 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Die USSchriftstellerin Maile Meloy hat vor allem Kurzgeschichten geschrieben. Auch der Roman «Tochter einer Familie» reiht skizzenhaft Figuren und Situationen aneinander Wie eine gute Fernsehserie Maile Meloy: Tochter einer Familie. Aus dem Amerikanischen von UrsulaMaria Mössner. Kein & Aber, Zürich 2010. 384 Seiten, Fr. 34.90. Von Simone von Büren «Wenn ein Schriftsteller in eine Familie hineingeboren wird, ist das das Ende der Familie», zitiert die Amerikanerin Maile Meloy in ihrem zweiten Roman den polnischen LiteraturNobelpreisträger Czeslaw Milosz. Ihre junge Protagonis tin Abby bringt in «Tochter einer Fami lie» die kalifornische Verwandtschaft ganz schön ins Schwitzen mit einem Roman, in dem sie brisante Begebenhei ten aus deren Vergangenheit verwendet, aber auch einiges dazuerfindet. Abby schreibt ihren Roman während ihres Anglistikstudiums, nachdem sie ihren Vater durch einen Unfall verloren und mit ihrem attraktiven jungen Onkel Jamie heimlich eine sexuelle Beziehung begonnen hat. Sie versucht ausserdem, ihrer chaotisch narzisstischen Mutter und einem verliebten älteren Dozenten aus dem Weg zu gehen. Teilweise autobiografisch Während sie in ihrem schon bald ge feierten Roman mit Jamie, der sich dort als ihr Cousin entpuppt, einen Sohn namens T. J. bekommt und an Krebs stirbt, lässt sie sich im echten Leben doch auf eine Beziehung mit dem älte ren Dozenten ein, während Jamie sich mit einer Ungarin liiert und ihren Sohn T. J. adoptiert. Wenn man nur das zweite Buch liest, beschränkt sich die von der amerikani schen Kritik gelobte metafiktive Ebene auf die banale Einsicht, dass Fiktion Erste Farbfotografie Augenblicke für die Ewigkeit nicht automatisch autobiografisch sein muss. Die Figuren in Meloys Buch schei nen das allerdings erst gerade zu verste hen: Abbys Grossmutter fragt sich ent setzt, ob die Leser des Romans nicht davon ausgehen, «dass alles real» war, hat aber gleichzeitig Mühe mit der Lek türe, «weil ich immer wieder denke: So war es nicht». Wenn man Meloys noch nicht auf Deutsch vorliegendes Début «Liars and Saints» kennt, versteht man schnell, dass dies eben der Roman ist, den Abby in «Tochter einer Familie» schreibt. Meloy knöpft sich also dieselben Figu ren in leicht veränderten Konstellatio nen und Entwicklungen erneut vor und bewegt sich damit im Spannungsfeld von Fiktion und Realität. Sie erweist sich als scharfe Beobachterin der menschlichen Vorliebe für kleine Fiktio nen, die den Umgang mit sich selbst und der chaotischen Welt erleichtern. Solche Fiktionen gibt es in der Fami lie, lange bevor Abby ihren folgen reichen Roman zu schreiben beginnt. Die ichbezogenen, orientierungslosen Santerres haben sich seit Jahrzehnten in Lügen, Schuldgefühlen und Geheimnis sen verstrickt. Einige davon sind in Therapien und Beichten aufgedeckt worden, andere haben in ungesunder Weise um sich gegriffen wie die Viren, welche die Familie am Anfang und Schluss des Romans heimsuchen. Wie der andere kommen durch Abbys Roman ans Licht. Sparsame Prosa Hans flüstert seiner Schwester etwas ins Ohr, und Edeltrude will nichts verpassen. Ein Schnappschuss, denken wir, wie er jedes Familienalbum ziert. Heinrich Kühn hat die Aufnahme aus den Jahren 1912/13 jedoch bis zur Kleidung vorgeplant. Seine Kinder waren in vielen Sitzungen zu geübten Schauspielern geworden, die wussten, was der Vater erwartete. Die frühen Farbaufnahmen sind Autochrome. Die schwierige Technik erforderte lange Belichtungszeiten. Bis zu einer Stunde mussten die Modelle stillhalten. Der impressionistische Effekt schafft eine Atmosphäre des Schwebens, die der Dichter Hugo von Hofmannsthal als Merkmal der Epoche um 1900 bezeichnet hat. Heinrich Kühn wollte damit die Fotografie der 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. August 2010 Malerei annähern und wurde zwischen 1895 und 1915 zu einem Hauptvertreter des Piktorialismus. Der Autodidakt aus gutbürgerlichem Hause hatte Kontakt zu Gustav Klimt, stand mit Alfred Stieglitz in regem Austausch und wurde international hochgeschätzt. Bald darauf dominierte die Neue Sachlichkeit, sein Werk galt als reaktionär und geriet in Vergessenheit. Nach der Öffnung des Archivs gibt die Monografie erstmals einen detaillierten Überblick über diesen zentralen Vermittler zwischen 19. Jahrhundert und Moderne. Eine Entdeckung und ein Augenschmaus zugleich. Gerhard Mack Heinrich Kühn: Die vollkommene Fotografie. Hatje Cantz, Ostfildern 2010. 280 Seiten, 281 Abb., Fr. 78.–. Meloy hat vor allem mit ihren Kurzge schichtensammlungen «Half in Love» (2002) und «Both Ways Is the Only Way I Want It» (2009) auf sich aufmerksam gemacht. Dem Roman «Tochter einer Familie» merkt man ihre Erfahrung mit der kurzen Form an: Die 37jährige Autorin versteht es, Figuren und Situa tionen mit wenigen entschiedenen Stri chen in zurückhaltend sparsamer Prosa zu erfassen und grosse Themen wie Homosexualität, Drogen, Adoption und Inzest in wenigen Sätzen und mit küh lem Understatement einzuflechten. In jedem Kapitel rückt sie eine andere Figur ins Zentrum, wobei viele der gegen dreissig Figuren – etwa ein schlau er französischer Anwalt oder der dro gensüchtige ExJesuit und Geliebte von Abbys Schwester – nur zwei, drei wir kungsvolle Auftritte haben. Dadurch wirkt «Tochter einer Fami lie» ein wenig wie eine gut geschriebene TVSerie, welche durchaus amüsiert und die Aufmerksamkeit des Lesers von einer intensiven Episode zur andern zu halten vermag. Zu einem geschlossenen Ganzen fügt sich der Roman dabei ebenso wenig wie die Biografien seiner Protagonisten. Und die realitätsverändernde literari sche Sprengkraft, die Abbys Buch zuge schrieben wird, sucht man in Meloys unverfänglichen Skizzen vergeblich. l Roman Zwischen Wien und Tel Aviv entfaltet sich eine rasante jüdische Familiengeschichte Wenn ein Rabbiner den Messias klonen will Doron Rabinovici: Andernorts. Suhrkamp, Berlin 2010. 286 Seiten, Fr. 30.50. «Rabbi, sind Sie total meschugge?», fragt Ethan Rosen einen ultraorthodoxen Rabbiner. Die beiden unterhalten sich in der Cafeteria des Spitals, in dem Ethans kranker Vater liegt. Ethan, dessen Eltern die Schoah überlebt haben, ist mit eigen willigen Theorien über die Schoah, über die Notwendigkeit des Vergessens und die Pflicht zur Erinnerung berühmt berüchtigt geworden und lehrt am Soziologischen Institut in Wien. Der Rabbiner behauptet, dass der Messias gezeugt und in der Schoah umgebracht wurde, und führt eine Bewegung an, die gemäss neuester Gentechnologie den ermordeten Messias wiedererschaffen will. «Sie wollen den Messias klonen? Wie Dolly, das Schaf?», fragt Ethan ver wundert. «Der Rabbiner frohlockte: ‹Sehen Sie, jetzt haben Sie es endlich verstanden.›» Tatsächlich findet der Rabbi, der den Messias klonen will, in Ethan einen Ver bündeten wider Willen. Denn Ethans Vater, so will der Rabbi mit kabbalisti schen Berechnungen festgestellt haben, ist der einzige noch lebende Verwandte des angeblichen Messias und damit die genetische Quelle für das KlonProjekt. Um ihn am Leben zu halten und das Klonen durchführen zu können, ver spricht der Rabbiner, für den alten Rosen eine Spenderniere zu besorgen. Lauter Überraschungen So treffen der atheistischzynische Soziologe und der ultraorthodoxe Rab biner eine verrückte Abmachung, die nicht etwa das Happy End einer Kran kengeschichte oder die Auflösung einer religiösen SciFiGeschichte ist, sondern der Höhepunkt eines Familienromans. Denn weil bei dem Gentest, dem sich Ethan unterziehen muss, etwas anderes herauskommt als erwartet, müssen Ver wandtschaftsverhältnisse neu geordnet und Geheimnisse gelüftet werden. Es stellt sich heraus, dass die Ehe sei ner Eltern anders verlaufen ist, als Ethan zu wissen meinte; dass der väterliche Freund, um den er trauert, ihm noch näher stand, als er angenommen hatte; dass die schöne Unbekannte, die er auf dem Flug von Tel Aviv nach Wien ken nengelernt hat, nicht so unbekannt ist, wie sie vorgetäuscht hat; dass sein Kon trahent am Wiener Institut sein Halb bruder ist; dass dieser Halbbruder viel mehr kein Halbbruder ist – und dann wieder doch, aber ihr beider Vater ist ein anderer, als es zuerst schien … Die Familien und Beziehungsgefechte spit zen sich zu, ehe sie sich auflösen, denn ALAMY Von Stefana Sabin Orthodoxe Juden in Wien (1995), wo auch der skurrile Roman von Doron Rabinovici spielt. der Schriftsteller Doron Rabinovici behält die Fäden in der Hand und zeich net seine Figuren alle mit gleicher Sorg falt. Die konsequent ironische Erzähl haltung erlaubt ihm, mit Eleganz erzäh lerisch zwischen Liebes und Familien geschichte und stilistisch zwischen Tragikomik und Satire zu wechseln. Rabinovici, der 1961 in Tel Aviv gebo ren wurde und seit 1964 in Wien lebt, ist im deutschsprachigen Raum als Histori ker und Essayist ebenso renommiert wie als Romancier. Wie in seinen früheren Romanen kombiniert er auch im neuen Werk «Andernorts» Kolportage und Satire, Alltags und Schoahliteratur. So wechselt der Ort des Geschehens zwi schen Europa und Israel, genauer: zwi schen Wien und Tel Aviv; Ethan Rosen, die Hauptfigur, laviert zwischen der israelischen Herkunft und einer west europäischen Erziehung einerseits und zwischen dem SchoahTrauma der Eltern und der politisch korrekten Hal tung seiner Universitätskollegen ande rerseits. Auch in diesem Buch macht Rabino vici die komplexe transkulturelle jüdi sche Identität zum Anker der Handlung. Ethan ist ein postmoderner «Luft mensch», der sich intellektuell überall zurechtfindet, immer gegen den Strom schwimmt und emotional nirgends hei misch ist – der stets «andernorts» ist, wie der Titel des Romans suggeriert: «Überall und immer dagegen», hält ihm einmal die Mutter vor. «In Paris die Arbeit über Kolonialfilme, in Jerusalem die Studie über Palästinenser in der Literatur. In Tel Aviv die Vorträge über diese muslimischen Ruinen. Den Öster reichern redest du vom Antisemitis mus, und in Chicago wolltest du unbe dingt den Kommunismus einführen. Aber als Vater dich in die DDR mit nahm, musstest du ausgerechnet sowje tische Literatur einpacken.» Und der Vater beschreibt seinen Sohn als ein «verkehrtes Chamäleon», das sich sei ner Umgebung nicht anpasst, sondern sich von ihr abhebt. Satirische Vignetten Tatsächlich ist es nicht die archetypi sche «jiddische Mamme», die Ethan zusetzt, sondern der Vater, der nun, auf dem Sterbebett, zum genetischen Vor fahren des Messias werden soll. Dass dann das KlonProjekt doch nicht zustande kommt, versteht sich. Aber die Diskussionen zwischen dem Rabbiner und Ethan sind satirische Vignetten von grossem Unterhaltungswert. Überhaupt gelingen Rabinovici witzige Dialoge genauso gut wie reflexive Passagen, ein fache Liebesszenen so gut wie surrealis tischkomische Familienszenen. Und dann lässt er doch noch alle sich mitein ander versöhnen und beendet seinen Roman mit souveräner Leichtigkeit. l 29. August 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Norbert Gstrein entwirft das faszinierende Porträt einer Verlegerwitwe Sie feiert den sterbenden Gatten Norbert Gstrein: Die ganze Wahrheit. Hanser, München 2010. 304 Seiten, Fr. 33.90. Als Dagmar den Verlag zum ersten Mal besucht, kann sie ihre Enttäuschung und ihren Ekel kaum verbergen. Dagmars Hochzeit mit dem Verleger Heinrich Glück liegt inzwischen mehrere Monate zurück; Glück hat bereits neue Zähne, ein Trimmrad steht im Keller, sein Haar wuchs scheint wieder einzusetzen. Nach der Umgestaltung der im noblen Wiener Gemeindebezirk Hietzing gele genen Villa und der kaum weniger auf wendigen Renovierung Heinrich Glücks, den sie zweimal die Woche zum Schwimmen schickt, misst Dagmars prüfender Blick auch die Unzulänglich keiten seines kleinen Verlags an ihren hochgeschraubten Erwartungen. Dagmar ist die Hauptfigur von Nor bert Gstreins neuem Roman. Der Ich Erzähler, der von Dagmar nur Wilfredo genannte Lektor des bedeutungslosen, in Österreich jedoch als nationale Insti tution geltenden Verlags, zeichnet das faszinierende Porträt einer Frau, die sich die Welt nach eigenen Vorstel lungen erschafft und die Realität einer «inneren», von esoterischer Autosug gestion, von Ignoranz und Lüge verblen deten Wahrheit unterwirft. Der Mief von altem Papier und verbrauchten Ge danken liegt in der Luft. Hintergründiger Humor Erst als Dagmars Blick auf ein Bild Ana bel Falkners fällt, sieht sie das Zeichen vergangener und kommender Grösse von Glücks Verlag: Falkner war die Selbstmörderin unter den mädchen haften Lyrikerinnen, mit denen Glücks längst von drittklassigen amerika nischen Bestsellern herabgewirtschaf teter Verlag seine frühen Erfolge feierte. Dieses Zeichen verleiht Glücks trau riger Firma in Dagmars Augen den ge bührenden Glanz. Der glückselige Aus druck Falkners, die mit ausgebreiteten Armen einen Hügel hinunterrennt, die «mystische Verzückung ihres Gesichts», das starke «Leuchten der inneren Wahr heit», in dem Dagmar eine Seelen verwandte zu erkennen meint, bewirk ten in ihr eine bedeutungsschwere In itiation. «Hauch mich an/ Ich bin ein Golem/ Ein Golem bin ich/ Kann nicht leben/ Kann nicht sterben/ Bin ein Engel/ Hauch mich an»: Die Figur der toten, kaum in der Erinnerung präsenten Ana bel Falkner ist ein heimliches Zentrum des Romans. Der Kitsch ihrer Gedichte offenbart nicht nur Gstreins hintergrün digen Humor, der immer wieder aus der Deckung eines zurückhaltenden Erzähl tones hervorschnellt. Er demaskiert auch das hohle Pathos von Dagmars Be 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. August 2010 ISOLDE OHLBAUM Von Thomas David Vorlage für Gstreins Roman: SuhrkampVerleger Siegfried Unseld (2. v. l.) und Gattin Ulla Berkéwicz empfangen Kritiker zu Hause in Frankfurt, Oktober 1992. wunderung für die Lyrikerin. Deren To dessehnsucht festigt in Dagmar den Glauben, dass der Tod der Höhepunkt des Lebens sei, und bewirkt schliesslich auch den Schwulst, mit dem Dagmar Heinrich Glücks Sterben feiert. «Die Sterbe hat begonnen, Wilfredo», so Dag mar eines Tages zu Gstreins verblüfftem Erzähler, der mit Glück eben noch Tischtennis gespielt hat. Dagmar hat trotz ihres mondänen Auftretens «etwas Heimatfilmhaftes in ihrem Aussehen», sie hat eine Vorliebe für «zwielichtige Lokale» und mischt unter den hohen Ton ihrer Privatkabba la gern den deftigen Jargon einer durch zechten Nacht. Sie verkündet: «Der En rique ist ein Jenseitsrabe.» Sie sagt: «Der grosse Eulengott hat seinen Flug in die Dunkelheit aufgenommen.» Die Ge schichte, die «Wilfredo» – der seinem Chef treu ergebene Lektor – in Gstreins Roman erzählt, setzt er dem als obszön empfundenen, vom Irrlicht der «inne ren Wahrheit» beleuchteten Totenbuch entgegen, das Dagmar nach Heinrich Glücks Tod über das Sterben ihres Mannes schreibt. In seinem Roman erzählt Norbert Gstrein mitreissend und raffiniert von einem im Namen der «Wahrheit» ausge fochtenen literarischen Kampf, in dem sich das wahre Leben des Heinrich Glück letzten Endes jedoch dem Abso lutheitsanspruch und der Deutungs hoheit beider Kontrahenten entzieht. «Wem gehört eine Geschichte?», könnte man fragen: In «Die ganze Wahr heit» schreibt der 1961 im österrei chischen Mils (Tirol) geborene Gstrein jene Poetik der Skepsis fort, die bereits in seiner 1988 erschienenen Erstlings erzählung «Einer» angelegt ist. Und er treibt sein Vexierspiel konkurrierender Wirklichkeiten, das er in den grossen Romanen «Die englischen Jahre» (1999) und «Das Handwerk des Tötens» (2003) noch mit trockenem Ernst vollzogen hat, auf die Spitze. Ulla Berkéwicz im Visier Gstrein inszeniert Heinrich Glücks Be erdigung als eine unvergessliche Szene, in die sich die zur Arglist neigenden Feuilletonisten, die das Buch des ehema ligen SuhrkampAutors Gstrein bereits vor der Veröffentlichung als rachsüch tigen Schlüsselroman über die Verleger witwe Ulla Berkéwicz zu skandalisieren versuchten, nahtlos neben die skurrilen, teilweise lodenbemäntelten und mit breitkrempigen Schlapphüten verse henen Trauergäste einfügen liessen. Er zeigt Dagmar nach einem Besuch am verschneiten Grab Anabel Falkners als laszive Verführerin, die am Kotflügel des Wagens lehnt und im Scheinwerfer licht des Gegenverkehrs eine Zigarette raucht: Dagmar im Rauch und Nebel ihrer exotischen Esoterik auf der gros sen Bühne ihres Illusionstheaters. Sol che und andere Posen entlarvt der Autor mit Genuss. «Man hat mir abgeraten, darüber zu schreiben, und natürlich kenne ich Dag mar lange genug, um zu wissen, was mich erwartet, wenn nur etwas von dem, was ich über sie in die Welt setze, anfechtbar ist»: Siegfried Unseld, an den Norbert Gstreins Erzähler am Ende des Romans erinnert, hätte den geistreichen literarischen Witz, in dem «Die ganze Wahrheit» erstrahlt, gewiss zu schätzen gewusst. l Novelle Alberto Moravia über den Gefühlshaushalt eines Jugendlichen Mütterliche Verführerinen Kurzkritiken Belletristik Bänz Friedli: Ich pendle, also bin ich. Kolumnen. Fotografien Alexander Egger. Huber, Frauenfeld 2010. 264 Seiten, Fr. 29.90. Daniel Kehlmann: Lob. Über Literatur. Reden, Essays, Rezensionen. Rowohlt, Hamburg 2010. 191 Seiten, Fr. 31.90. Bevor der Berner und Wahlzürcher Bänz Friedli mit seiner Kolumne für das «MigrosMagazin» zum Hausmann der Nation wurde, stellte er in der Gratiszei tung «20 Minuten» von 2000 bis 2004 jeden Donnerstag eine neue Pendler regel auf. 2009 kam es zu einem Revival. Nun liegen alle Pendlertexte Friedlis in einem querformatigen und deshalb in kein Gestell, wohl aber in den Zeitungs ständer im kleinsten Raum der Woh nung passenden Band vor. Die mit Foto grafien illustrierten Texte haben sich gut gehalten. Sie sind mit Witz und Biss, aber auch Selbstironie geschrieben. Wer immer hierzulande mit dem «Övau» un terwegs ist, wird viele Situationen wie dererkennen. Bänz Friedli, der die «NZZ am Sonntag» mit fundierten Beiträgen zu Blues, Pop und Rock bereichert, be herrscht die Kunst, für den Tag und doch nicht nur für ihn zu schreiben. Manfred Papst Der 1975 geborene Daniel Kehlmann ist, was man ein Wunderkind nennt. Im Alter von 22 Jahren veröffentlichte er den ersten Roman, mit «Die Vermes sung der Welt» gelang ihm 2005 ein Bestseller: allein 1,5 Millionen verkaufte deutsche Exemplare. Selbst wenn man zur Minderheit der weniger begeisterten Leser vom Romancier Kehlmann gehört, windet man ihm als Autor von luziden und stets griffig formulierten Essays und Rezensionen gern ein Kränzchen. «Lob» versammelt solche Texte, alle be reits in Publikationen wie «FAZ», «Zeit» und anderen erschienen. Von Thomas Bernhard über Stephen King bis Ham sun und Shakespeare – Kehlmanns Ge danken zu den Autoren sind ein Genuss. Höhepunkt ist die Dankesrede zur Ver leihung des KleistPreises – keinen bes seren Beleg gäbe es dafür, wie sehr Kehl mann diesen verdient hatte. Regula Freuler Richard Yates: Ruhestörung. Roman. Aus dem Amerikanischen von Anette Grube. DVA, München 2010. 316 Seiten, Fr. 34.90. Dieter Forte: Tetralogie der Erinnerung. Fischer Taschenbuch, Frankfurt 2010. 4 Bände in Kassette, 975 Seiten, Fr. 62.9o. Alle paar Jahre gibt es sie: die Offenba rung in der Bücherflut. «Revolutionary Road» von Richard Yates (1926–1992) war so ein Buch – ein Meisterwerk der 60er Jahre, in der deutschen Literatur landschaft noch unbekannt. Seit der Übersetzung 2002 bemüht sich der Ver lag, Yates’ Ruhm bei uns zu mehren. Nach zwei Erzählbänden und zwei wei teren Romanen folgt nun ein wenig empfehlenswertes Buch. Trinken, strei ten, weinen – das sind die Koordinaten des amerikanischen Albtraums, dessen Chronist Yates war. Sie sind es auch in «Ruhestörung», das (wie fast alles von Yates) nahe an der Autobiografie vor beischrammt. Zu nahe. Protagonist John Wilder ist Werber, Trinker, verzweifelt. Landet in der psychiatrischen Anstalt. Versucht ein neues Leben ausserhalb der Vorstadthölle, ohne Familie. Schei tert. Was sonst unerbittlich beobachtet ist, wirkt hier larmoyant und langweilig. Regula Freuler Bis heute hat der 1935 in Düsseldorf ge borene Autor Dieter Forte, der seit lan gem in Basel lebt, als Erzähler nicht das Echo gefunden, das er als Dramatiker mit dem Welterfolg «Martin Luther und Thomas Münzer…» (1970) hatte. Dass er ein glänzender Prosaist ist, hat er indes mit den Romanen «Das Muster» (1992), «Tagundnachtgleiche» (1995), «In der Erinnerung» (1998) und «Auf der ande ren Seite der Welt» (2004) bewiesen, die nun erstmals als «Tetralogie der Erinne rung» im Taschenbuch vorliegen. Sie bilden ein Familienepos, das vom Mit telalter bis in die 1950er Jahre reicht. Forte hat ein Sensorium für historische Entwicklungen und Widersprüche der Zeit. Er kennt die Fabriken wie die Sana torien, die Parolen der Tüchtigen wie die Zweifel der Untüchtigen und die Sehnsüchte der Verliebten. Sein auto biografisch gefärbtes EpochenPanora ma ist ein magistrales Werk. Manfred Papst Alberto Moravia: Der Ungehorsam. Aus dem Italienischen von Lidia Winiewicz. Wagenbach, Berlin 2010. 144 S., Fr. 17.50. LOUIS MONIER / RUE DES ARCHIVES / SÜDDEUTSCHE ZEITUNG Von Monika Burri Nach der Rückkehr aus den Sommer ferien ist in der Welt des 15jährigen Luca nichts mehr wie zuvor. Plötzliche Wutanfälle erschüttern ihn, ein finsteres Unbehagen hat sich zwischen ihn und seine Umgebung geschoben. Insbeson dere seine gutbürgerlichen Eltern, deren Fürsorge ihn bis anhin so selbstver ständlich umhüllte, sind zu befremd lichen und besitzgierigen Existenzen verblasst. Lucas Reizbarkeit schlägt um in Resignation, und schliesslich macht sich der zunehmend isolierte Knabe ein Spiel daraus, seinen Ennui als gezielte Gehorsamsverweigerung zu kultivieren. Die existenzielle Langeweile gehört zu den wiederkehrenden Themen in Alberto Moravias (1907–1990) umfang reichem Werk, ebenso wie die Macht und Machenschaften von Geld und Ero tik. Die AdoleszenzNovelle «Der Unge horsam» aus dem Jahre 1947, nun in einer überarbeiteten deutschen Aus gabe im WagenbachVerlag erschienen, variiert diese Motivpalette und zeigt den römischen Literaten auf der Höhe seines Könnens: als eleganten und poin tensicheren Erzähler, als beharrlichen Meister in der Sezierkunst subjektiver Empfindungen. Es sind mütterliche Verführerinnen, die dem kranken und todessehnsüch tigen Luca zu neuer Lebenslust verhel fen. Eine Erzieherin, die mit einer lär menden Kinderschar vorübergehend ins Haus einzieht, versprüht unbeküm mertes Lachen und frivole Sinnlichkeit. Lucas Begehren entfacht sich gegen seinen Willen, der erste Kuss schmeckt wohlig und widrig zugleich. Die Gabe der Liebes fähigkeit erreicht ihn dann in den Händen einer Pflegerin, einer reifen, vom Schicksal ge zeichneten Dame. Das klas sischkomponiertePsycho gramm einer jugend lichen Selbstfindung lässt mitunter augen zwinkernden Situa tionswitz aufblitzen. Leider kommt die als Schlussbou quet montierte Erweckung aus Tunnelfahrt und Gipfel verzückung dann allzu humorfrei daher. l 29. August 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Interview Eveline Hasler hat viele historische Romane geschrieben. Dabei ist ihr Faktentreue wichtig. Sie erfinde nur dort, wo Zeugnisse fehlen oder wo sie den Zeitgeist wiedergebe. Interview: Geneviève Lüscher «Ich schreibe doch keine Romane!» Bücher am Sonntag: Eveline Hasler, Sie schreiben «historische Romane» und wehren sich gleichzeitig gegen diesen Begriff. Was stört Sie daran? Eveline Hasler: Der historische Roman gilt als trivial, was so einfältig ist, wie wenn man Gedichte bloss als sentimentale Herzensergüs se bezeichnen würde. Natürlich gibt es triviale historische Romane, aber man kann doch nicht alle über den gleichen Leisten schlagen. Dieses Genre ist sehr weit gefächert und hat sich zudem in letzter Zeit stark verändert. Inwiefern? Die Veränderung zielt auf mehr Faktentreue, sie wird immer wichtiger. Und das ist auch genau das, was mich am historischen Roman am meisten interessiert: die Wirklichkeit. Die Fakten sind Ihnen wichtiger als die Fiktion? Ja, unbedingt. Und deshalb habe ich mich auch vehement dagegen gewehrt, dass auf dem Buch cover meines neuesten Werks wieder «Histori scher Roman» steht. Ich schreibe doch keine Romane! Romane sind fiktiv von A bis Z. Und wenn ich als Autorin drei Jahre lang Fakten sammle, recherchiere, Archive besuche, Doku mente und Originalakten studiere, dann ist es einfach nicht richtig, wenn auf dem Buch steht, Eveline Hasler Eveline Hasler (* 1933) wächst in Glarus auf. Nach dem Geschichtsund Psychologiestudium und einigen Jahren als Sekundarlehrerin zieht sie mit Mann und Kindern nach St. Gallen. Es entstehen erste literarische Texte. 1982 schafft sie mit der Hexe Anna Göldin den Durchbruch. Heute sind zehn historische Romane auf dem Markt, sie wurden in viele Sprachen übersetzt und zum Teil verfilmt. Im Juli 2010 erschien bei Nagel & Kimche «Und werde immer Ihr Freund sein» (221 Seiten, Fr. 26.90), eine biografische Annäherung an die Freundschaft zwischen Hermann Hesse, Emmy Hennings und Hugo Ball. Eveline Hasler erhielt für ihre Bücher mehrere Preise und Ehrungen. Seit siebzehn Jahren lebt sie mit ihrem Mann im Tessin, wo auch das neueste Buch spielt. 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. August 2010 «Bei einem Buch, das im 18. Jahrhundert spielt, wo fast keine Zeugnisse existieren, gibt es nur wenige faktische Inseln und viel Wasser, also viel zu interpolieren.» es sei ein Roman! Es war ein zäher Kampf gegen den Verleger, aber ich habe ihn gewonnen. Welches waren die Argumente des Verlegers? Er befürchtet, dass meine Bücher ohne diese Bezeichnung ins Regal für Sachbücher einge reiht werden und damit ihr Stammpublikum verlieren. Sachbücher sind nun aber wieder etwas ganz anderes. Nun steht kein Genre auf dem Buchcover, man müsste eine neue Bezeichnung für diese Art Bücher finden. Die alten Genrebezeichnungen sind heute ein fach nicht mehr zeitgemäss. Es gibt so viele Überschneidungen, wieso muss man ein Buch unbedingt in ein Korsett zwängen? Tatsache ist aber, dass Sie auch «erfinden». Wo nehmen Sie die Fiktion zu Hilfe? Das kommt drauf an. Bei einem Buch, das im 18. Jahrhundert spielt, wo also fast keine Zeug nisse mehr existieren, da gibt es nur wenige faktische Inseln und viel Wasser dazwischen, also viel zu interpolieren. Im 20. Jahrhundert hingegen, das äusserst gut dokumentiert ist, braucht es nur wenig Fiktion, da kämpft man als Schriftstellerin mehr mit der Fülle der Fakten. Fiktion findet hauptsächlich dort statt, wo ich versuche, dem Leser, der Leserin das Ambiente einer Zeit näherzubringen, mit ihren Vibratio nen und Unterströmungen. Können Sie ein Beispiel nennen? In meinem neuen Buch «Und werde immer Ihr Freund sein» ist das der Beginn der Psycho analyse, die Anfang des 20. Jahrhunderts unter Intellektuellen und Künstlern sehr wichtig war. Das ist eine Tatsache. Ich weiss auch ziemlich genau, was meine beiden Protagonisten, Her mann Hesse und Hugo Ball, über die Psycho analyse dachten, da gibt es genug Briefe dazu – auch das sind Tatsachen. Nun kann ich die bei den ein fiktives Gespräch über die Psycho analyse führen lassen, das zwar erfunden ist, aber meiner Meinung nach gut hätte stattfinden können. Ich würde hingegen nie einen Lebens lauf verändern, nur damit er spektakulärer würde oder besser in die Geschichte passte. Die Wirklichkeit ist faszinierend genug! Könnten Sie einen historischen Roman mit völlig fiktivem Personal schreiben, also zum Beispiel aus pharaonischer Zeit in Ägypten? Nein, da hätte ich Mühe. Das grenzt für mich an FantasyLiteratur, «Harry Potter» und so … Erfinden Sie für Ihre Geschichte auch fiktive Figuren, oder sind immer alle Personen real? Zum Beispiel in Ihrem neuen Buch? Die dort aufgeführten Personen haben alle exis tiert. Auch im Umkreis von Dada war mir die Nähe zu den Fakten sehr wichtig, das Zürich von 1915 mit dem Armenarzt Fritz Brupbacher, mit dem aus dem Val Vigezzo stammenden Franz Jelmoli, seinem Warenhaus nach Pariser Vorbild und seiner Freundschaft mit dem Sozi alreformer August Bebel. Im Buch über die Ber ner Patriziertochter Julie Bondeli, «Tells Toch ter», hingegen habe ich die Magd Ernestine kreiert. Sicher hat das Kind eine Magd gehabt, aber dass sie Ernestine hiess und Julies Lehrer Henzi bewunderte, stand auf keinem Blatt; diese Geschichte spielt aber im 18. Jahrhundert. Haben Sie nie Angst, Ihre realen Figuren mit Ihren eigenen Gedanken zu manipulieren? Meine Annäherungen sind immer sehr vorsich tig. Heikel war zum Beispiel die Beschreibung des Verhältnisses von Hermann Hesse zu sei ner zweiten Frau Ruth Wenger. Da wird jeder Brief, jede Aussage gewendet und abgeklopft. Ich untertreibe eher, als dass ich etwas aufbau schen würde. Hesse konnte ja Nähe nicht ertra gen. Die vom Delsberger Messerfabrikanten Wenger, dem zukünftigen Schwiegervater, for cierte Eheschliessung wird zum Desaster. Das mag am Lack von Hesse kratzen. Doch er hat im «Steppenwolf» und in seinen KrisisGedichten keinen Hehl aus seinen Untugenden gemacht. Schwierige Aspekte sind Teil einer ganzheitli chen Sicht auf eine Figur. Schatten und Licht, das gehört zu jedem Menschen. Originalzitate sind in Ihren Büchern kursiv gedruckt. Sind denn alle anderen Aussagen, welche die Personen machen, fiktiv? Ja, Originalton zum Beispiel aus Briefen ist jeweils kursiv. Wenn ich aber einen Satz aus einem Brief umformulieren muss, ist er zwar DOMINIC BÜTTNER «Fiktion findet dort statt, wo ich versuche, dem Leser das Ambiente einer Zeit näherzubringen»: Autorin Eveline Hasler, 2010. 29. August 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Interview inhaltlich immer noch original, aber im Buch erscheint das dann nicht kursiv. Ende bedeutet nicht, dass das Leben sinnlos war. Wir sterben alle einmal, und insofern gibt es für niemanden ein Happy End. Auch ein ober flächlich gesehen «gescheitertes» Leben hat einen Sinn, hinterlässt Spuren, die für andere Menschen wichtig sind. Übrigens habe ich auch über Frauen geschrieben, die nicht gescheitert sind, zum Beispiel über Aline Valangin, die friedlich mit 97 gestorben ist! Warum boomen historische Romane? Weil sie im besten Fall durch einen neuen Blick winkel, solide Recherchen und eine angepasste Sprache eine Wirklichkeit erschliessen. Beim Lesen hat man das Gefühl, etwas Wahres aus einer Zeit zu erfahren, die längst vergangen ist. Dennoch sind es keine langweiligen Sachbü cher oder unverständlichen Fachbücher. So hat mein Buch über die erste Juristin Europas, die Zürcherin Emily KempinSpyri grosse Aha Erlebnisse erzeugt, vor allem bei Männern. Dabei wollte ich keineswegs ein feministisches Buch schreiben. Diese Frau hatte Schwierigkei ten in einer männerdominierten Welt, von der die Männer keine Ahnung haben. Mein Buch lieferte ihnen reale Fakten eines Frauenlebens und gleichzeitig die Spannung einer fiktiven Geschichte – wird sie es schaffen oder nicht? Bei einem fiktiven Roman würden die Leser sagen: Alles erfunden, das stimmt doch nicht! Als studierte Historikerin bürgen Sie für die Richtigkeit der dargestellten Fakten? Ja, und ich bin stolz, dass mir von historischer Seite noch nie ein fachlicher Vorwurf gemacht wurde. Das bedeutet gründliche Recherchier arbeit, die im Übrigen von niemandem bezahlt wird! NACHLASS EMMY HENNINGS IM SLA, BERN Was hat ein Leser davon, wenn er Ihr Buch liest? Er könnte einfach die publizierten Briefwechsel lesen und hätte alles im Originalton. Ich liefere eine Einbettung in einen Gesamtzu sammenhang, eine Atmosphäre der Zeit, den Hintergrund: Warum sagt oder schreibt ein Protagonist dieses oder jenes? Was sind die Zeitumstände, die persönliche Stimmung? Wo und wie lebt er, was ist ihm gerade vorher widerfahren? Der Leser, der ins Heute eingebet tet ist, kann sich von früheren Zeiten kaum eine Vorstellung machen. Wir sind ja alle Gefangene unserer Zeit. Meine Bücher erlauben es, in eine vergangene Epoche hineinzuwachsen. Protagonisten von Eveline Haslers neuem Buch: Emmy Hennings und Hugo Ball, 1921 in Agnuzzo (TI). «Ein schlechtes Lebensende bedeutet nicht, dass alles sinnlos war. Wir sterben schliesslich alle einmal, und insofern gibt es für niemanden ein Happy End.» drin in unserem Leben, haben aber nicht den Überblick, können die Muster nicht sehen. Haben Sie einen didaktischen Anspruch? Eher nicht, nein. Das Wort didaktisch gefällt mir nicht besonders, das klingt so systematisch. Ich will niemanden belehren. Sie schreiben mit Vorliebe über Frauen? Nicht nur! Aber es ist interessanter, über das Leben von Frauen zu recherchieren und zu schreiben, weil ihnen eine starke, verborgene Dynamik innewohnt. Zudem sind Frauenleben noch wenig auf diese Weise schriftstellerisch «verarbeitet» worden, als eigenständige Perso nen. Sie wurden dargestellt in Bezug auf Män ner, in ihrem sozialen Bezug als Geliebte, Müt ter, Gattinnen. Dann ist vielleicht Unterhaltung das Wichtigste? Nein, auch nicht. Das Wichtigste ist das Faszi nosum Mensch. Es sind Bücher über Menschen, über das Leben. Menschen wollen über Men schen lesen. Das Leben anderer Menschen, auch aus der Vergangenheit, kann uns etwas über uns selbst sagen. Wir stehen zwar mitten Oft scheitern Ihre Heldinnen. Warum? Das gehört halt zum Leben. In Amerika zum Beispiel, da ist die Übersetzung des Buchs «Die Wachsflügelfrau» über Emily KempinSpyri nicht gut aufgenommen worden, weil es kein Happy End hat. Die Juristin endet bekanntlich in der Nervenheilanstalt. Aber ein «schlechtes» Sie haben auch Psychologie studiert. Hilft Ihnen das beim Schreiben? Ja, der psychologische Blickwinkel ist sehr wichtig. Geschichte wird für mich erst span nend, wenn ich die psychologischen Hinter gründe erkennen kann. Der äussere Aufriss der Geschichte, die blossen Fakten, das interessiert mich nicht. Wie kommen Sie zu Ihren Stoffen? Diese Frage kann ich gar nicht richtig beant worten. Golo Mann hat bei einer Zürcher Buch händlerweihnacht einmal gesagt: «Nicht der Autor kommt zum Stoff, sondern der Stoff kommt zum Autor», und genau so denke ich auch. Es hat etwas mit Resonanz zu tun. Man muss irgendwie reif sein. Haben Sie schon einmal mit einem Stoff angefangen und ihn dann wieder verworfen? Nein, nie. Es hat mich jedes Mal so gepackt, dass es mich durch alle Engpässe, die es natür lich gibt, getragen hat. Haben die Orte in Ihren Büchern eine besondere Bedeutung? Ja, Orte sind aufgeladen mit Mythologie, mit ihrer Geschichte. Ich bin überzeugt, dass gewis se Geschichten nur an gewissen Orten passie ren können. Sie haben Ihre schriftstellerische Tätigkeit mit Kinderbüchern begonnen. Wie sind Sie dann zum historischen Roman gekommen? Mit dem Stoff der Hexe Anna Göldin. Beim Recherchieren wurde mir bewusst: Das ist eine Geschichte, die ich Kindern nicht zumuten kann, obwohl Hexengeschichten für Kinder fas zinierend sind. Das muss ich für Erwachsene schreiben. Aber ich wollte nicht einfach eine historische Geschichte erzählen, sondern eine Brücke zur Gegenwart schlagen. Wie nahe kommen Sie der Wirklichkeit? So nahe wie möglich. Doch jedes Buch bleibt immer nur eine Annäherung, mit diesem Wis sen schreibe ich. Personen müssen etwas von ihrem Geheimnis behalten, so wie wir selber immer nur einen Teil von uns kennen. l Hunkelers neuer Fall: Ein havariertes Hausboot auf dem Rhein. Ein Theaterskandal. Und ein paar alte Rechnungen. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MDcxsQAAhYkmIA8AAAA=</wm> e unter stermin ch g n su e s. L iogene www.d 240 Seiten, Leinen € (D) 19.90 / sFr 35.90* / € (A) 20.50 * unverbindliche Preisempfehlung 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. August 2010 Diogenes www.diogenes.ch Foto: © Bastian Schweitzer / Diogenes Verlag <wm>10CEXKLQ6AMAwG0BOt-dq1-6FyDLUggHACgub-igSDeO6N4Ub4tL4efXMG1AIjqxa3aiQ5OVehbMlRIALGxMoSUxTxf4c2hx1YgBNMz3W_36-kAF0AAAA=</wm> Kolumne Charles Lewinskys Zitatenlese GAËTAN BALLY / KEYSTONE Stil ist die einfache Art, komplizierte Dinge auszudrücken. Charles Lewinsky, 64, ist Schriftsteller, Radio- und TV-Autor und lebt in Frankreich. Sein letztes Buch «Doppelpass» ist 2009 bei Nagel & Kimche erschienen. Kurzkritiken Sachbuch Jürgen Schefzyk, Wolfgang Zwickel (Hrsg.): Judäa und Jerusalem. Bibelhaus, Stuttgart 2010. 254 Seiten, Fr. 37.90. Karl Lüönd: Macht und Ehrlichkeit. Kolumnen aus dem Medienzirkus. Rüegger, Zürich 2010. 229 Seiten, Fr. 28.–. «Leben in römischer Zeit» heisst der Untertitel des Buches. Gemeint sind die Jahre zwischen der Priesterdynastie der Hasmonäer in den letzten zwei Jahrhun derten v. Chr. und der Zerstörung Jeru salems im jüdischen Krieg durch die Römer 70 n. Chr. Wie lebten damals die Menschen im Land der Bibel, was tru gen sie am Leib, wie ernährten sie sich, und wie wurden sie begraben? Das Buch präsentiert anhand des reichen archäo logischen Fundus, hauptsächlich der bi blischen Orte Jerusalem, Judäa und Masada, einen Einblick ins Alltagsleben der zahlreichen religiösen Gruppierun gen, darunter auch der ersten Christen. Von etlichen Fundorten wird sachlich der neueste archäologische Forschungs stand referiert. Obwohl ursprünglich ein Ausstellungskatalog, eignet sich das reich mit Fotos, Grafiken und Karten il lustrierte Überblickswerk als Einstieg in die reale Welt der Zeit Jesu. Geneviève Lüscher Lange Jahre sah man in ihm eine Art Wildschwein des Boulevards: Blattma cher des «Blicks» und zwei Jahrzehnte Chef der «Züri Woche» – spezialisiert auf Busen, Büsi und Skandale. Dazu war er ein Feindbild des Medienmainstreams und der politischen Linken. Dann, 1999, machte sich Karl Lüönd selbständig, schrieb reihum für renommierte Blätter und erhielt 2007 – wohlverdient – den Zürcher Journalistenpreis für sein publi zistisches Lebenswerk. Der Vollblut schreiber mit dem träfen Witz und den trockenen Pointen gilt heute als eine In stanz des unabhängigen Journalismus. Der vorliegende Band enthält rund 60 wochenaktuelle, teils immer noch le senswerte Kommentare Lüönds aus den letzten zehn Jahren. Das angehängte Porträt aus der Feder des TAJournalis ten Constantin Seibt hingegen, wiewohl inhaltlich zutreffend, kommt etwas an biedernd daher. Urs Rauber Bernhard von Arx: Konfrontation. Die Wahrheit über die Bourbaki-Legende. NZZ Libro, Zürich 2010. 238 Seiten, Fr. 38.–. Fritz Schwarz: Wenn ich an meine Jugend denke. Erinnerungen. Synergia, Darmstadt 2010 (Neuauflage). 144 Seiten, Fr. 20.50. Das Panorama in Luzern verankert die Szene bis heute im helvetischen Kollek tivgedächtnis: der Übertritt von über 80 000 zerlumpten und halberfrorenen französischen Soldaten der Bourbaki Armee in die Schweiz in den ersten, eis kalten Tagen des Februars 1871. Bern hard von Arx erzählt nun den politi schen Hintergrund zu diesem Ereignis, insbesondere den Machtkampf zwi schen dem grosssprecherischen Bun desrat Emil Welti und dem redlichen General Hans Herzog, beide Aargauer. Im Stile sogenannter Faction – einer ganz auf historischen Fakten basieren den Fiktion – gelingt es dem Autor vor züglich, aus dem spröden Material der Bundesratssitzungen, Depeschen und Rücktrittsgesuche, der fehlenden Kom panien und verspäteten Züge eine in jeder Hinsicht «echte» Geschichte zu schmieden. Kathrin Meier-Rust Vom Lehrer, Politiker und Publizisten Fritz Schwarz (1887–1958) sind kurz nach seinem Tod Lebenserinnerungen er schienen, die von seinen Nachkommen nun neu aufgelegt werden. Sie führen uns zurück ins Emmental am Ende des 19. Jahrhunderts. Fritz kommt als 15. Kind einer bibeltreuen Bauernfamilie zur Welt. Der aufgeweckte Bub geht gerne zur Schule, liest alles, was ihm in die Hände kommt. Der Autor schildert eine Welt, die noch von Petroleumlampen er hellt wird, kein Radio und erst wenige Autos kennt. Eine Zeit, in der man zu Fuss vom Bernbiet an den Bodensee wandert und Velozipedisten auf dem Hochrad fahren. Vor dem Ersten Welt krieg schliesst sich Fritz den Absti nenzlern an, wird Sozialist. Bekannt wurde er später als Freiwirtschaftler, seine Schriften zur Zinsknechtschaft indes sind kaum noch aktuell. Urs Rauber Jean Cocteau Vielleicht werde ich es eines Tages furchtbar bereuen. Vielleicht werde ich mich jeden Tag ohrfeigen, weil ich nicht mitgemacht habe. Vielleicht habe ich gerade die Chance meines Lebens verpasst. Und das nur, weil ich nicht richtig Deutsch kann. Denn es könnte ja sein, dass das Buch, an dem ich mitarbeiten sollte, ein riesiger Erfolg wird. Vielleicht schlägt es alle Verkaufsrekorde von Zauber lehrlings und Vampirsagas. Obwohl darin weder Zauberlehrlinge noch Vampire vorkommen. Vermute ich. Das ist ja eben mein Problem: Ich habe nicht begriffen, um was es in diesem Buch geht. Es war so: Eine nette Professorin von einer netten kanadischen Universität lud mich per EMail dazu ein, einen Text für eine Anthologie zu verfassen. «Transkulturelle Begegnungen in den Schweizer Literaturen des 21. Jahrhun derts» sollte sie heissen. Ein fetziger Titel, zugegeben. Wer ihn liest, stürmt zweifellos die Bücherregale und kauft auch gleich noch ein Geschenkexem plar für die Erbtante. Nur ich werde nichts davon haben. Weil ich zu blöd war, diesen Titel zu verstehen. Ich gebe es zu: Ich weiss nicht, was eine trans kulturelle Begegnung ist. Mea maxima culpa. Die nette Briefschreiberin hatte diese konstitutive Blödheit wohl vorausge sehen und erklärte mir deshalb das Thema der geplanten Anthologie noch einmal in simplen Worten. Solchen, die auch ein akademisch ungebildeter Schriftsteller verstehen kann. «Die Thematik», schrieb sie, «ist der Para digmawechsel von der multikulturellen zur kulturell hybriden Schweizer Lite ratur.» Und schon wieder verstand ich nur Bahnhof. Bis mir dann klar wurde, dass ich das Opfer einer Intrige geworden sein muss. Dass ich ein kompletter Aussenseiter bin. Das schwarze Schaf der Schweizer Literatur. Denn ganz offensichtlich haben alle anderen Autoren die Ein ladung verstanden. Schauen sich schon mal nach Villen an der Goldküste um, die sie mit den Tantiemen aus dieser Antho logie finanzieren werden. Haben sich heimlich irgendwo getroffen (in Olten, vermute ich) und beschlossen, ab sofort ihr Paradigma zu wechseln. Nur mir hat keiner was gesagt. Beim Nachtisch haben sie dann noch in gemeinsamer Arbeit die Literatur hybridisiert. Und ich war nicht eingeladen. Kollegen können ja so gemein sein! PS: Unterdessen ist mir doch noch klar geworden, was eine transkulturelle Begegnung ist. Sie findet dann statt, wenn jemand mit aku ter Fremdwortitis einem noch nicht Befallenen eine EMail schickt. 29. August 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Klassiker Im Mai 2011 würde Max Frisch 100 Jahre alt. Eine neue Biografie verknüpft romanhaft das Werk mit seinem Leben Ingeborg Gleichauf: Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch – eine Biografie. Nagel & Kimche, Zürich 2010 (erhältlich ab 6. September). 272 Seiten, Fr. 29.90. Von Claudio Habicht Max Frisch. Bei diesem Namen kommen Erinnerungen und Emotionen hoch. Denn Max Frisch, das ist Schullektüre. Auf harten Stühlen brüten Jugendliche über «Stiller» oder «Biedermann und die Brandstifter», schauen sich viel leicht Volker Schlöndorffs Verfilmung von «Homo faber» an. Danach ist oft Schluss. Frisch hat Staub angesetzt, seine Bücher interessieren nur noch wenige. Wenn der Autor von Weltruf heute Schlagzeilen macht, dann meist, weil aus seinem Nachlass unveröffent lichte Manuskripte publiziert werden. Jüngstes Beispiel: die intimen «Entwür fe zu einem dritten Tagebuch». Gegner und Befürworter der Publikation haben sich wochenlang zerfleischt – mit Lite ratur hat die Debatte wenig zu tun. Max Frisch hat dasselbe Schicksal erlitten wie so mancher Klassiker der Moderne: Freiwillig lesen ihn nur noch Liebhaber. Das könnte sich ändern – zu mindest vorübergehend. Nächstes Jahr am 11. Mai wird Frischs hundertster Ge burtstag gefeiert. Bereits am 4. April jährt sich zum zwanzigsten Mal sein To destag. Eine Flut von Publikationen ist zu erwarten. In diesen Tagen erscheint das erste Jubiläumswerk: eine Biografie aus der Feder der deutschen Germanis tin Ingeborg Gleichauf. Die Messlatte ist hoch angesetzt. FrischExperten warten seit Jahren auf ein biografisches Standardwerk. Diesen Anspruch kann Gleichauf nicht einlö sen. Das will sie aber auch nicht. Sie hat eine solide, einfach verständliche Bio grafie für Interessierte und Laien ver fasst. Also keine neu entdeckten Werke 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. August 2010 oder bislang unbekannte Frauenge schichten. Die Wissenschaftlichkeit lei det nicht darunter: Fleissig hat die Auto rin Frischs Werk gelesen, Sekundärlite ratur konsultiert, lebende Bekannte von Frisch getroffen. Was ihr Buch so lesens wert macht, ist die romanhafte Schreibe, mit der sie den trockenen Fakten Leben einhaucht. Gleichauf berichtet von Max Frisch (den sie persönlich nie getroffen hat) wie von einem alten Freund, ver webt sein Leben zu einer spannenden Erzählung – das umfangreiche Werkre gister erlaubt es zudem, in den Origi nalen nachzublättern und so Frisch neu zu entdecken. Einziger Wermutstropfen: Gleichaufs Ausführungen sind manch mal ein wenig zu plauderhaft. Die Existenz als Bürger lockt Geboren wird der kleine Max, Maxli oder Mägi am 15. Mai 1911 in Zürich. «Ein Kind wie jedes andere», schreibt Gleich auf. Im Gymnasium lernt er das Theater kennen und ist fasziniert, weil auf der Bühne immer wieder neu beginnen kann, was im Leben unwiederholbar ist. In Frischs jugendlichem Theaterinteres se macht Gleichauf bereits die grossen Themen des künftigen Schriftstellers aus: Aufbruch und Neuanfang. 1932 stirbt sein Vater, Frisch muss sich wäh rend des Germanistikstudiums als Jour nalist über Wasser halten. Nebenbei ver sucht er sich als Schriftsteller. Nach einigen Jahren intensiven Schreibens verbrennt Frisch jedoch alles bisher Verfasste, aus Furcht vor der Bodenlo sigkeit des Literatendaseins. Den jungen Frisch lockt die bürger liche Existenz. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs beginnt er ein Ar chitekturstudium an der ETH Zürich. «Er möchte ein Bürger unter Bürgern sein, ein Mensch unter Mitmenschen», schreibt Gleichauf. 1942 – nach Aktiv dienst und Studienabschluss – heiratet er Constanze von Meyenburg und grün FERNAND RAUSSER / KEYSTONE Max Frisch neues Leben eingehaucht det eine Familie. Er hofft, dass ihn dieser Schritt von seiner «unfruchtbaren Ego zentrik» löst. Das Schreiben gibt er je doch nie ganz auf. Die Folge: «Er lebt bürgerlich und unangepasst, gehört dazu und ist Aussenseiter.» Diese Dop pelrolle birgt Zündstoff. 1954 verlässt Frisch Frau und Kinder und wendet sich ganz dem Schreiben zu. Der Drang nach Geborgenheit beglei tet Frisch auch nach der Lossagung vom geordneten Leben. 1958 lernt er die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann kennen und zieht mit ihr zusammen; seinen Heiratsantrag lehnt sie allerdings ab. Gleichauf resümiert, dass sich Frischs Widersprüche nirgends so deut lich zeigen wie in der Beziehung zu Bachmann. «Der Unbehauste, der immer auf der Suche ist nach einem Haus, der Häusliche, der die Unbehaust heit braucht.» Nach einigen Jahren tren nen sie sich. Auf Bachmann folgt die junge Studentin Marianne Oellers. Sie heiraten, bleiben viele Jahre zusammen; 1979 lassen sie sich scheiden. Alice LockeCarey heisst seine nächste Part nerin – auch diese Beziehung hält nicht. Die letzte Frau an seiner Seite ist Karin Pilliod, sie bleibt bis zu seinem Tod am 4. April 1991 bei ihm. Frischs Bezie hungen zeigen exemplarisch die Zerris senheit und Rastlosigkeit, die auch seine Werke prägen. Immer geht es um exis tenzielle Fragen, den Kampf zwischen Alltäglichem und Freiheitsdurst, die Ge schlechterthematik. Nerv der Zeit getroffen Der Durchbruch zum anerkannten Autor gelingt Frisch mit dem Kriegs stück «Nun singen sie wieder», das 1945 Premiere hat. In den 50er Jahren avan ciert Frisch zu einem der wichtigsten Romanautoren der Zeit: Mit «Stiller» (1954) trifft er den Nerv der Zeit – die Max Frisch, 69-jährig, in seinem Haus in Berzona im Tessin, wo er sein Bedürfnis nach einem Zuhause eine Zeitlang befriedigen konnte (1980). Geschichte des Künstlers Anatol Stiller, der seine Identität verleugnet und noch einmal von vorne anfangen will, ver deutlicht die Rollenhaftigkeit des Da seins. Auch in «Homo faber» (1957) und «Mein Name sei Gantenbein» (1964) fragt sich Frisch, wie man der Unaus weichlichkeit des eigenen Ichs entgehen kann. Frisch «probiert Geschichten an», die sein Leben sein könnten, schreibt Gleichauf. Auch seine drei Tagebücher, die viel Persönliches offenbaren, und «Montauk» (1975), eine Mischung von Autobiografie und Biografie, schreibt Frisch unter der Maxime «Schreiben heisst: sich selber lesen». Frisch vergisst dabei die Welt um sich herum nicht. Mit dem Alter äussert er sich verstärkt politisch und gesellschaft lich. Seine Hauptkritik gilt dabei der Schweiz. Frisch, der «patriotische Welt bürger», schreibt gegen Überfremdungs ängste an, die Armee, die Abschottung nach aussen, die Verklärung der eigenen Geschichte, den träge machenden Wohl stand – und nicht zuletzt gegen die Uto pielosigkeit der Schweizer Gesellschaft. Schreiben ist für ihn auch Gegenposi tion zur Macht. 1971 erscheint sein sub versiver «Willhelm Tell für die Schule» und provoziert heftige Reaktionen. Es folgt das «Dienstbüchlein» (1974), in dem er seine Aktivdienstzeit kritisch hinterfragt. Die Armee begleitet ihn bis kurz vor seinem Tod: 1989 – die Schweiz begeht die Diamantfeier und stimmt über die Abschaffung der Armee ab – er scheint der Dialog «Schweiz ohne Armee? Ein Palaver». Dann der Schock: Bereits schwer erkrankt erfährt Frisch 1990, dass er jahrzehntelang fichiert wurde. «Die Primitivität dessen, was Frischs Heimatland sich hier geleistet hat, ist nicht zu überbieten», schreibt Gleichauf. Kurze Zeit später stirbt Max Frisch in seiner Wohnung in Zürich. l 29. August 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Weltwirtschaft Helmut Schmidts Tochter Susanne arbeitete 20 Jahre in Londoner Geschäftsbanken. Nun liefert sie einen profunden Einblick in die Finanzelite Susanne Schmidt: Markt ohne Moral. Das Versagen der internationalen Finanzelite. Droemer, München 2010. 208 Seiten, Fr. 33.50. Von Gerd Kolbe Altbundeskanzler Helmut Schmidts Tochter Susanne ist ihrem Vater gefolgt und unter die Buchautoren gegangen. 30 Jahre Londoner City, davon 20 Jahre bei verschiedenen Banken, 10 Jahre als Fern sehmoderatorin beim deutschsprachi gen Fernsehkanal des Finanzdienstleis ters Bloomberg, sind an ihr nicht spur los vorübergegangen. Sie kennt den Bankensektor in und auswendig. Ihre Schilderung der Vorgänge, die 2008 zur weltweiten Finanzkrise führten, basie ren auf eigenem Erleben und sind gera de deshalb für jedermann verständlich. Nach London war die 1947 geborene Ökonomin unfreiwillig gekommen. Deutschland litt unter dem Terror der RoteArmeeFraktion. Auch Susanne Schmidt konnte nicht ohne Personen schutz über die Strasse. Deutsche Kre ditinstitute wollten sie allenfalls im Backoffice beschäftigen. Sie aber dräng te ins Kundengeschäft. Dies ging aber nur in London. Margaret Thatcher war gerade erst ins Amt gekommen. Noch war die gute alte Bankenwelt heil. Die Männer – und nur sie zählten in der City – spazierten noch mit Bowler und Regenschirm umher. Der ausgedehnte Lunch war ein gepflegtes Statussymbol. Doch dann traten an die Stelle der Ban kiers aus traditionsreicher Familie stark gewinnorientierte Investmentbanker. Die Mittagspause wurde durch abendliche Alkohol und Drogenexzesse ersetzt. So Susanne Schmidt zur Einfüh rung. Wer undifferenzierte Kritik erwar tet, wird enttäuscht. So nimmt Schmidt die in Deutschland als Heuschrecken verunglimpften Hedgefonds in Schutz. Nicht sie hätten die Katastrophe zu verantworten, son dern regulierte Banken und auch Versi cherungen, die sich die desaströsen Ge schäftsmodelle mit ihren Derivaten und Verbriefungen ausdachten. Die wahren Heuschrecken seien die PrivateEquity Gesellschaften. Als einen der Hauptschuldigen be nennt Schmidt den langjährigen US Notenbankpräsidenten Alan Greenspan, weil dieser doch die hohe Liquidität für die waghalsigen Geschäfte der Banker erst schuf. Das Versagen der Aufsichtsbehörden kommt zur Sprache und die Interessen konflikte der Ratingagenturen. Die Wur zel allen Übels sieht Schmidt in den Unternehmen, die zu gross zum Schei tern sind. Ihnen habe der Staat und mit ihm der Steuerzahler bisher jegliches Risiko abgenommen. Immer nach dem Motto: «Gewinne werden privatwirt schaftlich vereinnahmt, Verluste auf die Gesellschaft als Ganzes verteilt.» Die Manager kassierten ihre Boni, lange bevor erwiesen sei, dass sich das üppig honorierte Geschäft für die Bank auch gelohnt habe. Damit einher gehen laut Susanne Schmidt der moralische Verfall des Bankgewerbes, die Spielermentalität be gabter Mathematiker, der tägliche Exis tenzkampf und das Herdenverhalten. Die Autorin schildert, wie ihre Kollegen sich als Hacker betätigten, um Analysen aus ihrem Computer zu klauen. Oft waren gewissenhafte Recherchen bei FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG / J.H. DARCHINGER Als aus Bankiers Banker wurden Susanne Schmidt mit ihrem Vater Helmut am Flughafen Köln/ Bonn, Juli 1973. Die Biografie einer unkonventionellen Frau, deren wohlgeordnetes Leben im Luzerner hinterland der 1940er Jahre aus den Fugen gerät. den Chefs gar nicht gefragt. Als ihre Pro gnose von der bevorstehenden Zah lungsunfähigkeit Russlands tatsächlich eintrat, stand Susanne Schmidt schon seit zwei Wochen auf der Strasse. Niemand braucht sich bei der Lektüre des Buches vor unverständlichen Fach ausdrücken zu fürchten. Sie werden in einem Glossar sachkundig erläutert. Fast ist der Autorin ein Nachschlage werk gelungen. Jedenfalls bietet es profunde Einbli cke in die Finanzwelt. Die Banker ohne Moral und ethische Orientierung aller dings werden sich vermutlich wie so oft in letzter Zeit gar nicht erst angespro chen fühlen. Schade. l Andrea Blunschi Die Frau des Dorfarztes und der Wehrmachtoffizier Eine Spurensuche Chronos seit 25 Jahren Bücher zur Zeit <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NLU0MQEAxrchtg8AAAA=</wm> <wm>10CEXKIQ6AMAwF0BOt-S3r1lIJQy0IIJyAoLm_IsEgnnu9hxI-U1uPtgUDWROzes6hriS1BLtQ1RIwNgFjhKOoDSbx7zTNaQcW4ATTc90vStMgNF0AAAA=</wm> Andrea Blunschi Die Frau des Dorfarztes und der Wehrmachtoffizier Eine Spurensuche 2010. 224 S. 70 Abb. Geb. CHF 32 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. August 2010 Chronos Verlag Eisengasse 9 8008 Zürich www.chronos-verlag.ch [email protected] Zeitgeschichte Der englische Historiker Timothy Garton Ash legt brillante Essays zum ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts vor – ein Stück ästhetische Geschichtsschreibung Mit dem Notizblock vor Ort Timothy Garton Ash: Jahrhundertwende. Weltpolitische Betrachtungen 2000– 2010. Hanser, München 2010 (erhältlich ab 6. September). 496 Seiten, Fr. 38.90. Timothy Garton Ash (55) gehört zu den Geisteswissenschaftern, die solides Handwerk mit einer brillanten Sprache verbinden. Der britische Historiker lei tet das European Studies Centre am St Antony’s College in Oxford und ist Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University (Kalifornien). Der Chronist der Revolutionen von 1989 – auf Deutsch sind von ihm u. a. erschie nen «Ein Jahrhundert wird abgewählt» (1990) und «Zeit der Freiheit» (1999) – kombiniert analytischen Scharfsinn mit gestalterischer Kraft zur packenden Geschichtsdarstellung. Auch sein neuestes Werk ist Storytel ling in diesem typisch angelsächsischen Sinne: eine Sammlung von 50 Aufsätzen, Vorlesungen und Essays aus den Jahren 1999 bis 2010, die meisten erstmals in der «New York Review of Books» oder im englischen «Guardian» erschienen. Natürlich kommt es bei einer solchen Kompilation zu Überschneidungen und Wiederholungen. Manche aus der Aktu alität heraus entstandenen Texte wer den mit nachträglichen Korrekturen versehen, ab und zu wird ein Irrtum ein geräumt oder ein Akzent verschoben. Das verleiht den Texten Authentizität: Man blickt dem Autor gleichsam über die Schultern und verfolgt das allmähli che Entstehen der Erkenntnisse. Stringente Methodik Die erste Dekade des 21. Jahrhunderts beginnt für Ash mit dem 11. September 2001, als George W. Bush eine neue Ära verkündet, den «globalen Krieg gegen den Terror», und endet mit der Weltfi nanzkrise und Barack Obamas Wahlsieg am 4. November 2008. Die Wahlnacht erlebt der Autor live in Washington DC. Damit ist auch ein wesentliches Merk mal von Ashs Geschichtsmethodik an gesprochen. Seine Arbeiten entstehen in einem dreiteiligen Zyklus von Recher che, Lokaltermin und Reflexion. «In der Anfangsphase zapfe ich die Quellen meiner beiden Universitäten Oxford und Stanford an: ihre ausserge wöhnlichen Bibliotheken, ihre Spezia listen auf allen Gebieten und Studenten aus allen Weltgegenden. So verfüge ich, noch bevor ich einen Fuss vor die Tür setze, über ein Konvolut von Notizen, kommentiertem Material und Einfüh rungen zum Thema.» In der zweiten Phase mutiert der Historiker zum Jour nalisten, reist an den Ort des Gesche hens und arbeitet mit geöffnetem Notiz buch, indem er alle möglichen Leute befragt. Die letzte Phase zu Hause im DOUG MILLS / AP Von Urs Rauber Arbeitszimmer ist der Reflexion und dem Schreiben gewidmet. Nur so könne Geschichte der Gegenwart betrieben werden, schreibt Timothy Garton Ash, dieses «Zwittergewerbe zwischen Wis senschaft und Journalismus». Die Texte sind aus liberaler britischer und zugleich europäischer Position geschrieben. Ash sieht die EU als einen «Baustein für die freie Welt», nicht als Selbstzweck. Klug beschreibt er das politische Potenzial Kanadas, das ein «perfektes EUMitglied» wäre. Atmo sphärisch dicht und ironisch dagegen schildert er einen Besuch im «Pseudo staat» Transnistrien. Fesselnd erzählt er von seiner Begegnung mit George W. Bush, der ihn mit weiteren Experten zu einem Briefing für seine erste Europa reise ins Weisse Haus eingeladen hat. Aufschlussreich sind die Reportagen über Länder wie Iran, Brasilien, Ägyp ten oder Burma («Die Schöne und das Biest»). Sie stellen eine Mischung aus anschaulich geschriebenen Features und kenntnisreichen Analysen dar. Ein publizistisches Meisterstück ist Timothy Garton Ashs Essay über den Antieuropäismus in den USA. Gleich sam als Spiegelbild des Antiamerikanis mus, der seit 1967 in der europäischen Linken grassiert, entwickelte sich in den 1980er Jahren und dann verstärkt ab 2002 in der amerikanischen Rechten eine ausgeprägte Europafeindlichkeit: Die Europäer, die sich nach anfänglicher verbaler Solidarität aus dem Krieg gegen den Terror heraushielten, seien «Weich eier». Der konservative Publizist Jonah George W. Bush auf dem Gelände des World Trade Centers in New York, am 14. September 2001: ein Wendepunkt der amerikanischen Geschichte. Goldberg spricht von «EuroWeenies» («Würstchen»), die ihren moralischen Kompass und ihr Rückgrat verloren hät ten. «Sie geben ihre Euros für Wein, Ferienvergnügen und einen aufgeblase nen Wohlfahrtsstaat aus, statt sie in die Verteidigung zu stecken. Sie höhnen aus den Kulissen, während Amerika die harte und schmutzige Aufgabe über nimmt, für die Europäer die Welt zu befrieden.» Geschichte unterhaltsam Dieses EuropaBashing trifft die Briten unter Tony Blair etwas weniger. Die schlimmsten Schmähungen gelten den Franzosen und den Deutschen, deren Kanzler Gerhard Schröder seine Wie derwahl dem Zücken der antiamerikani schen Karte verdanke. Robert Kagan resümierte: «Amerikaner kommen vom Mars und Europäer von der Venus.» Erhellend sind auch verschiedene Porträts, so über Günter Grass, Isaiah Berlin und George Orwell. Letzteren nennt der britische Historiker «den John F. Kennedy der englischen Litera tur». An seinen Büchern – vor allem «1984» und «Farm der Tiere» – komme niemand vorbei, der das 20. Jahrhundert verstehen wolle. Diese und manch ande re lesenswerte Beiträge im fast 500 Sei ten starken Sammelband verdeutlichen, dass Timothy Garton Ashs «weltpoliti sche Betrachtungen» nicht allein hoch interessante Beiträge zur Zeitgeschichte darstellen, sondern auch ein gutes Stück ästhetischer, ja unterhaltsamer Ge schichtsschreibung. l 29. August 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 TED S. WARREN / AP Sachbuch Marktwirtschaft Krisen gehören zum Kapitalismus. Nur wer sich dumm verhält, geht mit ihnen unter. Das jedenfalls ist Starökonom Nouriel Roubinis Sicht der Finanzkrise Dr. Doom wäre lieber Dr. Realist Nouriel Roubini, Stephen Mihm: Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft. Campus, Frankfurt a. M. 2010. 470 Seiten, Fr. 37.90. Von Charlotte Jacquemart Der amerikanische Wirtschaftsprofes sor Nouriel Roubini war nicht der einzi ge, der die Finanzkrise voraussah. Der an der Stern School of Business der New York University unterrichtende Öko nom war aber einer der wenigen, die regelmässig, penetrant und schon sehr früh (ab 2006) vor dem Kollaps des ame rikanischen Immobilienmarktes warn ten und die Folgen daraus ziemlich genau skizzierten. Das brachte dem ehe maligen Wirtschaftsberater von Bill Clinton den Spitznamen Dr. Doom (Dr. Untergang) ein. Diesen Übernamen möge er zwar nicht mehr, gestand Roubini der «Financial Times» im Mai 2010. Lieber nenne er sich heute Dr. Realist. Offensichtlich ist: Roubini hat genug davon, primär als jener gesehen zu wer den, der das Desaster vorhersagt. Viel mehr möchte er konstruktive Ratschlä ge erteilen, seine «Weisheit anderen zur Verfügung stellen». Mit den anderen sind die Mächtigen dieser Welt gemeint: Regierungen, Zentralbanken, Aufsichts behörden, internationale Organisatio nen. Diese kleben denn auch geradezu an den Lippen des neuen «rising star» unter den ökonomischen Wissenschaf tern. Was immer seine eigene Consul tingFirma Roubini Global Economics (www.roubini.com) gerade analysiert oder wo immer der Professor als Redner eingeladen ist: Die Einschaltquote ist konstant hoch. Selbst Hollywood kann sich dem Bann von Dr. Doom alias Dr. Realist nicht entziehen: Gleich in zwei Filmen macht Roubini zurzeit seine Auf wartung, so in «Wall Street» und in «Inside Job», die sich beide dem Nieder 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. August 2010 gang der New Yorker Börse widmen. So eindringlich der Professor vor den Ungleichgewichten in den globalen Finanzmärkten gewarnt hat, so clever vermarktet er heute den damit gewon nenen Ruhm. Was liegt näher, als solche Erkennt nisse in einem Buch auf den Markt zu bringen. CoAutor des gut 400seitigen Werkes ist der USJournalist und Histo riker Stephen Mihm. Lautete der Titel der englischen Version noch «Crisis Economics», so deutet der deutsche Titel «Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft» bereits auf die veränderte Selbstwahrnehmung der Autoren hin. Es gibt auch nach Krisen und Apokalypse eine Zukunft. Im Gegensatz zu früheren Werken Roubinis wie «Political Cycles and Macroeconomy» oder «New Inter national Financial Architecture», die kaum jemanden hinter dem Ofen her vorgelockt haben dürften, ist sein jüngs tes Buch ein Renner. Wie ein Wirtschaftskrimi Und dies zu Recht – egal, was man von der PRMaschinerie des Ökonomiepro fessors hält. Das Buch liest sich wie ein Krimi und erklärt so fast alles, was Laien im Zusammenhang mit der Finanzkrise interessieren könnte: Wie konnte die Blase entstehen, wieso platzte sie gera de 2007/2008, was hat versagt? Und, vielleicht am wichtigsten: Wie müssen die Finanzmärkte reguliert werden, damit eine nächste Krise das System nicht ganz aus dem Rahmen hebt? Besonders verdienstvoll daran: Schön säuberlich listen Roubini und Mihm alle Finanzkrisen der letzten 400 Jahre auf, erklären ihre Gründe und ziehen Paral lelen. Ein Fundus für Fans der Wirt schaftsgeschichte. Klar wird bei der Lektüre, dass sich seit John Maynard Keynes nicht allzu viel verändert hat, auch wenn sich die spezifischen Ausprägungen der jewei Arbeitssuchende in Tacoma (Washington) stehen Schlange für einen Job, 27. April 2010. ligen Krisen voneinander unterschei den. Keynes sagte 1933 während der damaligen, brutalen Weltwirtschafts krise: «Der dekadente internationale und individualistische Kapitalismus, in dessen Händen wir uns nach dem Ersten Weltkrieg befanden, ist ein Misserfolg. Er ist weder intelligent, noch schön, noch gerecht, oder tugendhaft, und vor allem hält er nicht, was er verspricht. Er gefällt uns nicht, und wir fangen allmäh lich an, ihn zu hassen. Aber wenn wir uns fragen, was an seine Stelle treten soll, dann haben wir keine Antwort.» Paradigmenwechsel Mit Keynes feiern in der aktuellen Krise auch andere Querdenker der Ökonomie wie Joseph Schumpeter, Irving Fisher oder gar Karl Marx wieder Urständ. Roubini wertet dies als positives Signal dafür, dass ein Paradigmenwechsel im Gange ist. Endlich erkenne man, dass die Hohepriester der Deregulierung, der alle Probleme lösenden effizienten Märkte und der modernen Finanzpro dukte falschgelegen hätten. Nicht die Schrotthypotheken des amerikanischen Immobilienmarktes seien schuld am FastKollaps des Finanzsystems, son dern das Schrottsystem per se. Nicht Deregulierung und «finanzielle Innovation» seien die Heilsbringer, son dern rigide, weltweit geltende Regeln für die Entlöhnung der Banker, Verbrie fungen, Derivate, Ratingagenturen und grosse Finanzinstitute. Letztlich macht sich aber auch Roubini nichts vor, schliesslich ist er Realist: Krisen an den Märkten hat es in der Geschichte immer gegeben. Auch die Zukunft wird uns davor nicht verschonen. Nur wer sich Krisen gegenüber nicht gleichzeitig naiv, dumm und arrogant verhalte, könne lernen, mit ihnen zu leben. Die soeben verabschiedete Finanzmarkt reform in den USA dürfte ein Schritt in Roubinis Richtung sein. l DDR Die Schriftstellerin Anna Seghers erweist sich in ihren Briefen als treue Parteigängerin des Sozialismus Anna Seghers: Tage wie Staubsand. Briefe 1953–1983. Hrsg. Chrstiane Zehl Romero und Almut Giesecke. Aufbau, Berlin 2010. 645 Seiten, Fr. 59.90. Von Manfred Koch Von 1949 an, dem Gründungsjahr des zweiten deutschen Staates, war Anna Seghers die Galionsfigur der DDRLite ratur, Trägerin des StalinFriedens preises und zahlreicher anderer «Vater ländischer Verdienstorden», von 1952 bis 1978 zudem Vorsitzende des DDR Schriftstellerverbands. Es ist bekannt, dass sie das SEDRegime niemals öffent lich kritisiert hat. Nun ist ein Auswahl band mit Briefen aus ihrer Zeit in der DDR erschienen, jenem Land, das bereits sechs Jahre nach ihrem Tod (1983) unterging. Hat sie sich wenigs tens in vertraulichen Mitteilungen ge gen die Parteilinie gestellt? Eine Autorin – könnte man denken –, die in ihren Exil romanen so eindringlich den NSTerror und die Leiden der Verfolgten geschil dert hat, darf doch nicht derart blind gegenüber der neuen, realsozialis tischen Diktatur gewesen sein. Wer den Briefband in diesem Sinn gutwillig aufschlägt, wird enttäuscht werden. Ausgerechnet bei dieser politi schen Schriftstellerin gewinnt man den Eindruck, ihr Leben habe sich jenseits der Geschichte abgespielt: kein Wort zum Mauerbau 1961, zum Einmarsch in die CSSR 1968, zur BiermannAusbür gerung 1976! Anlässlich des Berliner Arbeiteraufstands vom 17. Juni 1953 spricht sie in einem Brief an ihren russi schen Übersetzer nur von den «zwei, drei verrückten Junitagen» und lobt die Zurückhaltung der russischen Truppen. Einige Monate zuvor hatte sie ihr Ver waisungsgefühl nach Stalins Tod be klagt. Zweierlei muss man Seghers zugute halten. Während sie in offiziellen Stel lungnahmen stets die staatliche Gewalt gegen die «konterrevolutionären» Um triebe rechtfertigte, sind ihre Briefe frei von SEDPropagandadeutsch. Seghers’ Schweigen ist beredt und deutet tat sächlich auf ein wachsendes Unbehagen angesichts der gewaltigen Kluft zwi schen heiliger Idee und deprimierender Realität des Sozialismus. Zum zweiten entkam auch die treue Genossin Seghers keineswegs dem DDRÜberwachungs apparat. Ab 1956 wurde sie von der Staatssicherheit observiert, hatte also mit der Kontrolle ihrer Post zu rechnen. So kann sie sich nur verschlüsselt über jene Gewaltmassnahme äussern, die sie vermutlich am meisten erschüt tert hat: die Niederschlagung der unga rischen Volkserhebung 1956. Viele ihrer alten Freunde und Kampfgefährten gerieten damals in Lebensgefahr oder wurden zumindest inhaftiert. Sie berich tet ihrem Dichterkollegen Jorge Amado darüber in der Bildlichkeit des Mär chens von den «Sieben Raben». Sie, Anna, ist nun die Schwester, die in die sem Fall ihre in schwarze Vögel verwan ADN / ULLSTEIN Schwarze Raben, federlos Die Schriftstellerin Anna Seghers (1900–1983) mit Parteichef Erich Honecker im trauten Gespräch, 17. September 1976. delten Brüder nicht mehr retten kann: «Das fehlt mir sehr – die Möglichkeit, meine Raben wiederzusehen, wann immer ich es nötig habe. Wenn ich sie wiedersehe, werden sie keine Federn mehr haben.» Seghers’ unerschütterlicher Glaube an die Zukunft der sozialistischen Idee hat etwas von einem «Credo quia absurdum». Im nächsten Brief an Amado schreibt sie, vielleicht müsse «ein Wun der» geschehen, hält anschliessend aber fest: «Es ist viel kälter als früher.» Auf fällig häufig taucht nun die Erinnerung an ihr Exilland Mexiko als wahre, verlo rengegangene Heimat auf. Glücklich war Anna Seghers in der DDR gewiss nicht. Sie glaubte jedoch, um der «Sache des Sozialismus» willen diszipliniert durchhalten zu müssen. Fatalerweise hielt sie es für gerechtfertigt, im Sinn dieser Disziplin ein ganzes Volk einzu sperren. l Religion Ob es je eine Frau auf dem Papstthron gab, ist fraglich – doch der Mythos ist quicklebendig Brauchen wir eine Päpstin? Max Kerner, Klaus Herbers: Die Päpstin Johanna. Biographie einer Legende. Böhlau, Köln 2010. 174 Seiten, Fr. 30.50. Von Geneviève Lüscher Um es gleich vorwegzunehmen: Max Kerner und Klaus Herbers, beides gestandene Historiker, glauben nicht an die Existenz einer Päpstin Johanna. Sie stützen sich dabei auf einen Kirchenhis toriker aus dem 19. Jahrhundert, «nach dessen Untersuchungen sich wohl kaum noch jemand finden lassen dürfte, der die Existenz der Päpstin ernsthaft behauptet». Es geht den Autoren aber nicht um die Päpstin selber, sondern um die Legende. Wie konnte sie überhaupt ent stehen? Der Mythos selber stellt seiner seits eine faszinierende Version von Wirklichkeit dar, existiert also. Er liefert seit Jahrhunderten Stoff für Streitschrif ten, historische Romane, Filme, der neu este kam letztes Jahr ins Kino. Johanna wird angeblich zu Beginn des 9. Jahrhunderts in Ingelheim geboren. Sie erhält Unterricht, flieht als Mann verkleidet in ein Kloster, zieht nach Rom, betätigt sich dort als Arzt und wird Amtsträger der päpstlichen Kanz lei. Die Erhebung zum Papst gelingt ihr um das Jahr 855. Ihr Pontifikat dauert knapp zwei Jahre. Während einer Pro zession gebärt sie ein Kind und stirbt. Die Legende um die Päpstin Johanna entstand aber erst 400 Jahre später. Die Autoren untersuchen, wie es dazu kam, wann und warum sich später verschie dene Versionen entwickelten. Im Spät mittelalter dominierte die frauenfeindli che Variante, die der Päpstin Geilheit und Blasphemie vorwarf. Selbst huma nistische Zeitgenossen wie Boccaccio stimmten in dieses misogyne Lamento ein. Eine löbliche Ausnahme bildete der Zürcher Kirchenpolitiker Felix Hem merlin, der im 15. Jahrhundert Klugheit und vorbildliche Lebensführung der Päpstin lobte. In der Reformation wurde Johanna zum Spielball kirchenpoliti scher Auseinandersetzungen, die Kurie leugnete erstmals ihre Historizität: Eine Päpstin Johanna hat nie existiert. Im 20. Jahrhundert schliesslich instrumen talisierten feministische Pseudohistori kerinnen die Päpstin für ihre Zwecke. Braucht es heute die Päpstin Johanna? Die Autoren sind der Meinung, dass es den Mythos unbedingt brauche. In Johanna bündeln sich «Vorstellungen von weiblichen Fähigkeiten»; für die einen sie ist ein Wunschbild, für die anderen eine Horrorvision. «Wie ande re Mythen brauchen wir auch ihn.» l 29. August 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Biografie Die Berliner Schneiderstochter Käthe Kruse war Lebensreformerin auf dem Monte Verità Puppenmutter wird Geschäftsfrau Gabriele Katz: Käthe Kruse. Die Biografie. Osburg, Berlin 2010. 479 Seiten, Fr. 39.90. Von Irmgard Matthes «Sie war das überschäumende Mäd chen, die Kindfrau, die zarte Geliebte, die liebevolle Mutter und die fürsorgli che Chefin (…) und schliesslich die Pup penmutter, der von grossen und kleinen Kindern eine so leidenschaftliche Ver ehrung entgegengebracht wurde, dass sie (…) direkt nach dem Christkind zu rangieren schien.» Mit diesen Worten skizziert die Historikerin Gabriele Katz die Persönlichkeit der deutschen Pup penschöpferin Käthe Kruse. Diese hat in ihrer 1951 herausgegebe nen Autobiografie ein stark idealisiertes Bild von sich selbst entworfen. Katz gibt nun nach Einsicht in das Familienarchiv eine Lebensbeschreibung, die auch Un bekanntes und Widersprüchliches ins Licht rückt und den sozialgeschichtli chen Hintergrund einbezieht. Käthe Kruse wurde 1883 als uneheli che Tochter einer Näherin in Breslau ge boren und stieg mit 17 Jahren in die Ber liner Theaterszene ein, in der sie als Talent gefeiert wurde. Ihre Liebesbezie hung zu dem 29 Jahre älteren Bildhauer Max Kruse führte die 19Jährige in die Welt eines antibürgerlichen Künstlers, der die Liebe als freie Gemeinschaft ver stand und mit der gesellschaftlich weit unter ihm Stehenden nicht zusammen leben wollte. Vor der Geburt ihres zwei ten Kindes schickte er Käthe zu gleich gesinnten Lebensreformern auf den Monte Verità bei Ascona, wo sie arm und zurückgezogen mit ihren Töchtern lebte. Maria, die Ältere, wünschte sich 1905 vom Vater «una bambina». So ent stand Käthes erste Stoffpuppe aus einem mit Sand und einer Kartoffel gefüllten Handtuch, denn der KünstlerVater hatte geantwortet: «Macht euch selber welche!» Die im Handel erhältlichen Puppen fand er «scheisslich». Seinen Anspruch konnte nur eine Puppe erfül len, die «über die berührende Hand das Herz» ansprach. Käthe versuchte fortan, nach diesem Ideal einen lebensecht ge formten Puppenkörper zu schaffen. 1909 stellte sie auf der Weihnachts ausstellung im Berliner Kaufhaus Tietz mit ihren Puppen alle anderen Exponate in den Schatten: Sie waren 43 cm gross, hatten einen mit Rehhaaren gestopften Stoffkörper, einen individuellen Ge sichtsausdruck, gemalte Haare und ein fache Kleidchen. Sofort setzte die Nach frage von Spielzeughändlern ein. Käthe eröffnete eine eigene Werkstatt und legte so den Grundstein für die Produk tion, die ab 1912 in Bad Kösen (Sachsen Anhalt) anlief und 1947 nach Donau wörth verlegt wurde. Ende der fünfziger Jahre übernahm die nächste Generation die Firma, die Gründerin starb 1968. Gabriele Katz zeigt in ihrer Darstel lung einfühlsam und kritisch, wie Käthe Kruse zielstrebig und mit unerschöpfli cher Vitalität ihr Lebenswerk aufbaute. Sie bildete ihre Mitarbeiter selber aus, überprüfte bis ins Detail die Einhaltung Wer möchte sie nicht knuddeln? Stoffpuppe von Käthe Kruse (heutige Produktion). der Qualitätsansprüche, passte ihre Werbung zeitgeistigen Strömungen an, kämpfte gegen Plagiate und hatte Erfolg mit Schaufensterpuppen. Wirtschaft liche Not meisterte sie durch Material beschränkung, notfalls durch ideologi sche Zugeständnisse («Soldatenpup pen»). Daneben zog sie mit Hingabe ihre sieben Kinder gross und suchte sie in die Firma einzubinden. Ihrem Mann, der sie als Künstler inspirierte, sie aber le benslang auf Distanz hielt und von ihren Einkünften zehrte, fühlte sie sich bis zu seinem Tod schicksalshaft verbunden. «Wer viel vollenden will, darf wenig träumen» – diesen Spruch aus ihrem Po esiealbum hat Käthe Kruse als wegwei sende Spielzeugherstellerin des 20. Jahr hunderts in der Tat erfüllt. l Kunst Marcel Proust nutzte in seinem Hauptwerk Gemälde als Inspirationsquelle Die «Verlorene Zeit» als Labyrinth aus Bildern Eric Karpeles: Marcel Proust und die Gemälde aus der Verlorenen Zeit. Dumont, Köln 2010. 352 Seiten, Fr. 49.90. Von Gerhard Mack Marcel Proust ist der Claude Monet der Literatur der Moderne. Wie der Maler die Seerosen dem Wechsel des Lichts aussetzte und die Veränderungen der Wahrnehmung darstellte, so fügte der Schriftsteller Erinnerungen und Erfin dungen zu einem Gewebe subjektiver Geistesbewegungen, dessen Schimmer sich dem Leser so schnell verflüchtigen wie die Effekte der Farbe und des Lichts dem Betrachter von Monets Bildern. Marcel Proust hat die bildende Kunst zu einem zentralen Element seiner Lite 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. August 2010 ratur gemacht. Diese lebt von der ästhe tischen Analogie, die wiederum in der Kunst ein Zentrum hat. Lange bevor der Schriftsteller sich in die Salons des Fau bourg SaintGermain begab, durchwan derte er das Labyrinth des Louvre. Weit über hundert Künstler von Giotto bis zu den Futuristen kommen im Hauptwerk, der «Suche nach der verlorenen Zeit», vor. Mantegna, Rembrandt, Tizian und Chardin zählen zu seinen Lieblingen, andere erfindet er samt ihren Werken. Schon der knabenhafte Erzähler wird von der Tante in den Ferien in Combray in die Kunst eingeführt, die Landschaf ten und Bauwerke zu veredeln vermag. Und kaum eine Figur ist ohne Kunst verweis charakterisiert und in einem Bildraum verortet. Von den existenziel len Aussagen des Erzählers ganz zu schweigen. Das berühmte warm leuch tende «kleine gelbe Mauerstück» auf Vermeers «Ansicht von Delft» wird Proust zur Chiffre für das eigene Selbst verständnis. Gleichwohl hat die ProustForschung diese Inspirationsquelle noch nicht un tersucht. Diese Aufgabe blieb dem ame rikanischen Maler und Kunstkritiker Eric Karpeles vorbehalten. Er hat alle Stellen im Text ausfindig gemacht, die Gemälde und Grafiken hinzugezogen, da, wo nur die Künstler erwähnt sind, passende Werke ausgewählt und sie kommentierend im Roman verortet. Ein Register erleichtert die Benutzung. Ent standen ist eine vollständig und in bes ter Qualität bebilderte Fundgrube für Kenner und Liebhaber sowohl des Ro mans wie der Kunst. Wunderbar! l Psychoanalyse In den Briefen an seine Kinder zeigt sich Sigmund Freud als fürsorglicher Vater «… und grüsse Dich herzlich» Sigmund Freud: Unterdess halten wir zusammen. Briefe an die Kinder. Hrsg. Michael Schröter. Aufbau, Berlin 2010. 683 Seiten, Fr. 48.90. Von Sabine Richebächer Dass Sigmund Freud ein wunderbarer Briefschreiber war, wissen wir aus zahl reichen Korrespondenzen zwischen ihm und seinen bedeutenden Schülern und Mitarbeitern wie C. G. Jung, Karl Abraham und Max Eitingon, aber auch aus Briefen an seine Schwägerin Minna Bernays und seine jüngste Tochter Anna Freud, die eine eigenständige Fortsetze rin des väterlichen Werkes war. Jetzt hat der Berliner Soziologe und FreudSpe zialist Michael Schröter wiederum eine hervorragende Edition herausgegeben – es sind die Briefe von Freud an seine fünf älteren Kinder: Mathilde (1887– 1978), Martin (1889–1967), Oliver (1891– 1969), Ernst (1892–1970) und Sophie (1893–1920), die hier erstmals nach den Handschriften veröffentlicht werden. Als Freud diese Briefe schreibt, ist er über fünfzig. Er hat den Professorentitel, nimmt gute Honorare von seinen priva ten Patienten, die häufig aus dem Aus land kommen; seine Werke erscheinen in vielfacher Auflage. Die Psychoanalyse ist eine internationale Bewegung gewor den; es existieren mehrere psychoanaly tische Zeitschriften; und die Erfolge bei der Behandlung von Kriegsneurosen bringen der neuen Wissenschaft endlich die gesellschaftliche Anerkennung. Freud ist ein vielbeschäftigter Mann und muss hart arbeiten, denn er braucht viel Geld: nicht nur für die eigene, viel köpfige Familie inklusive Schwägerin Minna und Personal, sondern auch für den Unterhalt seiner Mutter und deren Schwestern. Mit Martha Bernays führte Freud die zeitübliche arbeitsteilige Ehe, wo die Frau im Alltag für die Kinder zu ständig ist, welche den Vater, ausser bei den Mahlzeiten, kaum zu Gesicht be kommen. War aber Not, waren die Kin der in Sorge oder Bedrängnis, dann galt das ungeschriebene Gesetz, dass man sich an den Vater wenden durfte um Aufmerksamkeit, um Rat, um finanzielle Unterstützung. Was die vorliegenden fünf Briefserien von den bisher veröffentlichten Korres pondenzen unterscheidet, ist ihr rein privater Charakter, der Freud als Vater seiner erwachsenen Kinder zeigt – ohne berufliche Beimengung. Die Briefserien beginnen, als Freuds Söhne und Töchter zwischen 19 und 26 Jahre alt sind – es sind keine Kinder mehr, sondern junge Menschen auf dem Weg zum Erwach senwerden und mit den Fragen dieser Lebensphase beschäftigt: mit Berufs und Partnerwahl, mit Fragen um Ge sundheit und der Kinderfrage. Sexuelles wird offen angesprochen, etwa wenn ULLSTEIN Ratschläge für die Kinder Sigmund Freud (1856– 1939) kümmerte sich um seine Kinder, auch als sie schon erwachsen waren; hier mit seinen Söhnen Ernst und Martin, 1916. Ernst, «das Lümpchen» – so der Vater –, sich «eine kleine Gonorrhö» einfängt, die in Wien «geheim abgemacht» wer den muss. Auch wenn Sophie sich sorgt, nicht hübsch genug zu sein, ist der Vater mit taktvollen Worten an ihrer Seite. Freud schätzte und förderte Frauen in der psychoanalytischen Bewegung – pri vat gelten andere Werte: Für seine Töchter sieht er keine Berufsausbildung vor, sie sollen Ehefrauen und Mütter werden. Einzig Anna Freud, der Jüngs ten, wird der Ausbruch gelingen. Die Ehekandidaten der Töchter sollen in der Lage sein, ihre Familie zu ernähren, sie sollen keine Erbkrankheiten haben und – jüdisch sein. Ansonsten dürfen die Töchter selber wählen. Familie ist auch Vatersache Auf Freuds ausdrücklichen Wunsch hin wählen die Söhne Studiengänge fernab des väterlichen Wirkungsfeldes. Martin wird Jurist, Oliver macht ein Ingenieur studium, Ernst wird Architekt. Welches Motiv Freud bei seinem Anliegen hatte, bleibt im Verborgenen. Fürchtete er die Rivalität, die ihm bei SchülerSöhnen wie C. G. Jung, Wilhelm Reich oder Otto Rank manche schmerzliche Trennung verursachte? Wollte er die Söhne schüt zen, ihnen das Antreten gegen den star ken Vater ersparen? Verfolgt man den Lebensweg der FreudSöhne entlang der Briefserien, so drängt sich der Eindruck auf, dass der Schatten des Vaters auf ihnen ruht. Martin und Oliver bleiben stets auf finanzielle Zuwendungen des Vaters angewiesen, einzig Ernst Freud wird wirklich selbständig, wobei auch in seinem Falle in Berlin und später in Lon don zahlreiche Aufträge für Häuser und Innenausstattungen aus den Kreisen der Freudianer kommen. Eindrücklich sind die Briefe aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Freuds Pra xis bricht zeitweise zusammen; die psy choanalytische Bewegung kommt zum Stillstand, da Redakteure und Autoren im Feld sind – auf beiden Seiten der Front. Freud schreibt an Max Halber stadt, Sophies Ehemann: «Zwei meiner Söhne sind schon Feuerwerker, wie weit es der dritte bei der Artillerie bringt, wollen wir sehen.» Die Kriegsbriefe sind von Schröter ergänzt worden mit Auszügen aus den Gegenbriefen der Söhne. Der Vater bewährt sich als Rat geber, als Helfer in Ausrüstungs und Gesundheitsfragen, er schickt Geld. In der Familie Freud war Beziehungs arbeit keine mütterliche Angelegenheit oder Frauensache. Der Zusammenhalt – die Absprache der Sommerferien, der Austausch von Neuigkeiten ebenso wie von Geschenken – wurde wesentlich mit getragen vom Vater, der mitwebt an einem Familiennetz, das das Überleben des Einzelnen und der Gemeinschaft si chert. Das kommt in einem der letzten Briefe nochmals zum Ausdruck, den Freud kurz vor seiner Emigration 1938 an seinen Sohn Ernst schreibt, der be reits im Londoner Exil eingetroffen ist: «Zwei Aussichten erhalten sich in die sen trüben Zeiten, Euch Alle beisammen zu sehen und – to die in freedom. Ich vergleiche mich manchmal mit dem alten Jakob, den seine Kinder auch im hohen Alter nach Aegypten mitgenom men haben (…) Es ist Zeit, dass Ahasver irgendwo zur Ruhe kommt.» l 29. August 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Biografie Das Leben der Madame Curie, der zweifachen Nobelpreisträgerin und idealisierten Lichtgestalt der Wissenschaft, war von Depressionen gezeichnet Ihre Kleider und Papiere strahlen bis heute kommt also doch recht – sie war tatsäch lich eine Märtyrerin der zur Religion erhobenen Wissenschaft. Im Gegensatz zur CurieBiografie der Tochter Eve von 1937, welche Generatio nen von Gymnasiastinnen eine vollkom men heroisierte Madame Curie als Vor bild fürs Leben mitgab, folgt die Wissen schaftsautorin Goldsmith der ersten auf dem Nachlass basierenden Lebensdar stellung von Susan Quinn (1996), indem sie auch und vor allem die menschliche Seite der Forscherin zeigt: die enorme Überforderung, die sie sich und anderen lebenslang zumutete, die nur schwer heilenden Wunden, die ihr Schicksals schläge, Niederlagen und Zurücksetzun gen geschlagen haben. Insofern ist der Originaltitel des Buches aussagekräfti ger als der deutsche: «Obsessive Genius – the Inner World of Madame Curie». Barbara Goldsmith: Marie Curie. Die erste Frau der Wissenschaft. Piper, München 2010. 256 Seiten, Fr. 33.90. Von Kathrin Meier-Rust Radium auf dem Nachttisch Woher dieses irrationale Verhalten bei so überaus rational denkenden Wissen schaftern? Dass echte Wissenschaft Opfer verlange, hatte Curie schon ihr ehrgeiziger Vater eingetrichtert, dem es die politischen Umstände versagt hat ten, selbst wissenschaftlich tätig zu sein. Bei der Tochter verband sich diese Lei densbereitschaft mit einem hochemoti onalen Verhältnis zu jenem Stoff, den sie entdeckt hatte. Sie bewahrte ein Röhr chen mit Radiumsalz auf ihrem Nacht tisch auf, um sich beim Einschlafen an seinem «hübschen Schimmer» zu er 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. August 2010 Unablässiges Lernen AP Als die Nachkommen von Marie Curie in den neunziger Jahren die Tage und Notizbücher der grossen Wissenschaf terin der Bibliothèque nationale über gaben, stellten sie den Archivaren auch einen Geigerzähler zur Verfügung: Die Papiere waren noch immer radioaktiv. Je nach Stärke der Strahlung sortierte man das Archivgut damals in drei Kategori en, die am stärksten strahlenden Materi alien wurden zwei Jahre lang dekonta miniert. Auch die langen dunklen Klei der, die zu Madame Curies ernster Ge stalt gehören wie ihre zwei Nobelpreise, strahlen bis heute. Die Haut von Marie Curies Fingern war steinhart und rissig. Immer wieder litt sie an Schwächeanfällen augrund von Blutarmut. Als sie 1934 mit 67 Jahren daran starb, litt sie an Leber und Nieren schäden, an einem Tinnitus und war fast vollständig blind. Doch den Verdacht, dass ihr geliebtes Radium ihr geschadet haben könnte, wies sie beharrlich von sich. Längst wusste man zwar, dass radioaktive Sub– stanzen gefährlich waren, längst auch waren entsprechende Vorschriften in den Labors eingeführt worden, auch am Radium (dem späteren Curie)Institut. Nur die Direktorin selbst hielt sich nie daran, ebenso wenig ihre ältere Tochter und Nachfolgerin Irène JoliotCurie: Diese pflegte radioaktive Flüssigkeiten zu pipetieren, das heisst, durch ein Glas röhrchen anzusaugen. Irène, ebenso be gabt, intelligent und unerbittlich fleissig wie ihre Mutter und ebenfalls Nobel preisträgerin, erlag mit 59 Jahren einer Leukämie, ihr jüngerer Mann Frédéric Joliot starb kurz danach, ebenfalls an «unserer Berufskrankheit», wie er es nannte. freuen. Den ruinösen Jahren, als sie in einem armseligen, eiskalten Schuppen über Tage und Wochen siedende Flüs sigkeiten umrührte, um aus Tonnen von uranhaltigem Erz schliesslich einige Mikrogramm reines Radium zu gewin nen, jener körperlichen Schwerarbeit also, hat sie später immer nachgetrauert. Nachts seien sie mit Pierre damals oft zu Fuss ins Labor zurückgegangen und hät ten gerätselt: Wie wird ES wohl ausse hen? Gemeint war das Radium, Marie hat es einmal «mein Kind» genannt. Das wirkliche Kind, Irène, die damals zu Hause schlief, war weniger präsent in ihrem Leben. Das verbrauchte Klischee, das Marie Curie zur Ikone, zu einer heiligen Johanna der Wissenschaft stilisiert, be Marie Curie und ihre Tochter Irène JoliotCurie, 1931 vor dem Eingang zu ihrem Laboratorium in Paris. Maria Sklodowskaja war das jüngste von fünf Kindern, und sie war 10 Jahre alt, als ihre Mutter nach jahrelangem Leiden an Tuberkulose starb. Immer Klassenbeste, immer angefeuert von einem die Natur wissenschaft verherrlichenden, über patriotischen Vater, zeigte sie schon als Teenager depressive Erschöpfungszu stände. Als Frau überwand sie enorme Hindernisse, um überhaupt studieren zu können, natürlich schloss sie immer als Beste ab. Sie war die erste weibliche Professorin der Sorbonne, doch noch 1911 verweigerte die Academie française der zweifachen Nobelpreisträgerin die Aufnahme. Es traf sie tief. Kein Wunder, fielen Marie Curie die Jahre des Ruhms viel schwerer als die Jahre des unablässigen Lernens und Arbeitens: Nach dem frü hen Unfalltod ihres Mannes allein mit zwei kleinen Töchtern, verstrickte sie sich in eine Liebesaffäre mit einem ver heirateten Mitarbeiter, was ihr nebst Schlagzeilen in der Boulevardpresse viel fremdenfeindliche Häme verschaffte. Selbst Professoren der Sorbonne forder ten sie auf, Frankreich zu verlassen! Und das Nobelkomitee legte ihr nahe, den bereits verliehenen (zweiten) Nobel preis nicht persönlich in Empfang zu nehmen. Sie tat es trotzdem, stolz und unnahbar, und verfiel nach der Rück kehr in ihre schlimmste Depression, die über ein Jahr anhielt. Überaus glänzend ist dieses Psycho drama einer begabten Frau weder ge schrieben noch übersetzt, doch das Buch ist gut lesbar. Redlich bemüht sich die Autorin auch darum, die Wissen schaft von Curies Forschung für Laien verständlich zu machen, ein Ziel, das sich aber als zu ambitiös erweist. l Jugend Wie wird ein Mensch zum Schriftsteller? Die sentimentale Erziehung eines jungen Engländers in den zwanziger Jahren Pubertär, aber grandios Christopher Isherwood: Löwen und Schatten. Eine englische Jugend in den zwanziger Jahren. Berenberg, Berlin 2010. 320 Seiten, Fr. 37.90. Von Stefan Howald Dieses Buch ist im englischen Original bereits 1938 erschienen und wirkt doch frisch. Es schildert die sentimentale Er ziehung eines jungen Engländers zum Schriftsteller und betört durch die Kraft von Sprache und Literatur. Sein Autor Christopher Isherwood (1904–1986) ist auf verwickeltem Weg in die Populärkultur eingegangen. In den 1930er Jahren gehörte er zur neuen Lite raturszene in England; kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zwei seiner Bücher über Berlin, wo er 1929 bis 1933 gelebt hatte, zu einem Theaterstück und einem Film umgeschrieben, später in ein Musical verwandelt, das 1972 unter dem Titel «Cabaret» wiederum verfilmt und mit Liza Minelli zum weltweiten Erfolg wurde. Bücher wie Film rührten – anhand der fiebrigen 1930er Jahre in Ber lin während des Aufstiegs des Faschis mus – Kultur, Sex und Politik zu einer potenten Mischung. Zeitlich zwischen seinen beiden BerlinRomanen veröf EVAN HURD / SYGMA / CORBIS Bilder der Erinnerung Die letzten 50 Jahre Fast im Himmel: Der 25-jährige amerikanische Tennisspieler Michael Chang 1997 beim Training. Nachdem er mit 17 Jahren in Paris als jüngster Spieler aller Zeiten einen Grand-Slam-Titel gewann, erreichte er noch drei weitere Grand-Slam-Endspiele und wurde 1996 Zweiter auf der ATP-Weltrangliste. Nach 34 Turniersiegen trat er 2003 schliesslich zurück. Aus 50 Millionen Bildern, die im Sygma-Archiv bei Paris, von Bill Gates finanziert, sorgfältig konserviert und archiviert für die Zukunft bewahrt werden, hat Stefanie Bisping einen in jeder Hinsicht monumenta- len Bildband zusammengestellt. Er dokumentiert die letzten 50 Jahre des 20. Jahrhunderts in atemberaubenden, oft verstörenden, symbolisch aufgeladenen Bildern. Die Stars, die Musiker und die Sportler. Die Schicksalsmomente von Tschernobyl über den Mauerfall bis 9/11 . Die Unruhen und Kriegsschauplätze von Paris im Jahr 1968 und Vietnam über die iranische Revolution bis zu den Völkermorden in Bosnien und Rwanda. Kathrin Meier-Rust Stefanie Bisping: Sygma. Close-up: Die Macht der Bilder. Feymedia, Düsseldorf 2010. 300 S., Fr. 109.–. fentlichte Isherwood das Buch «Löwen und Schatten», das chronologisch das Vorspiel zur Berliner Zeit darstellt. Darin durchläuft der IchErzähler eine englische Public School, beginnt an der Universität Cambridge zu studieren, nimmt verschiedene Gelegenheitsjobs an und bildet sich zum Schriftsteller. Das Milieu, das er beschreibt, ist ideell und emotional hoch gespannt. Man ist clever und wortmächtig, selbstbewusst und von Weltschmerz bedrückt, sarkas tisch und aufmüpfig. In einzelnen Port räts lassen sich Freunde und Schriftstel lerkollegen wie Edward Upward, W. H. Auden und Stephen Spender erkennen. Unterlegt bleibt der Erste Weltkrieg, in dem die um 1900 Geborenen nicht mehr kämpfen mussten, was sie mit Schuldge fühlen erfüllt, aber auch mit Aufleh nung, bis die verstörenden Depressio nen wirklicher Kriegsteilnehmer solche Ersatzgefühle zurechtrücken. Die behagliche soziale Lage der Mit telstandskinder erlaubt eine gewisse Unschuld des Aufbegehrens. Diese hochfliegende Distanzierung von der Umgebung, der Eltern und Lehrergene ration: wie pubertär, aber grandios! Die ses Vertrauen in das Vermögen des Schriftstellers, eine eigene Welt zu ent werfen: wie romantisch, aber eindring lich! Doch die Privilegien einer solchen Jugend werden scharf gesehen, der Ich Erzähler gelangt vom Klassendünkel zur vorerst ziellosen Absage an die eigene Klasse. Dabei gewinnt Isherwood durch die Persiflagen, durch Grotesken und ironi sche Distanz hindurch allmählich eine Schärfe der Beobachtung, eine Haltung der unaufgeregten Präzision und eine prägnante Eleganz der Sprache, die offen und verbindlich zugleich ist. Das Buch weist eine bemerkenswerte Leerstelle auf. Zwar liegt über den Inter natsszenen ein Hauch pubertärer Homo erotik; doch für die folgenden intimen Vergegenwärtigungen und anscheinend autobiografischen Bekenntnisse fehlt jeder Verweis darauf, dass die beschrie bene Szene stark homosexuell geprägt war. Isherwood hat darüber erst im spä ten Werk «Christopher and His Kind» von 1977 geschrieben. In den 1930er Jah ren war Homosexualität in England noch strafbar. Macht diese Ausklamme rung die existenziellen und emotionalen Porträts nicht ein wenig fragwürdig? Nur, wenn man sie strikt autobiogra fisch und dokumentarisch liest. Aber diese Beschreibungen sind eben mehr, können als Fiktion Einsichten formulie ren, die über das reale Vorbild hinaus gehen. Die künstlerische Sensibilität schafft Zugänge, in denen Geschlecht und sexuelle Orientierung nur eine von vielen individuellen Facetten sind und eine Vielfalt anderer Züge scharf in Sprache gefasst wird. Dies ist kein sozial bahnbrechendes Werk, aber es ist ein grosses Lesevergnügen. l 29. August 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Sammelbiografie Neun internationale Genies vereint durch ihre Generation und Herkunft Von Budapest in die weite Welt Kati Marton: Die Flucht der Genies. Neun ungarische Juden verändern die Welt. Die andere Bibliothek, Frankfurt a. M. 2010. 381 Seiten, Fr. 50.90. Von Zsuzsanna Kovacs Auf dem Regiestuhl beim Dreh von «Casablanca», auf den Schlachtfeldern des Spanischen Bürgerkriegs oder bei der Probezündung der Atombombe waren die genialen Männer unter anderem anzutreffen, von denen in diesem Buch die Rede ist. Sie leisteten Bahnbrechen des in der Fotografie, Literatur, Physik und Filmregie. Gemeinsam waren ihnen Generation und Herkunft – die Kindheit im Budapest der Jahrhundertwende, einer weltoffenen, aufstrebenden Metro pole, sowie die Erfahrung des Exils. Diese gemeinsame Konstellation ist für Kati Marton Anlass, die Lebenswege neun begabter ungarischer Juden zu ver arbeiten. Mit ihren Protagonisten ver bindet sie nicht nur Muttersprache und jüdische Herkunft, auch sie erlebte 1957 die Flucht aus dem schon kommunisti schen Ungarn und wurde durch diese Exilerfahrung geprägt. Daher die emoti onale Nähe zu den Porträtierten: Beim Arbeiten am Buch schien es ihr, als hätte sie die Männer selbst gekannt, lässt sie uns zu Beginn wissen. Die Nähe wirkt anziehend: Die Autorin schleudert uns mitten in die Geschehnisse hinein zu einem Treffen zwischen zwei ungari schen Physikern und Albert Einstein, um gleich weiterzugehen zu anderen Orten und Protagonisten. In das vor Kreativität vibrierende Kaffeehaus New York im Budapest der 1880er Jahre, das einer der damaligen Gäste, Michael Cur tiz, später in seinem Film «Casablanca» als Rick’s Cafe verewigt; und weiter zu den ersten Kibbuzim nach Palästina, wo Arthur Koestlers journalistische Rei fung beginnt, und weiter zum nächsten Schauplatz auf dieser schnellen Reise durch das Leben ihrer Figuren. Zurückhaltend ist Marton da, wo es um dunklere Seiten der Protagonisten geht, die einige zu zweifelhaften Grös sen werden liessen – etwa bei Edward Teller, dem Vater der Wasserstoffbombe und vehementen Vorantreiber der ato maren Aufrüstung. Kritik ist jedoch nicht Ziel dieser Sammelbiografie. Es scheint, Marton halte es mit einem der neun Genies – dem legendären Foto journalisten Robert Capa. Sie schreibt: «Capa war parteilich und nahm Anteil. Seine Berichterstattung war von starken Gefühlen geprägt und nicht von techni scher Perfektion. Ihm war es gegeben, mit dem Blick auf ein charakteristisches Detail das Gesamtbild zu erfassen.» Ein mitreissendes Buch ist der Autorin dadurch allemal gelungen. l Das amerikanische Buch Krieg und Cholera auf der Prärie GRANGER COLLECTION / ULLSTEIN Als um 1830 nach Westen drängende weisse Siedler auf den Grassteppen des heutigen Texas erstmals den Komant schen begegneten, erschienen ihnen die mit Lanzen und Bogen bewaffneten Reiternomaden als «beste leichte Kavallerie der Welt» – aber auch als Ausgeburten der Hölle. Kein anderer Stamm war so aggressiv und militärisch so effizient. Und kein anderer hat dem Vormarsch der «Zivilisation» so viele Hürden in den Weg gelegt. Selbst nach dem amerikanischen Bürgerkrieg ge lang es den schwarz bemalten Kriegern auf ihren Ponys noch einmal, die Sied lungsgrenze in Texas weit zurück nach Osten zu werfen. Dazu trug ihre scho ckierende Grausamkeit bei, die selbst in den Folterkammern der Inquisition ihresgleichen suchen dürfte. In seinem aktuellen Bestseller Empire of the Summer Moon: Quanah Parker and the Rise and Fall of the Comanches, the Most Powerful Indian Tribe in American History (Scribner, New York 2010, 371 Seiten) erzählt der Journalist S. C. Gwynne die Geschichte des in ein Dutzend Untergruppen gegliederten Stammes zwischen 1830 und 1910. Dabei bringt er neben zeitgenössischen Quellen auch anthropologische Er kenntnisse auf eine breite Leinwand. Im Vordergrund steht mit Quanah Parker der letzte grosse Kriegshäuptling des Stammes. Parkers Mutter Cynthia Ann war weiss und wurde 1836 als Neunjährige in Texas von Komantschen entführt, die fast ihre ganze Familie brutal ermordeten. Sie wurde Frau eines Clanführers und brachte 1848 Quanah zur Welt, der als Kind erleben musste, wie Weisse seine Sippe nahezu voll 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29. August 2010 Quanah Parker (1848– 1911), letzter Häuptling der Komantschen, mit Tonasa, einer seiner fünf Frauen. Autor S. C. Gwynne (unten). ner Umwelt über Generationen beein druckend gut zu nutzen verstand. Um 1600 aus Wyoming von stärkeren Stäm men nach Süden verdrängt, gebrauch ten die Komantschen von den Spaniern nach New Mexico gebrachte Pferde, um sich in Reiternomaden zu verwandeln. Bisonjagd und Raubzüge wurden zur Grundlage einer Machtposition, die erst durch die Entwicklung von Revol vern und Repetiergewehren gebrochen wurde. Gwynne unterstreicht jedoch, dass der physische Untergang der Ko mantschen auf von den Weissen einge schleppte Epidemien zurückging, die den Stamm zwischen 1830 und 1875 von 40 000 auf etwa 4000 Angehörige redu zierten. Auf diese Katastrophen konn ten selbst die adaptionsfähigen Komantschen keine Antwort finden. ständig auslöschten. Cynthia Ann wurde gegen ihren Willen zurück zu ihrer weissen Familie gebracht und hungerte sich zu Tode. Intelligent und von grosser Körperstärke, reagierte Quanah auf den Verlust seiner Eltern mit einem Hass auf die Weissen, der ihn bis zum Sommer 1875 zur Geissel der Grenzbewohner werden liess. Dies macht Parkers Geschichte umso erstaunlicher. Nachdem er als Letzter das Kriegsbeil begraben hatte, brachte er allein die Willenskraft auf, sich den neuen Umständen im Reservat der Weissen anzupassen. Parker wurde wohlhabender Rancher und beein druckte selbst Präsident Theodore Roosevelt, der sich auf seine Bitte hin für die Reste des KomantschenStam mes einsetzte. Über die Details seiner blutigen Rachezüge hat sich Parker jedoch bis zu seinem Tod im Jahr 1911 ausgeschwiegen. Als Ergänzung zu «Empire of the Summer Moon» ist The Doch Parkers Vita weist über das be währte Muster von Aufstieg und Fall hinaus: In «Empire of the Summer Moon» wird hinter dem Schlachten getümmel die Tragödie eines Stammes sichtbar, der die Veränderungen in sei fehlen, der noch einmal kompetent den wesentlich bekannteren Niedergang der SiouxIndianer aufrollt. l Von Andreas Mink Last Stand: Custer, Sitting Bull, and the Battle of the Little Bighorn von Nathaniel Philbrick (Viking, 466 Seiten) zu emp Agenda Museo Fantastico Der Traum vom Fliegen Agenda September 10 Basel Donnerstag, 9. September, 19 Uhr Hansjörg Schertenleib: Cowboysommer. Lesung, Fr. 15.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. o61 261 29 50. Ay˛se Kulin: Der schmale Pfad. Lesung, Fr. 15.–. Literaturhaus (s. oben). ÖMER AKCAY Dienstag, 14. September, 19 Uhr Mittwoch, 22. September, 19 Uhr Unverhofftes Wiedersehen – ein Hebel Abend mit Annette Pehnt, Alissa Walser, Martin Gülich, Markus Ramseier. Fr. 15.–. Literaturhaus (s. oben). Bern Donnerstag, 2. September, 18.30 Uhr Regula Tanner: Sammlerglück. Lesung, inkl. Apéro. Buchhandlung Haupt, Falkenplatz, Tel. o31 309 09 09. Montag, 13. September, 20 Uhr Lukas Hartmann: Finsteres Glück. Lesung, Fr. 12.–. Thalia im Loeb, Spital gasse 47/52. Vorverkauf: Tel. 031 320 20 20. Sind wir in New York, London, Tokio? Jedenfalls sehen wir auf das Dach eines Gebäudekomplexes. Ringsum ragen Wolkenkratzer in den Himmel. Gerade rast eine Rakete ins Bild. Oder ist es nur ein Luftschiff, das am Himmel schwebt? Wir wissen es nicht. Immerhin machen uns die Menschen auf dem Dach die Grössenverhältnisse klar. Der 1958 in Zürich geborene Künstler Orlando Vazau hat die Szenerie mit Liebe und Witz nachgestellt. In seinem «Museo Fantastico» variiert er den Menschheitstraum vom Fliegen. Bald geht er von Alltagsgegenständen aus, bald von Werken der Kunstgeschichte. Manfred Papst Orlando Vazau: Museo Fantastico oder die Kunst des Fliegens. WOA, Zürich 2010. 128 Seiten, Fr. 36.–. Donnerstag, 23. September, 20 Uhr William P. Young: Die Hütte – Ein Wochenende mit Gott. Lesung, Fr. 20.–. Theater National, Maulbeerstrasse 3, Tel. 031 313 63 63. Zürich Mittwoch, 1. September, 20 Uhr Adolf Muschg: Sax. Lesung, Fr. 28.–. Kaufleuten, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77. Belletristik Sachbuch 1 Diogenes. 288 Seiten, Fr. 29.90. 2 Scherz. 303 Seiten, Fr. 19.90. 3 DTV. 340 Seiten, Fr. 21.90. 4 Diogenes. 344 Seiten, Fr. 32.90. 5 Diogenes. 272 Seiten, Fr. 32.90. 6 Krüger. 365 Seiten, Fr. 24.90. 7 Nagel & Kimche. 224 Seiten, Fr. 26.90. 8 Bastei Lübbe. 272 Seiten, Fr. 28.90. 9 Goldmann. 416 Seiten, Fr. 33.90. 10 Zsolnay. 592 Seiten, Fr. 34.90. 1 Fona. 144 Seiten, Fr. 29.90. 2 Kiepenheuer & Witsch. 256 Seiten, Fr. 23.50. 3 Econ. 256 Seiten, Fr. 29.90. 4 Kreuz-Verlag. 180 S., Fr. 28.90. 5 Koha. 192 Seiten, Fr. 15.90. 6 Herder. 208 Seiten, Fr. 23.50. 7 Nagel & Kimche. 240 Seiten, Fr. 29.90. 8 Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 50.50. 9 Bertelsmann. 640 Seiten, Fr. 46.90. 10 Nagel & Kimche. 160 S., Fr. 26.90. Bernhard Schlink: Sommerlügen. Tommy Jaud: Hummeldumm. Laura Brodie: Ich weiss, du bist hier. Donna Leon: Schöner Schein. Martin Suter: Der Koch. Cecelia Ahern: Ich schreib dir morgen wieder. Eveline Hasler: Und werde immer Ihr Freund sein. Andrea Camilleri: Die Spur des Fuchses. Leonie Swann: Garou. Henning Mankell: Der Feind im Schatten. Thomas Renggli: Schwingen. Michael Mittermeier: Achtung Baby! Ulrich Detrois, Bad Boy Uli: Höllenritt. Verena Kast: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben. Pierre Franckh: Wünsch dich schlank. Kirsten Heisig: Das Ende der Geduld. Jürg Wegelin: Mister Swatch. Duden. Die deutsche Rechtschreibung, 25. Auflage. Antony Beevor: D-Day. Jürg Altwegg: Sind Schweizer die besseren Deutschen? Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 17. 8. 2010. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Montag, 6. September, 20 Uhr Ingeborg Gleichauf und Lukas Bärfuss. Lesung und Gespräch über Max Frisch. Buchhandlung am Hottingerplatz, Hottingerstrasse 35, Tel. 044 251 15 84. Mittwoch, 8. September, 18.30 Uhr Dominique Strebel: Weggesperrt. Buch vernissage im Landesmuseum. Anmel dung: [email protected]. Donnerstag, 16. September, 19.30 Uhr Daniel Mendelsohn: Die Verlorenen. Lesung. Kulturhaus Helferei, Kirch gasse 13, Tel. 044 261 53 11. Samstag, 18. September, 20 Uhr John Irving: Letzte Nacht in Twisted River. Lesung. Schauspielhaus,Pfauen, Rämistrasse 34. Vorverkauf: Tel. 044 258 77 77. Bücher am Sonntag Nr. 8 erscheint am 26. 9. 2010 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 29. August 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 KARIN HOFER Bestseller August 2010 <wm>10CAsNsjY0MDAx1TWwtDA2NQYAS9aPNQ8AAAA=</wm> <wm>10CEXLMQ6AIAxG4RPR_C1Uix0BJ-KgxhMYZ-8_GV0cXvItr3dXwldpy95WZyBpQLao0TUrSRJRNxECq40O4yxgTMzpRRz8P0KpYQNm4ADTfV4PP9JRHWEAAAA=</wm>