Helmut Kohl Biografien |Robert Musil Klagenfurter Ausgabe |Kurt

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Helmut Kohl Biografien |Robert Musil Klagenfurter Ausgabe |Kurt
Nr. 2 | 28. Februar 2010
Helmut Kohl Biografien | Robert Musil Klagenfurter Ausgabe | Kurt Flasch
Interview zu Meister Eckhart | Chopin Leben und Werk | Jacques Chessex
Ein Jude als Exempel | Jeanne Hersch Erlebte Zeit | Jeremy Rifkin Die
empathische Zivilisation |Weitere Rezensionen zu Alice Munro, Patti Smith,
Heinrich Böll, Helmut Schmidt und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese
Starke
Schweizer
Autoren + + +
Foto: Christian Kaufmann
+++++
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Foto: Thomas Kern
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Inhalt
Aussenseiter
erschrecken und
faszinieren
Nr. 2 | 28. Februar 2010
Helmut Kohl Biografien | Robert Musil Klagenfurter Ausgabe | Kurt Flasch
Interview zu Meister Eckhart | Chopin Leben und Werk | Jacques Chessex
Ein Jude als Exempel | Jeanne Hersch Erlebte Zeit | Jeremy Rifkin Die
empathische Zivilisation |Weitere Rezensionen zu Alice Munro, Patti Smith,
Heinrich Böll, Helmut Schmidt und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese
Helmut Kohl
(Seite 19).
Illustration von
André Carrilho
Seit Oktober 2007 schreibt Andreas Mink über Neuerscheinungen aus
den USA («Das amerikanische Buch», Seite 26). Über Bücher, die von
der Kraft, der Kreativität und dem Reichtum ihrer Menschen erzählen.
Grösse, Inspiration und Erfolg stehen dabei oft hart neben Skandal und
Absturz. In dieser Nummer bespricht Mink die im Januar publizierten
Erinnerungen von Patti Smith: «Just Kids». Ein Buch, das die Beziehung
der Performance-Künstlerin zum Fotografen Robert Mapplethorpe und
das ungezügelte Leben der Musiker-, Dichter- und Drogenszene im
New Yorker Chelsea Hotel der 60er Jahre schildert.
Mapplethorpes Idol war der französische Poet Arthur Rimbaud – ein
Frühvollendeter, der mit 21 Jahren das Dichten aufgab. Von Rimbaud
handelt ein weiteres Buch, das wir rezensieren (S. 25). Zu den Freunden
von Mapplethorpe/Smith gehörte Kultautor Allen Ginsberg («Das
Geheul»). Der wiederum war befreundet mit William S. Burroughs und
Jack Kerouac. Das Frühwerk der beiden Stars der Beatnik-Literatur
erscheint erst jetzt auf Deutsch (S. 6). Alle waren sie Exzentriker,
versanken in Alkohol, Drogen und Sexexzessen – und verfassten Werke,
die zum Ausdruck ihrer Generation wurden.
Und wir? Erschaudern fasziniert vor ihren Texten, schwelgen in ihrer
Musik und pilgern zu ihren Ausstellungen. Mapplethorpes Fotos etwa
sind bis 15. August im NRW-Forum in Düsseldorf zu sehen. Urs Rauber
Helmut Schmidt, Fritz Stern: Unser
Jahrhundert
Belletristik
4
6
Von Urs Bitterli
Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe
Von Stefan Howald
Von Sacha Verna
19 Hans-Joachim Noack, Wolfram Bickerich:
Helmut Kohl
Heribert Schwan, Rolf Steininger:
Helmut Kohl
Von Simone von Büren
20 Jeremy Rifkin: Die empathische Zivilisation
William S. Burroughs, Jack Kerouac: Und die
Nilpferde kochten in ihren Becken
Von Gerd Kolbe
Fritz Widmer: Wo geit das hi, wo me vergisst?
7
8
9
Von Dieter Ruloff
Shahriar Mandanipur: Eine iranische
Liebesgeschichte zensieren
21 Jeanne Hersch: Erlebte Zeit
Von Susanne Schanda
Von Urs Rauber
Jacques Chessex: Ein Jude als Exempel
Christian Platz, Christoph Gysin: Die Kinder
von Shangrila
Von Klara Obermüller
Von Kathrin Meier-Rust
Alice Munro: Tanz der seligen Geister
Von Gunhild Kübler
22 J. Craig Venter: Entschlüsselt
Von Thomas Köster
Katalin Deér: Present Things
Von Gerhard Mack
Jan Heidtmann, Barbara Nolte: Die da oben
10 Don DeLillo: Der Omega-Punkt
Derek Shapton
Von David Signer
11 Christoph Ransmayr: Odysseus, Verbrecher
Von Stefana Sabin
Kurzkritiken Belletristik
11 Arezu Weitholz: Mein lieber Fisch
Das Frühwerk von Alice Munro, das erst jetzt auf Deutsch
erscheint, ist eine Einstiegsdroge für Neuleserinnen.
Von Manfred Papst
Kurzkritiken Sachbuch
Von Manfred Papst
15 Willi Wottreng: Verbrechen in der Grossstadt
Von Regula Freuler
Monika Stocker: He, dich kenne ich doch
Rainer Maria Rilke: Briefe an die Mutter
Asaf Schurr: Motti
Anne Weber: Luft und Liebe
Von Regula Freuler
Interview
12 Kurt Flasch, Philosoph und Publizist
In der Zeit und nicht in der Zeit
Von Manfred Papst
Kolumne
15 Charles Lewinsky
Das Zitat von George Bernard Shaw
Von Daniel Puntas Bernet
Von Urs Rauber
Lukas Thommen: Umweltgeschichte der Antike
Von Geneviève Lüscher
Robert Zimmer: Basis-Bibliothek Philosophie
Von Kathrin Meier-Rust
Sachbuch
16 Eva Gesine Baur: Chopin oder Die Sehnsucht
Mieczysław Tomaszewski: Chopin
Von Gabriela Weiss
23 Christian Linder: Das Schwirren des
heranfliegenden Pfeils. Heinrich Böll
Von Reinhard Meier
24 Simon Sebag Montefiore: Katharina die
Grosse und Fürst Potemkin
Von Sabina Meier
25 Ulrich Horstmann: Die Aufgabe der Literatur
Von Manfred Koch
Amir Weitmann: Madoff – Der
Jahrhundertbetrüger
Von Charlotte Jacquemart
26 Barbro Santillo Frizell: Arkadien – Mythos und
Wirklichkeit
Von Geneviève Lüscher
Das amerikanische Buch: Patti Smith
Von Andreas Mink
Agenda
27 Ward Calhoun: Paul Newman
Von Regula Freuler
Bestseller Februar 2010
Von Corinne Holtz
Belletristik und Sachbuch
Von Kathrin Meier-Rust
Veranstaltungshinweise
18 Paul Nolte: Religion und Bürgergesellschaft
Agenda März 2010
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Judith Kuckart, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Klara Obermüller, Angelika Overath,
Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Patrizia Trebbi (Bildredaktion), Stephanie Iseli (Layout), Bettina Keller, Rita Pescatore, Benno Ziegler (Korrektorat)
Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected]
28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
ULLSTEIN
Der österreichische
Schriftsteller
Robert Musil (1880–
1942), Porträt von
etwa 1930.
Gesamtausgabe Das Werk des Klassikers Robert Musil liegt nun in elektronischer
Version vollständig vor – eine eindrückliche Ausgabe mit ein paar Mängeln
Das
unendliche Buch
Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe.
Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener
Schriften. Mit Transkriptionen und
Faksimiles aller Handschriften. Hrsg.
Walter Fanta, Klaus Amann und Karl
Corino. Robert-Musil-Institut der
Universität Klagenfurt 2009. DVDVersion, 149 Euro.
Von Stefan Howald
Letzten Herbst verzögerte sich die Auslieferung nochmals um ein paar Wochen,
weil die Hülle der DVD-ROM nicht
rechtzeitig gedruckt vorlag. Zuvor schon
war der Erscheinungstermin über mehrere Jahre hin verschoben worden. Doch
jetzt ist sie endlich erschienen: die Klagenfurter Ausgabe mit allen Texten, die
Robert Musil je geschrieben hat.
Musil selber kannte solche Verzögerungen nur allzu gut. Von seinem
Meisterwerk «Der Mann ohne Eigenschaften», dessen Spuren bis 1903
zurückreichen, veröffentlichte er 1930
einen ersten Band und 1932 einen zweiten, der eigentlich bloss ein Halbband
war; danach arbeitete er nur noch an
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010
Um- und Neuschreibungen, wobei eine
«Zwischenfortsetzung» erst nach seinem Tod 1943 publiziert wurde. Eine 1952
durch Adolf Frisé hergestellte Gesamtversion war eine ebenso bewundernswerte wie fragwürdige Leistung, die
Frisé 1978 durch eine neue Ausgabe mit
vielen Nachlassmaterialien selber massgeblich verbesserte. Diese Edition ist bis
jetzt die einzig erhältliche Ausgabe eines
Werks geblieben, das zu den Höhepunkten der Literatur des 20. Jahrhunderts
zählt. 1992 erschien zwar eine CD-ROM
mit allen Nachlasstexten. Sie ging aber in
der Öffentlichkeit sang- und klanglos
unter und war technisch bald überholt.
Auf jener CD-ROM baut die jetzige
Klagenfurter Ausgabe auf. Sie war von
Beginn an elektronisch gedacht; eine
Papierversion in 20 Bänden ist erst
als Nachfolgeprojekt der DVD-ROM
geplant.
Was bietet uns also diese silberne
Scheibe? Wir bekommen alle je veröffentlichten Texte von Musil. Wir bekommen alle elftausend Seiten ManuskriptTranskriptionen, dazu 1000 Seiten
zusätzliche Autografen, damit insgesamt
auch alle bekannten Briefe von und an
Musil.
Während die veröffentlichten Texte
neu überprüft worden sind, werden die
Nachlasstexte sogar in mehrfacher Form
präsentiert, nicht nur in historisch-kritischen Nachschriften, sondern auch als
Faksimile und zusätzlich als Lesetext.
Die Herausgeber versichern, letzterer
sei als Vorschlag gedacht, und er kann
jederzeit anhand der Transkriptionen
oder sogar der Faksimiles überprüft
werden.
Zuverlässige Transkription
Was bekommen wir Neues? Die Faksimiles sind natürlich eine sinnliche Freude. Die zuverlässigen Transkriptionen
waren überfällig. Zwar liegen wichtigere
Nachlasstexte seit der Werkausgabe von
1978 sowie den Ausgaben der Tagebücher von 1976 und den Briefbänden von
1981 vor. Diese Frisé-Editionen bleiben
erstaunliche und brauchbare Papierversionen, aber ihre textkritischen Angaben
sind enervierend rudimentär. Die Klagenfurter Ausgabe präsentiert dagegen
wirklich alle in 60 Mappen und 40
Heften überlieferten Texte, alle Vorstufen und Varianten, mit präzisen Angaben über den Status, den sie im Musilschen Universum einnahmen. Tatsäch-
Eine der zahllosen
Kleinnotizen
Robert Musils aus
der Zeit vor dem
Ersten Weltkrieg.
Sie dienten ihm als
«Zettelkasten».
chenden Vorstufen und Nachlasstexte
aufzurufen, schneller und umfassender
als in der Papierversion.
So weit, so eindrücklich. Ein radikal
neues Musil-Bild oder eine neue RomanInterpretation waren dennoch nicht zu
erwarten. Doch den verschlungenen
Wegen von Musils Assoziations- und
Arbeitsprozessen detailliert nachzugehen, ermöglicht den Nachvollzug des
unendlichen Ringens ums richtige Wort.
Aber dass sich aus dem Nachlass nicht
weniger als acht frühe «Romanfragmente eigenständigen narrativen und stilistischen Zuschnitts» ergeben sollen, vermag wohl vor allem die akademische
Musil-Forschung zu befeuern.
Die ausführlichen Kommentare der
Edition reichen von einfachen Sacherklärungen über Nachweise von Zitaten
oder Vorbildern von Romanfiguren bis
hin zu wichtiger Sekundärliteratur. Dazu
gibt es umfangreiche Register zu Namen,
Werken, Institutionen und Orten. Das
alles ist wiederum vielfältig verknüpft
und wird zu Recht als «eine kleine Enzyklopädie der Lebens-, Lese- und Schreibwelt Robert Musils» bezeichnet.
Verbesserte Nachlieferung
lich hat Musil zahlreiche frühe Entwürfe
für den «Mann ohne Eigenschaften»
aufbewahrt und später benützt. Wenn
Frisé solche Texte zuweilen willkürlich
auseinanderriss, so werden sie jetzt
chronologisch wie thematisch einander
zugeordnet. Damit wird Musils Arbeitsprozess minutiös dokumentiert, jeder
Entwurf, jedes Nachlassblatt verortet.
Für die mögliche Weiterentwicklung
oder gar einen Schluss des «Mann ohne
Robert Musil
Der österreichische Autor Robert Musil
(1880–1942) zählte zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren seiner
Zeit. Bekannt wurde er mit dem Internatsroman «Die Verwirrungen des
Zöglings Törless» (1906). Sein Hauptwerk ist der Fragment gebliebene
Roman «Der Mann ohne Eigenschaften», der die untergehende österreichisch-ungarische Monarchie schildert.
Die CD-Version von Musils Werken wird
exklusiv vertrieben vom Robert-MusilInstitut der Universität Klagenfurt
(www.uni-klu.ac.at/musiledition).
Eigenschaften» ergibt sich eine einsichtige Hypothese. 1933, mit der Machtübernahme Hitlers, wollte Musil mehr
soziale Fragen in den Roman einbauen,
doch stellte er 1936 diese Absicht wieder
zurück und konzentrierte sich in den
letzten Jahren bis zum Tod 1942 in Genf
auf die quasi mystischen und psychologischen Gespräche zwischen Ulrich und
Agathe um einen «anderen Zustand»,
den er allerdings als Sackgasse sichtbar
machen wollte. Für den Romanschluss
formuliert Herausgeber Walter Fanta:
«Die Entscheidung des Autors über
den Ausgang der Romanhandlung wird
dem erkenntnissuchenden Schreibexperiment der Figur Ulrich übergeben.»
Damit bleibt die Unabschliessbarkeit
des Romans als ästhetisches Programm
ebenso Musils Überwältigung durch
sein Material wie den Zeitumständen
geschuldet.
Die Klagenfurter Ausgabe stützt sich
nicht nur auf Musils eigenes Siglensystem, mit dem er seine Texte verknüpfte, sondern stellt weitere Bezüge
her, mit dem modischen Begriff des
«Hypertextes» bezeichnet. Diese Links
erlauben es, zu einem Kapitel oder
einem Themenkomplex alle entspre-
Allerdings ziehen sich durch die Kommentarebene zu viele Druckfehler und
Ungenauigkeiten. Im Personenregister
zum «Mann ohne Eigenschaften» klafft
die Qualität und Reichweite der
Kommentare weit auseinander, mit nicht
immer einsichtiger Gewichtung. Während die Genese der Nebenfigur Bonadea
in einer dissertationswürdigen Anmerkung erläutert wird, findet sich zu Agathe,
der Schwester der Hauptfigur Ulrich, die
in den Schlussteilen des Romans allgegenwärtig ist, ein einziger Satz. Das Ortsregister scheint als unvollendete Baustelle publiziert worden zu sein. Zu Warschau
erfahren wir verdankenswerterweise,
dass es sich dabei um die Hauptstadt
Polens handelt, während den Kommentatoren zu Washington oder Winterthur
nichts eingefallen ist. Zürich entgeht diesem Schicksal, da vermerkt wird, dass das
«Waldhaus Dolder = Züricher Hotel» sei,
aber da das Ganze mit Marker gelb unterlegt ist, ist diese Aussage offenbar zur
Nachprüfung vorgesehen.
Mein Lieblingskommentar bezieht
sich auf einen Brief von Martha Musil
an ihre Tochter, in dem Martha ein
«Gummibuch» erwähnt. Eine Anmerkung behauptet, dabei handle es sich um
den antifaschistischen Tatsachenbericht
«Die Moorsoldaten» von Wolfgang Langhoff, weil dessen englischer Titel «Rubber
Truncheon» (Gummiknüppel) geheissen
habe; worauf wenig später in der gleichen Zeile eine zweite Anmerkung
erklärt, dass es sich bei dem fraglichen
Text um den Roman «Gummi» von
Madelon Lulof gehandelt habe – die allerdings in Wahrheit Lulofs hiess.
Kurzum: In den zahllosen Verweisen
dieses unendlichen «Hypertextes» ist die
Detailkontrolle gelegentlich untergegangen. Es bleibt ein weiterer Vorteil der
elektronischen Version, dass für 2011
bereits eine verbesserte Nachlieferung
angekündigt werden kann. ●
28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Roman Jack Kerouac und William S. Burroughs gelten als Klassiker der Beat-Generation. In ihren
jungen Jahren schrieben sie gemeinsam einen höchst seltsamen Roman
Mord im Riverside Park
William S. Burroughs , Jack Kerouac:
Und die Nilpferde kochten in ihren
Becken. Nachwort: James Grauerholz.
Aus dem Amerikanischen von Michael
Kellner. Nagel & Kimche, Zürich 2010.
190 Seiten, Fr. 34.50.
New York, Sommer 1944. Eine Gruppe
von Freunden schlägt sich die Tage und
Nächte mit Reden, Rauchen und Trinken um die Ohren. In wechselnden Bars
und Wohnungen, in wechselnder Zusammensetzung und in wechselnden
Launen. Bis einer von ihnen einen anderen umbringt. Tatsächlich geschah dies
in den frühen Morgenstunden des
14. August im Riverside Park, wo ein
gewisser Lucien Carr mit einem Pfadfindermesser auf einen gewissen David
Kammerer einstach und dessen Körper
darauf in den Hudson River hievte. In
«Und die Nilpferde kochten in ihren
Becken» spielt sich der Mord ein bisschen anders ab, und die Figuren heissen
Phillip Tourain und Ramsay Allen. Doch
basiert dieser Roman auf den Ereignissen, die eben jener Augustnacht vorausgingen.
DasCarr-Kammerer-Dramabeherrschte wochenlang die Schlagzeilen. Kammerer habe, so die am weitesten verbreitete Version, dem attraktiven und
viel jüngeren Carr nachgestellt und ihn
damit zu einer Verzweiflungstat gezwungen. In der Version, die William Burroughs und Jack Kerouac erzählen, sind
die Rollen nicht ganz so eindeutig
verteilt. Burroughs und Kerouac muss-
CorBIS
Von Sacha Verna
ten es wissen, gehörten sie doch zum
Kern des Kreises, in dem sich Carr/Tourain und Kammerer/Allen bewegten.
Damals waren Burroughs und Kerouac
noch zwei unbekannte unpublizierte
Autoren und weit entfernt von ihrem
Beatnik-Ruhm. Deshalb interessierte
sich kein Verlag für das Manuskript, als
sie die «Nilpferde» 1945 herumboten.
Später verhinderten Rechtsstreitigkeiten und Gründe des Persönlichkeitsschutzes, dass das Buch vor 2008 erstmals in den USA und in England
erschien.
Die «Nilpferde» sind im Stil eines
neorealistisch-existenzialistischen Film
noir gehalten. Der Barkeeper und Teilzeitdetektiv Will Dennison (Burroughs)
und der finnische Matrose Mike Ryko
(Kerouac) schildern darin aus alternierenden Perspektiven (und in alternierenden Kapiteln), wie Tourain, Allen
William S. Burroughs,
Lucien Carr (der
Messerstecher) und
Allen Ginsberg (von
links), New York 1953.
und sie selber mit Anhang Treppen hinauf- und hinuntersteigen, gekochte Eier
bestellen und verspeisen, schlafen gehen
und aufstehen, zum Fenster hinausschauen, durch New Yorks Strassen
streunen und eben viel, viel trinken, rauchen und reden. Kurz: Sie schildern
alles. Auch dass Phillip Tourain vorhat,
mit Ryko auf einem Schiff nach Europa
anzuheuern, um Ramsay Allen loszuwerden, obschon Allen eigentlich ein
sympathischer harmloser Kerl ist und es
eher der von einer utopischen KünstlerGesellschaft schwadronierende Tourain
ist, der ihnen allen auf die Nerven geht.
William Burroughs’ Passagen lesen
sich wie hartgekochte Prosa mit Weichspüler. Jack Kerouac gebärdet sich als
Macho, der sein Milchgesicht hinter
aneinandergereihten Hauptsätzen zu
verbergen versucht. Selten haben zwei
Nilpferde so meisterhaft literarischen
Schiffbruch erlitten, und selten machte
es so viel Spass, ihnen dabei zuzusehen.
Kommt hinzu, dass die Autoren, vielleicht gerade weil sie noch nicht «On
the Road» sind und gepflegte Mahlzeiten dem «Naked Lunch» vorziehen, ein
Bild vom New York jener Epoche zeichnen, das so stimmungsvoll und authentisch auch der beste Film noir nicht zu
vermitteln vermag.
Was in jenem Sommer 1944 wirklich
geschah, gerät dabei völlig in den Hintergrund. Der Mord und seine Folgen
werden auf den letzten paar Seiten abgehandelt, als habe die Realität nur als
Vorwand für das literarische Experiment gedient. Genau betrachtet, stimmt
das auch. Auf diese Weise entstehen die
originellsten Formen der Kunst. l
Mundart Der ehemalige Berner Troubadour Fritz Widmer schreibt poetische Texte
von genuiner Sprachkraft
Helgeli u Värsli vo vorfärn
Fritz Widmer: Wo geit das hi, wo me
vergisst? Cosmos, Muri bei Bern 2010.
127 Seiten, Fr. 29.–.
Von Simone von Büren
In keinem Schweizer Dialekt gibt es eine
lebendigere Mundarttradition in Liedern
und Literatur als im Berndeutsch: von
den Rockbands «Züri West» und «Patent
Ochsner» über Dramatiker wie Beat
Sterchi und Guy Krneta zur innovativen
Spoken-Word-Gruppe «Bern ist überall». Pioniere für diesen literarischen
Umgang mit Mundart jenseits von Heimatidylle und Jodlerclub-Lyrik waren ab
den 1960er Jahren neben Kurt Marti die
Berner Troubadours, zu denen Mani
Matter und Fritz Widmer gehörten.
Fritz Widmer hat neben seinen Liedern Gedichte und Romane geschrie6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010
ben. Eine Sammlung kurzer Mundarttexte ist nun beim Cosmos-Verlag
erschienen. «Wo geit das hi, wo me
vergisst?» enthält Anekdoten von Wanderungen und Marktsamstagen, verspielte und moralisierende Reflexionen
zum Urknall, zum Älterwerden, zur
Liebe und zur Erfindung der Schere,
dazu abgeklärte Beschreibungen von
«Rägemelodiie u Amslelieder», wachsenden Blumen, verlöschenden Sternen
und einer immer wieder heilen Welt:
«Der Vatter singt vergnüegt vo Bärge u
vo Taau / u ds Aaberot wird langsam
aabedunkublau.»
Manche Texte sind – wie viele Lieder
Widmers – Übersetzungen von Heine,
Goethe und Shakespeare, von irischen
und norwegischen Lyrikern und von
Mozart-Arien. Während Shakespeare
und Goethe im Berndeutsch eher eindimensional werden, behalten rauere Vor-
lagen von W. B. Yeats und Robert Burns
eine lebendige Direktheit.
Moderne Übersetzungen klassischer
Texte sind oft zugänglicher als das
Original, weil sie die Barrieren alter
Wörter und überholter Konventionen
aus dem Weg räumen. Widmers Gedichte
verwenden aber gerade die Sprache
einer schwindenden Zeit. Da kommen
zwar «Bäiker» und «Disäin» vor, aber
auch «aagattige», «albeneinisch», «Helgeli», «Halungge», «zmorndrischt», «vo
vorfärn» und viele andere Wörter, über
die man heute stolpert.
Manche Themen und Fragen in Widmers Texten mögen durchaus noch
aktuell sein, aber die Sprache, in der sie
verhandelt werden, hat sich verändert.
Und solch kleine Verschiebungen – das
ist das Faszinierendste an dieser Lektüre
– fallen in der Sprache, die wir täglich
hören und reden, ganz besonders auf. l
Roman Der iranische Autor Shahriar Mandanipur schreibt eine Satire auf die Verbotsgesellschaft
Wie die Liebe
mit dem Zensor ringt
Shahriar Mandanipur: Eine iranische
Liebesgeschichte zensieren. Aus dem
Englischen von Ursula Ballin. Unionsverlag, Zürich 2010. 319 Seiten, Fr. 33.90.
Von Susanne Schanda
GUILLaUMe herBaUt / LaIF
Wer zeitgenössische Literatur aus Iran
liest und über sie schreibt, kommt um
das Thema der Zensur nicht herum.
Selbst die Romane des grossen Mahmud
Doulatabadi warten oft jahrelang auf eine
Genehmigung zur Publikation. Sein
jüngster Roman «Der Colonel» konnte in
Iran nicht erscheinen und ist bisher nur
auf Deutsch publiziert. Ebenso erging es
dem neuen Roman von Amir Hassan
Cheheltan: «Teheran Revolutionsstrasse» liegt nur auf Deutsch vor. Zur gleichen Generation wie Cheheltan gehört
der 1957 in der südiranischen Stadt Shiraz
geborene Shahriar Mandanipur. Er
schlägt nun zurück.
Zensiertes wird mitgeliefert
«Eine iranische Liebesgeschichte zensieren» ist eine bitterböse Satire auf eine
Verbotsgesellschaft, die Angst, Lügen,
Heuchelei und Verzweiflung hervorbringt. Die im Namen der Moral den
Frauen «gewaltsam ein Tuch um den
Kopf nagelt», wie Mandanipur schreibt.
Der Roman führt durch die Strassen
Teherans und Gärten Shiraz’, erzählt von
Demonstrationen, Büchern und der
Liebe. Und vom täglichen Kampf des
Erzählers mit dem Zensor. Die zensierten
Wörter werden mitgeliefert. Dies sieht
im ersten Abschnitt so aus: «Teherans
Luft ist erfüllt vom Duft der Frühlingsblüten und Abgase, von giftigen Düften
aus Tausendundeiner Nacht, sie umschlingen, vereinigen sich, sie flüstern
sich Geheimnisse zu. Die Stadt treibt
durch die Zeiten .» Etwas später lesen
wir durchgestrichen: «Nach wie vor werden die Studenten niedergeknüppelt.»
Immer wieder spricht der Erzähler
die Lesenden direkt an, fordert sie auf,
ihn zu fragen, auf dass er berichten
könne, wie Sheherazade, die durch das
Erzählen ihr Leben rettete. Die Liebenden heissen Sara und Dara, Pseudonyme,
wie der Erzähler erklärt, der seinerseits
dem Autor Mandanipur zum Verwechseln ähnelt und auch dessen Namen
trägt: «Ich bin ein iranischer Schriftsteller, der es leid ist, düstere und bittere
Geschichten zu schreiben, Geschichten
voller Gespenster, gestorbener Erzähler
und mit einem vorhersehbaren Ende in
Tod und Untergang.» Stattdessen wolle
er «aus tiefstem Herzen eine Liebesgeschichte schreiben». Gerade dies hat
allerdings in der Islamischen Republik
seine Tücken. Denn freie Begegnungen
zwischen den Geschlechtern gelten dort
Frau vor einem
Schaufenster für
Abendkleider, Iran
2009. Im Roman von
Shahriar Mandanipur
versucht Sara, in der
Islamischen Republik
eine verbotene Liebe
zu leben.
als «Vorspiel zur Todsünde». Das schreit
nach List und Verstellung.
Im Roman beobachtet Dara, wie die
Literaturstudentin Sara in der Bibliothek
vergeblich nach dem verbotenen Buch
«Die blinde Eule» des iranischen Autors
Sadeq Hedayet fragt. Am nächsten Tag
sitzt Dara am Boden in der Nähe ihrer
Wohnung und verkauft antiquarische
Bücher. Sara sieht «Die blinde Eule»,
kauft sie und entdeckt beim Lesen eine
geheime Botschaft, die Dara in das Buch
geschrieben hat: Sie soll sich in der
Bibliothek «Den kleinen Prinzen» ausleihen. Dort findet Sara die nächste Botschaft, die sie weiterführt zu «Dracula»,
dann zum Liebesepos «Chosrou und
Schirin» von Nizami, dann zu Milan
Kunderas «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins». Es dauert Monate, bis
sich die beiden am Rand einer Demonstration zum ersten Mal treffen.
Stilistische Verkleidungen
Der Erzähler präsentiert oft mehrere
Varianten einer Episode, erklärt, warum
der Zensor Herr Petrowitsch dieses
akzeptieren könnte, jenes aber niemals.
Herr Petrowitsch tritt im Roman selbst
als Figur auf, verfolgt und beschimpft
den Erzähler, droht und lockt. Teilweise
mit Erfolg, wenn es ihm gelingt, die Liebesgeschichte ins Lavieren zu bringen.
Dara verliert an Boden und entgeht nur
knapp einem Mordanschlag, da wirft er
sich wutentbrannt auf den Erzähler und
beschuldigt diesen, ihm eine so schwächliche, hoffnungslose Rolle zugedacht zu
haben, nur damit er den Roman durch
die iranische Zensur bringe. Der Erzäh-
ler ist betroffen von der Kritik und gibt
Dara wieder Auftrieb. Als das Liebespaar am Ende des Romans allein in
Daras Elternhaus ist, droht Petrowitsch:
«Zwingen Sie mich nicht, selbst einzugreifen. Holen Sie Sara aus dem Haus
der Sünde!» Dies tut der Erzähler nicht.
Er gibt seinen Traum einer Liebesgeschichte mit Happy End auf und überlässt Sara das Wort. Dann macht er sich
aus dem Staub, in Todesangst.
Mehr noch als die Liebe behandelt
Shahriar Mandanipur in diesem Roman
das Schreiben, das Ringen um das unverfälschte Wort, den Kampf gegen Feigheit, Verstellung, Selbstzensur und Zensur – die Liebe zum Schreiben. Wie
andere Autoren hat sich Mandanipur
einst mit den stilistischen Verkleidungen der Postmoderne durch die Zensur
manövriert, allerdings um den Preis der
Verständlichkeit und einer breiten
Rezeption.
Der neue Roman liest sich leicht,
gefällt bei aller Tragik durch Humor und
zeigt, wie die Zensur in der Islamischen
Republik funktioniert, am perfidesten
dort, wo sie sich ins Hirn des Autors
schleicht. Dennoch leidet der Erzählstrom im Verlauf der Lektüre durch die
zahlreichen Kommentare, Erklärungen
und Ansprachen an die Leser, die vermuten lassen, dass der Autor ein ausländisches Publikum im Visier hat. Mandanipur hat seinen Roman in den USA
geschrieben, wo er seit einigen Jahren
lebt. Nach der englischen Übersetzung
ist nun die deutsche erschienen. In Iran
wird das Buch wohl nie publiziert werden. Nicht nur wegen der Zensur. l
28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Roman Der grosse, unlängst verstorbene
Waadtländer Erzähler Jacques Chessex
gestaltet ein berühmtes antisemitisches
Verbrechen in der Schweiz – mit
künstlerisch zweifelhaftem Erfolg
FranCk CoUrt / aGenCe VU
Judenmord
von
Payerne
Jacques Chessex: Ein Jude als Exempel.
Aus dem Französischen von Grete
Osterwald. Nagel & Kimche,
Zürich 2010. 96 Seiten, Fr. 22.90.
Von Klara Obermüller
Am 16. April 1942 wurde der jüdische
Viehhändler Arthur Bloch in Payerne
von vier jungen Nazi-Sympathisanten
in einen Hinterhalt gelockt, erschlagen,
zerstückelt und, auf drei Milchkannen
verteilt, im Neuenburgersee versenkt.
Die Täter konnten rasch gefasst und
ihrer gerechten Strafe zugeführt werden, von den politischen Hintergründen der Tat war im Prozess jedoch nicht
die Rede. Die eigentlichen Drahtzieher
blieben bis Kriegsende unbehelligt.
Der Judenmord von Payerne ist das
wohl krasseste Beispiel antisemitischer
Gesinnung in der Schweiz. Umso erstaunlicher, dass der Vorfall lange Zeit weitgehend unbeachtet blieb. Und dies,
obwohl Schriftsteller, Filmemacher und
Historiker sich der Geschichte wiederholt angenommen hatten.
Wiederholt aufgearbeitet
1973 wies Werner Rings in seiner Fernsehserie über «Die Schweiz im Zweiten
Weltkrieg» auf das Verbrechen hin.
1974 erschien Walter Matthias Diggelmanns Erzählung «Der Jud Bloch». 1977
folgte der Film «Le crime nazi de Payerne» von Yvan Dalain und Jacques
Pilet. Und im Jahr 2000 rollte der Publizist Hans Stutz die Geschichte und
ihren faschistischen Hintergrund in
seinem Buch «Der Judenmord von Payerne» noch einmal auf.
Und nun also Jacques Chessex. Auch
er hatte sich in der 1967 erschienenen
Erzählung «Un crime en 1942» des
Themas schon einmal angenommen.
Losgelassen hat es ihn nie mehr. Denn
die Geschichte ist Teil seiner eigenen
Biografie: Chessex ist in Payerne gebo8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010
ren und aufgewachsen. Die Täter waren
Nachbarn. Mit ihren Kindern ging er
zur Schule. Die Frage der Schuld und
Mitschuld habe seine Erinnerung vergiftet, sagte er. Deshalb ist er jetzt noch
einmal auf die Ereignisse von damals
zurückgekommen und hat diesen
Roman geschrieben, der im Grund keiner ist, sondern vielmehr ein Nachdenken darüber, was geschah, warum und
wie das Geschehene im Gedächtnis der
Ortsansässigen weiterlebte. Dass es für
eine Tat wie diese keine Sühne, keine
Verjährung, keine Wiedergutmachung
geben kann, ist für Chessex klar. Aber
wie geht man mit der Erinnerung um?
Und wie schreibt man darüber, ohne
sich selbst mit dem Verbrechen gemein
zu machen? «Ich erzähle eine schmutzige Geschichte und schäme mich für
jedes Wort, das ich darüber schreibe»,
heisst es gegen Buchende. Eine Schlüsselstelle, die andeutet, warum Chessex
vom Thema nicht loskommt.
Es sind zutiefst moralische Fragen,
die den Autor umtreiben. Und das
erklärt vielleicht auch, warum dem
Buch bis jetzt ein so fulminanter Erfolg
beschieden war. 40 000 Mal wurde es
allein in Frankreich verkauft. Über die
literarische Qualität des Textes sagen
die geradezu hymnischen Kritiken in
den französischen Zeitungen allerdings
kaum etwas aus. Die Aufmerksamkeit
gilt der Geschichte. Sie verblüfft,
erschreckt, wühlt auf. Dass sich das
Verbrechen ausgerechnet in der sonst
so untadeligen Schweiz ereignet hat,
mag dem Buch, zumal im Ausland,
zusätzlichen Auftrieb geben.
Literarisch gesehen jedoch hat das
Buch nichts Aussergewöhnliches. Chessex gibt die historischen Ereignisse
drastisch wieder und beschreibt das
dumpfe Klima, das in Payerne herrschte
und die Lebensläufe der Täter bestimmte. Dass er es mit grosser innerer Beteiligung tut, verleiht dem Text atmosphärische Dichte. Nur lässt es der Autor
nicht dabei bewenden, sondern versucht
den Seelensumpf auszuloten, dem die
Tat entsprang. Und da macht er vor
keinem Nazi-Klischee Halt. In dem französischer Prosa oft eigenen und in deutscher Übersetzung oft peinlich wirkenden Pathos lässt er Hacken knallen,
Stimmen schnarren und aus eisblauen
Augen Blicke aufblitzen. Man ruft sich
tagsüber «Heil Hitler» zu und sieht des
Nachts beim Auspeitschen junger Mädchen das Judenblut vom Messer spritzen. Das ist nicht nur abgeschmackt und
platt, sondern dämonisiert die Täter auf
eine Weise, die so ziemlich das Gegenteil jener erschreckenden Banalität darstellt, die Chessex doch eigentlich hatte
zum Vorschein bringen wollen.
An der Grenze des Kitsches
Spätestens seit Erscheinen von Jonathan Littells «Les Bienveillantes» ist
man im französischen Sprachraum
offenbar überzeugt, dass nationalsozialistische Milieus ohne Gewaltorgien und sexuelle Perversionen nicht
adäquat zu beschreiben seien. Damit
liegt man gewiss nicht ganz falsch. Nur
sollte man auch über eine Sprache verfügen, die diesem komplexen Phänomen gewachsen ist. Dies ist bei Chessex
leider nicht der Fall. Statt zu gedanklicher Schärfe greift er zu verschwommener Poesie. An die Stelle fundierter
Analysen setzt er Mystifizierungen,
die bisweilen hart an der Grenze des
Kitsches sind. Und so fragt man sich am
Ende, was der Autor denn nun eigentlich schreiben wollte: einen Bericht
über den Mord an dem Juden Arthur
Bloch, wie er sich damals in Payerne
zugetragen hat und sich andernorts, zu
anderen Zeiten und unter anderen
Umständen wieder zutragen könnte?
Oder aber eine Darstellung des absolut
Bösen, wie er es vor allem in Pastor
Lugrin, dem Mann hinter der Tat, verkörpert sieht? Das eine geht nicht mit
dem andern zusammen. l
Jacques Chessex
(1934–2009) erzählt
in seinem letzten
Buch eine persönlich
gefärbte Geschichte
(Aufnahme Januar
2008).
Erzählungen Der Erstling der Kanadierin Alice Munro, der erst jetzt übersetzt wurde, ist ein Fund
Von rebellischen Kindern,
Mädchen und Frauen
liegen die meisten ihrer Bücher auch auf
Deutsch vor.
Dieser Erfolg hat dazu geführt, dass
jetzt endlich auch Alice Munros 1968
erschienener Erstling in deutscher
Übersetzung erscheint, der Erzählband
«Tanz der seligen Geister» («Dance of
the Happy Shades»). Zum Zeitpunkt
der Publikation war Alice Munro 37
Jahre alt, hatte drei Töchter und führte
zusammen mit ihrem Mann eine Buchhandlung.
Ihr Début gewann einen Preis und
machte sie in Kanada berühmt. Denn
die hier versammelten fünfzehn Geschichten sind weit mehr als Talentproben. Sie sind Ausbeute von fast zwanzig
Jahren zähen und ambitionierten Ringens um die adäquate Form, und man
kann die Handschrift der späteren
Meisterin von «short fiction» schon
deutlich erkennen. Umso erstaunlicher
ist, dass der Band so lange unübersetzt
blieb. Wie immer erzählt Alice Munro
auch hier von einfachen Menschen aus
Alice Munro: Tanz der seligen Geister.
Aus dem Amerikanischen von Heidi
Zerning. Doerlemann, Zürich 2010.
380 Seiten, Fr. 39.80.
Von Gunhild Kübler
Die kanadische Autorin Alice Munro
(geboren 1931 in Wingham, Ontario, als
Alice Ann Laidlaw) ist eine der besten
lebenden Autorinnen und gilt seit Jahren als Anwärterin auf den Literaturnobelpreis. Dennoch ist sie bei uns
lange ein Geheimtipp geblieben, obwohl
sie in ihrem Heimatland und in den
USA schon längst ein begeistertes Lesepublikum hat.
Das hat sich erst im letzten Jahrzehnt
geändert, als nicht nur viele deutschsprachige Leser und Leserinnen sie entdeckten, sondern auch Autorinnen wie
Judith Hermann, Eva Menasse und Ruth
Schweikert sie als inspirierend für ihr
eigenes Schreiben priesen. Inzwischen
Architektur Modell von der Welt
Man muss schon ein Hardcore-Fan sein, um in einer
solchen Umgebung Ferien zu machen. Der Strand ist
bestenfalls ein erdiges Ufer für Fischerböötli, und die
Häuser sehen aus wie ausgebrannte Bunker oder wie
die Sieger im Wettbewerb um den schlechtesten
Geschmack in der Provinz. Solche namenlosen
Umgebungen faszinieren Katalin Deér. Die in den
USA geborene Künstlerin ungarischer Abstammung
mit Pendlerrouten zwischen Berlin, St. Gallen und
Süditalien zückt immer dann den Fotoapparat, wenn
es für Touristen eigentlich nichts zu sehen gibt.
Aus ihren Aufnahmen, die sich inzwischen zu einer
Galerie der zeitgenössischen Wahrnehmung von
Gebrauchsarchitektur fügen, konstruiert die Bildhauerin dreidimensionale Modelle. Diese bald krud,
bald zart gefügten Gebilde besitzen eine Phantastik,
die dem Baumeister in der Realität nicht zur Verfügung steht. Sie modellieren etwas, was sich vielleicht
gar nie bauen lässt. Schöner kann man kaum über
Bauten nachdenken. Gerhard Mack
Katalin Deér: Present Things. Snoeck, Köln 2009.
80 Seiten, 58 Farbabbildungen, Fr. 56.80.
der kanadischen Provinz, nur dass ihre
meist weiblichen Protagonisten, verglichen mit denen ihrer letzten Erzählbände, wesentlich jünger sind. Es zeigt sich,
dass diese Autorin im Lauf ihres Lebens
mit ihren Figuren gealtert ist, doch ihre
Methode, sie auszuleuchten, hat sie früh
perfektioniert: Sie lässt im Alltag das
Ambivalente und Unauslotbare von
menschlichen Beziehungen aufbrechen.
Daher kann man bei kaum einer Erzählung den Schluss vorhersagen.
Auch hier gibt es schon die typischen
Munro-Momente, in denen die Figuren
an einem Scheideweg ankommen und
von denen aus es in mehrere Richtungen weitergeht. Ein Kind erlebt innerlich rebellierend den Augenblick, in
dem es für seinen Vater zum jungen
Mädchen und damit abgewertet wird.
Ein junges Mädchen empfindet seinen
ersten Ball als Tortur, will fliehen und
lässt sich dann doch noch freudig dort
festhalten.
Eine junge Frau arbeitet einen Sommer lang bei reichen Leuten als Haushaltshilfe und erforscht dabei – mit
Zorn und leisem Vergnügen – den
Frontverlauf sozialer Hierarchien. Zwei
Schwestern, die als Kinder mit der Pflege ihrer bettlägerigen Mutter vollkommen überfordert waren, werden nach
dem Tod der Mutter von Kindheitsgespenstern geplagt, die sich von Schuldgefühlen nähren.
Der autobiografische Erzählstoff dieser Geschichten ist überall greifbar –
Alice Munro ist als Tochter eines Silberfuchsfarmers in einfachen Verhältnissen auf dem Land in Westontario,
Kanada, aufgewachsen, ihre Mutter
erkrankte an einer seltenen Form von
Parkinson, als sie erst zehn Jahre alt
war. Hier kann man nun beobachten,
wie Alice Munro aus solchem Stoff
Geschichten zuschneidet, deren verdichtete Lebenserfahrung sich universalisieren lässt und auch noch die Leser
und Leserinnen weitab von Kanada
ganz persönlich anzusprechen scheint.
Erzählen ist bei dieser Autorin eine
Methode, über das Leben nachzudenken. Sie tut es schon in diesem Erstling
mit jener verblüffenden Präzision im
Detail, die noch die nebensächlichsten
Vorgänge prägnant, ja ergreifend werden lässt – etwa das tränenlose Weinen
einer alten Frau. Man sieht vor sich, wie
diese alte Frau das Taschentuch aus dem
Kleid zieht und sich damit bekümmert
über ihr beinah trocken gebliebenes
Gesicht reibt. Wer ausser Alice Munro
nimmt schon so ein Detail überhaupt
wahr?
Fazit: Das Buch ist eine starke Einstiegsdroge für alle, die Alice Munro
noch nicht kennen. Aber auch wer dieser Schriftstellerin bereits verfallen ist,
sollte es sich auf keinen Fall entgehen
lassen. l
28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Roman In seinem neuen Werk demonstriert Don DeLillo virtuos, was
verdichtendes Schreiben bedeutet. Hinter manierierter Kunstprosa wird ein Krimi sichtbar
Viele Fährten ausgelegt
Don DeLillo: Der Omega-Punkt.
Aus dem Amerikanischen von Frank
Heibert. Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2010. 114 Seiten, Fr. 29.90.
Der amerikanische Autor Don DeLillo
wird wegen seiner Vorliebe für verschlungene Plots, Vielschichtigkeit,
Anspielungen und Künstlichkeit oft als
postmoderner Autor bezeichnet. Das ist
ein zwiespältiges Kompliment, da die
Postmoderne vielen spätestens seit 9/11
als «tempus passatum» gilt; der Einsturz
der Twin Towers wird als eine Art Einbruch des Realen in die Welt der Simulationen und Konstruktionen verstanden.
Bloss: 9/11 war zugleich ein hochgradig symbolisches, inszeniertes und mediatisiertes Ereignis. Genau diese Unentwirrbarkeit zwischen «wirklich» und
«unwirklich» interessiert DeLillo, und
nicht umsonst widmete er dem Anschlag
von 2001 und seinem Widerhall sein
letztes Werk «Falling Man». Den jüngsten Roman des New Yorkers, «Der
Omega-Punkt», könnte man als postpostmodern bezeichnen – zumal es
darin um den Moment geht, in dem alle
unsere raffinierten Erklärungen und Interpretationen der Welt hinfällig werden
angesichts von Schmerz, Verlust und
Tod. Zweifellos trifft DeLillo damit ein
verbreitetes Lebensgefühl. Aber eigentlich waren Konstruktion, Dekonstruktion und Destruktion sein Thema, mindestens seit seinem frühen Werk «Die
Namen», zu einer Zeit, als Derrida und
Lyotard noch keine Labels waren.
«Der Omega-Punkt» ist irreführend.
Der 110-seitige Miniroman beginnt mit
einer langen, minutiösen Schilderung
von «24 Hour Psycho», einer Videoinstallation von Douglas Gordon, in
der Hitchcocks Meisterwerk in einer extrem verlangsamten, 24-stündigen Version gezeigt wird. Erst auf Seite 19 startet
die eigentliche Geschichte. Ein junger
Filmemacher namens Jim hat Richard
Elster, einen ehemaligen Kriegsberater
der amerikanischen Regierung, in dessen Haus in der kalifornischen Wüste
aufgesucht, um ihn für ein Dokumentarfilmprojekt zu gewinnen.
Postmoderne Literatur
Da sitzen sie nun in der Hitze, trinken
Whisky und reden, reden, reden. Elster
ist ein brillanter Gelehrter, der einem
Angebot gefolgt ist, das Pentagon für
seinen Irakkrieg mit einem intellektuellen Fundament zu versorgen. Seine
Erinnerungen an seinen Flirt mit der
Macht sind gelegentlich geistreich, gelegentlich langweilig, gelegentlich unverständlich. Endlich, auf Seite 39, passiert
etwas: Elsters Tochter Jessie taucht auf.
Aber dann wird wieder dreissig Seiten
lang geschwafelt, unter anderem über
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010
DDp IMaGeS
Von David Signer
Janet Leigh im
Hitchcock-Thriller
«Psycho» (1960).
Anspielungen auf den
Film finden sich im
«Omega-Punkt».
den Begriff des «Omega-Punkts» in
Teilhard de Chardins Versuch, die Evolutionslehre mit dem Christentum zu
versöhnen und in die Zukunft zu extrapolieren. Einmal nimmt Jim zaghaft Jessies Hand, einmal öffnet er nachts ihre
Schlafzimmertüre, und sie schauen sich
einen Moment im Dunkeln an. Das war’s
dann auch schon. Postmoderne Literatur von der übelsten Sorte, denkt man.
Auf Seite 72 verschwindet Jessie. Jetzt
bekommt die Geschichte etwas Schub,
um endgültig zu versacken. Elster verstummt und sitzt nur noch zusammengesunken in seinem Sessel, Jim unternimmt ein paar halbherzige Versuche
herauszufinden, was geschehen sein
könnte. Auf Seite 87 finden Suchtrupps
ein Messer in einer Schlucht. Schliesslich fährt Jim den Alten zurück in die
Stadt.
In einem Epilog sehen wir nochmals
den Mann aus der Eingangsszene, der
sich «24 Hour Psycho» im Museum of
Modern Art (MoMA) in New York anschaut, Tag für Tag, stumm und unbeweglich. Nur einmal wird seine Erstarrung unterbrochen durch eine junge
Frau, die ihn anspricht. «Was sehe ich
mir da an?», fragt sie. Sie wechseln ein
paar Sätze, dann verschwindet sie. Immerhin hat sie ihm noch ihre Telefonnummer hinterlassen.
Ratlos legt man das Buch zur Seite.
Man spürt, dass diverse Fährten ausgelegt sind. Aber hat man Lust, ihnen zu
folgen? Man ist schliesslich Leser und
nicht Literaturwissenschafter. Sicher, es
gibt Parallelen zwischen «Psycho» und
der Wüstengeschichte. Eine Frau ver-
schwindet, ein Unbekannter hat sie umgebracht... Und plötzlich durchfährt es
einen wie ein Blitz: Moment, der Mann
im MoMA, die anonymen Anrufe, seine
neurotischen Anspielungen auf seine
Mutter! Man blättert zurück, realisiert,
dass einiges in dem pseudointellektuellen Gefasel bedeutsamer war, als man
erst dachte, dass alles miteinander zusammenhängt. Kein beliebiges Geplänkel. Man beginnt die Lektüre von neuem,
und auf einmal ist alles ganz anders:
Hinter der manierierten Kunstprosa
wird plötzlich der Krimi sichtbar – oder
mehrere mögliche Krimis in einem.
Kristalline Sprache
«Der Omega-Punkt» ist aus der Perspektive eines jungen Filmemachers erzählt.
Aber vielleicht ist das wahre Alter Ego
des Autors im Buch eher Elster, mit
seinen 73 Jahren exakt so alt wie DeLillo.
Wie Elster fasziniert DeLillo durch seine
kühle Virtuosität. Das Pendant zu Elsters
Exkursionen in eisig-theoretische Höhen sind DeLillos lange Beschreibungen
von Gesteinsformationen, Lichtverhältnissen, Filmeinstellungen, in präziser,
emotionsloser, kristalliner Sprache. Als
diese glatte Oberfläche gegen Ende des
Buches zerbricht, gibt es nichts, was an
ihre Stelle treten könnte. Zurück bleiben
Leere, Wahnsinn und Gewalt. Etwas
Unbenennbares, «seltsamer als Träume», wie es in der letzten Zeile heisst.
Vielleicht ist es eine Überinterpretation,
darin eine Zeitdiagnose zu sehen. Aber
bei einem so hochverdichtenden Autor
wie DeLillo gibt es kaum Überinterpretationen. l
Drama Christoph Ransmayr aktualisiert
die antike Figur des Odysseus
Heimkehren
in die Fremde
Kurzkritiken Belletristik
Arezu Weitholz: Mein lieber Fisch.
44 Fischgedichte. Weissbooks,
Frankfurt a. M. 2010. 96 Seiten, Fr. 26.90.
Rainer Maria Rilke: Briefe an die Mutter.
Hrsg. Hella Sieber-Rilke. Insel, Frankfurt
a. M. 2009. 2 Bde., 760/770 Seiten, Fr. 159.–.
Die 1968 bei Hannover geborene Autorin Arezu Weitholz hat als Journalistin
für das Magazin der «Süddeutschen
Zeitung», für «Spiegel Special», den
«Stern» und andere Magazine gearbeitet. Seit dem Album «Mensch» ist sie
als Textdichterin und -dramaturgin für
den Sänger Herbert Grönemeyer tätig.
Zum Spass schreibt sie zudem in der
Tradition von Morgenstern, Ringelnatz
und vor allem Heinz Erhardt heitere
Nonsense-Gedichte. Sie handeln allesamt von Fischen und klingen beispielsweise so: «Der schlechtgelaunte Zackenbarsch / kauft T-Shirts immer extra
large. / Er ist nun mal nicht mehr so
schmal / wie früher. Nein, das war einmal.» Die Dichterin hat ihre Verse
alphabetisch nach Fischnamen angeordnet und plakativ illustriert. «Die
blaue Forelle / schwamm im Gefälle /
gegen ne Welle / jetzt hatse ne Delle.»
Manfred Papst
Über 1100 Briefe hat Rainer Maria Rilke
(1875–1926) als Erwachsener an seine
Mutter geschrieben. Sie liegen nun
erstmals vollständig vor; ediert hat sie
die Ehefrau von Rilkes Enkel Christoph.
Die ausführlichen, in lebhaftem Konversationston gehaltenen Briefe zeigen
den Dichter der «Duineser Elegien»
und der «Sonette an Orpheus» als folgsamen Sohn. Er lässt seine Mutter, eine
prätentiöse, dominante Frau aus einer
Prager Fabrikantenfamilie, an seinem
äusseren Leben teilhaben, verschweigt
ihr aber alle seine Konflikte, Nöte, Krisen. Sein Leben lang schont er sie,
während sie ihm stets aufs Neue ein
schlechtes Gewissen bereitet. Der Herausgeberin scheint das verborgen zu
bleiben. Aber wir können zum Glück
die Originale lesen. Die Gegenbriefe
haben sich übrigens nicht erhalten;
Mutter und Sohn haben sie vernichtet.
Manfred Papst
Asaf Schurr: Motti.
Roman. Berlin-Verlag, Berlin 2010.
218 Seiten, Fr. 37.90.
Anne Weber: Luft und Liebe.
Roman. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2010.
189 Seiten, Fr. 31.90.
Was für ein eigenartiges Buch. Was für
eine eigenartige Geschichte, auf welch
eigenartige Weise erzählt. Sie spielt
in Israel und handelt von zwei ungleichen Freunden: Motti und Menachem.
Motti ist der introvertierte Einzelgänger, Menachem der verheiratete Draufgänger. Schon im Militär standen sie
auf verschiedenen Hierarchiestufen.
Sie gehen trinken, Menachem fährt auf
dem Heimweg eine Frau tot, Motti geht
für ihn ins Gefängnis. Warum? Man
wird es nie erfahren. Asaf Schurr, 1976
in Jerusalem geboren, wurde für seinen
zweiten Roman in Israel mehrfach ausgezeichnet. Er räsoniert über Mottis
Beweggründe und weiss selbst keine
Antwort. Motti liebt das Nachbarsmädchen und seine Hündin. Doch als er
aus dem Gefängnis zurückkehrt, sind
beide weg. Ein lakonischer Roman über
Sehnsucht und verschiedene mögliche
Leben.
Regula Freuler
Was die seit fast 20 Jahren in Paris
lebende Autorin und Übersetzerin
Anne Weber mit ihrem sechsten auf
Deutsch erschienenen Buch vorlegt,
könnte man «Literatur-Literatur» nennen: hohe sprachliche Virtuosität,
Handlung sekundär, Hang zur Innerlichkeit. Die Geschichte handelt von
einer in Paris lebenden Autorin etwas
über 40, die einen verarmten Adligen
kennenlernt. Sie möchten ein Kind, es
klappt nicht. Man vertraut sich der
«Hoffnungsmedizin» an, aber er kneift
in letzter Sekunde und entpuppt sich
als Schwindler. Weber hält der Hauptfigur den Schmerz des Betrugs mittels
verschiedener Ichs und Sies (die Hauptfigur schreibt einen Roman über das,
was ihr widerfahren ist) auf Distanz –
ein erzählerischer Twist, der die Blutleere des Buches jedoch nicht zu
kaschieren vermag. Nominiert für den
Preis der Leipziger Buchmesse.
Regula Freuler
Christoph Ransmayr: Odysseus,
Verbrecher. Schauspiel einer Heimkehr.
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2010.
120 Seiten, Fr. 22.–.
hoLGer JaCoBY
Von Stefana Sabin
In den homerischen Epen trägt Odysseus zum Sieg im Trojanischen Krieg
bei und kehrt nach jahrelanger Irrfahrt
in seine Heimat Ithaka zurück. Odysseus’ Reise ist ebenso zum Topos der
abendländischen Literatur geworden
wie seine Rückkehr in eine fremd
gewordene Heimat. Diese Heimkehr in
die Fremde hat nun der österreichische
Dichter Christoph Ransmayr zum Motiv
eines Theaterstücks gemacht, das er als
«Schauspiel einer Heimkehr» bezeichnet. Darin zeigt Ransmayr den erfolgreichen Krieger als glücklosen Rückkehrer, der weder seine Heimat noch
seine Frau erkennt und der selbst nicht
als Held, sondern als Vertreter einer
vergangenen Ordnung angesehen wird.
«Aus einem Krieg ... ist noch keiner
heimgekehrt – jedenfalls nicht als der,
der er war», sagt Athene, die als bewaffnete Strandläuferin die Erste ist, die
Odysseus in Ithaka begegnet. Odysseus’
Versuch, die Veränderungen der Landschaft und der Leute zu ignorieren, machen ihn zu einem nostalgischen Konservativen, gegen den sich Penelope und
ihr reformerischer Kreis wenden. Nachdem er von seiner Frau abgewiesen und
vom gesellschaftlichen Geschehen ausgegrenzt wird, verfällt Odysseus in Verzweiflung und schliesslich in gewalttätige Wut. So bestätigt er Penelopes Vorwurf, dass er noch immer der Krieger
ist, der seine Gegner tötet.
Hatte er schon in seinem frühen
Roman «Die letzte Welt» (1988) die
Antike als Fundus von Geschichten
benutzt, so bearbeitet Ransmayr in seinem neuen Stück den homerischen Stoff
zeitgeistgemäss: Den Krieger deklariert
er zum Verbrecher, zeigt die Unmöglichkeit der Rückkehr und postuliert die Notwendigkeit von
Reformen. Auch indem er Schlagwörter aus dem Nachrichtenjargon verwendet, versetzt er
Odysseus’ Geschichte in die
Gegenwart. Ob dieses arg
plakative Stück, das Ende
Februar im Rahmen des
Veranstaltungsprogramms
zur Kulturhauptstadt Europas «Ruhr 2010» am
Schauspiel Dortmund
uraufgeführt wird,
eine Wirkung entfaltet, wird sehr von
dem Geschick des
Regisseurs abhängen. l
28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Interview
Vor 750 Jahren wurde der grosse christliche Theologe Meister Eckhart
geboren. Er gilt als Hauptvertreter der Mystik, doch einer seiner besten
Kenner, der Philosophiehistoriker Kurt Flasch, möchte ihn nicht in diese
Ecke gerückt wissen. Interview: Manfred Papst
In der Zeit und
nicht in der Zeit
Bücher am Sonntag: Herr Flasch, Sie beschäftigen
sich seit 60 Jahren mit Meister Eckhart. Was fasziniert Sie an ihm?
Kurt Flasch: Er war ein so tiefsinniger wie luzider Denker, der wichtige Strömungen der antiken griechischen und römischen Philosophie,
aber auch der arabischen Überlieferung mit
Elementen der christlichen Anschauung verband und auf diese Weise zu bis heute wichtigen
Erkenntnissen gelangte.
Aber als Mystiker möchten Sie ihn doch nicht
bezeichnen?
Der Begriff behagt mir in diesem Zusammenhang nicht, weil er Dunkelheit, Irrationalität, ein
Kreisen ums Unaussprechliche suggeriert. Meister Eckhart war ein hochgebildeter, eloquenter,
urbaner Mensch, der sich klar und differenziert
äusserte. Am Anfang seines Kommentars zum
Johannes-Evangelium legt er mit aller Deutlichkeit dar, was das Ziel aller seiner Schriften ist: Er
will mit philosophischen Argumenten die Wahrheit sowohl des Alten wie des Neuen Bundes
beweisen. Deshalb ist er für mich in erster Linie
ein erstaunlicher Denker.
Haben Sie Eckhart immer so gesehen?
Keineswegs! In meinen jungen Jahren hielt ich
ihn für einen genialen Wirrkopf, der weit entfernt von der Klarheit eines Anselm von Canterbury oder Wilhelm von Ockham war. Übrigens
hielt auch Ockham selbst Eckhart für verrückt.
Besonders in den lateinischen Schriften des
gelehrten Mönchs stiess ich anfangs auf Granit.
Kurt Flasch
Kurt Flasch wurde 1930 in Mainz geboren.
Bis zu seiner Emeritierung war er Professor für
Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum.
Er lehrte aber auch in Frankreich und in Italien.
Flasch gilt weltweit als einer der besten Kenner
des spätantiken und mittelalterlichen Denkens.
Über Augustinus, Dietrich von Freiberg, Meister
Eckhart, Nikolaus von Kues hat er massgebliche
Werke verfasst, aber auch Studien zur neueren
Geistesgeschichte und bewegende Jugenderinnerungen («Über die Brücke»). Sein
neuestes Buch, «Meister Eckhart – Philosoph
des Christentums», erscheint im März bei
C. H. Beck (358 Seiten, Fr. 42.90). Kurt Flasch
wird am 12. März achtzig Jahre alt.
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010
«Gott ist bei Eckhart das
Licht der Seele. Es geht um
eine neue Grundkonzeption
des Christentums aufgrund
einer neuen menschlichen
Selbstbesinnung.»
Ich brachte sie überhaupt nicht mit seinen weit
bekannteren deutschen Predigten und Traktaten
zusammen. Später erst entdeckte ich die Vielfalt
und Schönheit seiner lateinischen Schriften.
Eckharts deutsche Schriften sprechen auch Laien
bis heute durch ihre Unmittelbarkeit und Originalität an. Ihre Sprache ist farbig, poetisch und kräftig. Sind die lateinischen Schriften trockener,
gelehrter, scholastischer?
Ich finde nicht! Das Lateinische um 1300 ist ja
eine ungeheuer biegsame, lebendige und dichterische Sprache. Denken Sie nur an die Carmina
Burana oder an die sinnliche Schönheit der
Liturgie. «Stabat Mater dolorosa / iuxta crucem
lacrimosa /dum pendebat filius»: Das ist doch
wunderbar gelungen, die reinste Sprachmusik.
Und vergessen Sie nicht, dass der Reim eine
Erfindung des 12. Jahrhunderts ist. Die gesamte
antike Welt kannte ihn nicht.
Wie würden Sie Meister Eckharts Grundgedanken
zusammenfassen?
Er sagt zum Menschen: Mach dir klar, was du
bist. Du bist kein Ding in der Natur. Du bist auch
nicht nur von Trieben bestimmt. Du bist ein
Zentrum von Wertungen und Einsichten. Der
Besitz-Individualismus ist ein grosses Übel, das
du durch Abscheidung deiner Person von allen
Dingen überwinden musst. Wenn dir das gelingt,
dann hast du den Anfang eines neuen Begriffs
von Gott.
War das damals eine revolutionäre Erkenntnis?
Absolut! Eckhart hat nie gemeint, dass er sagt,
was alle sagen. Er hat immer gesagt: Ich sage
etwas Neues, und das kommt euch monströs und
falsch vor. Ihr müsst Zeit haben, das zu durchdenken. Und dieser Zeitaufwand, der gilt zunächst einmal für diese Selbsterkenntnis: Wer
bin ich? Der idealistische Philosoph Fichte hat
um 1800 einmal gesagt, die Menschen liessen
sich lieber einreden, ein Stück Lava auf dem
Mond zu sein als ein Ich. Natürlich haben Eckhart
und Fichte nicht dasselbe gelehrt. Aber eine
ähnliche Ermahnung, sich über das eigene Ich
erst einmal Gedanken zu machen und von da
einen neuen Gottesbegriff zu denken, haben sie
schon gemeinsam. Einen Gottesbegriff, der nicht
aus der Naturordnung gewonnen ist wie bei
Thomas von Aquino und bei Aristoteles.
Aber Eckhart kommt doch über die arabischen
Vermittler Avicenna und Averroes, wie Sie selbst
dargelegt haben, letztlich von Aristoteles her?
Aristoteles ist enorm wichtig für Meister Eckhart. Er ist in hohem Masse ein Philosoph der
Natur und insofern ein Aristoteliker. Doch die
ganze christliche Lehre, das ganze Verhältnis zur
Schrift wird bei ihm erneuert. Er bezieht die
Rede, dass Gott Mensch geworden ist, nicht
mehr nur auf ein historisches Ereignis in Bethlehem, sondern auf die Selbstwahrnehmung des
Menschen.
Können Sie das etwas näher ausführen?
Gott ist bei Eckhart das Licht der Seele, aber er
ist nicht mehr primär der Urheber der Natur. Es
geht also um eine neue Grundkonzeption des
Christentums aufgrund einer neuen menschlichen Selbstbesinnung und einer philosophischen Korrektur der bis dahin überwiegenden
Orientierung an den Naturdingen. Du bist kein
Naturding, sagt Eckhart, sondern ein Kind Gottes. In der Bibel steht: Gott gab dir die Macht, ein
Kind Gottes zu werden. Es liegt an dir.
Weshalb wurde Eckharts Denken von manchen
Zeitgenossen als häretisch empfunden?
Um 1300 gerät der Anspruch der Scholastik, auf
alles eine eindeutige Antwort geben zu können,
in eine Krise, und Meister Eckhart spricht das
aus. Sein Anliegen ist es, auch Gegensätzliches
zusammenzudenken. Gott ist da, und er ist nicht
da. Er ist in der Zeit, und er ist nicht in der Zeit.
Er ist gut, aber mit dem menschlichen Begriff
der Güte nicht zu fassen. Was begreiflich ist,
kann nicht Wahrheit sein. Auch die Idee des
Ewigen im Zeitlichen beschäftigt Eckhart. In der
ersten Pariser Quästio schreibt er: Wo du Weisheit antriffst, auch wenn du sie im Menschen
antriffst, findest du etwas, das seiner Natur nach
nicht als erschaffen gedacht werden kann.
Hatte Eckhart zu Lebzeiten mit seinen Ideen
Erfolg?
MIChaeL hUDLer
Philosoph und einer der besten Kenner des mittelalterlichen Denkens: Kurt Flasch in seiner Studierstube in Mainz, Februar 2010.
28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Interview
Wie sehen Sie ihn im Verhältnis zu einem Reformator wie Luther?
Zu dieser Frage hat der Wiener Kulturhistoriker
Egon Friedell etwas Geniales gesagt. Er vergleicht Luther mit einem heftigen Gewitter, nach
dem zwar die Luft gereinigt, sonst aber alles
mehr oder weniger beim Alten ist, Eckhart aber
mit einem Klimawechsel, der neue Pflanzen und
Tierarten hervorbringt, also eine ganze neue
Epoche. Nur hat das Gewitter in der historischen
Realität stattgefunden und die bekannten Folgen
gezeitigt, während der Eckhartsche Klimawechsel eine Idee blieb.
In was für eine Zeit wurde Eckhart geboren?
Im frühen 14. Jahrhundert sah sich das Christentum grundsätzlich in Frage gestellt. Es gibt kaum
eine andere Zeit, in der so viele neue religiöse
Ideen aufkamen. In Paris, Florenz, Padua, Bologna. Die Zeit um 1300 ist die Zeit Giottos und
Dantes, Petrarcas und Boccaccios, auch die Zeit
des grossen Katalanen Raimundus Lullus. Das
Problem des Islam wird dauernd diskutiert.
Dante leidet darunter, dass Vergil als Ungetaufter nicht ins Paradies kommen kann. Es blühen
tausend Ideen. Gleichzeitig ist das kirchliche
Lehrsystem sehr festgelegt, ja sklerotisch.
Meister Eckhart
Eckhart von Hochheim, genannt Meister
Eckhart, wurde um 1260 in Tambach bei Gotha
geboren und starb 1328, wahrscheinlich in
Avignon. Er gehörte dem Dominikanerorden an
und war einer der bedeutendsten Theologen
und Philosophen des ausgehenden Mittelalters.
Kurz nach seinem Tod, 1329, wurde ein Teil
seiner Lehre vom Papst als Irrlehre verurteilt.
Meister Eckharts bekannteste Werke sind seine
in zahlreichen Handschriften überlieferten
deutschen Predigten und Traktate, er verfasste
jedoch auch etliche lateinische Bücher. Sein
Denken wirkt bis in unsere Zeit nach, während
sein Leben weitgehend im Dunkeln bleibt.
Paul Altheer
Die 13 Katastrophen
Worin äusserte sich das?
Papst Johannes XXII. sah überall Irrlehren am
Werke. Er war erst mit 72 Jahren an die Macht
gekommen, und viele hofften, er würde nicht
lange bleiben. Aber er regierte noch über 18
Jahre lang und kümmerte sich um alles. Sein Ziel
war die Vereinheitlichung der Lehre. In diesem
Bestreben traf er sich mit den konkurrierenden
Orden. Kurz nach Eckharts Tod im Jahr 1328
erklärte er einen Teil von dessen Lehren für
häretisch. Der Besitz, das Studium und die Verbreitung von Schriften Eckharts waren fortan
verboten.
Was wissen wir über Eckhart als Person?
Leider fast gar nichts. Wir haben noch nicht einmal einen Brief von ihm. Es ist mit ihm ähnlich
wie mit Dante. Wir wissen nicht, wie er ausgesehen hat, und kennen nur wenige seiner Lebensstationen. Wir wissen, dass er um 1260 geboren
wurde, wahrscheinlich in Tambach bei Gotha,
und wir kennen seine hohen Ämter im domini«Eckhart hat ins 20. Jahrhundert gewirkt»: Kurt Flasch.
«Eckhart glaubte nicht an
eine Reform und resignierte
kirchenpolitisch. Die
Menschheit war noch nicht
reif für seine Lehre, ist es
vielleicht nie geworden.»
Wie wirkte Eckhart nach seinem Tod weiter?
Die wichtigste entwicklungsgeschichtliche Linie
geht über Nikolaus von Kues. Damals war Eckhart ein verfemter Autor. Der Besitz seiner
Werke war verboten. Kues hat sie sich eigens
abschreiben lassen, sie genau durchgearbeitet
und viele Ideen aufgenommen.
kanischen Orden sowie seine akademischen
Auftritte als Magister in Paris. Damals gab es
etwa zehn Magistri für Theologie in Paris. Die
französische Hauptstadt und nicht etwa Rom
war damals das intellektuelle Zentrum der
Christenheit. Wir kennen Eckharts Auftrittsjahre 1302/03 und 1311/12. Wir wissen, dass er
Anfang 1328 gestorben ist. Am besten kennen wir
natürlich die Akten des Prozesses gegen ihn, der
seine letzten Lebensjahre überschattete. Sie sind
nun endlich ediert.
War Eckhart ein politischer Kopf?
An Kirchenreformen und Staatspolitik war er
nicht genuin interessiert. Er hatte eine soziale
Ethik, und er hatte eine Idee von einer religiösen
Gemeinschaft. Diese war eher unitaristisch als
liberal. Aber im Ganzen hatte er kein Vertrauen
in die öffentliche Sphäre. Er ignorierte sie weitgehend. Ihm ging es um etwas anderes: Um die
Abgeschiedenheit des Einzelnen, die Überwindung des individuellen Strebens, das Einswerden
mit Gott, der doch stets unerforschlich und
unfassbar bleibt.
EIN DETEKTIVROMAN
NEU ENTDECKT
IRONISCH UND
SPRITZIG
Roger Reiss
Nicht immer leicht,
a Jid zu sein
Geschichten aus dem jüdischen Genf
MIChaeL hUDLer
Er hatte Anhänger. Das bezeugt die grosse
Zahl zeitgenössischer Abschriften seiner Werke.
Aber letztlich setzte er sich nicht durch. Seine
Revolution konnte nicht gelingen. Insofern ist
Eckhart auch eine tragische Gestalt. Er hielt die
Kirche für zu reich, für zu mächtig, er glaubte
nicht mehr an eine Reform. Zwar war er nach
allem, was wir aus seinen Schriften schliessen
können, eine heitere und souveräne Gestalt.
Aber kirchenpolitisch resignierte er. Die
Menschheit war noch nicht reif für seine Lehre,
ist es vielleicht nie geworden.
Und wie sieht es in unserer Zeit aus?
Eckhart hat auch stark ins 20. Jahrhundert
gewirkt. Georg Lukacs und Robert Musil haben
ihn gelesen. Der «Mann ohne Eigenschaften» ist
eine Idee, die bei Eckhart auftaucht, allerdings
schon auf Dietrich von Freiberg zurückgeht.
Auch Ernst Bloch, Erich Fromm, Paul Celan
und Martin Heidegger haben sich mit Meister
Eckhart beschäftigt. Heideggers späte Technikkritik, die in so merkwürdigem Gegensatz zu
seiner Technikverehrung während der Nazizeit steht, aber auch seine Konzeption der
Gelassenheit haben mit Eckharts «Abgeschiedenheit» zu tun.
Wie können heutige Leser einen Einstieg in Meister Eckharts Werk finden?
Am besten wohl über das «Buch der Tröstungen». Da hat man eine hervorragende, deutsch
geschriebene Darstellung der Grundideen
Eckharts. Wer sie aber nicht nur herunterschlucken, sondern durchdenken will, der braucht
Hilfe. Der Text steht in einer grossen Tradition
und weicht doch entscheidend von ihr ab. Um
das zu erklären, habe ich mein neues Buch
geschrieben. l
GESCHICHTEN
AUS DER
CALVIN-STADT
GEISTREICH UND
WITZIG
CHRONOS
seit 25 Jahren
Bücher
zur Zeit
<wm>10CAsNsjY0MDAx1TWwNDMzNgMAmjCr9Q8AAAA=</wm>
<wm>10CEXKSwqAMAxF0RU1vKQmJWbYz6iIqLj_pShOvHBmd85Qwqf27epHMLBogptlC3UlKRbsQkUtIG9grCzZ2ZQ5_jvVlk5gADeY9jYekV6B910AAAA=</wm>
Detektivroman
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von
Paul Ott, Kurt Stadelmann und Dominik Müller
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010
Paul Altheer
Die 13 Katastrophen
Ein Detektivroman. Nachdruck
der Erstausgabe von 1928.
Roger Reiss
Nicht immer leicht,
a Jid zu sein
Geschichten aus dem
jüdischen Genf
2010. 126 S. Geb. CHF 34
2010. 171 S. 12 Abb. Br. CHF 28
Chronos Verlag
Eisengasse 9
8008 Zürich
www.chronos-verlag.ch
[email protected]
Kolumne
Charles Lewinskys Zitatenlese
Über Plagiatoren
soll man nicht allzu
hart urteilen. Es
kann durchaus ein
Milderungsgrund sein, dass ihre
Einfälle nicht von ihnen stammen.
Kurzkritiken Sachbuch
Willi Wottreng: Verbrechen in der
Grossstadt. Kriminalgeschichte Zürichs.
Orell Füssli, Zürich 2009. 271 S., Fr. 39.90.
Monika Stocker: He, dich kenne ich doch.
Agendanotizen. Limmat, Zürich 2010.
127 Seiten, Fr. 28.-.
Ein Lustmörder ersticht Prostituierte,
eine Amerikanerin blufft tout Zurich,
ein kleiner Visitenkarten-Drucker
fälscht grandios Tausendernoten. Messerstecherei und Erpressungen zuhauf,
Landesverräter, Bombenleger und Drogendealer auch. Dieses Sittengemälde
Zürichs ist starker Tobak. 24 Kriminalfälle aus 100 Jahren hat der Autor und
«NZZ am Sonntag»-Redaktor Willi Wottreng rekonstruiert. Wie ein Kriminalist
ging er dabei zu Werke, fischte Dokument um Dokument aus den Archiven,
37 Seiten umfassen allein Anmerkungen
und Quellenverzeichnis. Und weit mehr:
Jeder schnell und präzis erzählten und
mit launigen Stilpreziosen gewürzten
Verbrecheranekdote aus dem Grossstadtmilieu folgt eine feuilletonistische
Skizze, die das Verbrechen in seinen
zeitgenössischen Kontext setzt. Ein
gefährlicher Cocktail aus Geschichte,
Deutung und Hochspannung.
Daniel Puntas Bernet
Zwei Jahre nach ihrem Rücktritt legt
Monika Stocker eine Sammlung von 50
«Agendanotizen» vor. Sie handeln von
Menschen, denen sie als Zürcher Stadträtin (1994–2008) begegnet ist. Mit feiner Ironie und leichter Feder erzählt sie
vom Besuch vier aufgeregter Herren der
Uno-Drogenbehörde im Zürcher Stadthaus. Berührend schildert sie den vergessenen 9-Jährigen, der in der Wohnung zurückbleibt, als seine Mutter, eine
«Illegale», ausgeschafft wird. Von der
Frau im Rollstuhl ist die Rede, die im
Zürcher Hauptbahnhof Passanten segnet, und von anderen schrägen Vögeln.
Ganz ohne Sozialromantik und politische Seitenhiebe kommen die Miniaturen daher. Und nur selten blitzt Selbstlob oder Rechtfertigung durch wie etwa
beim «Hotel-Fall». Mit dem Büchlein
gelingt Monika Stocker ein leiser, würdiger Abschied von ihrem Amt, in dem sie
nicht ganz unumstritten war.
Urs Rauber
Lukas Thommen: Umweltgeschichte der
Antike. C. H. Beck, München 2009.
188 Seiten, Fr. 22.90.
Robert Zimmer: Basis-Bibliothek
Philosophie. 100 klassische Werke.
Reclam, Stuttgart 2009. 274 Seiten, Fr. 18.90.
Die Geschichte der Umwelt ist genauso
alt wie die Menschheit selber, erforscht
wird sie aber erst seit kurzer Zeit. Der
Althistoriker Lukas Thommen liefert in
einer gedrängten Einführung die Grundlagen, die in der griechisch-römischen
Antike das Verhältnis zwischen Mensch
und Natur bestimmten. Konkret: Wie
funktionierte die Landwirtschaft, wie
die Nahrungsmittelbeschaffung? Wie
veränderte sich der Wald, der den
unglaublichen Holzbedarf für Haus- und
Schiffsbau, für Heizen und Kochen, für
Metall-, Glas- und Töpferhandwerk zu
stillen hatte. Holz war die fast einzige
Energiequelle der Antike. Aber auch die
Probleme einer Grossstadt wie Rom
kommen zur Sprache. Wie ging man mit
Abfall und Abwasser um, wie war es um
die Hygiene bestellt? Vieles kann lediglich angetippt werden. Eine Bibliografie
bietet weiterführende Literatur an.
Geneviève Lüscher
Ein klassisches und oft schwieriges Werk
der Philosophie: Blaise Pascals «Gedanken» oder Spinozas «Ethik», auf zweieinhalb Buchseiten vorstellen – kann das
gutgehen? Es kann. Dem Autor gelingt es,
100 Bücher der grossen philosophischen
Denker (fast) immer ausgezeichnet verständlich vorzustellen. Von den Fragmenten der Vorsokratiker bis zu Jürgen
Habermas chronologisch nach Erscheinungsjahr geordnet, werden Werk und
Verfasser in die Philosophiegeschichte
eingebettet, wird auch klar gesagt, wenn
das betreffende Buch eine «Satz für Satz
sich vortastende Lektüre erfordert» oder
ein «theoriebeladener Text» vorliegt.
Wer über vielgehörte, aber nie richtig
verstandene Namen mehr wissen möchte
– sei es William von Ockham oder Duns
Scotus, John Rawls oder Paul Feyerabend
– findet hier eine ebenso kurze wie erhellende Einführung.
Kathrin Meier-Rust
keYStone
George Bernard Shaw
Charles Lewinsky,
63, ist Schriftsteller,
Radio- und TV-Autor
und lebt in Frankreich.
Sein letztes Buch
«Doppelpass» ist
2009 bei Nagel &
Kimche erschienen.
Helene Hegemann hat abgeschrieben,
und das ist ja auch nicht weiter
schlimm. Letzten Endes kommt es doch
nur darauf an, ob sie ein gutes Buch
geschrieben hat oder nicht.
Und man hätte es ja ahnen können.
Schliesslich kommt schon im Titel
ihres gerade für den Leipziger Buchpreis nominierten Buches der «Roadkill» vor, jenes zufällig überfahrene
Tier, das so mancher Fahrer mit nach
Hause nimmt, um sein eigenes Süppchen daraus zu kochen.
Schlimm ist nur, was sie bei manchen
Kritikern damit angerichtet hat. Beim
Versuch zu erklären, warum das allgemein gepriesene Meisterwerk durch
das Copy-paste-Verfahren der Jungautorin nicht etwa fragwürdiger, sondern im Gegenteil noch viel meisterwerkiger geworden sei, haben sich
nämlich manche Mitglieder dieser
exklusiven Gilde das kritische Rückgrat
verrenkt. Und das muss doch wehtun.
Den schönsten Satz fand ich in einer
deutschen Wochenzeitung von anerkannter Journalistizität. (So ein Wort
gibt es nicht, meinen Sie? Sie werden
sich wundern.) «So komisch es klingt»,
stand da, «die Literarizität von Helene
Hegemanns Roman nimmt durch diese
Abschreibe-Kunst eher zu als ab.» Die
Feststellung ist, mit Verlaub, nicht
komisch, sondern nur lächerlich. Und
zwar nicht nur wegen ihrer sprachlichen Blödizität.
Wenn man den Satz ernst nähme,
hiesse er nämlich ins Deutsche übersetzt: «Der Roman ist besser geworden,
weil die Autorin so viel abgeschrieben
hat.» Was logischerweise bedeuten
würde: Er wäre noch viel besser geworden, wenn sie noch mehr abgeschrieben hätte. Und am allerbesten, wenn
sie bei «Projekt Gutenberg» gleich
einen ganzen fremden Roman eingescannt und unter eigenem Namen
publiziert hätte. (Wenn es darin auch
um jugendlichen Gefühlsüberschwang
gehen soll, würde ich «Die Leiden des
jungen Werther» vorschlagen.)
Nein, ich finde es wirklich nicht weiter schlimm, dass Helene Hegemann
abgekupfert hat. In ihrem Alter haben
wir das in der Schule alle getan. Aber
man sollte sich deswegen auch nicht
beim kritischen Spagat das Urteilsvermögen verbiegen. So was kann zu chronischen Schäden führen.
PS:
Um auch dieser Glosse eine Prise
der neuerdings angesagten Abschreibizität zu verleihen, hier noch ein
abgeschriebener alter Witz-Dialog.
«Sie sind Schriftsteller?»
«Ja, ich schreibe ab
und zu.»
«Auch zu?»
28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch
Musik Zum 200. Geburtstag des polnischen Komponisten Frédéric Chopin am 1. März
sind neue Monografien erschienen: eine Populärbiografie und ein opulenter Bildband
Seine Lektionen
am Klavier
waren Kult
Eva Gesine Baur: Chopin oder
Die Sehnsucht. C. H. Beck, München
2009. 563 Seiten, Fr. 42.90.
Mieczysław Tomaszewski: Chopin.
Ein Leben in Bildern. Schott Music,
Mainz 2009. 359 Seiten, Fr. 80.90.
Von Corinne Holtz
Der Klavierunterricht vieler Amateure
endet nicht selten dort, wo Frédéric
Chopin (1810–1849) angeblich beginnt:
bei einem seiner Valses, die er vorzugsweise Gräfinnen, Baroninnen und Prinzessinnen widmet. Chopin unterrichtet
um die 150 Schüler und sichert sich
damit seinen Lebensunterhalt. Darunter
sind vorwiegend adelige Frauen wie
etwa Fürstin Wanda Radziwiłł, die «17
Jahre, schön» und begabt ist, also «recht
reizvoll, ihr die Fingerchen zu richten».
Chopins Lektionen sind Kult, auch wenn
sie in «Gewitterstunden» münden können – dann nämlich, wenn der als scheu
geltende Feingeist die Fassung verliert
und «Stühle» zerbricht.
Über Chopin schreiben zu können, ist
ein Fest und gleichzeitig eine Krux.
Künstlermythos und Geniekult haben
schon zu Lebzeiten sein Werk überwuchert, und als der «Frühvollendete»
mit 39 Jahren an den Folgen der Tuberkulose und entfremdet von seiner
Geliebten George Sand stirbt, ist die
Legendenbildung bereits im Gange. Das
hat Chopins Berühmtheit genützt, sei16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010
ner Musik jedoch geschadet und Sekundärliteratur der unterschiedlichsten
Motivation befördert. Die deutsche Kulturhistorikerin und Journalistin Eva
Gesine Baur hat in den letzten zehn Jahren an die dreissig Bücher verfasst, darunter Belletristik unter dem Pseudonym
Lea Singer, und legt jetzt nach eigener
Aussage eine «Sachbiografie» vor.
Der polnische Musikwissenschafter
und Publizist Mieczsław Tomaszewski,
fundierter Kenner Chopins und Autor
der lesenswerten Monografie von 1999,
gibt im Jubiläumsjahr das Leben Chopins in Bildern heraus.
Konventionell, mit Emphase
Baur meint es ernst, wenn sie sagt, sie
beginne erst dann zu schreiben, wenn
sie ihrem «Protagonisten nahe gekommen» sei, «seine Seele wirklich verinnerlicht, sein Seelenleben durchschaut»
habe. Die Autorin sitzt mit Chopin in
der Kutsche, sie weint mit ihm, wenn er
Warschau verlässt, sie weiss, dass ihm
jemand fehlt, «dem er alles anvertrauen
kann», und dass sich Chopin schwertut
mit «lauteren, derberen, einfacheren
Menschen». Allen voran «Leroux mit
seinen schmutzigen Fingernägeln»,
einer der «Sozialistenfreunde von George». Die Autorin bedient die Erwartungen an eine konventionelle Biografie:
Chronologie und Vollständigkeit sind
Baur wichtig, sowie die Empathie, die
sie immer dann mit der Distanz tauscht,
wenn es das biografische Objekt zu ver-
stehen gilt. Dabei greift die Autorin auf
das Prinzip der Frage zurück, das auf
jeder fünften Seite anzutreffen ist und
damit ermüdet. «Meint George, die körperliche Leidenschaft schade Chopin,
will sie ihn schonen? Oder verspürt sie
kein Verlangen nach diesem Mann, den
sie mon malade ordinaire, mein Immerkranker nennt?» Die Musik bleibt abgesehen von Gemeinplätzen ausgespart,
im Zentrum steht die Ausleuchtung privater und sexueller Details. Die Autorin
neigt der Küchenpsychologie zu und
zeichnet ein insgesamt restauratives Bild
von Chopin und seiner Zeit. Als
ob es weder Biografieforschung noch
Musikwissenschaft gäbe, die sich kritisch mit Geschichtsschreibung befasst.
Ganz anders ist der Ton bei Tomaszewski, der 1921 in Posen zur Welt kam
und neben dem Schweizer Musikwissenschafter Jean-Jacques Eigeldinger einer
der führenden Chopin-Forscher ist. Der
Bildband führt auf knapp vierhundert
Seiten in thematischen Kapiteln durch
Leben und Werk Chopins: von «Das
Haus» über «Die Wurzeln» nach «Paris»,
von «Mallorca» nach «Nohant» bis hin
zur «Resonanz». Der Schreibstil ist flüssig, fast frei von Pathos, und der Autor
geht humorvoll-kritisch mit dem stets
über seine Verhältnisse lebenden Protagonisten um. Chopin hat in Paris in neun
Wohnungen meist an bevorzugter Lage
gelebt, «es muss ruhig sein, still» und
darf «keine Schmiede in unmittelbarer
Nachbarschaft, keine leichtfertigen
Der sehr junge
Frédéric Chopin am
Klavier, die Knaben
des Chopinschen
Pensionats lauschen.
Ölbild von Andrew
Carrick Gow, 1879.
Damen» haben. Der Autor unterhält,
ohne in dem opulent illustrierten Bildband das Informieren zu vergessen und
weist darauf hin, dass die Chopin-Rezeption reich an Missverständnissen ist.
Das Verdikt, ein Salonkomponist im
Dienst einer überfälligen Aristokratie zu
sein, hält sich hartnäckig und wird durch
entsprechende Interpretationen untermauert. Chopin «steckt im Kot der Aristokratie» und komponiert das Gegenteil: «sehr schön und tief» – heisst es in
einem Brief an Robert Schumann, der
Chopins ausgeprägt persönliche Musik
zunächst als «Perlenschrift» feiert, sich
später von seiner hymnischen Einschätzung distanziert und die b-Moll-Sonate
abfällig als «Caprice» bezeichnet, in der
das Genie «vier seiner tollsten Kinder
zusammenkoppelte».
Ziselierte Melodik
Chopins Musik kann nur gerecht werden,
wer die Parameter der westeuropäischen Musik kennt und deren Herrschaft hinterfragt. Kontrapunktische
Dichte etwa und formale Stringenz
haben sich als Merkmal deutscher Musik
etabliert und gelten bis heute als Massstab von Qualität. Chopins ziselierte
Melodik hingegen, die sich einer
Mischung aus polnischer Liedkunst und
der intelligenten Praxis des Belcanto
verdankt, findet sich ausserhalb dieser
Koordinaten. Chopins Leistung besteht
darin, dass er kulturelle Aspekte (bei-
spielhaft in seinen Polonaisen und
Mazurken, die am Anfang und am Ende
seines Komponierens stehen) als «ein
Mittel ureigensten Ausdrucks» nutzen
kann und sich damit in die «europäische
Universalität» einschreibt. Die Tragik
dieses Künstlerlebens liegt in der doppelten Fremdheit – die Tomaszewski
anders als Baur explizit macht: Zum
einen als in der polnischen Musikkultur
verwurzelter Komponist und Interpret,
den nicht allein Mendelssohn als übertrieben gefühlsbetont empfand, zum
andern als Emigrant, der nach seiner
Ankunft in Paris im Jahr 1831 einem
Freund verrät: «Was meine Gefühle
betrifft, so bin ich immer in den Synkopen der anderen.» l
28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Gesellschaft Der Historiker Paul Nolte konstatiert in Europas Elite ein neues Interesse am Glauben
Religion wird wieder zum Gesprächsthema
Eine solche nämlich will Nolte wahrnehmen. Nicht etwa, dass die Kirchen
wieder voller wären. Auch nicht im
Erstarken des religiösen Fundamentalismus sieht Nolte das eigentlich neue Phänomen. Vielmehr sei die Religion aus
der privaten und kirchlichen Ecke, in die
sie lange als anachronistisches Relikt
verbannt war, herausgetreten und wieder Gegenstand des öffentlichen Gesprächs geworden. Natürlich habe auch
die Konfrontation mit dem militanten
Islam das Bewusstsein für die eigene
christliche Tradition geweckt. Doch den
wahren Grund für das neue Interesse
sieht Nolte in der westlichen Welt selbst:
in einem kulturellen Skeptizismus, der
Wachstumsoptimismus und Wissenschaftsgläubigkeit abgelöst habe.
Dazu passt, dass es sich um ein Elitephänomen handelt: Während Religion
in der normalen Bevölkerung nach wie
Paul Nolte: Religion und Bürgergesellschaft. Brauchen wir einen
religionsfreundlichen Staat? University
Press, Berlin 2009. 136 Seiten, Fr. 43.70.
Von Kathrin Meier-Rust
In seinem 2004 erschienenen Bestseller
«Generation Reform» plädierte der
deutsche Historiker Paul Nolte für eine
«Bürgergesellschaft», deren Verantwortungsethik der linken Staatsgläubigkeit
ebenso entgegentreten soll wie dem entfesselten Egoismus des Marktes und
der Verblödung der Spassgesellschaft.
Nolte ist damit zum prominenten Vertreter des neokonservativen Denkens in
Deutschland geworden. Sein jüngstes
Buch gilt nun der Wechselbeziehung
zwischen Bürgergesellschaft und einer
Renaissance der Religion in Europa.
vor erodiert, sind es die Intellektuellen
und Gebildeten, die religiöse Werte und
Wege wieder entdecken. Noch ist diese
religiöse Renaissance ein zartes Pflänzchen, doch es gelte dieses zu hegen.
Denn im Gegensatz zum religiösen Fundamentalismus seien gerade Religionen,
die durch die Hölle der Säkularisierung
gegangen sind, zu kritischer Selbstreflexion durchaus fähig. Umso wertvoller
die Ressourcen an Empathie und Engagement, die sie zu bieten haben.
Das schmale, gehaltvolle Buch ist
nicht leicht zu lesen, bewegt es sich
doch konstant auf hohem und abstraktem Niveau. Wer dem Phänomen auf die
Spur kommen möchte, dass sich Religiosität jenseits aller Fundamentalismen auch im Zentrum westlicher postmoderner Gesellschaften erstaunlich
hartnäckig behauptet, dem hat es viel zu
bieten. l
Zeitgeschichte Das Gespräch zwischen einem ehemaligen Bundeskanzler und einem emeritierten
Historiker erweist sich als literarischer Glücksfall
Helmut Schmidt parliert mit Fritz Stern
Helmut Schmidt, Fritz Stern: Unser
Jahrhundert. Ein Gespräch. C. H. Beck,
München 2010. 288 Seiten, Fr. 37.90.
Dass Politiker und Historiker miteinander ins Gespräch kommen, ist kein alltägliches Ereignis. Zwar befassen sich
beide mit demselben Stoff, den der eine
handelnd zu gestalten, der andere reflektierend zu durchdringen sucht. Dass aber
beides, Tatkraft und analytisches Vermögen, sich sinnvoll ergänzen, ist ein
seltener Glücksfall.
Ein solcher Glücksfall ist das vorliegende Buch. Es handelt sich um die
Aufzeichnung von Gesprächen, die Helmut Schmidt, deutscher Bundeskanzler
von 1974 bis 1982, und sein Freund Fritz
Stern, emeritierter Geschichtsprofessor
der New Yorker Columbia-Universität,
im Juni 2009 in Hamburg geführt haben.
Man unterhielt sich ausgiebig über alles,
was den historisch und politisch interessierten Zeitungsleser heutzutage beschäftigt. Die nun ungekürzt vorliegende
Niederschrift dieser Gespräche ist eine
spannende Lektüre; sie bewahrt ganz den
spontanen, heiteren und oft auch nachdenklichen Duktus einer Causerie, die
von rückhaltloser Offenheit geprägt ist.
Schmidt ist über neunzig, Stern über
achtzig Jahre alt. Es wundert nicht, wenn
beide Gesprächspartner von der Grunderfahrung der Hitler-Diktatur ausgehen,
die den einen in die Uniform des Frontsoldaten zwang und die Familie des
andern in die Emigration trieb. Gleich zu
Beginn wird denn auch die alte Frage,
wie es zu einem Hitler habe kommen
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010
aCtIon preSS
Von Urs Bitterli
können, diskutiert. Doch das Spektrum
der Themen, die von Schmidt und Stern
angesprochen werden, ist breit. Einen
wichtigen Platz nimmt selbstredend
Deutschland ein. Beide Gesprächspartner nehmen die Geschichte der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte wahr, sei
doch nach 1945 keineswegs mit der
Demokratisierung der Führungseliten zu
rechnen gewesen. Die deutsche Wiedervereinigung und den Zerfall der Sowjetunion haben beide aus nächster Nähe
verfolgt.
Oft sind sich der Politiker und der Historiker einig, so in der Betonung der
zentralen Bedeutung der deutsch-amerikanischen Beziehung, aber auch in der
ätzenden Kritik an Präsident George W.
Bush und seinen neokonservativen Beratern. Grosse Erwartungen setzen beide in den neuen Präsidenten Obama, für
den sich Stern als Wahlhelfer eingesetzt
hat. Weitere wichtige Themenbereiche
sind Israel und der Antisemitismus, die
militärischen Engagements im Irak und
Helmut Schmidt (r.),
deutscher Bundeskanzler von 1974 bis
1982: hier mit Richard
von Weizsäcker und
Ronald Reagan in
Berlin 1982.
in Afghanistan, die Zukunft der EU, die
Wirtschaftskrise und die Banken, die
atomare Abrüstung, die Nato-Osterweiterung. Stern wirkt in seinen Urteilen
zurückhaltender, differenzierter als
Schmidt, der gern zum gröberen Vokabular des Politikers greift, wenn er etwa den
Krieg als «Scheisse» bezeichnet, vom
«Saustall wie Hypo Real Estate» spricht
und die Boni der Banker «obszön» nennt.
Auffallend ist, dass vom internationalen
Terrorismus kaum die Rede ist, wenn
man bedenkt, dass die entschiedene Verteidigung des Rechtsstaats gegen den
deutschen Terrorismus der siebziger
Jahre zu Schmidts bedeutenden Verdiensten zählt.
Gern hört man als Leser diesen
Gesprächen zu und bewundert den
wachen Geist der bejahrten Herren, aber
auch ihre humorvolle Altersgelassenheit;
dann etwa, wenn Schmidt wegen seiner
Schwerhörigkeit den Gesprächspartner
bittet, langsamer zu reden, worauf dieser
antwortet, er müsse leider schnell sprechen, weil er sonst vergesse, was er habe
sagen wollen.
Natürlich ist manches von dem, was
hier zur Sprache kommt, nicht neu. Helmut Schmidt hat bereits vor zwei Jahren
mit seinem Buch «Ausser Dienst» eine
wichtige Bilanz gezogen, und von Fritz
Stern besitzen wir neben zahlreichen
Publikationen zur deutschen Geschichte
die eindrückliche Autobiografie «Fünf
Deutschland und ein Leben». Dennoch
bewahrt dieses informative und erhellende Gesprächsprotokoll eigenen und
unverwechselbaren
Charakter.
Ein
Glücksfall eben. l
Urs Bitterli war bis 2001 Professor für
neuere Geschichte an der Uni Zürich.
Deutschland Das politische Ausnahmetalent Helmut Kohl wird im kommenden April 80. Historiker
und Journalisten blicken auf den «Kanzler der Einheit» zurück
Virtuose der Macht
Hans-Joachim Noack, Wolfram Bickerich:
Helmut Kohl. Die Biographie. Rowohlt,
Berlin 2010. 300 Seiten, Fr. 34.90.
Heribert Schwan, Rolf Steininger: Helmut
Kohl. Virtuose der Macht. Patmos,
Mannheim 2010. 336 Seiten, Fr. 34.50.
Von Gerd Kolbe
DIether enDLICher / ap
Helmut Kohl hat mit seinem grossen
Vorbild und politischen Ahnherrn
Konrad Adenauer eins gemein: Er wird
Buchautoren und Historiker noch lange
zum Forschen und Schreiben animieren.
So ungewöhnlich war sein Aufstieg vom
Provinzpolitiker zum 16 Jahre lang
mächtigsten Mann Deutschlands, vom
anfänglich biederen Regierungschef, der
hinter seinen Vorgängern Brandt und
Schmidt zu verblassen schien, hin zum
weltweit geachteten Staatsmann, dem
die Chance zufiel, die deutsche Einheit
zu vollenden, und sie dann auch nutzte.
Wen kann es mithin wundern, dass
rechtzeitig zu Kohls 80. Geburtstag am
3. April dem Dutzend schon vorhandenen Biografien noch zwei weitere hinzugefügt werden.
Anekdoten und Historie
Um es vorwegzunehmen: Kohl stürzt
niemand mehr vom Denkmal des «Kanzlers der Einheit». Viel Neues gibt es
nicht. Die langjährigen «Spiegel»-Ressortchefs Hans-Joachim Noack und
Wolfram Bickerich konnten auf das
umfangreiche «Spiegel»-Archiv zurückgreifen. So mischten sie Historisches
mit Anekdotischem zu einem Buch, das
sich leicht liest und dabei auch noch den
Eindruck der Vollständigkeit vermittelt.
Heribert Schwan und Rolf Steininger,
der Kölner Journalist und der Innsbrucker Professor für Zeitgeschichte, kommen mit wissenschaftlichem Anspruch
daher, ohne freilich das ganz und gar
Menschliche in der Politik zu ignorieren. Ihre Kost wirkt schwerer, weil sie
sich in unendlich vielen Details verlieren. Dass das Buch aus langen Passagen
aus den bisher erschienenen «Erinnerungen» Kohls besteht, kann man ihnen
nicht zum Vorwurf machen. Auch die
«Spiegel»-Redaktoren kommen nicht
ohne Original-Zitate aus. Es zeigt sich,
wie der ehemalige Bundeskanzler mit
seinen drei Bänden – noch ist unklar, ob
der vierte Band angesichts Kohls angeschlagener Gesundheit jemals erscheinen wird – für jetzige und künftige Autoren gewollt oder ungewollt die Richtung
vorgibt.
Noack beschreibt die Anfänge des
politischen Ausnahmetalents namens
Kohl. Er schildert dessen «kaum zu
erschütternden Glauben an sich selbst»,
seine Liebe zur pfälzischen Heimat,
seine Begabung, Gleichgesinnte um sich
zu scharen und Netzwerke zu knüpfen.
Doch wer wusste schon, dass die Alt-
Hannelore und
Helmut Kohl in den
Ferien in Österreich
auf dem Wolfgangsee,
August 1989.
vorderen der CDU im Bundesland
Rheinland-Pfalz in Kohl einen «gefährlichen Unruhestifter» sahen, einen
Rebellen gar, der vorübergehend sogar
mit der Studentenbewegung der sechziger Jahre zu sympathisieren schien.
Natürlich wird Kohls personalpolitisches Geschick gelobt, das ihm freilich
beim Umzug von Mainz nach Bonn
abhanden kam. Unverständlich bleibt,
warum Noack und Bickerich nur in
Mainz einen Zeitzeugen fanden, der
davor warnte, den Pfälzer «zu leicht» zu
nehmen. Mit Willy Brandt hätten sie
einen prominenteren Zeitgenossen aufbieten können. Der langjährige SPDVorsitzende hat seinen Gegenspieler nie
unterschätzt. Parteifreunden wie Journalisten sagte er in Bonn: «Bildet euch
nichts ein. Der macht das sehr lange.» Er
sollte recht behalten.
Mehr Chronik als Biografie
Eine der Meisterleistungen Kohls
bestand sicher darin, seinen Rivalen
Franz Josef Strauss von Bonn fernzuhalten. Ob dem CDU-Chef freilich der
«politische Sachverstand» sagte, dass an
Strauss bei der Bundestagswahl von
1980 kein Weg vorbeiführe, wie Noack
und Bickerich schreiben, ist fraglich. Es
gab nämlich genug Unionspolitiker, die
die These vertraten, dass es ohne eine
(wie sich dann herausstellte: erfolglose)
Kanzlerkandidatur des mächtigen Bayern keine Ruhe in den Unionsparteien
geben werde. Kohl dürfte dies kaum verborgen geblieben sein.
Alles schon einmal gehört oder gelesen – so ist es, wenn reichlich Literatur
über eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte vorliegt. Das Buch von Schwan
und Steininger ist im Grund mehr Chronik als Biografie, auch wenn die Autoren nicht versäumen, die einzelnen
Schritte des Kanzlers abwechselnd als
meisterlich oder virtuos zu loben. Ein
bisschen mehr Distanz hätte dem Buch
gutgetan. Sein Vorzug besteht in der
minutiösen Schilderung der komplizierten Vorgänge, die vom Mauerfall im
November 1989 zur Wiedervereinigung
im Oktober 1990 führten. Das gründliche Studium der russischen, amerikanischen, britischen und französischen
Quellen erlaubt den Autoren, die diplomatischen Ränkespiele noch einmal im
Detail zu rekapitulieren, mit denen
Margaret Thatcher, François Mitterrand, Giulio Andreotti und Ruud Lubbers die Wiedervereinigung zu verhindern trachteten.
Ausgesprochen spannend zu lesen ist,
wie negativ die engsten Mitarbeiter von
Michail Gorbatschew die Verhandlungsführung ihres Chefs beurteilten und
überdies auch noch versuchten, den
Sowjetführer, aber auch ihre deutschen
Gesprächspartner zu manipulieren. Es
zeigt sich, wie recht Kohl daran tat, in
den Verhandlungen aufs Tempo zu drücken. Kurzum: Wer sich die Lektüre von
42 von den Autoren speziell genannten
Büchern ersparen will, der ist auf jeden
Fall mit Schwans und Steiningers Opus
gut bedient. l
28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Globalisierung Der amerikanische Wirtschaftspublizist Jeremy Rifkin hat ausnahmsweise ein
hoffnungsvolles Buch geschrieben
Frohe statt düstere Prognosen
Jeremy Rifkin: Die empathische
Zivilisation. Wege zu einem globalen
Bewusstsein. Campus, Frankfurt/
New York 2010. 468 Seiten, Fr. 45.50.
Jeremy Rifkin gehört zur Spezies der
Wirtschaftsgurus, der brillanten Köpfe,
die es verstehen, aus akademischer
Beschäftigung ein Maximum an Profit
zu schlagen. Üblicherweise lehrt Rifkin
an einer Business School. Wirklich Geld
verdient er jedoch mit Vorträgen in
Grossunternehmen, deren Managern er
durch düstere Prognosen das Fürchten
lehrt, und natürlich mit dem Absatz von
Büchern, in denen er gegen den Trend
argumentiert. Rifkin hat das immer wieder getan, mit Thesen wie jener vom
«Ende der Arbeit» oder dem «Verschwinden des Eigentums». Beides hat
nicht stattgefunden, seinem Renommee
hat es dennoch nicht geschadet.
Nun also liegt das neueste Werk
Rifkins in deutscher Sprache vor, und
für einmal muss die Leserschaft nichts
fürchten, sie darf hoffen. Die frohe
Botschaft dieser «völlig neuen Interpretation der Geschichte der Zivilisation»,
wie sie der Verlag im Vorwort nennt:
Die Menschheit wird (wahrscheinlich)
überleben, dank wachsender Empathie.
Die zentrale These des Buches sieht
Empathie und Entropie in einer Art
Wettlauf miteinander. Empathie ist die
menschliche Fähigkeit, mit anderen zu
fühlen, sich in diese hineinzuversetzen
und ihr Handeln zu verstehen. Der
empathische Mensch hilft seinem
Nächsten und ändert sein eigenes
schädliches Verhalten. Entropie ist der
irreversible Verlust von Energie, etwa
beim Heizen einer Wohnung: Verbrannte
Kohle kann nicht wieder zurückgewonnen werden.
Rosarote Brille
Die Fortschritte der Zivilisationen im
sozialen, wirtschaftlichen, aber auch im
politischen Bereich ermöglichen nun
immer weitergehende Formen institutionalisierter Empathie, man denke etwa
an die sozialen Sicherungssysteme. Aber
immer komplexere, reichere Gesellschaften steigern durch ihren wachsenden Energiekonsum auch die Entropie,
d. h. «vernichten» endliche Rohstoffe.
Wird die Menschheit rechtzeitig jenes
Mass an Empathie aufbringen, das eine
Umkehr möglich macht?
Das Buch bietet dem Leser eine Tour
d’Horizon von der Biologie des Menschen bis zur globalen Umweltproblematik, sehr lesbar, zweifellos nicht
uninteressant, aber ausgesprochen eklektisch und durch die rosarote Brille. Ist
Empathie wirklich im menschlichen
Genom angelegt, wie es die sogenannten Spiegelneuronen vermuten lassen?
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010
taLIa FrenkeL / ap
Von Dieter Ruloff
Rotkreuzhelferin in
Haiti: Indem wir die
Sterblichkeit der
andern erkennen,
retten wir die
Menschheit, sagt
Jeremy Rifkin.
Vielleicht. Waren die Jäger und Sammler
wirklich empathische, friedliche Menschen? «Ötzi» hatte eine Pfeilspitze im
Rücken. Und nach dem folgenden Sprung
zu den Hochkulturen: War Gilgamesch,
der Tyrann Uruks, tatsächlich ein derartig empathischer Herrscher, wie Rifkins
Deutung des Epos meint?
Weiter geht es bei den Römern, und
zwar direkt in die Spätantike mit dem
Christentum als Staatsreligion: Wird
hier Nächstenliebe wirklich zum politischen Programm? Zwar teilen alle monotheistischen Religionen gewisse ethische Grundprinzipien, aber wie war das
mit den Kreuzzügen und Religionskriegen? Ein weiterer grosser Sprung bringt
den Leser zum Humanismus, einer zweifelsfrei positiv deutbaren geistesgeschichtlichen Wende, und zur Entstehung von Nationalstaaten. Sicher, sie
sind Vorbedingung der Herausbildung
kollektiver Identitäten, also eines umfassenden Wir-Gefühls; die Menschheit
kann zunehmend auch als grosses
Kollektiv Empathie entfalten – wenn sie
sich nicht gerade in Weltkriegen dezimiert, bliebe hinzuzufügen.
Rasch nähert sich der Text dann der
Neuzeit. Zwar beginnt mit der Erfindung
des Kapitalismus und der industriellen
Revolution der schädliche Ressourcenhunger der Menschheit – aber war dies
laut Rifkin nicht Vorbedingung «empathischer Sozialreformen»?
Endlich, in Kapitel 11, wird die Empathie durch die Globalisierung global.
Tatsächlich hat der globale Markt Millionen von Menschen (vornehmlich
Ostasiaten) aus schlimmster Armut
befreit und einen kleinen Teil von ihnen
sogar wohlhabend gemacht. Und tatsächlich bringt das Internet jede Botschaft in kürzester Frist global unter die
Leute. Aber ist das weltumspannende
Mitgefühl beim Tod der britischen Prinzessin Diana im Jahre 1997 wirklich ein
Beleg für globalisierte Empathie? Beispiele globalisierter Häme wären
unschwer zu benennen.
Sensibilisierung gefordert
Am Ende dann die alles entscheidende
Frage: Wie kann sich die Menschheit
vor dem Sturz in den «entropischen
Abgrund» retten? Die Antwort findet
sich in den letzten beiden, zunehmend
kürzeren Kapiteln und ist enttäuschend:
Eine Mischung aus technologischem
Fortschritt und Rückführung der
Ansprüche soll es richten. Zeigt die
Glücksforschung nicht, dass materieller
Wohlstand mit Wohlbefinden wenig zu
tun hat?
Man fragt sich, wie diese Botschaft
jenen plausibel gemacht werden kann,
auf die es demnächst einmal ankommt,
also den Hunderten von Millionen
Chinesen und Indern, die zunehmend
Geschmack am Konsum entwickeln.
«Indem wir die Sterblichkeit der anderen erkennen, schaffen wir die Verbindung zwischen empathischem Bewusstsein und entropischer Sensibilisierung.»
Hoffen wir, dass Rifkin recht hat, aber
Zweifel sind wohl am Platze. l
Dieter Ruloff ist Professor für Internationale Beziehungen an der Uni Zürich.
Philosophie Neuedition von Texten zum 100. Geburtstag der streitbaren Professorin Jeanne Hersch
Weiblicher Sokrates
und Sozialistin von Geburt
Jeanne Hersch: Erlebte Zeit.
Vorträge, Gespräche, Abhandlungen.
Hrsg. Monika Weber, Annemarie Pieper.
NZZ Libro, Zürich 2010. 251 S., Fr. 38.–.
Von Urs Rauber
Die Genfer Philosophin Jeanne Hersch
(1910–2000) gehört zu den markanteren
Figuren des Schweizer Geisteslebens
des 20. Jahrhunderts. Die Tochter polnisch-jüdischer Intellektueller, die sich
nach 1904 in Genf niedergelassen hatten, war nach eigenen Worten «Sozialistin von Geburt» – was sie auch blieb
(sie war bis an ihr Lebensende Mitglied
einer welschen SP-Sektion). Gleichzeitig war sie ein offener, unbequemer
Geist. Nach dem Studium in Heidelberg
bei Karl Jaspers und in Freiburg i. Br.
lehrte sie Französisch und Latein an der
Ecole Internationale in Genf, unterrichtete 1938/39 die Kinder am Königshof in
Thailand und wurde 1956 auf den Lehrstuhl für systematische Philosophie an
der Uni Genf berufen.
Zum 100. Geburtstag im Juli 2010
erscheint diese Neuedition von Texten,
herausgegeben von der Zürcher alt
Stadträtin und Ständerätin Monika
Weber, die in den siebziger Jahren
Herschs Schülerin in Genf gewesen war,
und von der emeritierten Basler Philosophieprofessorin Annemarie Pieper.
Diese bezeichnet ihre ältere Kollegin
als «weiblichen Sokrates» und vergleicht sie mit Hannah Arendt, einer
weiteren Jaspers-Schülerin. Weber hat
den seit 2001 in der Zürcher Zentralbibliothek liegenden Nachlass von
Hersch gesichtet und daraus 20 Rosinen
gepickt, die teilweise unveröffentlicht,
unübersetzt oder schlecht auffindbar
sind. «Sie bedeuten ein Stück klassische
Philosophie, deren Kern wir in unser
Jahrhundert hinüberretten möchten»,
schreiben die Herausgeberinnen.
Nepal Ronaldinho im Himalaja
Sie vergöttern Ballack und Ronaldinho – Buben halt,
wie überall auf der Welt, die sich bei jeder Gelegenheit um einen Ball zusammenknäueln. Diese Buben
spielen in Luma, einem Dorf im bitterarmen Westen
Nepals. Aus Westnepal kommen viele Kinder des
Waisenhauses in Neopane Gaon bei Kathmandu, das
zwei junge Krankenpfleger aus Deutschland mit ihrer
Stiftung Govinda-Shangrila vor 10 Jahren gegründet
haben. Ein Fotograf und ein Journalist, beide aus
Basel, sind über drei Jahre hinweg immer wieder
nach Nepal gereist, um die Projekte der Stiftung zu
dokumentieren. Das Resultat ist ein berührendes
Buch über das Land Nepal und seine Menschen:
Indem es Kinder und Teenager des Waisenhauses
porträtiert, sowie ihre nepalesischen Betreuerinnen,
Lehrer und Köchinnen, erzählt es in Bildern und Worten von Religion und Armut, von der unerbittlichen
Rangliste der Kasten und Ethnien, vom Verkehrschaos in Kathmandu und von abgelegenen Bergdörfern, von bunten Märkten, alten Mönchen und immer
wieder von Menschen und ihrem Leben.
Kathrin Meier-Rust
Christian Platz (Text), Christoph Gysin (Fotos):
Die Kinder von Shangrila. Geschichten aus dem
heutigen Nepal. Schwabe, Basel 2009.
270 Seiten, Fr. 48.–.
Ein lohnenswerter Versuch. Denn
Jeanne Hersch hat auch heute noch
etwas zu sagen. Vor allem indem sie
eine Haltung einnahm statt Meinungen
zu vertreten. Und indem sie nie nach
Beifall schielte: «Wenn man sich zu
einem Thema äussert, das in der Gegenwart brennend ist, so sollte man immer
gegen den Strom sprechen. Man muss
eigentlich zu missfallen versuchen,
denn die Strömungen der Gegenwart
sind stark, aber sie sind immer nur teilweise richtig.» Dass sie sich gegen den
Mainstream stellte, trug ihr zeitweise
heftige Ablehnung auch aus den eigenen Reihen ein, was sie indes nicht persönlich anfocht.
Mit endgültigen Antworten gab sie
sich nicht zufrieden, sondern suchte
beharrlich weiter nach der Wahrheit.
Dezidiert engagierte sie sich für die
Freiheit des Individuums und die Stärkung der Menschenrechte (letzteres im
Rahmen eines Unesco-Mandats seit
1966). In der Erziehung plädierte sie für
den Mut zur Autorität, gleichzeitig
appellierte sie an das Verantwortungsbewusstsein der Lehrer: «Es ist verboten, die Kinder zu langweilen.»
Auch politisch bewies Jeanne Hersch
Zivilcourage, als sie Bundesrätin Elisabeth Kopp 1989 nach dem Rücktritt
öffentlich die Stange hielt. Ihr Antrieb
war nicht Frauensolidarität, sondern
der Sinn für Gerechtigkeit. Schon 1968
hatte sich die streitbare Professorin in
Paris gegen den politischen Zeitgeist
gestellt, da sie in den Forderungen der
Studenten Ansätze zur Zerstörung der
Demokratie sah. Und 1981 irritierte sie
die linksliberale Öffentlichkeit mit
einer Publikation, deren Titel ihre kraftvolle Haltung wiedergab: «Antithesen
zu den ‹Thesen zu den Jugendunruhen
1980› der Eidgenössischen Kommission
für Jugendfragen. Der Feind heisst Nihilismus.»
Jeanne Herschs gedrucktes Werk
nimmt sich bescheiden aus. Ihre wichtigsten Bücher sind Spätwerke: «Die
Unfähigkeit, Freiheit zu ertragen»
(1975), «Die Hoffnung, Mensch zu sein»
(1976) und «Das philosophische Staunen» (1981). Als Philosophin interessierte sie weniger der Diskurs unter
Fachkollegen als der Gang auf den
Marktplatz: Sie referierte vor Publikum
und sprach im Radio. Die im Buch
versammelten Texte zeigen aufs
Anschaulichste, wie die Frau mit dem
strengen Haarzopf ihr Publikum zu
fesseln vermochte: Indem sie Reminiszenzen in ihre philosophischen Ausführungen einflocht, einen Gedanken
munter weiterentwickelte, humorvoll
fabulierte, bis sie am Schluss zur entscheidenden Erkenntnis vorstiess. Das
editorische Juwel bringt uns in der Tat
einen weiblichen Sokrates näher, der
auch mühelos den innerschweizerischen Röstigraben übersprang. l
28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Biochemie Die Autobiografie des Genforschers
J. Craig Venter ist eine unterhaltsame Mischung aus
Lebensgeschichte und biologischem Sachbuch
J. Craig Venter: Entschlüsselt.
Mein Genom, mein Leben. S. Fischer,
Frankfurt a. M. 2009. 576 S., Fr. 42.90.
Von Thomas Köster
Bei Craig Venter ist alles eine Frage der
Gene. Dies zumindest suggerieren jene
Passagen seiner Autobiografie, die sich
ausführlich mit seinem eigenen Erbgut
beschäftigen. Die Hyperaktivität seiner
Kinderjahre in Salt Lake City etwa
schreibt der umstrittene US-amerikanische Biochemiker jenem «genetischen
Stottern» zu, an dem zehn Wiederholungen eines Abschnitts aus dem Gen
DAT1 beteiligt sind. Seine Ausdauer
führt er auf jenes Gen zurück, welches
das Enzym AMPD1 codiert. Und seine
Fähigkeit, Druck auszuhalten, hat seiner
Ansicht nach mit einem bestimmten
Gen auf dem X-Chromosom zu tun.
«Bei der Analyse meines Genoms stellte
sich heraus, dass ich diese sehr aktive
Form besitze und deshalb weniger
zu antisozialem Verhalten neige»,
schreibt er.
Harte Kritiker hat Venter bis heute,
und Verteuflungen ist er immer wieder
ausgesetzt. Das hat vor allem mit der
Art und Weise zu tun, wie es ihm im
Jahr 2000 als erstem Wissenschafter
gelang, die rund 23 000 Gene des Menschen mit Hilfe seines Teams komplett
zu kartieren. Dass Venter diese Leistung
als Gründer eines durch Patentansprüche von sich reden machenden Privatunternehmens – und unter Zuhilfenahme der frei zugänglichen Ergebnisse
des staatlich finanzierten Human
Genome Project (HGP) – vollbrachte
und dass es zudem sein eigenes Erbgut
war, das letztlich als erstes vollständig
entschlüsselt vorlag, hat ethische Vorbehalte zusätzlich befeuert.
«Entschlüsselt» ist denn auch so
etwas wie der Versuch, sich von Vorwürfen reinzuwaschen. In erster Linie
aber schildert das Buch das Leben eines
Wissenschafters, der nach Anfängen als
Pharmakologe und Mediziner zu seiner
eigentlichen Berufung fand: angefangen
von jugendlichen Herausforderungen
wie illegalen Autorennen oder zu erobernden Frauen (das Y-Chromosom ist
schuld!) über Lehrjahre als Sanitäter für
Infektionskrankheiten im Vietnamkrieg
und den frühen Erfolgen am Genom des
Erregers Haemophilus influenza – bis
hin zum grossen Durchbruch, der
Venter, inzwischen ernst genommen,
immerhin eine Pressekonferenz mit Bill
Clinton und Tony Blair im Weissen
Haus eintrug. Dass Venter bei den vielen herben Rückschlägen und Neuanfängen seines Lebens Ausdauer, Durchsetzungsvermögen und Stressresistenz
bewies, wird kein Leser bestreiten können.
Stark ist Venters Autobiografie immer
dann, wenn sie über den spannenden,
bisweilen zur Schlammschlacht geratenen «Genkrieg» zwischen privaten und
staatlichen Projekten berichtet: über
die hartnäckige Ablehnung von Venters
«Schrotschuss-Sequenzierung»
zum
Beispiel, jener als ungenau belächelten
automatisierten Kartierungsmethode,
die den Autor am Ende über das weitaus
teurere und aufwendigere «Human
Genome Project» siegen liess. So macht
das Buch, auch jenseits des Einzelfalles,
klar, wie Politik und Machtkalkül, Intrigen, Erpressungen und Eitelkeiten den
Weg zu wissenschaftlicher Erkenntnis
– und zu begehrten öffentlichen Fördermitteln – pflastern.
GettY IMaGeS
Herr der Gene
Der DNA-Spezialist
J. Craig Venter in
seinem Labor in
Rockville (Maryland,
USA), 1997.
Schwach aber ist das Buch zumeist
dort, wo Venter von seiner zweiten
grossen Leidenschaft, dem Segelsport,
berichtet, mit dessen Hilfe sich der
Autor immer wieder aus Krisensituationen hinausmanövrierte. Im Fahrwasser seiner Passion treibt Venter zu oft
vom Wesentlichen ab. Dasselbe gilt für
jene Passagen, die belegen sollen, dass
der Autor keineswegs jener knallharte
Geldmensch war, als den seine Kritiker
ihn immer wieder darzustellen trachteten, und die eigentlich doch nichts
erklären. Sollte es ein Gen geben, das
Autoren sensibel macht für das, was
Leser wirklich interessiert: An manchen
Stellen hat man das Gefühl, Craig
Venter habe eine nicht allzu ausgeprägte Form davon. Dennoch: Seine Autobiografie, die eigentlich eine Mischung
aus Lebensbeschreibung und biologischem Sachbuch darstellt, ist trotz allen
Abschweifungen sehr anschaulich. l
Wirtschaft Interviews mit Topmanagern erlauben einen schonungslosen Einblick ins Innenleben
Die ungeglättete Seite der Chefs
Jan Heidtmann, Barbara Nolte: Die da
oben. Suhrkamp, Frankfurt a. M, 2009.
202 Seiten, Fr. 21.50.
Von Gabriela Weiss
Zwölf Manager, zwölf Interviews. Für
einmal geht es nicht um die nächsten
Quartalszahlen, und die Aussichten für
das Unternehmen sind egal. Die beiden
deutschen Journalisten Barbara Nolte
und Jan Heidtmann befragen die obersten Chefs und eine Chefin von deutschen Unternehmen, mit ihren Fragen
zielen sie auf den Menschen dahinter.
Von Schlafstörungen und anderen
Schwächen ist dann die Rede. Es fallen
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010
Aussagen wie: «Ich habe mir an der Universität Köln das Studium ausgesucht,
in dem die Durchfallquote am höchsten
war. (...) Und da ich ein Technikfreak
bin, habe ich mich dann für Physik entschieden.» Besser hätte sich ABB-Präsident Hubertus von Grünberg nicht charakterisieren können. Es sind Interviews,
die niemand geglättet hat. Bekenntnisse
wie jenes von Matthias Mitscherlich,
Chef des Unternehmens MAN Ferrostaal, wären sonst nicht zu lesen: Die
psychologische Grundausbildung in seinem Elternhaus, Mutter und Vater waren
bedeutende Psychoanalytiker, würden
ihm helfen, Menschen zu verstehen und
einzuschätzen. «Und manchmal sogar
ein bisschen zu manipulieren.»
An der einen oder anderen Stelle,
wünschte man sich allerdings, die Autoren hätten nachgebohrt, so bei Alexander Dibelius, Chirurg und heute EuropaChef der Investmentbank Goldman
Sachs: Warum genau ist es ihm wichtig,
unanständig viel Geld zu verdienen? Ist
es gerecht, so viel Geld zu verdienen?
Und da gibt es noch einen kleinen
Wermutstropfen: Die Personenbeschreibungen eingangs der Interviews rufen
nach einem Bild. Die tiefen Hundefalten
um den Mund von Deutsche-TelekomChef René Obermann möchte man
sehen, so auch die langen Beine von
Hubertus von Grünberg, über die er «zu
stolpern drohte», als er vom Interview
weglief. l
Biografie Der Publizist Christian Linder versucht eine Deutung von Heinrich Böll
Der sanft-wilde Dichter
der Bonner Republik
Ein paar Jahre später verhalf die Hippie- und 68er Bewegung einer neuen
Sicht auf Hesses Werk zum Durchbruch
– und der weise Dichter von Montagnola
wurde für Millionen von jüngeren
Lesern in West und Ost zum Kultautor.
So könnte eines Tages auch eine BöllRenaissance anbrechen. Schon zu seinen Lebzeiten waren sich die Kritiker
uneinig über Bölls Qualitäten. Joachim
Kaiser schrieb damals, keiner seiner
Verächter sei fähig, «Werke zu produzieren, die so selbstverständlich, märchenhaft, unverkrampft und sanft-wild
sind wie diejenigen Bölls».
Christian Linder: Das Schwirren des
heranfliegenden Pfeils. Heinrich Böll.
Eine Biographie. Matthes & Seitz,
Berlin 2009. 617 Seiten, Fr. 49.50.
Von Reinhard Meier
Ist Heinrich Böll, neben Günter Grass
der berühmteste deutsche Schriftsteller
der Nachkriegszeit, heute wirklich schon
beinahe vergessen? Der Publizist Christian Linder behauptet das in seiner
ausufernden Biografie über den 1985
verstorbenen, zu seinen Lebzeiten teils
hoch verehrten und teils heftig angefeindeten Nobelpreisträger. Böll, heisst
es bei Linder, gehörte zur alten (Bonner)
Bundesrepublik wie das Wirtschaftswunder, die Vertriebenenverbände, die
«Bild»-Zeitung und Konrad Adenauer.
Heute vermöge Bölls Werk kaum mehr
zu fesseln, manche hielten es «mit seinen verwelkt wirkenden Ideen und
Stimmungen» wohl nur noch für eine
Art «Sperrmüll».
Es stimmt, dass Bölls Bücher längst
nicht mehr im Mittelpunkt literarischer
oder gesellschaftlicher Diskussionen
stehen. Aber es ist dennoch gewagt, diesen Autor kurzerhand als eine verstaubte ehemalige Grösse abzuschreiben.
Hatten nicht vorlaute Kritiker dies
Anfang der sechziger Jahre mit Hermann Hesse getan, einem andern
deutschsprachigen Nobelpreisträger?
Gegen Macht und Mächtige
Heinrich Böll (mit
Béret und Zigarette)
an der Friedensdemonstration vom
21. Oktober 1983
in Bonn.
Heinrich Böll, der «gute Mensch aus
Köln», wie ihn seine Anhänger verehrend und seine Gegner ironisch nannten, engagierte sich im Laufe seines
erfolgreichen Schriftstellerlebens mit
erstaunlicher Hartnäckigkeit gegen alle
möglichen etablierten Mächte: gegen
die katholische Amtskirche, die CDU,
den SPD-Kanzler Helmut Schmidt im
sogenannten Nachrüstungsstreit (bei
dem er sich, rückblickend betrachtet,
verrannte), gegen die Springer-Presse
oder gegen manipulative Kungeleien in
den Rundfunkanstalten. Doch er war
politisch keineswegs einäugig. Unbestechlich und unerschrocken setzte er
sich für Verfolgte des Sowjetregimes
ein. Er brachte Teile von Solschenizyns
verbotenen Schriften in den Westen,
und einmal schmuggelte er gar die Frau
eines tschechischen Musikers in seinem
eigens für diesen Zweck umgebauten
Auto über die Grenze.
Ins Zentrum seiner Biografie stellt
Linder die These, das innerste Motiv für
Bölls Schreiben sei «die Verteidigung
der Kindheit» gewesen. Oder etwas allgemeiner formuliert: Alle seine Werke
gingen letzten Endes auf autobiografische Erfahrungen zurück. Böll selbst hat
das in einem Briefwechsel mit Linder
zwar zögernd bestätigt, aber ein besonders origineller Deutungszugang ist das
nicht. Spielen nicht auch in den Werken
anderer grosser Autoren – Thomas
Mann, Max Frisch, Lew Tolstoi oder
Ernest Hemingway etwa – autobiografische Motive eine fundamentale Rolle?
Heinrich Böll erlebte nach Linders
Schilderung seine Familie – er war das
jüngste von fünf Kindern – als eine Art
heile Welt. Der Vater hatte einen
bescheidenen Schreinereibetrieb in
Köln, der auf kirchliche Aufträge spezialisiert war. Die Mutter, Maria Böll, wird
als «Portalfigur» geschildert. Sie war
der geistige Mittelpunkt der Familie,
körperlich zwar bald nach der Geburt
des jüngsten Kindes behindert, politisch
aber viel unabhängiger als der Vater, kritisch sowohl gegenüber der katholischen
Kirche als auch gegenüber den Nazis.
«Wir waren weder echte Kleinbürger
noch bewusste Proleten, hatten einen
starken Einschlag von Bohème, das Wort
‹bürgerlich› war eins unserer klassischen Schimpfworte geworden.» Aus
Protest gegen die automatische Einziehung der Kirchensteuer durch den Staat
trat Böll zehn Jahre vor seinem Tod offiziell aus der katholischen Kirche aus.
Dennoch blieb er sein Leben lang ein
«auf altmodische Weise frommer»
Christ, der täglich betete und überzeugt
war, dass Engel wirklich existierten.
SVen SIMon
Ärgerliche Bleiwüsten
Linder bietet dem Leser zwar vielerlei
Einblicke in das Leben und Denken
Heinrich Bölls. Doch trotz des voluminösen Umfangs solcher Schilderungen
vermisst man eine überzeugende Einbeziehung von Bölls Werken in das biografische Geflecht und deren analytische
Durchdringung. Deshalb erfährt man
nicht, was denn nun konkret die autobiografischen Bezüge beispielsweise
in den Romanen «Ansichten eines
Clowns», «Gruppenbild mit Dame»
oder «Ende einer Dienstfahrt» sein
sollen. Ärgerlich sind zudem jene
seitenlangen Passagen, in denen aus
unerfindlichen Gründen kein einziger
Abschnitt eingefügt ist. Man wüsste
gerne, ob dieser leserunfreundliche
Manierismus dem Autor oder dem Verlag anzukreiden ist. l
28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Russland Der britische Historiker Simon Sebag Montefiore entlarvt die «potemkinschen Dörfer» als
Geschichtsfälschung. Zudem erzählt er von der stürmischen Liebe am kaiserlichen Hof
Zarin Katharina teilte mit
Fürst Potemkin Bett und Macht
Simon Sebag Montefiore: Katharina
die Grosse und Fürst Potemkin.
Eine kaiserliche Affäre. S. Fischer,
Frankfurt a. M. 2009. 790 S., Fr. 42.90.
Von Sabina Meier
Im eisigen Januar 1787 brach Katharina
die Grosse mit einem Gefolge von
Höflingen und ausländischen Diplomaten in 14 Kutschen und 124 Schlitten
von Sankt Petersburg nach Kiew auf.
Hunderte von Bediensteten folgten dem
kaiserlichen Tross, darunter 30 Wäscherinnen, aber auch Silberpolierer, Apotheker, Ärzte und Mohren. An jedem
Posten standen 560 Pferde für die kaiserliche Schlittenfahrt bereit. Die Alleen
wurden nach Einbruch der Dunkelheit
mit Feuern taghell beleuchtet, und
abends speiste die königliche Gesellschaft in überheizten Palästen. Des
Komforts und der exquisiten Speisen
überdrüssig, beklagte sich der englische
Botschafter, die Reise «sei nichts anderes als St. Petersburg, das im Reich hin
und her getragen werde».
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010
ULLSteIn
Staatliches Gesamtkunstwerk
Es war dies der Auftakt einer triumphalen Inspektionsreise der Zarin in
den Süden des russischen Reiches.
Deren Ziel war es, die von ihrem Günstling Fürst Grigori Alexandrowitsch
Potemkin neu eroberte Halbinsel Krim
samt Schwarzmeerküste mit eigenen
Augen zu besichtigen. In Kiew schiffte
sich die kaiserliche Reisegesellschaft auf
sieben prächtige Galeeren mit 3000
Ruderern ein. Die Luxuskreuzfahrt
wurde ein Gesamtkunstwerk von potemkinschen Dimensionen.
An den Ufern versammelten sich zahllose Zuschauer, Städte und Dörfer waren
mit architektonischen Installationen und
Blumenschmuck dekoriert und wurden
durch gigantische Feuerwerke beleuchtet. Tatarische, kalmückische und kosakische Reitertrupps in juwelengeschmückten Waffen und Uniformen
verwickelten sich in Scheinkämpfe und
demonstrierten ihre Reiterkünste. Höhepunkt der Krimbesichtigung war die
brandneue russische Schwarzmeerflotte
von 150 Schiffen samt der Hafenstadt
Sewastopol, die Potemkin in nur drei
Jahren aus dem Boden gestampft hatte.
Sogar der österreichische Kaiser
Joseph II., der sich der Reise angeschlossen hatte, erblasste vor Neid auf die
uneingeschränkte Macht des russischen
Staates: «Hier zählen Menschenleben
und menschliche Anstrengung nichts.»
Kein Wunder, dass die Erfolge Potemkins Unglaube und Neid hervorriefen
Zarin Katharina die
Grosse (1729 bis
1796) regierte das
russische Reich
mit starker Hand.
Gemälde von
Vigilius Eriksen aus
dem 18. Jahrhundert.
und sich die hartnäckige Legende von
den «potemkinschen Dörfern» bildete,
als Sinnbild für einen gigantischen
Betrug.
Der britische Historiker und Bestsellerautor Simon Sebag Montefiore ist
mit seiner Biografie Potemkins zur
Ehrenrettung des Fürsten angetreten.
Er hält die potemkinschen Dörfer für
eine Geschichtsfälschung, die russische
und ausländische Feinde dem exzentrischen Fürsten angedichtet haben. Die
Belege sind zahlreich; Potemkins Leistung bei der Besiedlung und wirtschaftlichen Entwicklung des Südens, seine
militärischen Siege gegen das Osmanische Reich und seine zahlreichen
Städtegründungen auf dem Territorium
der heutigen Ukraine sind kaum zu
bezweifeln. Aber Fürst Serenissimus
wusste seine Erfolge eben auch effektvoll zu inszenieren, er gilt als Urheber
des modernen Politspektakels.
Wer war der Eroberer des südlichen
«Neurusslands», dessen Erfolge sich
mit denen von Peter I. im Norden messen konnten? Die kometenhafte Karriere des Sohns einer verarmten Provinzadelsfamilie begann bei der Garde,
die den Zarenpalast in St. Petersburg
bewachte. Bereits bei Katharinas Staatsstreich 1762, bei dem die deutschstämmige Gattin des verhassten und unfähigen Peter III. auf den Thron des
russischen Zarenreiches gelangte, tat
sich der draufgängerische Gardist
besonders hervor.
Bald gewann er durch seine sprühende Intelligenz und Originalität sowie
seine militärischen Verdienste die
Zuneigung der Zarin. Seine Verehrung
Katharinas als Zarin und als Frau waren
nicht zu trennen. Im Alter von 34 Jahren
wurde er zum Liebhaber der 44-jährigen Zarin, einer stattlichen Frau in
den besten Jahren. Beide waren ausgesprochene Sinnes- und Machtmenschen,
ihre Beziehung war entsprechend
stürmisch.
Katharina teilte mit ihm Bett und
Macht und machte ihn zu ihrem wichtigsten politischen Ratgeber und faktischen Mitregenten. Tausende von
Briefen zeigen, wie sehr sich verspieltes
Privatleben und grosse Politik vermischten. Auch als die heisse Leidenschaft abkühlte und beide anderen Liebschaften nachgingen – Potemkins Skandalharem war berühmt-berüchtigt –,
blieben sie einander in lebenslänglicher
Freundschaft und fürsorglicher Partnerschaft verbunden.
Katharinas Günstlingssystem, Potemkins Sonderstatus und das Kräfteverhältnis in der kaiserlichen Affäre sind in
der Biografie einfühlsam herausgearbeitet.
Süffig geschrieben
Wer von Transvestitenbällen, englischen
Gärten und Diamanten, Mätressen und
Abenteurern, gigantischen Vermögen
und exorbitanten Ausgaben nicht genug
haben kann, der kommt am Zarenhof
des 18. Jahrhunderts vollends auf seine
Kosten. Der Stoff ist filmreif und lässt
jede Seifenoper puritanisch und prüde
aussehen.
Mit kinematografischem Blick und
einem oft reichlich dick aufgetragenen
Spannungsstil versucht Montefiore die
riesige Stoff- und Quellenlage in den
Griff zu bekommen. Das Resultat ist ein
süffiges, unterhaltsames Buch, wenn
sich die Handlung auch zuweilen arg in
Klatschgeschichten verzettelt, auf Kosten von Orientierung und Analyse.
Schliesslich macht der fieberhafte Hedonismus und grenzenlose Luxus am Hof
der Zarin so übersatt, dass man sich –
trotz einem umfangreichen Anhang –
nach der trockenen Kost wissenschaftlicher Fussnoten sehnt.
Dafür muss man dann allerdings die
englische Originalausgabe zur Hand
nehmen. l
Literatur Es ist gar nicht so selten, dass Schriftsteller
die Fähigkeit zu schreiben verlieren
Ulrich Horstmann: Die Aufgabe der
Literatur oder Wie Schriftsteller lernten,
das Verstummen zu überleben. Fischer,
Frankfurt a. M. 2009. 271 Seiten, Fr. 23.90.
Von Manfred Koch
Dichter gehen nicht in Rente. Dichter
schreiben, bis ihnen der Tod die Feder
aus der Hand nimmt. Diese Vorstellung
gehört unverbrüchlich zum Mythos des
literarischen Schaffens. Die Poesie ist
eben kein Beruf, sondern Berufung,
Schicksal, lebenslängliche Obsession.
Aber es gibt sie dennoch, die Frühpensionäre der Kunst: Autoren, die das
Schreiben irgendwann ohne äusseren
Grund – Krankheit etwa oder politische
Unterdrückung – einfach sein lassen.
Ihnen hat der Essayist und Übersetzer
Ulrich Horstmann, im Brotberuf Anglistikprofessor, nun ein so lehr- wie pointenreiches Buch gewidmet. Zwei übergreifende Beobachtungen verbinden die
dreizehn Porträts. Zum einen, stellt
Horstmann fest, nimmt die Zahl der
Aussteiger mit dem wachsenden Originalitätsdruck in der Moderne zu. Ein
Gedicht, hat Gottfried Benn einmal
gesagt, ist entweder exorbitant, oder es
ist gar nicht. Verständlich, dass Lyriker
immer wieder vor einem solch fürchterlichen Anspruch kapituliert haben.
Dafür fallen, so die andere These, die
literarischen Bankrotterklärungen seit
dem 20. Jahrhundert zunehmend gelassener aus. Das Pathos des tragischen
Scheiterns schwindet, die Autoren gehen
selbstironisch, manchmal fast sportlich
mit der bestürzenden Entdeckung um,
dass ihnen nichts mehr einfällt. Horstmanns Held des lakonischen Rückzugs
aus der Poesie ist der englische Schriftsteller Philip Larkin, der – obwohl mit
Preisen überhäuft – zuerst das Verfertigen von Romanen und Jahre später auch
die lyrische Produktion einstellte. Der
Öffentlichkeit gab er eine simple Erklärung: «The ability to do so had just
vanished.» Mit dem Verlust der Schreibfähigkeit verhalte es sich nicht anders
als mit dem Haarausfall; auf einer Glatze
lassen sich keine Locken drehen. Was
bleibt, ist eine hohe ästhetische Empfindlichkeit, die ihm das routinierte
Weitermachen verbietet: «I would sooner write no poems than bad poems.»
Ähnlich gelagert ist ein Jahrhundert
zuvor der Fall Rimbaud. Das frühreife
lyrische Genie gab im Alter von 21 Jahren das Dichten auf und begann eine
Karriere als Vagabund und Waffenhändler in Nordafrika. Wer ihn an seine einstige Grösse erinnerte und die vielen
ungeschriebenen Meisterwerke einklagte, erhielt eine harsche Abfuhr: «Merde
pour la poésie!»
So entschieden aufgehört wie Rimbaud und Larkin haben indessen die
wenigsten der hier versammelten Autoren. Im Blick auf andere Protagonisten
des Buchs zeigt sich, dass Horstmann
überwiegend doch von einem alten
Thema spricht: dem drohenden Verstummen, das die moderne Literatur
unaufhörlich beschwört und dem sie
gerade damit entgeht. Samuel Becketts
Texte sagen, dass es eigentlich nichts
mehr zu sagen gibt, Wolfgang Hildeshei-
ULLSteIn
Die Muse geht
Arthur
Rimbaud
(1854–1891) gab
mit 21 Jahren das
Dichten auf.
mer schreibt eine Sequenz von Büchern
über «das Gefühl, dass ich nicht mehr
schreiben kann». Und selbst Wolfgang
Koeppen, der nach seinen Romanen der
50er Jahre so gut wie nichts mehr zustande brachte, blieb ein Schriftsteller, der
nur das Genre wechselte. Indem er die
Öffentlichkeit jahrzehntelang auf sein
nächstes, nicht einmal in Ansätzen vorhandenes Opus magnum warten liess
und derweil Verlagsvorschüsse und literarische Preise kassierte, wurde der
Schreibtischflüchtling zum Performance-Künstler. Er inszenierte einen
realen Schelmenroman, der sich –
zumindest in Horstmanns Nacherzählung – so vergnüglich liest wie nur
irgendeine gut erfundene Geschichte. l
Finanzwelt Anlageberater Bernard Madoff hat Tausende mit irrealen Renditeversprechen geprellt
Wie sich 65 Milliarden Dollar in Luft auflösen
Amir Weitmann: Madoff – Der
Jahrhundertbetrüger. Chronologie
einer Affäre. Orell Füssli, Zürich 2009.
228 Seiten, Fr. 34.90.
Von Charlotte Jacquemart
Bernard Madoff, von allen liebevoll
«Bernie» genannt, wird als der grösste
Betrüger der Finanzgeschichte in die
Annalen eingehen. Rund 65 Milliarden
Dollar Vermögen lösten sich quasi in
Luft auf, als der Anlagebetrug im Zuge
der globalen Finanzkrise Ende 2008 aufflog. Anstatt das Geld seiner Kunden in
Aktien, Obligationen und Optionen zu
investieren, wie der New Yorker mit
jüdischen Wurzeln vorgab, erstellte er
fiktive Vermögensausweise und verprasste und/oder spendete das ihm
anvertraute Geld an karitative Einrich-
tungen. 20 Jahre lang kam ihm niemand
auf die Schliche: Dank einem hohen
Neugeldzufluss war es in guten Jahren
leicht, Kapitalrückzahlungen zu leisten.
Doch dann kam die Krise: Zu viele Kunden wollten ihr Kapital abziehen, das
Kartenhaus fiel zusammen.
Amir Weitmann, israelisch-schweizerischer Doppelbürger, hat in aller Eile
die Fakten zusammengetragen. Anhand
von Beispielen zeigt der Finanzanalyst
und Investmentberater auf, dass sich
nicht nur private, sondern auch institutionelle Anleger von Madoff hinters
Licht führen liessen. Nicht nur diese
Beispiele sind aufschlussreich, auch das
Geständnis Madoffs im Anhang ist es.
Madoff gab vor Gericht zu Protokoll,
erst Anfang der neunziger Jahre mit dem
Betrug begonnen zu haben – ursprünglich mit der Absicht, wieder damit aufzuhören. Er nannte seine Strategie
«Split-Strike Conversion», niemand
wusste, was er damit meinte, doch alle
liessen sich blenden. Ebenfalls im
Anhang findet sich ein Bericht an die
amerikanische Aufsichtsbehörde SEC
aus dem Jahr 2005, der beweist, dass es
durchaus Warner gab. Doch selbst diese
Behörde liess sich einseifen.
Genial oder nur bösartig? Der Autor
versucht, seine eigene Empörung über
Madoff, der vor allem Mitbürger aus seiner «eigenen Gemeinde», nämlich der
jüdischen, «kalt und ohne Gewissensbisse» betrogen hat, auf die Leserschaft
zu übertragen. Doch irgendwie gelingt
es Weitmann nicht so richtig: Zu naiv
haben sich die skizzierten Opfer, in ihrer
Gier nach Vermögensvermehrung, von
Madoffs völlig unrealistischen Renditeversprechen blenden lassen. Wer das
Abc des Investierens nicht befolgt, erntet nur schwerlich Mitleid. l
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Sachbuch
Landschaft Eine Hommage an das Schaf und die pastorale Lebensweise der Antike
Verlorenes Paradies
Barbro Santillo Frizell: Arkadien – Mythos
und Wirklichkeit.
Böhlau, Köln 2009. 188 Seiten, Fr. 44.90.
Von Geneviève Lüscher
Es ist ein weites Feld, das die schwedische Archäologin in ihrem schmalen,
aber reich illustrierten Buch betritt. Die
Autorin, Direktorin des Swedish Institute
in Rom, hat sich zu Fuss in der italienischen Landschaft umgesehen und nach
Spuren der pastoralen Lebensweise
gesucht, einer Lebensweise, welche die
Landschaft wohl seit dem Neolithikum
um 4000 v. Chr. geprägt hat.
«Kein Tier hat in der Geschichte der
Menschheit so grosse Bedeutung gehabt
wie das Schaf», schreibt sie. So wurde
beispielsweise die grösste Kuppel der
Renaissance, Santa Maria del Fiore in
Florenz, von der Gilde der Wollhändler
finanziert. Heute haben Schafhaltung
und Wollproduktion in Italien keine
Bedeutung mehr, aber die Landschaft
weist noch Spuren auf, die man lesen
kann. Die uralten Wege der «Transhumanz», einer Form der Wanderviehwirtschaft, von der Küste in die Berge, wohin
die Hirten ihre Schafe alljährlich trieben,
sind zum Teil noch sichtbar.
Dieser Wechsel der Weidegründe war
eine Voraussetzung für die Haltung grosser Schafherden, die bis zu zwölf Stunden täglich weiden. Im Gegensatz zu Ziegen sind Schafe wählerisch. Während die
vertikale Transhumanz eher von kurzer
Dauer war, meist nur wenige Tage, wanderten die Tiere beim horizontalen Viehtrieb oft monatelang und legten Strecken
bis 800 Kilometer zurück. Heute erfolgt
die Dislokation mit Lastwagen. Die Autorin beschreibt die Anfänge der Weidewirtschaft und der Wollproduktion in
Griechenland und Italien sowie die
Bedeutung der Schaf- und Wollmärkte,
der Textilien, die in der Antike – ganz im
Gegensatz zu heute – zu den kostbarsten
Gütern zählten. Sie besucht die den Tieren gewidmeten Kultplätze, die grossen
Viehmarktorte und Thermalquellen, wo
krankes Vieh geheilt werden konnte.
Aus dem harten Hirtenalltag entwickelt sich schon in der Antike der Mythos
vom idyllischen Landleben. Im 16. Jahrhundert werden Hirtengedichte Mode.
Ruinenlandschaften mit weidenden
Schafen und verkleideten Hirten und
Hirtinnen zieren herrschaftliche Parkanlagen und avancieren zu beliebten Motiven in der bildenden Kunst. Arkadien,
ein raues Hochland auf dem Peloponnes,
entwickelt sich zum Sehnsuchtsort des
reisenden Bildungsbürgertums im 18./19.
Jahrhundert, wird Utopie und Symbol für
eine ideale, aber verlorene Welt; auch
dort ist der Tod präsent. Denn «Et in
Arcadia ego», der berühmte Sinnspruch
auf einem Gemälde des Barockmalers
G. F. Barbieri, meint: «Auch ich (der Tod)
bin in Arkadien». l
Das amerikanische Buch Musiker, Dichterinnen und Drogen im Chelsea Hotel
Ausserordentlich anrührend und kulturhistorisch aufschlussreich spannt
«Just Kids» einen Bogen von 1967 bis
1973/74, als beide sich schon Künstler
nennen konnten. Mapplethorpe hatte
Förderer in der New Yorker Society
gefunden, während Smith nach vielen
Umwegen mit einer Band auftrat und
erste Lyrikbände veröffentlicht hatte.
In diesen Jahren inspirierten Smith und
Mapplethorpe einander und entdeckten rasch eine Seelenverwandtschaft,
die das Ende ihrer Liebesbeziehung
überstehen und bis zum Aids-Tod von
Mapplethorpe im März 1989 dauern
sollte. Im Mittelpunkt des Buches
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zeichnet «Just Kids» überdies ein
Porträt von New York und führt in eine
versunkene Welt, in der zwei hungrige
«Kids» von 50 Cents satt werden und
eine Nischenexistenz führen konnten,
die ihnen die Entwicklung ihres Talents
erlaubt hat: Manhattan bot Clubs und
Galerien für Aussenseiter, aber auch
gebrauchte Kleider, billige Absteigen
und staubige Antiquariate. Hier fand
Smith immer wieder wertvolle Bücher,
die sie mit 50 oder 100 Dollar Gewinn
verkaufen konnte. Doch jahrelang
musste sich das Paar selbst einen Hot
Dog im Vergnügungspark Coney Island
teilen: Robert ass das Würstchen und
Patti das Sauerkraut.
norMan SeeFF
Ein Touristenpaar gibt der Performance-Künstlerin Patti Smith das
Stichwort Just Kids (Ecco, 279 Seiten),
um von ihrer Beziehung mit dem Fotografen Robert Mapplethorpe zu erzählen: Kaum 21 Jahre alt, sitzen die zwei
im Washington Square Park im Süden
Manhattans, er mit bunten Perlenketten unter der Schaffelljacke, sie in
Beatnik-Sandalen und zerschlissenen
Halstüchern. Die Touristin drängt
ihren Gatten, das Paar zu fotografieren:
«Die sind Künstler!» Doch der Mann
winkt ab: «Ach, hör auf – das sind doch
nur Kinder.» Die Szene führt zurück in
den Herbst 1967. Smith war gerade
mittellos aus dem Süden New Jerseys
gekommen, wo sie in Fabriken gearbeitet und ihr Neugeborenes bei Adoptiveltern zurückgelassen hatte. Ihre erste
Bekanntschaft in New York war der
schlanke Lockenkopf Mapplethorpe,
ein betörend «schöner Junge», der wie
Smith in einer katholischen Arbeiterfamilie aufgewachsen war. Künstler waren beide damals noch lange nicht, aber
werden wollten sie es unbedingt.
Robert Mapplethorpe
und Patti Smith Ende
der 60er Jahre, als
ihre Liebesbeziehung
noch intakt war.
Die Autorin Patti
Smith heute (unten).
stehen die drei Jahre, die beide im legendären Chelsea Hotel und danach in einem Loft nebenan verbrachten. Diese
Zeit endete am 20. Oktober 1972, dem
Geburtstag von Smiths Idol Arthur
Rimbaud. Das Hotel bot damals Musikern, Dichtern, Drogensüchtigen und
Spinnern Zuflucht. Hier lernt das Paar
Jimi Hendrix und Janis Joplin ebenso
kennen wie Allen Ginsberg. Die schwere
Krankheit und der Tod Mapplethorpes
umrahmen diese Erinnerungen, was
dem Buch eine Note tiefer, ungekünstelter Trauer verleiht.
Im Vergleich mit der mitunter gezwungenen Lyrik von Smith wirkt der Text
mit seinen kurzen Sätzen frisch und
direkt, fast wie gesprochene Worte.
Auch deshalb wurde das Buch etwa in
der «New York Times» gefeiert. Mit
zahlreichen Fotos der beiden illustriert,
Die Beziehung des Paares überstand
die Hinwendung Mapplethorpes zu den
extremsten Spielarten der Homosexualität, die dann auch in seinen Arbeiten
Ausdruck fanden. Smith bewunderte
ihn für die Kompromisslosigkeit seiner
Bilder, aber deren Brutalität verstand
sie nicht: «Ich konnte das kaum mit
dem Jungen in Übereinklang bringen,
den ich kennengelernt hatte.» Mapplethorpes S&M-Bilder sorgen bis heute
für Skandale. Aber wie Joplin und Ginsberg sind er und Smith längst in den
kulturellen Kanon eingegangen. So
macht «Just Kids» auch die Transformation der westlichen Kultur seit 1967
deutlich: Smith wurde 2005 in Paris
zum Commandeur des Arts et des Lettres geadelt. Ihre alte Szene ist entweder Aids und Drogen erlegen oder
erinnert sich in Büchern und Dokumentarfilmen an die einstige New
Yorker Bohème. Im Chelsea Hotel
übernachten derweil längst nur noch
Touristen. l
Von Andreas Mink
Agenda
Paul Newman Mit stahlblauem Blick
Agenda März 2010
Basel
Donnerstag, 11. März, 19 Uhr
Der Eremit von Ropraz – Jacques
Chessex zum Gedenken.
Mit Jürg Altweg und
Stefan Zweifel. Lesung,
Fr. 15.–. Literaturhaus,
Barfüssergasse 3,
Tel. 061 261 29 50.
Dienstag, 16. März, 20 Uhr
Milena Moser: Möchtegern. Lesung,
Fr. 12.–. Thalia, Freie Strasse 32,
Tel. 061 264 26 25.
Donnerstag, 25. März, 19 Uhr
Kristof Magnusson: Das war ich nicht.
Lesung, Fr. 15.–. Literaturhaus (s. oben).
the koBaL CoLLeCtIon
Bern
Montag, 15. März, 20 Uhr
Memo Anjel: Mindeles Liebe. Lesung
und Gespräch, Fr. 25.–. ONO Bühne,
Kramgasse 6, [email protected].
Er begann seine Karriere in Fernsehserien und auf
Theaterbühnen. Doch nach einem ersten, für ihn
unbefriedigenden Hollywood-Start mit einem
Historienschinken gelang Paul Newman wenig später
jener Leinwandauftritt, wie er seinen Vorstellungen
entsprach, etwa als Korea-Kriegsveteran in «The
Rack» (1956). Bald folgten Glanzrollen in «The Long,
Hot Summer» und «Cat on a Hot Tin Roof» (beide
1958). Dank einer gewissen inneren Distanz zur
Filmindustrie endete er nicht als «männliche Marilyn
Monroe», wie er einmal sagte. Frauen, aber auch
Homosexuelle lagen dem Mann mit den stahlblauen
Augen und dem Autorennen-Tick zu Füssen. Seine
Figur in «The Hustler» von 1961 (Bild), laut Martin
Scorsese eine «griechische Tragödie in einem
Billardsalon», brachte ihm die zweite von neun
Oscar-Nominationen ein. Schade, dass er am Ende
ausgerechnet mit Salatdressings und Guetzli
Millionen machen musste ... Regula Freuler
Ward Calhoun: Paul Newman. Hollywood Collection.
Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2010.
144 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Fr. 49.50.
Sachbuch
1 Diogenes. 272 Seiten, Fr. 32.90.
2 Nagel & Kimche. 455 Seiten, Fr. 32.90.
3 Lübbe. 760 Seiten, Fr. 39.90.
4 Allegria. 304 Seiten, Fr. 29.90.
5 Ullstein. 203 Seiten, Fr. 27.50.
6 Blanvalet. 500 Seiten, Fr. 34.90.
7 Hanser. 363 Seiten, Fr. 37.50.
8 Ullstein. 698 Seiten, Fr. 39.90.
9 Diogenes. 498 Seiten, Fr. 38.90.
10 Hanser. 304 Seiten, Fr. 34.50.
1
Rowohlt. 384 Seiten, Fr. 33.80.
2 AT. 207 Seiten, Fr. 39.90.
3 Heyne. 415 Seiten, Fr. 34.90.
4
Giger. 184 Seiten, Fr. 35.90.
5 Nagel & Kimche. 111 Seiten, Fr. 17.90.
6 AT. 205 Seiten, Fr. 39.90.
7 Orell Füssli. 188 Seiten, Fr. 34.90.
8 Brockhaus. 275 Seiten, Fr. 35.50.
9
Goldmann. 397 Seiten, Fr. 27.50.
10
Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 50.50.
Dan Brown: Das verlorene Symbol.
William P. Young: Die Hütte.
Helene Hegemann: Axolotl Roadkill.
Sandra Brown: Ewige Treue.
Arno Geiger: Alles über Sally.
Jo Nesbø: Leopard.
Paulo Coelho: Der Sieger bleibt allein.
Herta Müller: Atemschaukel.
Samstag, 27. März, 20 Uhr
b-lesen: 2. Berner Lesenacht mit Erica
Pedretti, Isabelle Stamm, Christoph
Simon, Heinz Däpp, Peter Hänni, Fr. 15.–.
Kornhausforum, Kornhausplatz, Info
www.b-lesen.ch.
Montag, 1. März, 19.30 Uhr
Belletristik
Milena Moser: Möchtegern.
Roger de Weck: Nach der Krise.
Gespräch mit Joh. Schneider-Ammann,
Fr. 15.–. Uni, Hochschulstr. 4, Audimax,
Vorverkauf Thalia, Tel. o31 320 20 20.
Zürich
Bestseller Februar 2010
Martin Suter: Der Koch.
Mittwoch, 17. März, 19.30 Uhr
Eckart von Hirschhausen: Glück kommt
selten allein.
Monika Stocker: He, dich
kenne ich doch. Lesung.
Volkshaus, Blauer Saal,
Stauffacherstrasse 60,
[email protected].
Donnerstag, 11. März, 20 Uhr
Annemarie Wildeisen: Meine Expressküche.
Carla Haas: Der Zweifel. Lesung, Fr. 20.–.
Kulturmarkt im Zwinglihaus, Ämtlerstrasse 23, Tel. 044 454 10 10.
Yangzom Brauen: Eisenvogel.
Sonntag, 14. März, 17 Uhr
Pascal Voggenhuber: Entdecke deinen
Geistführer.
Werner van Gent, Antonia Bertschinger:
Iran ist anders. Gespräch, Fr. 15.–.
Kanzlei, Kanzleistrasse 56, Info unter
Tel. 044 405 44 85.
Roger de Weck: Nach der Krise.
Mittwoch, 17. März, 20 Uhr
Donna Hay: Keine Zeit zum Kochen.
René Zeyer: Zaster und Desaster.
Guinness-Buch der Rekorde 2010.
Richard D. Precht: Wer bin ich − und wenn ja,
wie viele?
Duden. Die deutsche Rechtschreibung, mit
CD; 25. Aufl.
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 16. 2. 2010. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Isolde Schaad: Robinson und Julia.
Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00.
Sonntag, 21. März, 17 Uhr
Meir Shalev: Aller Anfang. Lesung,
Fr. 15.–. Theater Neumarkt, Neumarkt 5,
Vorverkauf Tel. 044 267 64 64.
Bücher am Sonntag Nr. 3
erscheint am 28. 3. 2010
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange
Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,
8001 Zürich, erhältlich.
28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
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