Helmut Kohl Biografien |Robert Musil Klagenfurter Ausgabe |Kurt
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Helmut Kohl Biografien |Robert Musil Klagenfurter Ausgabe |Kurt
Nr. 2 | 28. Februar 2010 Helmut Kohl Biografien | Robert Musil Klagenfurter Ausgabe | Kurt Flasch Interview zu Meister Eckhart | Chopin Leben und Werk | Jacques Chessex Ein Jude als Exempel | Jeanne Hersch Erlebte Zeit | Jeremy Rifkin Die empathische Zivilisation |Weitere Rezensionen zu Alice Munro, Patti Smith, Heinrich Böll, Helmut Schmidt und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese Starke Schweizer Autoren + + + Foto: Christian Kaufmann +++++ <wm>10CAsNsjY0MDAx1QWSZoZmABC8uiQPAAAA</wm> Foto: Thomas Kern <wm>10CEWKsQ6AIAwFv4jmtbQIdhSYiDFq_P9Pkbg43A2XG8ON8LG1_W6nM6AWphMnt6JULHsWoZmjQ3gRMFZkFY2c4P8ethouoAMPmI7aX_93j15eAAAA</wm> CHF 32,90 Hier finden Sie alle unter einer Adresse: die Werke der besten Schweizer Autoren – ganz bequem online bestellt, schnell und zuverlässig geliefert. www.buch.ch CHF 32,90 Inhalt Aussenseiter erschrecken und faszinieren Nr. 2 | 28. Februar 2010 Helmut Kohl Biografien | Robert Musil Klagenfurter Ausgabe | Kurt Flasch Interview zu Meister Eckhart | Chopin Leben und Werk | Jacques Chessex Ein Jude als Exempel | Jeanne Hersch Erlebte Zeit | Jeremy Rifkin Die empathische Zivilisation |Weitere Rezensionen zu Alice Munro, Patti Smith, Heinrich Böll, Helmut Schmidt und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese Helmut Kohl (Seite 19). Illustration von André Carrilho Seit Oktober 2007 schreibt Andreas Mink über Neuerscheinungen aus den USA («Das amerikanische Buch», Seite 26). Über Bücher, die von der Kraft, der Kreativität und dem Reichtum ihrer Menschen erzählen. Grösse, Inspiration und Erfolg stehen dabei oft hart neben Skandal und Absturz. In dieser Nummer bespricht Mink die im Januar publizierten Erinnerungen von Patti Smith: «Just Kids». Ein Buch, das die Beziehung der Performance-Künstlerin zum Fotografen Robert Mapplethorpe und das ungezügelte Leben der Musiker-, Dichter- und Drogenszene im New Yorker Chelsea Hotel der 60er Jahre schildert. Mapplethorpes Idol war der französische Poet Arthur Rimbaud – ein Frühvollendeter, der mit 21 Jahren das Dichten aufgab. Von Rimbaud handelt ein weiteres Buch, das wir rezensieren (S. 25). Zu den Freunden von Mapplethorpe/Smith gehörte Kultautor Allen Ginsberg («Das Geheul»). Der wiederum war befreundet mit William S. Burroughs und Jack Kerouac. Das Frühwerk der beiden Stars der Beatnik-Literatur erscheint erst jetzt auf Deutsch (S. 6). Alle waren sie Exzentriker, versanken in Alkohol, Drogen und Sexexzessen – und verfassten Werke, die zum Ausdruck ihrer Generation wurden. Und wir? Erschaudern fasziniert vor ihren Texten, schwelgen in ihrer Musik und pilgern zu ihren Ausstellungen. Mapplethorpes Fotos etwa sind bis 15. August im NRW-Forum in Düsseldorf zu sehen. Urs Rauber Helmut Schmidt, Fritz Stern: Unser Jahrhundert Belletristik 4 6 Von Urs Bitterli Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe Von Stefan Howald Von Sacha Verna 19 Hans-Joachim Noack, Wolfram Bickerich: Helmut Kohl Heribert Schwan, Rolf Steininger: Helmut Kohl Von Simone von Büren 20 Jeremy Rifkin: Die empathische Zivilisation William S. Burroughs, Jack Kerouac: Und die Nilpferde kochten in ihren Becken Von Gerd Kolbe Fritz Widmer: Wo geit das hi, wo me vergisst? 7 8 9 Von Dieter Ruloff Shahriar Mandanipur: Eine iranische Liebesgeschichte zensieren 21 Jeanne Hersch: Erlebte Zeit Von Susanne Schanda Von Urs Rauber Jacques Chessex: Ein Jude als Exempel Christian Platz, Christoph Gysin: Die Kinder von Shangrila Von Klara Obermüller Von Kathrin Meier-Rust Alice Munro: Tanz der seligen Geister Von Gunhild Kübler 22 J. Craig Venter: Entschlüsselt Von Thomas Köster Katalin Deér: Present Things Von Gerhard Mack Jan Heidtmann, Barbara Nolte: Die da oben 10 Don DeLillo: Der Omega-Punkt Derek Shapton Von David Signer 11 Christoph Ransmayr: Odysseus, Verbrecher Von Stefana Sabin Kurzkritiken Belletristik 11 Arezu Weitholz: Mein lieber Fisch Das Frühwerk von Alice Munro, das erst jetzt auf Deutsch erscheint, ist eine Einstiegsdroge für Neuleserinnen. Von Manfred Papst Kurzkritiken Sachbuch Von Manfred Papst 15 Willi Wottreng: Verbrechen in der Grossstadt Von Regula Freuler Monika Stocker: He, dich kenne ich doch Rainer Maria Rilke: Briefe an die Mutter Asaf Schurr: Motti Anne Weber: Luft und Liebe Von Regula Freuler Interview 12 Kurt Flasch, Philosoph und Publizist In der Zeit und nicht in der Zeit Von Manfred Papst Kolumne 15 Charles Lewinsky Das Zitat von George Bernard Shaw Von Daniel Puntas Bernet Von Urs Rauber Lukas Thommen: Umweltgeschichte der Antike Von Geneviève Lüscher Robert Zimmer: Basis-Bibliothek Philosophie Von Kathrin Meier-Rust Sachbuch 16 Eva Gesine Baur: Chopin oder Die Sehnsucht Mieczysław Tomaszewski: Chopin Von Gabriela Weiss 23 Christian Linder: Das Schwirren des heranfliegenden Pfeils. Heinrich Böll Von Reinhard Meier 24 Simon Sebag Montefiore: Katharina die Grosse und Fürst Potemkin Von Sabina Meier 25 Ulrich Horstmann: Die Aufgabe der Literatur Von Manfred Koch Amir Weitmann: Madoff – Der Jahrhundertbetrüger Von Charlotte Jacquemart 26 Barbro Santillo Frizell: Arkadien – Mythos und Wirklichkeit Von Geneviève Lüscher Das amerikanische Buch: Patti Smith Von Andreas Mink Agenda 27 Ward Calhoun: Paul Newman Von Regula Freuler Bestseller Februar 2010 Von Corinne Holtz Belletristik und Sachbuch Von Kathrin Meier-Rust Veranstaltungshinweise 18 Paul Nolte: Religion und Bürgergesellschaft Agenda März 2010 Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Judith Kuckart, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Patrizia Trebbi (Bildredaktion), Stephanie Iseli (Layout), Bettina Keller, Rita Pescatore, Benno Ziegler (Korrektorat) Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected] 28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik ULLSTEIN Der österreichische Schriftsteller Robert Musil (1880– 1942), Porträt von etwa 1930. Gesamtausgabe Das Werk des Klassikers Robert Musil liegt nun in elektronischer Version vollständig vor – eine eindrückliche Ausgabe mit ein paar Mängeln Das unendliche Buch Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hrsg. Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino. Robert-Musil-Institut der Universität Klagenfurt 2009. DVDVersion, 149 Euro. Von Stefan Howald Letzten Herbst verzögerte sich die Auslieferung nochmals um ein paar Wochen, weil die Hülle der DVD-ROM nicht rechtzeitig gedruckt vorlag. Zuvor schon war der Erscheinungstermin über mehrere Jahre hin verschoben worden. Doch jetzt ist sie endlich erschienen: die Klagenfurter Ausgabe mit allen Texten, die Robert Musil je geschrieben hat. Musil selber kannte solche Verzögerungen nur allzu gut. Von seinem Meisterwerk «Der Mann ohne Eigenschaften», dessen Spuren bis 1903 zurückreichen, veröffentlichte er 1930 einen ersten Band und 1932 einen zweiten, der eigentlich bloss ein Halbband war; danach arbeitete er nur noch an 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010 Um- und Neuschreibungen, wobei eine «Zwischenfortsetzung» erst nach seinem Tod 1943 publiziert wurde. Eine 1952 durch Adolf Frisé hergestellte Gesamtversion war eine ebenso bewundernswerte wie fragwürdige Leistung, die Frisé 1978 durch eine neue Ausgabe mit vielen Nachlassmaterialien selber massgeblich verbesserte. Diese Edition ist bis jetzt die einzig erhältliche Ausgabe eines Werks geblieben, das zu den Höhepunkten der Literatur des 20. Jahrhunderts zählt. 1992 erschien zwar eine CD-ROM mit allen Nachlasstexten. Sie ging aber in der Öffentlichkeit sang- und klanglos unter und war technisch bald überholt. Auf jener CD-ROM baut die jetzige Klagenfurter Ausgabe auf. Sie war von Beginn an elektronisch gedacht; eine Papierversion in 20 Bänden ist erst als Nachfolgeprojekt der DVD-ROM geplant. Was bietet uns also diese silberne Scheibe? Wir bekommen alle je veröffentlichten Texte von Musil. Wir bekommen alle elftausend Seiten ManuskriptTranskriptionen, dazu 1000 Seiten zusätzliche Autografen, damit insgesamt auch alle bekannten Briefe von und an Musil. Während die veröffentlichten Texte neu überprüft worden sind, werden die Nachlasstexte sogar in mehrfacher Form präsentiert, nicht nur in historisch-kritischen Nachschriften, sondern auch als Faksimile und zusätzlich als Lesetext. Die Herausgeber versichern, letzterer sei als Vorschlag gedacht, und er kann jederzeit anhand der Transkriptionen oder sogar der Faksimiles überprüft werden. Zuverlässige Transkription Was bekommen wir Neues? Die Faksimiles sind natürlich eine sinnliche Freude. Die zuverlässigen Transkriptionen waren überfällig. Zwar liegen wichtigere Nachlasstexte seit der Werkausgabe von 1978 sowie den Ausgaben der Tagebücher von 1976 und den Briefbänden von 1981 vor. Diese Frisé-Editionen bleiben erstaunliche und brauchbare Papierversionen, aber ihre textkritischen Angaben sind enervierend rudimentär. Die Klagenfurter Ausgabe präsentiert dagegen wirklich alle in 60 Mappen und 40 Heften überlieferten Texte, alle Vorstufen und Varianten, mit präzisen Angaben über den Status, den sie im Musilschen Universum einnahmen. Tatsäch- Eine der zahllosen Kleinnotizen Robert Musils aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Sie dienten ihm als «Zettelkasten». chenden Vorstufen und Nachlasstexte aufzurufen, schneller und umfassender als in der Papierversion. So weit, so eindrücklich. Ein radikal neues Musil-Bild oder eine neue RomanInterpretation waren dennoch nicht zu erwarten. Doch den verschlungenen Wegen von Musils Assoziations- und Arbeitsprozessen detailliert nachzugehen, ermöglicht den Nachvollzug des unendlichen Ringens ums richtige Wort. Aber dass sich aus dem Nachlass nicht weniger als acht frühe «Romanfragmente eigenständigen narrativen und stilistischen Zuschnitts» ergeben sollen, vermag wohl vor allem die akademische Musil-Forschung zu befeuern. Die ausführlichen Kommentare der Edition reichen von einfachen Sacherklärungen über Nachweise von Zitaten oder Vorbildern von Romanfiguren bis hin zu wichtiger Sekundärliteratur. Dazu gibt es umfangreiche Register zu Namen, Werken, Institutionen und Orten. Das alles ist wiederum vielfältig verknüpft und wird zu Recht als «eine kleine Enzyklopädie der Lebens-, Lese- und Schreibwelt Robert Musils» bezeichnet. Verbesserte Nachlieferung lich hat Musil zahlreiche frühe Entwürfe für den «Mann ohne Eigenschaften» aufbewahrt und später benützt. Wenn Frisé solche Texte zuweilen willkürlich auseinanderriss, so werden sie jetzt chronologisch wie thematisch einander zugeordnet. Damit wird Musils Arbeitsprozess minutiös dokumentiert, jeder Entwurf, jedes Nachlassblatt verortet. Für die mögliche Weiterentwicklung oder gar einen Schluss des «Mann ohne Robert Musil Der österreichische Autor Robert Musil (1880–1942) zählte zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren seiner Zeit. Bekannt wurde er mit dem Internatsroman «Die Verwirrungen des Zöglings Törless» (1906). Sein Hauptwerk ist der Fragment gebliebene Roman «Der Mann ohne Eigenschaften», der die untergehende österreichisch-ungarische Monarchie schildert. Die CD-Version von Musils Werken wird exklusiv vertrieben vom Robert-MusilInstitut der Universität Klagenfurt (www.uni-klu.ac.at/musiledition). Eigenschaften» ergibt sich eine einsichtige Hypothese. 1933, mit der Machtübernahme Hitlers, wollte Musil mehr soziale Fragen in den Roman einbauen, doch stellte er 1936 diese Absicht wieder zurück und konzentrierte sich in den letzten Jahren bis zum Tod 1942 in Genf auf die quasi mystischen und psychologischen Gespräche zwischen Ulrich und Agathe um einen «anderen Zustand», den er allerdings als Sackgasse sichtbar machen wollte. Für den Romanschluss formuliert Herausgeber Walter Fanta: «Die Entscheidung des Autors über den Ausgang der Romanhandlung wird dem erkenntnissuchenden Schreibexperiment der Figur Ulrich übergeben.» Damit bleibt die Unabschliessbarkeit des Romans als ästhetisches Programm ebenso Musils Überwältigung durch sein Material wie den Zeitumständen geschuldet. Die Klagenfurter Ausgabe stützt sich nicht nur auf Musils eigenes Siglensystem, mit dem er seine Texte verknüpfte, sondern stellt weitere Bezüge her, mit dem modischen Begriff des «Hypertextes» bezeichnet. Diese Links erlauben es, zu einem Kapitel oder einem Themenkomplex alle entspre- Allerdings ziehen sich durch die Kommentarebene zu viele Druckfehler und Ungenauigkeiten. Im Personenregister zum «Mann ohne Eigenschaften» klafft die Qualität und Reichweite der Kommentare weit auseinander, mit nicht immer einsichtiger Gewichtung. Während die Genese der Nebenfigur Bonadea in einer dissertationswürdigen Anmerkung erläutert wird, findet sich zu Agathe, der Schwester der Hauptfigur Ulrich, die in den Schlussteilen des Romans allgegenwärtig ist, ein einziger Satz. Das Ortsregister scheint als unvollendete Baustelle publiziert worden zu sein. Zu Warschau erfahren wir verdankenswerterweise, dass es sich dabei um die Hauptstadt Polens handelt, während den Kommentatoren zu Washington oder Winterthur nichts eingefallen ist. Zürich entgeht diesem Schicksal, da vermerkt wird, dass das «Waldhaus Dolder = Züricher Hotel» sei, aber da das Ganze mit Marker gelb unterlegt ist, ist diese Aussage offenbar zur Nachprüfung vorgesehen. Mein Lieblingskommentar bezieht sich auf einen Brief von Martha Musil an ihre Tochter, in dem Martha ein «Gummibuch» erwähnt. Eine Anmerkung behauptet, dabei handle es sich um den antifaschistischen Tatsachenbericht «Die Moorsoldaten» von Wolfgang Langhoff, weil dessen englischer Titel «Rubber Truncheon» (Gummiknüppel) geheissen habe; worauf wenig später in der gleichen Zeile eine zweite Anmerkung erklärt, dass es sich bei dem fraglichen Text um den Roman «Gummi» von Madelon Lulof gehandelt habe – die allerdings in Wahrheit Lulofs hiess. Kurzum: In den zahllosen Verweisen dieses unendlichen «Hypertextes» ist die Detailkontrolle gelegentlich untergegangen. Es bleibt ein weiterer Vorteil der elektronischen Version, dass für 2011 bereits eine verbesserte Nachlieferung angekündigt werden kann. ● 28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Roman Jack Kerouac und William S. Burroughs gelten als Klassiker der Beat-Generation. In ihren jungen Jahren schrieben sie gemeinsam einen höchst seltsamen Roman Mord im Riverside Park William S. Burroughs , Jack Kerouac: Und die Nilpferde kochten in ihren Becken. Nachwort: James Grauerholz. Aus dem Amerikanischen von Michael Kellner. Nagel & Kimche, Zürich 2010. 190 Seiten, Fr. 34.50. New York, Sommer 1944. Eine Gruppe von Freunden schlägt sich die Tage und Nächte mit Reden, Rauchen und Trinken um die Ohren. In wechselnden Bars und Wohnungen, in wechselnder Zusammensetzung und in wechselnden Launen. Bis einer von ihnen einen anderen umbringt. Tatsächlich geschah dies in den frühen Morgenstunden des 14. August im Riverside Park, wo ein gewisser Lucien Carr mit einem Pfadfindermesser auf einen gewissen David Kammerer einstach und dessen Körper darauf in den Hudson River hievte. In «Und die Nilpferde kochten in ihren Becken» spielt sich der Mord ein bisschen anders ab, und die Figuren heissen Phillip Tourain und Ramsay Allen. Doch basiert dieser Roman auf den Ereignissen, die eben jener Augustnacht vorausgingen. DasCarr-Kammerer-Dramabeherrschte wochenlang die Schlagzeilen. Kammerer habe, so die am weitesten verbreitete Version, dem attraktiven und viel jüngeren Carr nachgestellt und ihn damit zu einer Verzweiflungstat gezwungen. In der Version, die William Burroughs und Jack Kerouac erzählen, sind die Rollen nicht ganz so eindeutig verteilt. Burroughs und Kerouac muss- CorBIS Von Sacha Verna ten es wissen, gehörten sie doch zum Kern des Kreises, in dem sich Carr/Tourain und Kammerer/Allen bewegten. Damals waren Burroughs und Kerouac noch zwei unbekannte unpublizierte Autoren und weit entfernt von ihrem Beatnik-Ruhm. Deshalb interessierte sich kein Verlag für das Manuskript, als sie die «Nilpferde» 1945 herumboten. Später verhinderten Rechtsstreitigkeiten und Gründe des Persönlichkeitsschutzes, dass das Buch vor 2008 erstmals in den USA und in England erschien. Die «Nilpferde» sind im Stil eines neorealistisch-existenzialistischen Film noir gehalten. Der Barkeeper und Teilzeitdetektiv Will Dennison (Burroughs) und der finnische Matrose Mike Ryko (Kerouac) schildern darin aus alternierenden Perspektiven (und in alternierenden Kapiteln), wie Tourain, Allen William S. Burroughs, Lucien Carr (der Messerstecher) und Allen Ginsberg (von links), New York 1953. und sie selber mit Anhang Treppen hinauf- und hinuntersteigen, gekochte Eier bestellen und verspeisen, schlafen gehen und aufstehen, zum Fenster hinausschauen, durch New Yorks Strassen streunen und eben viel, viel trinken, rauchen und reden. Kurz: Sie schildern alles. Auch dass Phillip Tourain vorhat, mit Ryko auf einem Schiff nach Europa anzuheuern, um Ramsay Allen loszuwerden, obschon Allen eigentlich ein sympathischer harmloser Kerl ist und es eher der von einer utopischen KünstlerGesellschaft schwadronierende Tourain ist, der ihnen allen auf die Nerven geht. William Burroughs’ Passagen lesen sich wie hartgekochte Prosa mit Weichspüler. Jack Kerouac gebärdet sich als Macho, der sein Milchgesicht hinter aneinandergereihten Hauptsätzen zu verbergen versucht. Selten haben zwei Nilpferde so meisterhaft literarischen Schiffbruch erlitten, und selten machte es so viel Spass, ihnen dabei zuzusehen. Kommt hinzu, dass die Autoren, vielleicht gerade weil sie noch nicht «On the Road» sind und gepflegte Mahlzeiten dem «Naked Lunch» vorziehen, ein Bild vom New York jener Epoche zeichnen, das so stimmungsvoll und authentisch auch der beste Film noir nicht zu vermitteln vermag. Was in jenem Sommer 1944 wirklich geschah, gerät dabei völlig in den Hintergrund. Der Mord und seine Folgen werden auf den letzten paar Seiten abgehandelt, als habe die Realität nur als Vorwand für das literarische Experiment gedient. Genau betrachtet, stimmt das auch. Auf diese Weise entstehen die originellsten Formen der Kunst. l Mundart Der ehemalige Berner Troubadour Fritz Widmer schreibt poetische Texte von genuiner Sprachkraft Helgeli u Värsli vo vorfärn Fritz Widmer: Wo geit das hi, wo me vergisst? Cosmos, Muri bei Bern 2010. 127 Seiten, Fr. 29.–. Von Simone von Büren In keinem Schweizer Dialekt gibt es eine lebendigere Mundarttradition in Liedern und Literatur als im Berndeutsch: von den Rockbands «Züri West» und «Patent Ochsner» über Dramatiker wie Beat Sterchi und Guy Krneta zur innovativen Spoken-Word-Gruppe «Bern ist überall». Pioniere für diesen literarischen Umgang mit Mundart jenseits von Heimatidylle und Jodlerclub-Lyrik waren ab den 1960er Jahren neben Kurt Marti die Berner Troubadours, zu denen Mani Matter und Fritz Widmer gehörten. Fritz Widmer hat neben seinen Liedern Gedichte und Romane geschrie6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010 ben. Eine Sammlung kurzer Mundarttexte ist nun beim Cosmos-Verlag erschienen. «Wo geit das hi, wo me vergisst?» enthält Anekdoten von Wanderungen und Marktsamstagen, verspielte und moralisierende Reflexionen zum Urknall, zum Älterwerden, zur Liebe und zur Erfindung der Schere, dazu abgeklärte Beschreibungen von «Rägemelodiie u Amslelieder», wachsenden Blumen, verlöschenden Sternen und einer immer wieder heilen Welt: «Der Vatter singt vergnüegt vo Bärge u vo Taau / u ds Aaberot wird langsam aabedunkublau.» Manche Texte sind – wie viele Lieder Widmers – Übersetzungen von Heine, Goethe und Shakespeare, von irischen und norwegischen Lyrikern und von Mozart-Arien. Während Shakespeare und Goethe im Berndeutsch eher eindimensional werden, behalten rauere Vor- lagen von W. B. Yeats und Robert Burns eine lebendige Direktheit. Moderne Übersetzungen klassischer Texte sind oft zugänglicher als das Original, weil sie die Barrieren alter Wörter und überholter Konventionen aus dem Weg räumen. Widmers Gedichte verwenden aber gerade die Sprache einer schwindenden Zeit. Da kommen zwar «Bäiker» und «Disäin» vor, aber auch «aagattige», «albeneinisch», «Helgeli», «Halungge», «zmorndrischt», «vo vorfärn» und viele andere Wörter, über die man heute stolpert. Manche Themen und Fragen in Widmers Texten mögen durchaus noch aktuell sein, aber die Sprache, in der sie verhandelt werden, hat sich verändert. Und solch kleine Verschiebungen – das ist das Faszinierendste an dieser Lektüre – fallen in der Sprache, die wir täglich hören und reden, ganz besonders auf. l Roman Der iranische Autor Shahriar Mandanipur schreibt eine Satire auf die Verbotsgesellschaft Wie die Liebe mit dem Zensor ringt Shahriar Mandanipur: Eine iranische Liebesgeschichte zensieren. Aus dem Englischen von Ursula Ballin. Unionsverlag, Zürich 2010. 319 Seiten, Fr. 33.90. Von Susanne Schanda GUILLaUMe herBaUt / LaIF Wer zeitgenössische Literatur aus Iran liest und über sie schreibt, kommt um das Thema der Zensur nicht herum. Selbst die Romane des grossen Mahmud Doulatabadi warten oft jahrelang auf eine Genehmigung zur Publikation. Sein jüngster Roman «Der Colonel» konnte in Iran nicht erscheinen und ist bisher nur auf Deutsch publiziert. Ebenso erging es dem neuen Roman von Amir Hassan Cheheltan: «Teheran Revolutionsstrasse» liegt nur auf Deutsch vor. Zur gleichen Generation wie Cheheltan gehört der 1957 in der südiranischen Stadt Shiraz geborene Shahriar Mandanipur. Er schlägt nun zurück. Zensiertes wird mitgeliefert «Eine iranische Liebesgeschichte zensieren» ist eine bitterböse Satire auf eine Verbotsgesellschaft, die Angst, Lügen, Heuchelei und Verzweiflung hervorbringt. Die im Namen der Moral den Frauen «gewaltsam ein Tuch um den Kopf nagelt», wie Mandanipur schreibt. Der Roman führt durch die Strassen Teherans und Gärten Shiraz’, erzählt von Demonstrationen, Büchern und der Liebe. Und vom täglichen Kampf des Erzählers mit dem Zensor. Die zensierten Wörter werden mitgeliefert. Dies sieht im ersten Abschnitt so aus: «Teherans Luft ist erfüllt vom Duft der Frühlingsblüten und Abgase, von giftigen Düften aus Tausendundeiner Nacht, sie umschlingen, vereinigen sich, sie flüstern sich Geheimnisse zu. Die Stadt treibt durch die Zeiten .» Etwas später lesen wir durchgestrichen: «Nach wie vor werden die Studenten niedergeknüppelt.» Immer wieder spricht der Erzähler die Lesenden direkt an, fordert sie auf, ihn zu fragen, auf dass er berichten könne, wie Sheherazade, die durch das Erzählen ihr Leben rettete. Die Liebenden heissen Sara und Dara, Pseudonyme, wie der Erzähler erklärt, der seinerseits dem Autor Mandanipur zum Verwechseln ähnelt und auch dessen Namen trägt: «Ich bin ein iranischer Schriftsteller, der es leid ist, düstere und bittere Geschichten zu schreiben, Geschichten voller Gespenster, gestorbener Erzähler und mit einem vorhersehbaren Ende in Tod und Untergang.» Stattdessen wolle er «aus tiefstem Herzen eine Liebesgeschichte schreiben». Gerade dies hat allerdings in der Islamischen Republik seine Tücken. Denn freie Begegnungen zwischen den Geschlechtern gelten dort Frau vor einem Schaufenster für Abendkleider, Iran 2009. Im Roman von Shahriar Mandanipur versucht Sara, in der Islamischen Republik eine verbotene Liebe zu leben. als «Vorspiel zur Todsünde». Das schreit nach List und Verstellung. Im Roman beobachtet Dara, wie die Literaturstudentin Sara in der Bibliothek vergeblich nach dem verbotenen Buch «Die blinde Eule» des iranischen Autors Sadeq Hedayet fragt. Am nächsten Tag sitzt Dara am Boden in der Nähe ihrer Wohnung und verkauft antiquarische Bücher. Sara sieht «Die blinde Eule», kauft sie und entdeckt beim Lesen eine geheime Botschaft, die Dara in das Buch geschrieben hat: Sie soll sich in der Bibliothek «Den kleinen Prinzen» ausleihen. Dort findet Sara die nächste Botschaft, die sie weiterführt zu «Dracula», dann zum Liebesepos «Chosrou und Schirin» von Nizami, dann zu Milan Kunderas «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins». Es dauert Monate, bis sich die beiden am Rand einer Demonstration zum ersten Mal treffen. Stilistische Verkleidungen Der Erzähler präsentiert oft mehrere Varianten einer Episode, erklärt, warum der Zensor Herr Petrowitsch dieses akzeptieren könnte, jenes aber niemals. Herr Petrowitsch tritt im Roman selbst als Figur auf, verfolgt und beschimpft den Erzähler, droht und lockt. Teilweise mit Erfolg, wenn es ihm gelingt, die Liebesgeschichte ins Lavieren zu bringen. Dara verliert an Boden und entgeht nur knapp einem Mordanschlag, da wirft er sich wutentbrannt auf den Erzähler und beschuldigt diesen, ihm eine so schwächliche, hoffnungslose Rolle zugedacht zu haben, nur damit er den Roman durch die iranische Zensur bringe. Der Erzäh- ler ist betroffen von der Kritik und gibt Dara wieder Auftrieb. Als das Liebespaar am Ende des Romans allein in Daras Elternhaus ist, droht Petrowitsch: «Zwingen Sie mich nicht, selbst einzugreifen. Holen Sie Sara aus dem Haus der Sünde!» Dies tut der Erzähler nicht. Er gibt seinen Traum einer Liebesgeschichte mit Happy End auf und überlässt Sara das Wort. Dann macht er sich aus dem Staub, in Todesangst. Mehr noch als die Liebe behandelt Shahriar Mandanipur in diesem Roman das Schreiben, das Ringen um das unverfälschte Wort, den Kampf gegen Feigheit, Verstellung, Selbstzensur und Zensur – die Liebe zum Schreiben. Wie andere Autoren hat sich Mandanipur einst mit den stilistischen Verkleidungen der Postmoderne durch die Zensur manövriert, allerdings um den Preis der Verständlichkeit und einer breiten Rezeption. Der neue Roman liest sich leicht, gefällt bei aller Tragik durch Humor und zeigt, wie die Zensur in der Islamischen Republik funktioniert, am perfidesten dort, wo sie sich ins Hirn des Autors schleicht. Dennoch leidet der Erzählstrom im Verlauf der Lektüre durch die zahlreichen Kommentare, Erklärungen und Ansprachen an die Leser, die vermuten lassen, dass der Autor ein ausländisches Publikum im Visier hat. Mandanipur hat seinen Roman in den USA geschrieben, wo er seit einigen Jahren lebt. Nach der englischen Übersetzung ist nun die deutsche erschienen. In Iran wird das Buch wohl nie publiziert werden. Nicht nur wegen der Zensur. l 28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Der grosse, unlängst verstorbene Waadtländer Erzähler Jacques Chessex gestaltet ein berühmtes antisemitisches Verbrechen in der Schweiz – mit künstlerisch zweifelhaftem Erfolg FranCk CoUrt / aGenCe VU Judenmord von Payerne Jacques Chessex: Ein Jude als Exempel. Aus dem Französischen von Grete Osterwald. Nagel & Kimche, Zürich 2010. 96 Seiten, Fr. 22.90. Von Klara Obermüller Am 16. April 1942 wurde der jüdische Viehhändler Arthur Bloch in Payerne von vier jungen Nazi-Sympathisanten in einen Hinterhalt gelockt, erschlagen, zerstückelt und, auf drei Milchkannen verteilt, im Neuenburgersee versenkt. Die Täter konnten rasch gefasst und ihrer gerechten Strafe zugeführt werden, von den politischen Hintergründen der Tat war im Prozess jedoch nicht die Rede. Die eigentlichen Drahtzieher blieben bis Kriegsende unbehelligt. Der Judenmord von Payerne ist das wohl krasseste Beispiel antisemitischer Gesinnung in der Schweiz. Umso erstaunlicher, dass der Vorfall lange Zeit weitgehend unbeachtet blieb. Und dies, obwohl Schriftsteller, Filmemacher und Historiker sich der Geschichte wiederholt angenommen hatten. Wiederholt aufgearbeitet 1973 wies Werner Rings in seiner Fernsehserie über «Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg» auf das Verbrechen hin. 1974 erschien Walter Matthias Diggelmanns Erzählung «Der Jud Bloch». 1977 folgte der Film «Le crime nazi de Payerne» von Yvan Dalain und Jacques Pilet. Und im Jahr 2000 rollte der Publizist Hans Stutz die Geschichte und ihren faschistischen Hintergrund in seinem Buch «Der Judenmord von Payerne» noch einmal auf. Und nun also Jacques Chessex. Auch er hatte sich in der 1967 erschienenen Erzählung «Un crime en 1942» des Themas schon einmal angenommen. Losgelassen hat es ihn nie mehr. Denn die Geschichte ist Teil seiner eigenen Biografie: Chessex ist in Payerne gebo8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010 ren und aufgewachsen. Die Täter waren Nachbarn. Mit ihren Kindern ging er zur Schule. Die Frage der Schuld und Mitschuld habe seine Erinnerung vergiftet, sagte er. Deshalb ist er jetzt noch einmal auf die Ereignisse von damals zurückgekommen und hat diesen Roman geschrieben, der im Grund keiner ist, sondern vielmehr ein Nachdenken darüber, was geschah, warum und wie das Geschehene im Gedächtnis der Ortsansässigen weiterlebte. Dass es für eine Tat wie diese keine Sühne, keine Verjährung, keine Wiedergutmachung geben kann, ist für Chessex klar. Aber wie geht man mit der Erinnerung um? Und wie schreibt man darüber, ohne sich selbst mit dem Verbrechen gemein zu machen? «Ich erzähle eine schmutzige Geschichte und schäme mich für jedes Wort, das ich darüber schreibe», heisst es gegen Buchende. Eine Schlüsselstelle, die andeutet, warum Chessex vom Thema nicht loskommt. Es sind zutiefst moralische Fragen, die den Autor umtreiben. Und das erklärt vielleicht auch, warum dem Buch bis jetzt ein so fulminanter Erfolg beschieden war. 40 000 Mal wurde es allein in Frankreich verkauft. Über die literarische Qualität des Textes sagen die geradezu hymnischen Kritiken in den französischen Zeitungen allerdings kaum etwas aus. Die Aufmerksamkeit gilt der Geschichte. Sie verblüfft, erschreckt, wühlt auf. Dass sich das Verbrechen ausgerechnet in der sonst so untadeligen Schweiz ereignet hat, mag dem Buch, zumal im Ausland, zusätzlichen Auftrieb geben. Literarisch gesehen jedoch hat das Buch nichts Aussergewöhnliches. Chessex gibt die historischen Ereignisse drastisch wieder und beschreibt das dumpfe Klima, das in Payerne herrschte und die Lebensläufe der Täter bestimmte. Dass er es mit grosser innerer Beteiligung tut, verleiht dem Text atmosphärische Dichte. Nur lässt es der Autor nicht dabei bewenden, sondern versucht den Seelensumpf auszuloten, dem die Tat entsprang. Und da macht er vor keinem Nazi-Klischee Halt. In dem französischer Prosa oft eigenen und in deutscher Übersetzung oft peinlich wirkenden Pathos lässt er Hacken knallen, Stimmen schnarren und aus eisblauen Augen Blicke aufblitzen. Man ruft sich tagsüber «Heil Hitler» zu und sieht des Nachts beim Auspeitschen junger Mädchen das Judenblut vom Messer spritzen. Das ist nicht nur abgeschmackt und platt, sondern dämonisiert die Täter auf eine Weise, die so ziemlich das Gegenteil jener erschreckenden Banalität darstellt, die Chessex doch eigentlich hatte zum Vorschein bringen wollen. An der Grenze des Kitsches Spätestens seit Erscheinen von Jonathan Littells «Les Bienveillantes» ist man im französischen Sprachraum offenbar überzeugt, dass nationalsozialistische Milieus ohne Gewaltorgien und sexuelle Perversionen nicht adäquat zu beschreiben seien. Damit liegt man gewiss nicht ganz falsch. Nur sollte man auch über eine Sprache verfügen, die diesem komplexen Phänomen gewachsen ist. Dies ist bei Chessex leider nicht der Fall. Statt zu gedanklicher Schärfe greift er zu verschwommener Poesie. An die Stelle fundierter Analysen setzt er Mystifizierungen, die bisweilen hart an der Grenze des Kitsches sind. Und so fragt man sich am Ende, was der Autor denn nun eigentlich schreiben wollte: einen Bericht über den Mord an dem Juden Arthur Bloch, wie er sich damals in Payerne zugetragen hat und sich andernorts, zu anderen Zeiten und unter anderen Umständen wieder zutragen könnte? Oder aber eine Darstellung des absolut Bösen, wie er es vor allem in Pastor Lugrin, dem Mann hinter der Tat, verkörpert sieht? Das eine geht nicht mit dem andern zusammen. l Jacques Chessex (1934–2009) erzählt in seinem letzten Buch eine persönlich gefärbte Geschichte (Aufnahme Januar 2008). Erzählungen Der Erstling der Kanadierin Alice Munro, der erst jetzt übersetzt wurde, ist ein Fund Von rebellischen Kindern, Mädchen und Frauen liegen die meisten ihrer Bücher auch auf Deutsch vor. Dieser Erfolg hat dazu geführt, dass jetzt endlich auch Alice Munros 1968 erschienener Erstling in deutscher Übersetzung erscheint, der Erzählband «Tanz der seligen Geister» («Dance of the Happy Shades»). Zum Zeitpunkt der Publikation war Alice Munro 37 Jahre alt, hatte drei Töchter und führte zusammen mit ihrem Mann eine Buchhandlung. Ihr Début gewann einen Preis und machte sie in Kanada berühmt. Denn die hier versammelten fünfzehn Geschichten sind weit mehr als Talentproben. Sie sind Ausbeute von fast zwanzig Jahren zähen und ambitionierten Ringens um die adäquate Form, und man kann die Handschrift der späteren Meisterin von «short fiction» schon deutlich erkennen. Umso erstaunlicher ist, dass der Band so lange unübersetzt blieb. Wie immer erzählt Alice Munro auch hier von einfachen Menschen aus Alice Munro: Tanz der seligen Geister. Aus dem Amerikanischen von Heidi Zerning. Doerlemann, Zürich 2010. 380 Seiten, Fr. 39.80. Von Gunhild Kübler Die kanadische Autorin Alice Munro (geboren 1931 in Wingham, Ontario, als Alice Ann Laidlaw) ist eine der besten lebenden Autorinnen und gilt seit Jahren als Anwärterin auf den Literaturnobelpreis. Dennoch ist sie bei uns lange ein Geheimtipp geblieben, obwohl sie in ihrem Heimatland und in den USA schon längst ein begeistertes Lesepublikum hat. Das hat sich erst im letzten Jahrzehnt geändert, als nicht nur viele deutschsprachige Leser und Leserinnen sie entdeckten, sondern auch Autorinnen wie Judith Hermann, Eva Menasse und Ruth Schweikert sie als inspirierend für ihr eigenes Schreiben priesen. Inzwischen Architektur Modell von der Welt Man muss schon ein Hardcore-Fan sein, um in einer solchen Umgebung Ferien zu machen. Der Strand ist bestenfalls ein erdiges Ufer für Fischerböötli, und die Häuser sehen aus wie ausgebrannte Bunker oder wie die Sieger im Wettbewerb um den schlechtesten Geschmack in der Provinz. Solche namenlosen Umgebungen faszinieren Katalin Deér. Die in den USA geborene Künstlerin ungarischer Abstammung mit Pendlerrouten zwischen Berlin, St. Gallen und Süditalien zückt immer dann den Fotoapparat, wenn es für Touristen eigentlich nichts zu sehen gibt. Aus ihren Aufnahmen, die sich inzwischen zu einer Galerie der zeitgenössischen Wahrnehmung von Gebrauchsarchitektur fügen, konstruiert die Bildhauerin dreidimensionale Modelle. Diese bald krud, bald zart gefügten Gebilde besitzen eine Phantastik, die dem Baumeister in der Realität nicht zur Verfügung steht. Sie modellieren etwas, was sich vielleicht gar nie bauen lässt. Schöner kann man kaum über Bauten nachdenken. Gerhard Mack Katalin Deér: Present Things. Snoeck, Köln 2009. 80 Seiten, 58 Farbabbildungen, Fr. 56.80. der kanadischen Provinz, nur dass ihre meist weiblichen Protagonisten, verglichen mit denen ihrer letzten Erzählbände, wesentlich jünger sind. Es zeigt sich, dass diese Autorin im Lauf ihres Lebens mit ihren Figuren gealtert ist, doch ihre Methode, sie auszuleuchten, hat sie früh perfektioniert: Sie lässt im Alltag das Ambivalente und Unauslotbare von menschlichen Beziehungen aufbrechen. Daher kann man bei kaum einer Erzählung den Schluss vorhersagen. Auch hier gibt es schon die typischen Munro-Momente, in denen die Figuren an einem Scheideweg ankommen und von denen aus es in mehrere Richtungen weitergeht. Ein Kind erlebt innerlich rebellierend den Augenblick, in dem es für seinen Vater zum jungen Mädchen und damit abgewertet wird. Ein junges Mädchen empfindet seinen ersten Ball als Tortur, will fliehen und lässt sich dann doch noch freudig dort festhalten. Eine junge Frau arbeitet einen Sommer lang bei reichen Leuten als Haushaltshilfe und erforscht dabei – mit Zorn und leisem Vergnügen – den Frontverlauf sozialer Hierarchien. Zwei Schwestern, die als Kinder mit der Pflege ihrer bettlägerigen Mutter vollkommen überfordert waren, werden nach dem Tod der Mutter von Kindheitsgespenstern geplagt, die sich von Schuldgefühlen nähren. Der autobiografische Erzählstoff dieser Geschichten ist überall greifbar – Alice Munro ist als Tochter eines Silberfuchsfarmers in einfachen Verhältnissen auf dem Land in Westontario, Kanada, aufgewachsen, ihre Mutter erkrankte an einer seltenen Form von Parkinson, als sie erst zehn Jahre alt war. Hier kann man nun beobachten, wie Alice Munro aus solchem Stoff Geschichten zuschneidet, deren verdichtete Lebenserfahrung sich universalisieren lässt und auch noch die Leser und Leserinnen weitab von Kanada ganz persönlich anzusprechen scheint. Erzählen ist bei dieser Autorin eine Methode, über das Leben nachzudenken. Sie tut es schon in diesem Erstling mit jener verblüffenden Präzision im Detail, die noch die nebensächlichsten Vorgänge prägnant, ja ergreifend werden lässt – etwa das tränenlose Weinen einer alten Frau. Man sieht vor sich, wie diese alte Frau das Taschentuch aus dem Kleid zieht und sich damit bekümmert über ihr beinah trocken gebliebenes Gesicht reibt. Wer ausser Alice Munro nimmt schon so ein Detail überhaupt wahr? Fazit: Das Buch ist eine starke Einstiegsdroge für alle, die Alice Munro noch nicht kennen. Aber auch wer dieser Schriftstellerin bereits verfallen ist, sollte es sich auf keinen Fall entgehen lassen. l 28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman In seinem neuen Werk demonstriert Don DeLillo virtuos, was verdichtendes Schreiben bedeutet. Hinter manierierter Kunstprosa wird ein Krimi sichtbar Viele Fährten ausgelegt Don DeLillo: Der Omega-Punkt. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 114 Seiten, Fr. 29.90. Der amerikanische Autor Don DeLillo wird wegen seiner Vorliebe für verschlungene Plots, Vielschichtigkeit, Anspielungen und Künstlichkeit oft als postmoderner Autor bezeichnet. Das ist ein zwiespältiges Kompliment, da die Postmoderne vielen spätestens seit 9/11 als «tempus passatum» gilt; der Einsturz der Twin Towers wird als eine Art Einbruch des Realen in die Welt der Simulationen und Konstruktionen verstanden. Bloss: 9/11 war zugleich ein hochgradig symbolisches, inszeniertes und mediatisiertes Ereignis. Genau diese Unentwirrbarkeit zwischen «wirklich» und «unwirklich» interessiert DeLillo, und nicht umsonst widmete er dem Anschlag von 2001 und seinem Widerhall sein letztes Werk «Falling Man». Den jüngsten Roman des New Yorkers, «Der Omega-Punkt», könnte man als postpostmodern bezeichnen – zumal es darin um den Moment geht, in dem alle unsere raffinierten Erklärungen und Interpretationen der Welt hinfällig werden angesichts von Schmerz, Verlust und Tod. Zweifellos trifft DeLillo damit ein verbreitetes Lebensgefühl. Aber eigentlich waren Konstruktion, Dekonstruktion und Destruktion sein Thema, mindestens seit seinem frühen Werk «Die Namen», zu einer Zeit, als Derrida und Lyotard noch keine Labels waren. «Der Omega-Punkt» ist irreführend. Der 110-seitige Miniroman beginnt mit einer langen, minutiösen Schilderung von «24 Hour Psycho», einer Videoinstallation von Douglas Gordon, in der Hitchcocks Meisterwerk in einer extrem verlangsamten, 24-stündigen Version gezeigt wird. Erst auf Seite 19 startet die eigentliche Geschichte. Ein junger Filmemacher namens Jim hat Richard Elster, einen ehemaligen Kriegsberater der amerikanischen Regierung, in dessen Haus in der kalifornischen Wüste aufgesucht, um ihn für ein Dokumentarfilmprojekt zu gewinnen. Postmoderne Literatur Da sitzen sie nun in der Hitze, trinken Whisky und reden, reden, reden. Elster ist ein brillanter Gelehrter, der einem Angebot gefolgt ist, das Pentagon für seinen Irakkrieg mit einem intellektuellen Fundament zu versorgen. Seine Erinnerungen an seinen Flirt mit der Macht sind gelegentlich geistreich, gelegentlich langweilig, gelegentlich unverständlich. Endlich, auf Seite 39, passiert etwas: Elsters Tochter Jessie taucht auf. Aber dann wird wieder dreissig Seiten lang geschwafelt, unter anderem über 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010 DDp IMaGeS Von David Signer Janet Leigh im Hitchcock-Thriller «Psycho» (1960). Anspielungen auf den Film finden sich im «Omega-Punkt». den Begriff des «Omega-Punkts» in Teilhard de Chardins Versuch, die Evolutionslehre mit dem Christentum zu versöhnen und in die Zukunft zu extrapolieren. Einmal nimmt Jim zaghaft Jessies Hand, einmal öffnet er nachts ihre Schlafzimmertüre, und sie schauen sich einen Moment im Dunkeln an. Das war’s dann auch schon. Postmoderne Literatur von der übelsten Sorte, denkt man. Auf Seite 72 verschwindet Jessie. Jetzt bekommt die Geschichte etwas Schub, um endgültig zu versacken. Elster verstummt und sitzt nur noch zusammengesunken in seinem Sessel, Jim unternimmt ein paar halbherzige Versuche herauszufinden, was geschehen sein könnte. Auf Seite 87 finden Suchtrupps ein Messer in einer Schlucht. Schliesslich fährt Jim den Alten zurück in die Stadt. In einem Epilog sehen wir nochmals den Mann aus der Eingangsszene, der sich «24 Hour Psycho» im Museum of Modern Art (MoMA) in New York anschaut, Tag für Tag, stumm und unbeweglich. Nur einmal wird seine Erstarrung unterbrochen durch eine junge Frau, die ihn anspricht. «Was sehe ich mir da an?», fragt sie. Sie wechseln ein paar Sätze, dann verschwindet sie. Immerhin hat sie ihm noch ihre Telefonnummer hinterlassen. Ratlos legt man das Buch zur Seite. Man spürt, dass diverse Fährten ausgelegt sind. Aber hat man Lust, ihnen zu folgen? Man ist schliesslich Leser und nicht Literaturwissenschafter. Sicher, es gibt Parallelen zwischen «Psycho» und der Wüstengeschichte. Eine Frau ver- schwindet, ein Unbekannter hat sie umgebracht... Und plötzlich durchfährt es einen wie ein Blitz: Moment, der Mann im MoMA, die anonymen Anrufe, seine neurotischen Anspielungen auf seine Mutter! Man blättert zurück, realisiert, dass einiges in dem pseudointellektuellen Gefasel bedeutsamer war, als man erst dachte, dass alles miteinander zusammenhängt. Kein beliebiges Geplänkel. Man beginnt die Lektüre von neuem, und auf einmal ist alles ganz anders: Hinter der manierierten Kunstprosa wird plötzlich der Krimi sichtbar – oder mehrere mögliche Krimis in einem. Kristalline Sprache «Der Omega-Punkt» ist aus der Perspektive eines jungen Filmemachers erzählt. Aber vielleicht ist das wahre Alter Ego des Autors im Buch eher Elster, mit seinen 73 Jahren exakt so alt wie DeLillo. Wie Elster fasziniert DeLillo durch seine kühle Virtuosität. Das Pendant zu Elsters Exkursionen in eisig-theoretische Höhen sind DeLillos lange Beschreibungen von Gesteinsformationen, Lichtverhältnissen, Filmeinstellungen, in präziser, emotionsloser, kristalliner Sprache. Als diese glatte Oberfläche gegen Ende des Buches zerbricht, gibt es nichts, was an ihre Stelle treten könnte. Zurück bleiben Leere, Wahnsinn und Gewalt. Etwas Unbenennbares, «seltsamer als Träume», wie es in der letzten Zeile heisst. Vielleicht ist es eine Überinterpretation, darin eine Zeitdiagnose zu sehen. Aber bei einem so hochverdichtenden Autor wie DeLillo gibt es kaum Überinterpretationen. l Drama Christoph Ransmayr aktualisiert die antike Figur des Odysseus Heimkehren in die Fremde Kurzkritiken Belletristik Arezu Weitholz: Mein lieber Fisch. 44 Fischgedichte. Weissbooks, Frankfurt a. M. 2010. 96 Seiten, Fr. 26.90. Rainer Maria Rilke: Briefe an die Mutter. Hrsg. Hella Sieber-Rilke. Insel, Frankfurt a. M. 2009. 2 Bde., 760/770 Seiten, Fr. 159.–. Die 1968 bei Hannover geborene Autorin Arezu Weitholz hat als Journalistin für das Magazin der «Süddeutschen Zeitung», für «Spiegel Special», den «Stern» und andere Magazine gearbeitet. Seit dem Album «Mensch» ist sie als Textdichterin und -dramaturgin für den Sänger Herbert Grönemeyer tätig. Zum Spass schreibt sie zudem in der Tradition von Morgenstern, Ringelnatz und vor allem Heinz Erhardt heitere Nonsense-Gedichte. Sie handeln allesamt von Fischen und klingen beispielsweise so: «Der schlechtgelaunte Zackenbarsch / kauft T-Shirts immer extra large. / Er ist nun mal nicht mehr so schmal / wie früher. Nein, das war einmal.» Die Dichterin hat ihre Verse alphabetisch nach Fischnamen angeordnet und plakativ illustriert. «Die blaue Forelle / schwamm im Gefälle / gegen ne Welle / jetzt hatse ne Delle.» Manfred Papst Über 1100 Briefe hat Rainer Maria Rilke (1875–1926) als Erwachsener an seine Mutter geschrieben. Sie liegen nun erstmals vollständig vor; ediert hat sie die Ehefrau von Rilkes Enkel Christoph. Die ausführlichen, in lebhaftem Konversationston gehaltenen Briefe zeigen den Dichter der «Duineser Elegien» und der «Sonette an Orpheus» als folgsamen Sohn. Er lässt seine Mutter, eine prätentiöse, dominante Frau aus einer Prager Fabrikantenfamilie, an seinem äusseren Leben teilhaben, verschweigt ihr aber alle seine Konflikte, Nöte, Krisen. Sein Leben lang schont er sie, während sie ihm stets aufs Neue ein schlechtes Gewissen bereitet. Der Herausgeberin scheint das verborgen zu bleiben. Aber wir können zum Glück die Originale lesen. Die Gegenbriefe haben sich übrigens nicht erhalten; Mutter und Sohn haben sie vernichtet. Manfred Papst Asaf Schurr: Motti. Roman. Berlin-Verlag, Berlin 2010. 218 Seiten, Fr. 37.90. Anne Weber: Luft und Liebe. Roman. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2010. 189 Seiten, Fr. 31.90. Was für ein eigenartiges Buch. Was für eine eigenartige Geschichte, auf welch eigenartige Weise erzählt. Sie spielt in Israel und handelt von zwei ungleichen Freunden: Motti und Menachem. Motti ist der introvertierte Einzelgänger, Menachem der verheiratete Draufgänger. Schon im Militär standen sie auf verschiedenen Hierarchiestufen. Sie gehen trinken, Menachem fährt auf dem Heimweg eine Frau tot, Motti geht für ihn ins Gefängnis. Warum? Man wird es nie erfahren. Asaf Schurr, 1976 in Jerusalem geboren, wurde für seinen zweiten Roman in Israel mehrfach ausgezeichnet. Er räsoniert über Mottis Beweggründe und weiss selbst keine Antwort. Motti liebt das Nachbarsmädchen und seine Hündin. Doch als er aus dem Gefängnis zurückkehrt, sind beide weg. Ein lakonischer Roman über Sehnsucht und verschiedene mögliche Leben. Regula Freuler Was die seit fast 20 Jahren in Paris lebende Autorin und Übersetzerin Anne Weber mit ihrem sechsten auf Deutsch erschienenen Buch vorlegt, könnte man «Literatur-Literatur» nennen: hohe sprachliche Virtuosität, Handlung sekundär, Hang zur Innerlichkeit. Die Geschichte handelt von einer in Paris lebenden Autorin etwas über 40, die einen verarmten Adligen kennenlernt. Sie möchten ein Kind, es klappt nicht. Man vertraut sich der «Hoffnungsmedizin» an, aber er kneift in letzter Sekunde und entpuppt sich als Schwindler. Weber hält der Hauptfigur den Schmerz des Betrugs mittels verschiedener Ichs und Sies (die Hauptfigur schreibt einen Roman über das, was ihr widerfahren ist) auf Distanz – ein erzählerischer Twist, der die Blutleere des Buches jedoch nicht zu kaschieren vermag. Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse. Regula Freuler Christoph Ransmayr: Odysseus, Verbrecher. Schauspiel einer Heimkehr. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2010. 120 Seiten, Fr. 22.–. hoLGer JaCoBY Von Stefana Sabin In den homerischen Epen trägt Odysseus zum Sieg im Trojanischen Krieg bei und kehrt nach jahrelanger Irrfahrt in seine Heimat Ithaka zurück. Odysseus’ Reise ist ebenso zum Topos der abendländischen Literatur geworden wie seine Rückkehr in eine fremd gewordene Heimat. Diese Heimkehr in die Fremde hat nun der österreichische Dichter Christoph Ransmayr zum Motiv eines Theaterstücks gemacht, das er als «Schauspiel einer Heimkehr» bezeichnet. Darin zeigt Ransmayr den erfolgreichen Krieger als glücklosen Rückkehrer, der weder seine Heimat noch seine Frau erkennt und der selbst nicht als Held, sondern als Vertreter einer vergangenen Ordnung angesehen wird. «Aus einem Krieg ... ist noch keiner heimgekehrt – jedenfalls nicht als der, der er war», sagt Athene, die als bewaffnete Strandläuferin die Erste ist, die Odysseus in Ithaka begegnet. Odysseus’ Versuch, die Veränderungen der Landschaft und der Leute zu ignorieren, machen ihn zu einem nostalgischen Konservativen, gegen den sich Penelope und ihr reformerischer Kreis wenden. Nachdem er von seiner Frau abgewiesen und vom gesellschaftlichen Geschehen ausgegrenzt wird, verfällt Odysseus in Verzweiflung und schliesslich in gewalttätige Wut. So bestätigt er Penelopes Vorwurf, dass er noch immer der Krieger ist, der seine Gegner tötet. Hatte er schon in seinem frühen Roman «Die letzte Welt» (1988) die Antike als Fundus von Geschichten benutzt, so bearbeitet Ransmayr in seinem neuen Stück den homerischen Stoff zeitgeistgemäss: Den Krieger deklariert er zum Verbrecher, zeigt die Unmöglichkeit der Rückkehr und postuliert die Notwendigkeit von Reformen. Auch indem er Schlagwörter aus dem Nachrichtenjargon verwendet, versetzt er Odysseus’ Geschichte in die Gegenwart. Ob dieses arg plakative Stück, das Ende Februar im Rahmen des Veranstaltungsprogramms zur Kulturhauptstadt Europas «Ruhr 2010» am Schauspiel Dortmund uraufgeführt wird, eine Wirkung entfaltet, wird sehr von dem Geschick des Regisseurs abhängen. l 28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Interview Vor 750 Jahren wurde der grosse christliche Theologe Meister Eckhart geboren. Er gilt als Hauptvertreter der Mystik, doch einer seiner besten Kenner, der Philosophiehistoriker Kurt Flasch, möchte ihn nicht in diese Ecke gerückt wissen. Interview: Manfred Papst In der Zeit und nicht in der Zeit Bücher am Sonntag: Herr Flasch, Sie beschäftigen sich seit 60 Jahren mit Meister Eckhart. Was fasziniert Sie an ihm? Kurt Flasch: Er war ein so tiefsinniger wie luzider Denker, der wichtige Strömungen der antiken griechischen und römischen Philosophie, aber auch der arabischen Überlieferung mit Elementen der christlichen Anschauung verband und auf diese Weise zu bis heute wichtigen Erkenntnissen gelangte. Aber als Mystiker möchten Sie ihn doch nicht bezeichnen? Der Begriff behagt mir in diesem Zusammenhang nicht, weil er Dunkelheit, Irrationalität, ein Kreisen ums Unaussprechliche suggeriert. Meister Eckhart war ein hochgebildeter, eloquenter, urbaner Mensch, der sich klar und differenziert äusserte. Am Anfang seines Kommentars zum Johannes-Evangelium legt er mit aller Deutlichkeit dar, was das Ziel aller seiner Schriften ist: Er will mit philosophischen Argumenten die Wahrheit sowohl des Alten wie des Neuen Bundes beweisen. Deshalb ist er für mich in erster Linie ein erstaunlicher Denker. Haben Sie Eckhart immer so gesehen? Keineswegs! In meinen jungen Jahren hielt ich ihn für einen genialen Wirrkopf, der weit entfernt von der Klarheit eines Anselm von Canterbury oder Wilhelm von Ockham war. Übrigens hielt auch Ockham selbst Eckhart für verrückt. Besonders in den lateinischen Schriften des gelehrten Mönchs stiess ich anfangs auf Granit. Kurt Flasch Kurt Flasch wurde 1930 in Mainz geboren. Bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Er lehrte aber auch in Frankreich und in Italien. Flasch gilt weltweit als einer der besten Kenner des spätantiken und mittelalterlichen Denkens. Über Augustinus, Dietrich von Freiberg, Meister Eckhart, Nikolaus von Kues hat er massgebliche Werke verfasst, aber auch Studien zur neueren Geistesgeschichte und bewegende Jugenderinnerungen («Über die Brücke»). Sein neuestes Buch, «Meister Eckhart – Philosoph des Christentums», erscheint im März bei C. H. Beck (358 Seiten, Fr. 42.90). Kurt Flasch wird am 12. März achtzig Jahre alt. 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010 «Gott ist bei Eckhart das Licht der Seele. Es geht um eine neue Grundkonzeption des Christentums aufgrund einer neuen menschlichen Selbstbesinnung.» Ich brachte sie überhaupt nicht mit seinen weit bekannteren deutschen Predigten und Traktaten zusammen. Später erst entdeckte ich die Vielfalt und Schönheit seiner lateinischen Schriften. Eckharts deutsche Schriften sprechen auch Laien bis heute durch ihre Unmittelbarkeit und Originalität an. Ihre Sprache ist farbig, poetisch und kräftig. Sind die lateinischen Schriften trockener, gelehrter, scholastischer? Ich finde nicht! Das Lateinische um 1300 ist ja eine ungeheuer biegsame, lebendige und dichterische Sprache. Denken Sie nur an die Carmina Burana oder an die sinnliche Schönheit der Liturgie. «Stabat Mater dolorosa / iuxta crucem lacrimosa /dum pendebat filius»: Das ist doch wunderbar gelungen, die reinste Sprachmusik. Und vergessen Sie nicht, dass der Reim eine Erfindung des 12. Jahrhunderts ist. Die gesamte antike Welt kannte ihn nicht. Wie würden Sie Meister Eckharts Grundgedanken zusammenfassen? Er sagt zum Menschen: Mach dir klar, was du bist. Du bist kein Ding in der Natur. Du bist auch nicht nur von Trieben bestimmt. Du bist ein Zentrum von Wertungen und Einsichten. Der Besitz-Individualismus ist ein grosses Übel, das du durch Abscheidung deiner Person von allen Dingen überwinden musst. Wenn dir das gelingt, dann hast du den Anfang eines neuen Begriffs von Gott. War das damals eine revolutionäre Erkenntnis? Absolut! Eckhart hat nie gemeint, dass er sagt, was alle sagen. Er hat immer gesagt: Ich sage etwas Neues, und das kommt euch monströs und falsch vor. Ihr müsst Zeit haben, das zu durchdenken. Und dieser Zeitaufwand, der gilt zunächst einmal für diese Selbsterkenntnis: Wer bin ich? Der idealistische Philosoph Fichte hat um 1800 einmal gesagt, die Menschen liessen sich lieber einreden, ein Stück Lava auf dem Mond zu sein als ein Ich. Natürlich haben Eckhart und Fichte nicht dasselbe gelehrt. Aber eine ähnliche Ermahnung, sich über das eigene Ich erst einmal Gedanken zu machen und von da einen neuen Gottesbegriff zu denken, haben sie schon gemeinsam. Einen Gottesbegriff, der nicht aus der Naturordnung gewonnen ist wie bei Thomas von Aquino und bei Aristoteles. Aber Eckhart kommt doch über die arabischen Vermittler Avicenna und Averroes, wie Sie selbst dargelegt haben, letztlich von Aristoteles her? Aristoteles ist enorm wichtig für Meister Eckhart. Er ist in hohem Masse ein Philosoph der Natur und insofern ein Aristoteliker. Doch die ganze christliche Lehre, das ganze Verhältnis zur Schrift wird bei ihm erneuert. Er bezieht die Rede, dass Gott Mensch geworden ist, nicht mehr nur auf ein historisches Ereignis in Bethlehem, sondern auf die Selbstwahrnehmung des Menschen. Können Sie das etwas näher ausführen? Gott ist bei Eckhart das Licht der Seele, aber er ist nicht mehr primär der Urheber der Natur. Es geht also um eine neue Grundkonzeption des Christentums aufgrund einer neuen menschlichen Selbstbesinnung und einer philosophischen Korrektur der bis dahin überwiegenden Orientierung an den Naturdingen. Du bist kein Naturding, sagt Eckhart, sondern ein Kind Gottes. In der Bibel steht: Gott gab dir die Macht, ein Kind Gottes zu werden. Es liegt an dir. Weshalb wurde Eckharts Denken von manchen Zeitgenossen als häretisch empfunden? Um 1300 gerät der Anspruch der Scholastik, auf alles eine eindeutige Antwort geben zu können, in eine Krise, und Meister Eckhart spricht das aus. Sein Anliegen ist es, auch Gegensätzliches zusammenzudenken. Gott ist da, und er ist nicht da. Er ist in der Zeit, und er ist nicht in der Zeit. Er ist gut, aber mit dem menschlichen Begriff der Güte nicht zu fassen. Was begreiflich ist, kann nicht Wahrheit sein. Auch die Idee des Ewigen im Zeitlichen beschäftigt Eckhart. In der ersten Pariser Quästio schreibt er: Wo du Weisheit antriffst, auch wenn du sie im Menschen antriffst, findest du etwas, das seiner Natur nach nicht als erschaffen gedacht werden kann. Hatte Eckhart zu Lebzeiten mit seinen Ideen Erfolg? MIChaeL hUDLer Philosoph und einer der besten Kenner des mittelalterlichen Denkens: Kurt Flasch in seiner Studierstube in Mainz, Februar 2010. 28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Interview Wie sehen Sie ihn im Verhältnis zu einem Reformator wie Luther? Zu dieser Frage hat der Wiener Kulturhistoriker Egon Friedell etwas Geniales gesagt. Er vergleicht Luther mit einem heftigen Gewitter, nach dem zwar die Luft gereinigt, sonst aber alles mehr oder weniger beim Alten ist, Eckhart aber mit einem Klimawechsel, der neue Pflanzen und Tierarten hervorbringt, also eine ganze neue Epoche. Nur hat das Gewitter in der historischen Realität stattgefunden und die bekannten Folgen gezeitigt, während der Eckhartsche Klimawechsel eine Idee blieb. In was für eine Zeit wurde Eckhart geboren? Im frühen 14. Jahrhundert sah sich das Christentum grundsätzlich in Frage gestellt. Es gibt kaum eine andere Zeit, in der so viele neue religiöse Ideen aufkamen. In Paris, Florenz, Padua, Bologna. Die Zeit um 1300 ist die Zeit Giottos und Dantes, Petrarcas und Boccaccios, auch die Zeit des grossen Katalanen Raimundus Lullus. Das Problem des Islam wird dauernd diskutiert. Dante leidet darunter, dass Vergil als Ungetaufter nicht ins Paradies kommen kann. Es blühen tausend Ideen. Gleichzeitig ist das kirchliche Lehrsystem sehr festgelegt, ja sklerotisch. Meister Eckhart Eckhart von Hochheim, genannt Meister Eckhart, wurde um 1260 in Tambach bei Gotha geboren und starb 1328, wahrscheinlich in Avignon. Er gehörte dem Dominikanerorden an und war einer der bedeutendsten Theologen und Philosophen des ausgehenden Mittelalters. Kurz nach seinem Tod, 1329, wurde ein Teil seiner Lehre vom Papst als Irrlehre verurteilt. Meister Eckharts bekannteste Werke sind seine in zahlreichen Handschriften überlieferten deutschen Predigten und Traktate, er verfasste jedoch auch etliche lateinische Bücher. Sein Denken wirkt bis in unsere Zeit nach, während sein Leben weitgehend im Dunkeln bleibt. Paul Altheer Die 13 Katastrophen Worin äusserte sich das? Papst Johannes XXII. sah überall Irrlehren am Werke. Er war erst mit 72 Jahren an die Macht gekommen, und viele hofften, er würde nicht lange bleiben. Aber er regierte noch über 18 Jahre lang und kümmerte sich um alles. Sein Ziel war die Vereinheitlichung der Lehre. In diesem Bestreben traf er sich mit den konkurrierenden Orden. Kurz nach Eckharts Tod im Jahr 1328 erklärte er einen Teil von dessen Lehren für häretisch. Der Besitz, das Studium und die Verbreitung von Schriften Eckharts waren fortan verboten. Was wissen wir über Eckhart als Person? Leider fast gar nichts. Wir haben noch nicht einmal einen Brief von ihm. Es ist mit ihm ähnlich wie mit Dante. Wir wissen nicht, wie er ausgesehen hat, und kennen nur wenige seiner Lebensstationen. Wir wissen, dass er um 1260 geboren wurde, wahrscheinlich in Tambach bei Gotha, und wir kennen seine hohen Ämter im domini«Eckhart hat ins 20. Jahrhundert gewirkt»: Kurt Flasch. «Eckhart glaubte nicht an eine Reform und resignierte kirchenpolitisch. Die Menschheit war noch nicht reif für seine Lehre, ist es vielleicht nie geworden.» Wie wirkte Eckhart nach seinem Tod weiter? Die wichtigste entwicklungsgeschichtliche Linie geht über Nikolaus von Kues. Damals war Eckhart ein verfemter Autor. Der Besitz seiner Werke war verboten. Kues hat sie sich eigens abschreiben lassen, sie genau durchgearbeitet und viele Ideen aufgenommen. kanischen Orden sowie seine akademischen Auftritte als Magister in Paris. Damals gab es etwa zehn Magistri für Theologie in Paris. Die französische Hauptstadt und nicht etwa Rom war damals das intellektuelle Zentrum der Christenheit. Wir kennen Eckharts Auftrittsjahre 1302/03 und 1311/12. Wir wissen, dass er Anfang 1328 gestorben ist. Am besten kennen wir natürlich die Akten des Prozesses gegen ihn, der seine letzten Lebensjahre überschattete. Sie sind nun endlich ediert. War Eckhart ein politischer Kopf? An Kirchenreformen und Staatspolitik war er nicht genuin interessiert. Er hatte eine soziale Ethik, und er hatte eine Idee von einer religiösen Gemeinschaft. Diese war eher unitaristisch als liberal. Aber im Ganzen hatte er kein Vertrauen in die öffentliche Sphäre. Er ignorierte sie weitgehend. Ihm ging es um etwas anderes: Um die Abgeschiedenheit des Einzelnen, die Überwindung des individuellen Strebens, das Einswerden mit Gott, der doch stets unerforschlich und unfassbar bleibt. EIN DETEKTIVROMAN NEU ENTDECKT IRONISCH UND SPRITZIG Roger Reiss Nicht immer leicht, a Jid zu sein Geschichten aus dem jüdischen Genf MIChaeL hUDLer Er hatte Anhänger. Das bezeugt die grosse Zahl zeitgenössischer Abschriften seiner Werke. Aber letztlich setzte er sich nicht durch. Seine Revolution konnte nicht gelingen. Insofern ist Eckhart auch eine tragische Gestalt. Er hielt die Kirche für zu reich, für zu mächtig, er glaubte nicht mehr an eine Reform. Zwar war er nach allem, was wir aus seinen Schriften schliessen können, eine heitere und souveräne Gestalt. Aber kirchenpolitisch resignierte er. Die Menschheit war noch nicht reif für seine Lehre, ist es vielleicht nie geworden. Und wie sieht es in unserer Zeit aus? Eckhart hat auch stark ins 20. Jahrhundert gewirkt. Georg Lukacs und Robert Musil haben ihn gelesen. Der «Mann ohne Eigenschaften» ist eine Idee, die bei Eckhart auftaucht, allerdings schon auf Dietrich von Freiberg zurückgeht. Auch Ernst Bloch, Erich Fromm, Paul Celan und Martin Heidegger haben sich mit Meister Eckhart beschäftigt. Heideggers späte Technikkritik, die in so merkwürdigem Gegensatz zu seiner Technikverehrung während der Nazizeit steht, aber auch seine Konzeption der Gelassenheit haben mit Eckharts «Abgeschiedenheit» zu tun. Wie können heutige Leser einen Einstieg in Meister Eckharts Werk finden? Am besten wohl über das «Buch der Tröstungen». Da hat man eine hervorragende, deutsch geschriebene Darstellung der Grundideen Eckharts. Wer sie aber nicht nur herunterschlucken, sondern durchdenken will, der braucht Hilfe. Der Text steht in einer grossen Tradition und weicht doch entscheidend von ihr ab. Um das zu erklären, habe ich mein neues Buch geschrieben. l GESCHICHTEN AUS DER CALVIN-STADT GEISTREICH UND WITZIG CHRONOS seit 25 Jahren Bücher zur Zeit <wm>10CAsNsjY0MDAx1TWwNDMzNgMAmjCr9Q8AAAA=</wm> <wm>10CEXKSwqAMAxF0RU1vKQmJWbYz6iIqLj_pShOvHBmd85Qwqf27epHMLBogptlC3UlKRbsQkUtIG9grCzZ2ZQ5_jvVlk5gADeY9jYekV6B910AAAA=</wm> Detektivroman Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Paul Ott, Kurt Stadelmann und Dominik Müller 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010 Paul Altheer Die 13 Katastrophen Ein Detektivroman. Nachdruck der Erstausgabe von 1928. Roger Reiss Nicht immer leicht, a Jid zu sein Geschichten aus dem jüdischen Genf 2010. 126 S. Geb. CHF 34 2010. 171 S. 12 Abb. Br. CHF 28 Chronos Verlag Eisengasse 9 8008 Zürich www.chronos-verlag.ch [email protected] Kolumne Charles Lewinskys Zitatenlese Über Plagiatoren soll man nicht allzu hart urteilen. Es kann durchaus ein Milderungsgrund sein, dass ihre Einfälle nicht von ihnen stammen. Kurzkritiken Sachbuch Willi Wottreng: Verbrechen in der Grossstadt. Kriminalgeschichte Zürichs. Orell Füssli, Zürich 2009. 271 S., Fr. 39.90. Monika Stocker: He, dich kenne ich doch. Agendanotizen. Limmat, Zürich 2010. 127 Seiten, Fr. 28.-. Ein Lustmörder ersticht Prostituierte, eine Amerikanerin blufft tout Zurich, ein kleiner Visitenkarten-Drucker fälscht grandios Tausendernoten. Messerstecherei und Erpressungen zuhauf, Landesverräter, Bombenleger und Drogendealer auch. Dieses Sittengemälde Zürichs ist starker Tobak. 24 Kriminalfälle aus 100 Jahren hat der Autor und «NZZ am Sonntag»-Redaktor Willi Wottreng rekonstruiert. Wie ein Kriminalist ging er dabei zu Werke, fischte Dokument um Dokument aus den Archiven, 37 Seiten umfassen allein Anmerkungen und Quellenverzeichnis. Und weit mehr: Jeder schnell und präzis erzählten und mit launigen Stilpreziosen gewürzten Verbrecheranekdote aus dem Grossstadtmilieu folgt eine feuilletonistische Skizze, die das Verbrechen in seinen zeitgenössischen Kontext setzt. Ein gefährlicher Cocktail aus Geschichte, Deutung und Hochspannung. Daniel Puntas Bernet Zwei Jahre nach ihrem Rücktritt legt Monika Stocker eine Sammlung von 50 «Agendanotizen» vor. Sie handeln von Menschen, denen sie als Zürcher Stadträtin (1994–2008) begegnet ist. Mit feiner Ironie und leichter Feder erzählt sie vom Besuch vier aufgeregter Herren der Uno-Drogenbehörde im Zürcher Stadthaus. Berührend schildert sie den vergessenen 9-Jährigen, der in der Wohnung zurückbleibt, als seine Mutter, eine «Illegale», ausgeschafft wird. Von der Frau im Rollstuhl ist die Rede, die im Zürcher Hauptbahnhof Passanten segnet, und von anderen schrägen Vögeln. Ganz ohne Sozialromantik und politische Seitenhiebe kommen die Miniaturen daher. Und nur selten blitzt Selbstlob oder Rechtfertigung durch wie etwa beim «Hotel-Fall». Mit dem Büchlein gelingt Monika Stocker ein leiser, würdiger Abschied von ihrem Amt, in dem sie nicht ganz unumstritten war. Urs Rauber Lukas Thommen: Umweltgeschichte der Antike. C. H. Beck, München 2009. 188 Seiten, Fr. 22.90. Robert Zimmer: Basis-Bibliothek Philosophie. 100 klassische Werke. Reclam, Stuttgart 2009. 274 Seiten, Fr. 18.90. Die Geschichte der Umwelt ist genauso alt wie die Menschheit selber, erforscht wird sie aber erst seit kurzer Zeit. Der Althistoriker Lukas Thommen liefert in einer gedrängten Einführung die Grundlagen, die in der griechisch-römischen Antike das Verhältnis zwischen Mensch und Natur bestimmten. Konkret: Wie funktionierte die Landwirtschaft, wie die Nahrungsmittelbeschaffung? Wie veränderte sich der Wald, der den unglaublichen Holzbedarf für Haus- und Schiffsbau, für Heizen und Kochen, für Metall-, Glas- und Töpferhandwerk zu stillen hatte. Holz war die fast einzige Energiequelle der Antike. Aber auch die Probleme einer Grossstadt wie Rom kommen zur Sprache. Wie ging man mit Abfall und Abwasser um, wie war es um die Hygiene bestellt? Vieles kann lediglich angetippt werden. Eine Bibliografie bietet weiterführende Literatur an. Geneviève Lüscher Ein klassisches und oft schwieriges Werk der Philosophie: Blaise Pascals «Gedanken» oder Spinozas «Ethik», auf zweieinhalb Buchseiten vorstellen – kann das gutgehen? Es kann. Dem Autor gelingt es, 100 Bücher der grossen philosophischen Denker (fast) immer ausgezeichnet verständlich vorzustellen. Von den Fragmenten der Vorsokratiker bis zu Jürgen Habermas chronologisch nach Erscheinungsjahr geordnet, werden Werk und Verfasser in die Philosophiegeschichte eingebettet, wird auch klar gesagt, wenn das betreffende Buch eine «Satz für Satz sich vortastende Lektüre erfordert» oder ein «theoriebeladener Text» vorliegt. Wer über vielgehörte, aber nie richtig verstandene Namen mehr wissen möchte – sei es William von Ockham oder Duns Scotus, John Rawls oder Paul Feyerabend – findet hier eine ebenso kurze wie erhellende Einführung. Kathrin Meier-Rust keYStone George Bernard Shaw Charles Lewinsky, 63, ist Schriftsteller, Radio- und TV-Autor und lebt in Frankreich. Sein letztes Buch «Doppelpass» ist 2009 bei Nagel & Kimche erschienen. Helene Hegemann hat abgeschrieben, und das ist ja auch nicht weiter schlimm. Letzten Endes kommt es doch nur darauf an, ob sie ein gutes Buch geschrieben hat oder nicht. Und man hätte es ja ahnen können. Schliesslich kommt schon im Titel ihres gerade für den Leipziger Buchpreis nominierten Buches der «Roadkill» vor, jenes zufällig überfahrene Tier, das so mancher Fahrer mit nach Hause nimmt, um sein eigenes Süppchen daraus zu kochen. Schlimm ist nur, was sie bei manchen Kritikern damit angerichtet hat. Beim Versuch zu erklären, warum das allgemein gepriesene Meisterwerk durch das Copy-paste-Verfahren der Jungautorin nicht etwa fragwürdiger, sondern im Gegenteil noch viel meisterwerkiger geworden sei, haben sich nämlich manche Mitglieder dieser exklusiven Gilde das kritische Rückgrat verrenkt. Und das muss doch wehtun. Den schönsten Satz fand ich in einer deutschen Wochenzeitung von anerkannter Journalistizität. (So ein Wort gibt es nicht, meinen Sie? Sie werden sich wundern.) «So komisch es klingt», stand da, «die Literarizität von Helene Hegemanns Roman nimmt durch diese Abschreibe-Kunst eher zu als ab.» Die Feststellung ist, mit Verlaub, nicht komisch, sondern nur lächerlich. Und zwar nicht nur wegen ihrer sprachlichen Blödizität. Wenn man den Satz ernst nähme, hiesse er nämlich ins Deutsche übersetzt: «Der Roman ist besser geworden, weil die Autorin so viel abgeschrieben hat.» Was logischerweise bedeuten würde: Er wäre noch viel besser geworden, wenn sie noch mehr abgeschrieben hätte. Und am allerbesten, wenn sie bei «Projekt Gutenberg» gleich einen ganzen fremden Roman eingescannt und unter eigenem Namen publiziert hätte. (Wenn es darin auch um jugendlichen Gefühlsüberschwang gehen soll, würde ich «Die Leiden des jungen Werther» vorschlagen.) Nein, ich finde es wirklich nicht weiter schlimm, dass Helene Hegemann abgekupfert hat. In ihrem Alter haben wir das in der Schule alle getan. Aber man sollte sich deswegen auch nicht beim kritischen Spagat das Urteilsvermögen verbiegen. So was kann zu chronischen Schäden führen. PS: Um auch dieser Glosse eine Prise der neuerdings angesagten Abschreibizität zu verleihen, hier noch ein abgeschriebener alter Witz-Dialog. «Sie sind Schriftsteller?» «Ja, ich schreibe ab und zu.» «Auch zu?» 28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Musik Zum 200. Geburtstag des polnischen Komponisten Frédéric Chopin am 1. März sind neue Monografien erschienen: eine Populärbiografie und ein opulenter Bildband Seine Lektionen am Klavier waren Kult Eva Gesine Baur: Chopin oder Die Sehnsucht. C. H. Beck, München 2009. 563 Seiten, Fr. 42.90. Mieczysław Tomaszewski: Chopin. Ein Leben in Bildern. Schott Music, Mainz 2009. 359 Seiten, Fr. 80.90. Von Corinne Holtz Der Klavierunterricht vieler Amateure endet nicht selten dort, wo Frédéric Chopin (1810–1849) angeblich beginnt: bei einem seiner Valses, die er vorzugsweise Gräfinnen, Baroninnen und Prinzessinnen widmet. Chopin unterrichtet um die 150 Schüler und sichert sich damit seinen Lebensunterhalt. Darunter sind vorwiegend adelige Frauen wie etwa Fürstin Wanda Radziwiłł, die «17 Jahre, schön» und begabt ist, also «recht reizvoll, ihr die Fingerchen zu richten». Chopins Lektionen sind Kult, auch wenn sie in «Gewitterstunden» münden können – dann nämlich, wenn der als scheu geltende Feingeist die Fassung verliert und «Stühle» zerbricht. Über Chopin schreiben zu können, ist ein Fest und gleichzeitig eine Krux. Künstlermythos und Geniekult haben schon zu Lebzeiten sein Werk überwuchert, und als der «Frühvollendete» mit 39 Jahren an den Folgen der Tuberkulose und entfremdet von seiner Geliebten George Sand stirbt, ist die Legendenbildung bereits im Gange. Das hat Chopins Berühmtheit genützt, sei16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010 ner Musik jedoch geschadet und Sekundärliteratur der unterschiedlichsten Motivation befördert. Die deutsche Kulturhistorikerin und Journalistin Eva Gesine Baur hat in den letzten zehn Jahren an die dreissig Bücher verfasst, darunter Belletristik unter dem Pseudonym Lea Singer, und legt jetzt nach eigener Aussage eine «Sachbiografie» vor. Der polnische Musikwissenschafter und Publizist Mieczsław Tomaszewski, fundierter Kenner Chopins und Autor der lesenswerten Monografie von 1999, gibt im Jubiläumsjahr das Leben Chopins in Bildern heraus. Konventionell, mit Emphase Baur meint es ernst, wenn sie sagt, sie beginne erst dann zu schreiben, wenn sie ihrem «Protagonisten nahe gekommen» sei, «seine Seele wirklich verinnerlicht, sein Seelenleben durchschaut» habe. Die Autorin sitzt mit Chopin in der Kutsche, sie weint mit ihm, wenn er Warschau verlässt, sie weiss, dass ihm jemand fehlt, «dem er alles anvertrauen kann», und dass sich Chopin schwertut mit «lauteren, derberen, einfacheren Menschen». Allen voran «Leroux mit seinen schmutzigen Fingernägeln», einer der «Sozialistenfreunde von George». Die Autorin bedient die Erwartungen an eine konventionelle Biografie: Chronologie und Vollständigkeit sind Baur wichtig, sowie die Empathie, die sie immer dann mit der Distanz tauscht, wenn es das biografische Objekt zu ver- stehen gilt. Dabei greift die Autorin auf das Prinzip der Frage zurück, das auf jeder fünften Seite anzutreffen ist und damit ermüdet. «Meint George, die körperliche Leidenschaft schade Chopin, will sie ihn schonen? Oder verspürt sie kein Verlangen nach diesem Mann, den sie mon malade ordinaire, mein Immerkranker nennt?» Die Musik bleibt abgesehen von Gemeinplätzen ausgespart, im Zentrum steht die Ausleuchtung privater und sexueller Details. Die Autorin neigt der Küchenpsychologie zu und zeichnet ein insgesamt restauratives Bild von Chopin und seiner Zeit. Als ob es weder Biografieforschung noch Musikwissenschaft gäbe, die sich kritisch mit Geschichtsschreibung befasst. Ganz anders ist der Ton bei Tomaszewski, der 1921 in Posen zur Welt kam und neben dem Schweizer Musikwissenschafter Jean-Jacques Eigeldinger einer der führenden Chopin-Forscher ist. Der Bildband führt auf knapp vierhundert Seiten in thematischen Kapiteln durch Leben und Werk Chopins: von «Das Haus» über «Die Wurzeln» nach «Paris», von «Mallorca» nach «Nohant» bis hin zur «Resonanz». Der Schreibstil ist flüssig, fast frei von Pathos, und der Autor geht humorvoll-kritisch mit dem stets über seine Verhältnisse lebenden Protagonisten um. Chopin hat in Paris in neun Wohnungen meist an bevorzugter Lage gelebt, «es muss ruhig sein, still» und darf «keine Schmiede in unmittelbarer Nachbarschaft, keine leichtfertigen Der sehr junge Frédéric Chopin am Klavier, die Knaben des Chopinschen Pensionats lauschen. Ölbild von Andrew Carrick Gow, 1879. Damen» haben. Der Autor unterhält, ohne in dem opulent illustrierten Bildband das Informieren zu vergessen und weist darauf hin, dass die Chopin-Rezeption reich an Missverständnissen ist. Das Verdikt, ein Salonkomponist im Dienst einer überfälligen Aristokratie zu sein, hält sich hartnäckig und wird durch entsprechende Interpretationen untermauert. Chopin «steckt im Kot der Aristokratie» und komponiert das Gegenteil: «sehr schön und tief» – heisst es in einem Brief an Robert Schumann, der Chopins ausgeprägt persönliche Musik zunächst als «Perlenschrift» feiert, sich später von seiner hymnischen Einschätzung distanziert und die b-Moll-Sonate abfällig als «Caprice» bezeichnet, in der das Genie «vier seiner tollsten Kinder zusammenkoppelte». Ziselierte Melodik Chopins Musik kann nur gerecht werden, wer die Parameter der westeuropäischen Musik kennt und deren Herrschaft hinterfragt. Kontrapunktische Dichte etwa und formale Stringenz haben sich als Merkmal deutscher Musik etabliert und gelten bis heute als Massstab von Qualität. Chopins ziselierte Melodik hingegen, die sich einer Mischung aus polnischer Liedkunst und der intelligenten Praxis des Belcanto verdankt, findet sich ausserhalb dieser Koordinaten. Chopins Leistung besteht darin, dass er kulturelle Aspekte (bei- spielhaft in seinen Polonaisen und Mazurken, die am Anfang und am Ende seines Komponierens stehen) als «ein Mittel ureigensten Ausdrucks» nutzen kann und sich damit in die «europäische Universalität» einschreibt. Die Tragik dieses Künstlerlebens liegt in der doppelten Fremdheit – die Tomaszewski anders als Baur explizit macht: Zum einen als in der polnischen Musikkultur verwurzelter Komponist und Interpret, den nicht allein Mendelssohn als übertrieben gefühlsbetont empfand, zum andern als Emigrant, der nach seiner Ankunft in Paris im Jahr 1831 einem Freund verrät: «Was meine Gefühle betrifft, so bin ich immer in den Synkopen der anderen.» l 28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Gesellschaft Der Historiker Paul Nolte konstatiert in Europas Elite ein neues Interesse am Glauben Religion wird wieder zum Gesprächsthema Eine solche nämlich will Nolte wahrnehmen. Nicht etwa, dass die Kirchen wieder voller wären. Auch nicht im Erstarken des religiösen Fundamentalismus sieht Nolte das eigentlich neue Phänomen. Vielmehr sei die Religion aus der privaten und kirchlichen Ecke, in die sie lange als anachronistisches Relikt verbannt war, herausgetreten und wieder Gegenstand des öffentlichen Gesprächs geworden. Natürlich habe auch die Konfrontation mit dem militanten Islam das Bewusstsein für die eigene christliche Tradition geweckt. Doch den wahren Grund für das neue Interesse sieht Nolte in der westlichen Welt selbst: in einem kulturellen Skeptizismus, der Wachstumsoptimismus und Wissenschaftsgläubigkeit abgelöst habe. Dazu passt, dass es sich um ein Elitephänomen handelt: Während Religion in der normalen Bevölkerung nach wie Paul Nolte: Religion und Bürgergesellschaft. Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat? University Press, Berlin 2009. 136 Seiten, Fr. 43.70. Von Kathrin Meier-Rust In seinem 2004 erschienenen Bestseller «Generation Reform» plädierte der deutsche Historiker Paul Nolte für eine «Bürgergesellschaft», deren Verantwortungsethik der linken Staatsgläubigkeit ebenso entgegentreten soll wie dem entfesselten Egoismus des Marktes und der Verblödung der Spassgesellschaft. Nolte ist damit zum prominenten Vertreter des neokonservativen Denkens in Deutschland geworden. Sein jüngstes Buch gilt nun der Wechselbeziehung zwischen Bürgergesellschaft und einer Renaissance der Religion in Europa. vor erodiert, sind es die Intellektuellen und Gebildeten, die religiöse Werte und Wege wieder entdecken. Noch ist diese religiöse Renaissance ein zartes Pflänzchen, doch es gelte dieses zu hegen. Denn im Gegensatz zum religiösen Fundamentalismus seien gerade Religionen, die durch die Hölle der Säkularisierung gegangen sind, zu kritischer Selbstreflexion durchaus fähig. Umso wertvoller die Ressourcen an Empathie und Engagement, die sie zu bieten haben. Das schmale, gehaltvolle Buch ist nicht leicht zu lesen, bewegt es sich doch konstant auf hohem und abstraktem Niveau. Wer dem Phänomen auf die Spur kommen möchte, dass sich Religiosität jenseits aller Fundamentalismen auch im Zentrum westlicher postmoderner Gesellschaften erstaunlich hartnäckig behauptet, dem hat es viel zu bieten. l Zeitgeschichte Das Gespräch zwischen einem ehemaligen Bundeskanzler und einem emeritierten Historiker erweist sich als literarischer Glücksfall Helmut Schmidt parliert mit Fritz Stern Helmut Schmidt, Fritz Stern: Unser Jahrhundert. Ein Gespräch. C. H. Beck, München 2010. 288 Seiten, Fr. 37.90. Dass Politiker und Historiker miteinander ins Gespräch kommen, ist kein alltägliches Ereignis. Zwar befassen sich beide mit demselben Stoff, den der eine handelnd zu gestalten, der andere reflektierend zu durchdringen sucht. Dass aber beides, Tatkraft und analytisches Vermögen, sich sinnvoll ergänzen, ist ein seltener Glücksfall. Ein solcher Glücksfall ist das vorliegende Buch. Es handelt sich um die Aufzeichnung von Gesprächen, die Helmut Schmidt, deutscher Bundeskanzler von 1974 bis 1982, und sein Freund Fritz Stern, emeritierter Geschichtsprofessor der New Yorker Columbia-Universität, im Juni 2009 in Hamburg geführt haben. Man unterhielt sich ausgiebig über alles, was den historisch und politisch interessierten Zeitungsleser heutzutage beschäftigt. Die nun ungekürzt vorliegende Niederschrift dieser Gespräche ist eine spannende Lektüre; sie bewahrt ganz den spontanen, heiteren und oft auch nachdenklichen Duktus einer Causerie, die von rückhaltloser Offenheit geprägt ist. Schmidt ist über neunzig, Stern über achtzig Jahre alt. Es wundert nicht, wenn beide Gesprächspartner von der Grunderfahrung der Hitler-Diktatur ausgehen, die den einen in die Uniform des Frontsoldaten zwang und die Familie des andern in die Emigration trieb. Gleich zu Beginn wird denn auch die alte Frage, wie es zu einem Hitler habe kommen 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010 aCtIon preSS Von Urs Bitterli können, diskutiert. Doch das Spektrum der Themen, die von Schmidt und Stern angesprochen werden, ist breit. Einen wichtigen Platz nimmt selbstredend Deutschland ein. Beide Gesprächspartner nehmen die Geschichte der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte wahr, sei doch nach 1945 keineswegs mit der Demokratisierung der Führungseliten zu rechnen gewesen. Die deutsche Wiedervereinigung und den Zerfall der Sowjetunion haben beide aus nächster Nähe verfolgt. Oft sind sich der Politiker und der Historiker einig, so in der Betonung der zentralen Bedeutung der deutsch-amerikanischen Beziehung, aber auch in der ätzenden Kritik an Präsident George W. Bush und seinen neokonservativen Beratern. Grosse Erwartungen setzen beide in den neuen Präsidenten Obama, für den sich Stern als Wahlhelfer eingesetzt hat. Weitere wichtige Themenbereiche sind Israel und der Antisemitismus, die militärischen Engagements im Irak und Helmut Schmidt (r.), deutscher Bundeskanzler von 1974 bis 1982: hier mit Richard von Weizsäcker und Ronald Reagan in Berlin 1982. in Afghanistan, die Zukunft der EU, die Wirtschaftskrise und die Banken, die atomare Abrüstung, die Nato-Osterweiterung. Stern wirkt in seinen Urteilen zurückhaltender, differenzierter als Schmidt, der gern zum gröberen Vokabular des Politikers greift, wenn er etwa den Krieg als «Scheisse» bezeichnet, vom «Saustall wie Hypo Real Estate» spricht und die Boni der Banker «obszön» nennt. Auffallend ist, dass vom internationalen Terrorismus kaum die Rede ist, wenn man bedenkt, dass die entschiedene Verteidigung des Rechtsstaats gegen den deutschen Terrorismus der siebziger Jahre zu Schmidts bedeutenden Verdiensten zählt. Gern hört man als Leser diesen Gesprächen zu und bewundert den wachen Geist der bejahrten Herren, aber auch ihre humorvolle Altersgelassenheit; dann etwa, wenn Schmidt wegen seiner Schwerhörigkeit den Gesprächspartner bittet, langsamer zu reden, worauf dieser antwortet, er müsse leider schnell sprechen, weil er sonst vergesse, was er habe sagen wollen. Natürlich ist manches von dem, was hier zur Sprache kommt, nicht neu. Helmut Schmidt hat bereits vor zwei Jahren mit seinem Buch «Ausser Dienst» eine wichtige Bilanz gezogen, und von Fritz Stern besitzen wir neben zahlreichen Publikationen zur deutschen Geschichte die eindrückliche Autobiografie «Fünf Deutschland und ein Leben». Dennoch bewahrt dieses informative und erhellende Gesprächsprotokoll eigenen und unverwechselbaren Charakter. Ein Glücksfall eben. l Urs Bitterli war bis 2001 Professor für neuere Geschichte an der Uni Zürich. Deutschland Das politische Ausnahmetalent Helmut Kohl wird im kommenden April 80. Historiker und Journalisten blicken auf den «Kanzler der Einheit» zurück Virtuose der Macht Hans-Joachim Noack, Wolfram Bickerich: Helmut Kohl. Die Biographie. Rowohlt, Berlin 2010. 300 Seiten, Fr. 34.90. Heribert Schwan, Rolf Steininger: Helmut Kohl. Virtuose der Macht. Patmos, Mannheim 2010. 336 Seiten, Fr. 34.50. Von Gerd Kolbe DIether enDLICher / ap Helmut Kohl hat mit seinem grossen Vorbild und politischen Ahnherrn Konrad Adenauer eins gemein: Er wird Buchautoren und Historiker noch lange zum Forschen und Schreiben animieren. So ungewöhnlich war sein Aufstieg vom Provinzpolitiker zum 16 Jahre lang mächtigsten Mann Deutschlands, vom anfänglich biederen Regierungschef, der hinter seinen Vorgängern Brandt und Schmidt zu verblassen schien, hin zum weltweit geachteten Staatsmann, dem die Chance zufiel, die deutsche Einheit zu vollenden, und sie dann auch nutzte. Wen kann es mithin wundern, dass rechtzeitig zu Kohls 80. Geburtstag am 3. April dem Dutzend schon vorhandenen Biografien noch zwei weitere hinzugefügt werden. Anekdoten und Historie Um es vorwegzunehmen: Kohl stürzt niemand mehr vom Denkmal des «Kanzlers der Einheit». Viel Neues gibt es nicht. Die langjährigen «Spiegel»-Ressortchefs Hans-Joachim Noack und Wolfram Bickerich konnten auf das umfangreiche «Spiegel»-Archiv zurückgreifen. So mischten sie Historisches mit Anekdotischem zu einem Buch, das sich leicht liest und dabei auch noch den Eindruck der Vollständigkeit vermittelt. Heribert Schwan und Rolf Steininger, der Kölner Journalist und der Innsbrucker Professor für Zeitgeschichte, kommen mit wissenschaftlichem Anspruch daher, ohne freilich das ganz und gar Menschliche in der Politik zu ignorieren. Ihre Kost wirkt schwerer, weil sie sich in unendlich vielen Details verlieren. Dass das Buch aus langen Passagen aus den bisher erschienenen «Erinnerungen» Kohls besteht, kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen. Auch die «Spiegel»-Redaktoren kommen nicht ohne Original-Zitate aus. Es zeigt sich, wie der ehemalige Bundeskanzler mit seinen drei Bänden – noch ist unklar, ob der vierte Band angesichts Kohls angeschlagener Gesundheit jemals erscheinen wird – für jetzige und künftige Autoren gewollt oder ungewollt die Richtung vorgibt. Noack beschreibt die Anfänge des politischen Ausnahmetalents namens Kohl. Er schildert dessen «kaum zu erschütternden Glauben an sich selbst», seine Liebe zur pfälzischen Heimat, seine Begabung, Gleichgesinnte um sich zu scharen und Netzwerke zu knüpfen. Doch wer wusste schon, dass die Alt- Hannelore und Helmut Kohl in den Ferien in Österreich auf dem Wolfgangsee, August 1989. vorderen der CDU im Bundesland Rheinland-Pfalz in Kohl einen «gefährlichen Unruhestifter» sahen, einen Rebellen gar, der vorübergehend sogar mit der Studentenbewegung der sechziger Jahre zu sympathisieren schien. Natürlich wird Kohls personalpolitisches Geschick gelobt, das ihm freilich beim Umzug von Mainz nach Bonn abhanden kam. Unverständlich bleibt, warum Noack und Bickerich nur in Mainz einen Zeitzeugen fanden, der davor warnte, den Pfälzer «zu leicht» zu nehmen. Mit Willy Brandt hätten sie einen prominenteren Zeitgenossen aufbieten können. Der langjährige SPDVorsitzende hat seinen Gegenspieler nie unterschätzt. Parteifreunden wie Journalisten sagte er in Bonn: «Bildet euch nichts ein. Der macht das sehr lange.» Er sollte recht behalten. Mehr Chronik als Biografie Eine der Meisterleistungen Kohls bestand sicher darin, seinen Rivalen Franz Josef Strauss von Bonn fernzuhalten. Ob dem CDU-Chef freilich der «politische Sachverstand» sagte, dass an Strauss bei der Bundestagswahl von 1980 kein Weg vorbeiführe, wie Noack und Bickerich schreiben, ist fraglich. Es gab nämlich genug Unionspolitiker, die die These vertraten, dass es ohne eine (wie sich dann herausstellte: erfolglose) Kanzlerkandidatur des mächtigen Bayern keine Ruhe in den Unionsparteien geben werde. Kohl dürfte dies kaum verborgen geblieben sein. Alles schon einmal gehört oder gelesen – so ist es, wenn reichlich Literatur über eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte vorliegt. Das Buch von Schwan und Steininger ist im Grund mehr Chronik als Biografie, auch wenn die Autoren nicht versäumen, die einzelnen Schritte des Kanzlers abwechselnd als meisterlich oder virtuos zu loben. Ein bisschen mehr Distanz hätte dem Buch gutgetan. Sein Vorzug besteht in der minutiösen Schilderung der komplizierten Vorgänge, die vom Mauerfall im November 1989 zur Wiedervereinigung im Oktober 1990 führten. Das gründliche Studium der russischen, amerikanischen, britischen und französischen Quellen erlaubt den Autoren, die diplomatischen Ränkespiele noch einmal im Detail zu rekapitulieren, mit denen Margaret Thatcher, François Mitterrand, Giulio Andreotti und Ruud Lubbers die Wiedervereinigung zu verhindern trachteten. Ausgesprochen spannend zu lesen ist, wie negativ die engsten Mitarbeiter von Michail Gorbatschew die Verhandlungsführung ihres Chefs beurteilten und überdies auch noch versuchten, den Sowjetführer, aber auch ihre deutschen Gesprächspartner zu manipulieren. Es zeigt sich, wie recht Kohl daran tat, in den Verhandlungen aufs Tempo zu drücken. Kurzum: Wer sich die Lektüre von 42 von den Autoren speziell genannten Büchern ersparen will, der ist auf jeden Fall mit Schwans und Steiningers Opus gut bedient. l 28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Globalisierung Der amerikanische Wirtschaftspublizist Jeremy Rifkin hat ausnahmsweise ein hoffnungsvolles Buch geschrieben Frohe statt düstere Prognosen Jeremy Rifkin: Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein. Campus, Frankfurt/ New York 2010. 468 Seiten, Fr. 45.50. Jeremy Rifkin gehört zur Spezies der Wirtschaftsgurus, der brillanten Köpfe, die es verstehen, aus akademischer Beschäftigung ein Maximum an Profit zu schlagen. Üblicherweise lehrt Rifkin an einer Business School. Wirklich Geld verdient er jedoch mit Vorträgen in Grossunternehmen, deren Managern er durch düstere Prognosen das Fürchten lehrt, und natürlich mit dem Absatz von Büchern, in denen er gegen den Trend argumentiert. Rifkin hat das immer wieder getan, mit Thesen wie jener vom «Ende der Arbeit» oder dem «Verschwinden des Eigentums». Beides hat nicht stattgefunden, seinem Renommee hat es dennoch nicht geschadet. Nun also liegt das neueste Werk Rifkins in deutscher Sprache vor, und für einmal muss die Leserschaft nichts fürchten, sie darf hoffen. Die frohe Botschaft dieser «völlig neuen Interpretation der Geschichte der Zivilisation», wie sie der Verlag im Vorwort nennt: Die Menschheit wird (wahrscheinlich) überleben, dank wachsender Empathie. Die zentrale These des Buches sieht Empathie und Entropie in einer Art Wettlauf miteinander. Empathie ist die menschliche Fähigkeit, mit anderen zu fühlen, sich in diese hineinzuversetzen und ihr Handeln zu verstehen. Der empathische Mensch hilft seinem Nächsten und ändert sein eigenes schädliches Verhalten. Entropie ist der irreversible Verlust von Energie, etwa beim Heizen einer Wohnung: Verbrannte Kohle kann nicht wieder zurückgewonnen werden. Rosarote Brille Die Fortschritte der Zivilisationen im sozialen, wirtschaftlichen, aber auch im politischen Bereich ermöglichen nun immer weitergehende Formen institutionalisierter Empathie, man denke etwa an die sozialen Sicherungssysteme. Aber immer komplexere, reichere Gesellschaften steigern durch ihren wachsenden Energiekonsum auch die Entropie, d. h. «vernichten» endliche Rohstoffe. Wird die Menschheit rechtzeitig jenes Mass an Empathie aufbringen, das eine Umkehr möglich macht? Das Buch bietet dem Leser eine Tour d’Horizon von der Biologie des Menschen bis zur globalen Umweltproblematik, sehr lesbar, zweifellos nicht uninteressant, aber ausgesprochen eklektisch und durch die rosarote Brille. Ist Empathie wirklich im menschlichen Genom angelegt, wie es die sogenannten Spiegelneuronen vermuten lassen? 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010 taLIa FrenkeL / ap Von Dieter Ruloff Rotkreuzhelferin in Haiti: Indem wir die Sterblichkeit der andern erkennen, retten wir die Menschheit, sagt Jeremy Rifkin. Vielleicht. Waren die Jäger und Sammler wirklich empathische, friedliche Menschen? «Ötzi» hatte eine Pfeilspitze im Rücken. Und nach dem folgenden Sprung zu den Hochkulturen: War Gilgamesch, der Tyrann Uruks, tatsächlich ein derartig empathischer Herrscher, wie Rifkins Deutung des Epos meint? Weiter geht es bei den Römern, und zwar direkt in die Spätantike mit dem Christentum als Staatsreligion: Wird hier Nächstenliebe wirklich zum politischen Programm? Zwar teilen alle monotheistischen Religionen gewisse ethische Grundprinzipien, aber wie war das mit den Kreuzzügen und Religionskriegen? Ein weiterer grosser Sprung bringt den Leser zum Humanismus, einer zweifelsfrei positiv deutbaren geistesgeschichtlichen Wende, und zur Entstehung von Nationalstaaten. Sicher, sie sind Vorbedingung der Herausbildung kollektiver Identitäten, also eines umfassenden Wir-Gefühls; die Menschheit kann zunehmend auch als grosses Kollektiv Empathie entfalten – wenn sie sich nicht gerade in Weltkriegen dezimiert, bliebe hinzuzufügen. Rasch nähert sich der Text dann der Neuzeit. Zwar beginnt mit der Erfindung des Kapitalismus und der industriellen Revolution der schädliche Ressourcenhunger der Menschheit – aber war dies laut Rifkin nicht Vorbedingung «empathischer Sozialreformen»? Endlich, in Kapitel 11, wird die Empathie durch die Globalisierung global. Tatsächlich hat der globale Markt Millionen von Menschen (vornehmlich Ostasiaten) aus schlimmster Armut befreit und einen kleinen Teil von ihnen sogar wohlhabend gemacht. Und tatsächlich bringt das Internet jede Botschaft in kürzester Frist global unter die Leute. Aber ist das weltumspannende Mitgefühl beim Tod der britischen Prinzessin Diana im Jahre 1997 wirklich ein Beleg für globalisierte Empathie? Beispiele globalisierter Häme wären unschwer zu benennen. Sensibilisierung gefordert Am Ende dann die alles entscheidende Frage: Wie kann sich die Menschheit vor dem Sturz in den «entropischen Abgrund» retten? Die Antwort findet sich in den letzten beiden, zunehmend kürzeren Kapiteln und ist enttäuschend: Eine Mischung aus technologischem Fortschritt und Rückführung der Ansprüche soll es richten. Zeigt die Glücksforschung nicht, dass materieller Wohlstand mit Wohlbefinden wenig zu tun hat? Man fragt sich, wie diese Botschaft jenen plausibel gemacht werden kann, auf die es demnächst einmal ankommt, also den Hunderten von Millionen Chinesen und Indern, die zunehmend Geschmack am Konsum entwickeln. «Indem wir die Sterblichkeit der anderen erkennen, schaffen wir die Verbindung zwischen empathischem Bewusstsein und entropischer Sensibilisierung.» Hoffen wir, dass Rifkin recht hat, aber Zweifel sind wohl am Platze. l Dieter Ruloff ist Professor für Internationale Beziehungen an der Uni Zürich. Philosophie Neuedition von Texten zum 100. Geburtstag der streitbaren Professorin Jeanne Hersch Weiblicher Sokrates und Sozialistin von Geburt Jeanne Hersch: Erlebte Zeit. Vorträge, Gespräche, Abhandlungen. Hrsg. Monika Weber, Annemarie Pieper. NZZ Libro, Zürich 2010. 251 S., Fr. 38.–. Von Urs Rauber Die Genfer Philosophin Jeanne Hersch (1910–2000) gehört zu den markanteren Figuren des Schweizer Geisteslebens des 20. Jahrhunderts. Die Tochter polnisch-jüdischer Intellektueller, die sich nach 1904 in Genf niedergelassen hatten, war nach eigenen Worten «Sozialistin von Geburt» – was sie auch blieb (sie war bis an ihr Lebensende Mitglied einer welschen SP-Sektion). Gleichzeitig war sie ein offener, unbequemer Geist. Nach dem Studium in Heidelberg bei Karl Jaspers und in Freiburg i. Br. lehrte sie Französisch und Latein an der Ecole Internationale in Genf, unterrichtete 1938/39 die Kinder am Königshof in Thailand und wurde 1956 auf den Lehrstuhl für systematische Philosophie an der Uni Genf berufen. Zum 100. Geburtstag im Juli 2010 erscheint diese Neuedition von Texten, herausgegeben von der Zürcher alt Stadträtin und Ständerätin Monika Weber, die in den siebziger Jahren Herschs Schülerin in Genf gewesen war, und von der emeritierten Basler Philosophieprofessorin Annemarie Pieper. Diese bezeichnet ihre ältere Kollegin als «weiblichen Sokrates» und vergleicht sie mit Hannah Arendt, einer weiteren Jaspers-Schülerin. Weber hat den seit 2001 in der Zürcher Zentralbibliothek liegenden Nachlass von Hersch gesichtet und daraus 20 Rosinen gepickt, die teilweise unveröffentlicht, unübersetzt oder schlecht auffindbar sind. «Sie bedeuten ein Stück klassische Philosophie, deren Kern wir in unser Jahrhundert hinüberretten möchten», schreiben die Herausgeberinnen. Nepal Ronaldinho im Himalaja Sie vergöttern Ballack und Ronaldinho – Buben halt, wie überall auf der Welt, die sich bei jeder Gelegenheit um einen Ball zusammenknäueln. Diese Buben spielen in Luma, einem Dorf im bitterarmen Westen Nepals. Aus Westnepal kommen viele Kinder des Waisenhauses in Neopane Gaon bei Kathmandu, das zwei junge Krankenpfleger aus Deutschland mit ihrer Stiftung Govinda-Shangrila vor 10 Jahren gegründet haben. Ein Fotograf und ein Journalist, beide aus Basel, sind über drei Jahre hinweg immer wieder nach Nepal gereist, um die Projekte der Stiftung zu dokumentieren. Das Resultat ist ein berührendes Buch über das Land Nepal und seine Menschen: Indem es Kinder und Teenager des Waisenhauses porträtiert, sowie ihre nepalesischen Betreuerinnen, Lehrer und Köchinnen, erzählt es in Bildern und Worten von Religion und Armut, von der unerbittlichen Rangliste der Kasten und Ethnien, vom Verkehrschaos in Kathmandu und von abgelegenen Bergdörfern, von bunten Märkten, alten Mönchen und immer wieder von Menschen und ihrem Leben. Kathrin Meier-Rust Christian Platz (Text), Christoph Gysin (Fotos): Die Kinder von Shangrila. Geschichten aus dem heutigen Nepal. Schwabe, Basel 2009. 270 Seiten, Fr. 48.–. Ein lohnenswerter Versuch. Denn Jeanne Hersch hat auch heute noch etwas zu sagen. Vor allem indem sie eine Haltung einnahm statt Meinungen zu vertreten. Und indem sie nie nach Beifall schielte: «Wenn man sich zu einem Thema äussert, das in der Gegenwart brennend ist, so sollte man immer gegen den Strom sprechen. Man muss eigentlich zu missfallen versuchen, denn die Strömungen der Gegenwart sind stark, aber sie sind immer nur teilweise richtig.» Dass sie sich gegen den Mainstream stellte, trug ihr zeitweise heftige Ablehnung auch aus den eigenen Reihen ein, was sie indes nicht persönlich anfocht. Mit endgültigen Antworten gab sie sich nicht zufrieden, sondern suchte beharrlich weiter nach der Wahrheit. Dezidiert engagierte sie sich für die Freiheit des Individuums und die Stärkung der Menschenrechte (letzteres im Rahmen eines Unesco-Mandats seit 1966). In der Erziehung plädierte sie für den Mut zur Autorität, gleichzeitig appellierte sie an das Verantwortungsbewusstsein der Lehrer: «Es ist verboten, die Kinder zu langweilen.» Auch politisch bewies Jeanne Hersch Zivilcourage, als sie Bundesrätin Elisabeth Kopp 1989 nach dem Rücktritt öffentlich die Stange hielt. Ihr Antrieb war nicht Frauensolidarität, sondern der Sinn für Gerechtigkeit. Schon 1968 hatte sich die streitbare Professorin in Paris gegen den politischen Zeitgeist gestellt, da sie in den Forderungen der Studenten Ansätze zur Zerstörung der Demokratie sah. Und 1981 irritierte sie die linksliberale Öffentlichkeit mit einer Publikation, deren Titel ihre kraftvolle Haltung wiedergab: «Antithesen zu den ‹Thesen zu den Jugendunruhen 1980› der Eidgenössischen Kommission für Jugendfragen. Der Feind heisst Nihilismus.» Jeanne Herschs gedrucktes Werk nimmt sich bescheiden aus. Ihre wichtigsten Bücher sind Spätwerke: «Die Unfähigkeit, Freiheit zu ertragen» (1975), «Die Hoffnung, Mensch zu sein» (1976) und «Das philosophische Staunen» (1981). Als Philosophin interessierte sie weniger der Diskurs unter Fachkollegen als der Gang auf den Marktplatz: Sie referierte vor Publikum und sprach im Radio. Die im Buch versammelten Texte zeigen aufs Anschaulichste, wie die Frau mit dem strengen Haarzopf ihr Publikum zu fesseln vermochte: Indem sie Reminiszenzen in ihre philosophischen Ausführungen einflocht, einen Gedanken munter weiterentwickelte, humorvoll fabulierte, bis sie am Schluss zur entscheidenden Erkenntnis vorstiess. Das editorische Juwel bringt uns in der Tat einen weiblichen Sokrates näher, der auch mühelos den innerschweizerischen Röstigraben übersprang. l 28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Biochemie Die Autobiografie des Genforschers J. Craig Venter ist eine unterhaltsame Mischung aus Lebensgeschichte und biologischem Sachbuch J. Craig Venter: Entschlüsselt. Mein Genom, mein Leben. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2009. 576 S., Fr. 42.90. Von Thomas Köster Bei Craig Venter ist alles eine Frage der Gene. Dies zumindest suggerieren jene Passagen seiner Autobiografie, die sich ausführlich mit seinem eigenen Erbgut beschäftigen. Die Hyperaktivität seiner Kinderjahre in Salt Lake City etwa schreibt der umstrittene US-amerikanische Biochemiker jenem «genetischen Stottern» zu, an dem zehn Wiederholungen eines Abschnitts aus dem Gen DAT1 beteiligt sind. Seine Ausdauer führt er auf jenes Gen zurück, welches das Enzym AMPD1 codiert. Und seine Fähigkeit, Druck auszuhalten, hat seiner Ansicht nach mit einem bestimmten Gen auf dem X-Chromosom zu tun. «Bei der Analyse meines Genoms stellte sich heraus, dass ich diese sehr aktive Form besitze und deshalb weniger zu antisozialem Verhalten neige», schreibt er. Harte Kritiker hat Venter bis heute, und Verteuflungen ist er immer wieder ausgesetzt. Das hat vor allem mit der Art und Weise zu tun, wie es ihm im Jahr 2000 als erstem Wissenschafter gelang, die rund 23 000 Gene des Menschen mit Hilfe seines Teams komplett zu kartieren. Dass Venter diese Leistung als Gründer eines durch Patentansprüche von sich reden machenden Privatunternehmens – und unter Zuhilfenahme der frei zugänglichen Ergebnisse des staatlich finanzierten Human Genome Project (HGP) – vollbrachte und dass es zudem sein eigenes Erbgut war, das letztlich als erstes vollständig entschlüsselt vorlag, hat ethische Vorbehalte zusätzlich befeuert. «Entschlüsselt» ist denn auch so etwas wie der Versuch, sich von Vorwürfen reinzuwaschen. In erster Linie aber schildert das Buch das Leben eines Wissenschafters, der nach Anfängen als Pharmakologe und Mediziner zu seiner eigentlichen Berufung fand: angefangen von jugendlichen Herausforderungen wie illegalen Autorennen oder zu erobernden Frauen (das Y-Chromosom ist schuld!) über Lehrjahre als Sanitäter für Infektionskrankheiten im Vietnamkrieg und den frühen Erfolgen am Genom des Erregers Haemophilus influenza – bis hin zum grossen Durchbruch, der Venter, inzwischen ernst genommen, immerhin eine Pressekonferenz mit Bill Clinton und Tony Blair im Weissen Haus eintrug. Dass Venter bei den vielen herben Rückschlägen und Neuanfängen seines Lebens Ausdauer, Durchsetzungsvermögen und Stressresistenz bewies, wird kein Leser bestreiten können. Stark ist Venters Autobiografie immer dann, wenn sie über den spannenden, bisweilen zur Schlammschlacht geratenen «Genkrieg» zwischen privaten und staatlichen Projekten berichtet: über die hartnäckige Ablehnung von Venters «Schrotschuss-Sequenzierung» zum Beispiel, jener als ungenau belächelten automatisierten Kartierungsmethode, die den Autor am Ende über das weitaus teurere und aufwendigere «Human Genome Project» siegen liess. So macht das Buch, auch jenseits des Einzelfalles, klar, wie Politik und Machtkalkül, Intrigen, Erpressungen und Eitelkeiten den Weg zu wissenschaftlicher Erkenntnis – und zu begehrten öffentlichen Fördermitteln – pflastern. GettY IMaGeS Herr der Gene Der DNA-Spezialist J. Craig Venter in seinem Labor in Rockville (Maryland, USA), 1997. Schwach aber ist das Buch zumeist dort, wo Venter von seiner zweiten grossen Leidenschaft, dem Segelsport, berichtet, mit dessen Hilfe sich der Autor immer wieder aus Krisensituationen hinausmanövrierte. Im Fahrwasser seiner Passion treibt Venter zu oft vom Wesentlichen ab. Dasselbe gilt für jene Passagen, die belegen sollen, dass der Autor keineswegs jener knallharte Geldmensch war, als den seine Kritiker ihn immer wieder darzustellen trachteten, und die eigentlich doch nichts erklären. Sollte es ein Gen geben, das Autoren sensibel macht für das, was Leser wirklich interessiert: An manchen Stellen hat man das Gefühl, Craig Venter habe eine nicht allzu ausgeprägte Form davon. Dennoch: Seine Autobiografie, die eigentlich eine Mischung aus Lebensbeschreibung und biologischem Sachbuch darstellt, ist trotz allen Abschweifungen sehr anschaulich. l Wirtschaft Interviews mit Topmanagern erlauben einen schonungslosen Einblick ins Innenleben Die ungeglättete Seite der Chefs Jan Heidtmann, Barbara Nolte: Die da oben. Suhrkamp, Frankfurt a. M, 2009. 202 Seiten, Fr. 21.50. Von Gabriela Weiss Zwölf Manager, zwölf Interviews. Für einmal geht es nicht um die nächsten Quartalszahlen, und die Aussichten für das Unternehmen sind egal. Die beiden deutschen Journalisten Barbara Nolte und Jan Heidtmann befragen die obersten Chefs und eine Chefin von deutschen Unternehmen, mit ihren Fragen zielen sie auf den Menschen dahinter. Von Schlafstörungen und anderen Schwächen ist dann die Rede. Es fallen 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010 Aussagen wie: «Ich habe mir an der Universität Köln das Studium ausgesucht, in dem die Durchfallquote am höchsten war. (...) Und da ich ein Technikfreak bin, habe ich mich dann für Physik entschieden.» Besser hätte sich ABB-Präsident Hubertus von Grünberg nicht charakterisieren können. Es sind Interviews, die niemand geglättet hat. Bekenntnisse wie jenes von Matthias Mitscherlich, Chef des Unternehmens MAN Ferrostaal, wären sonst nicht zu lesen: Die psychologische Grundausbildung in seinem Elternhaus, Mutter und Vater waren bedeutende Psychoanalytiker, würden ihm helfen, Menschen zu verstehen und einzuschätzen. «Und manchmal sogar ein bisschen zu manipulieren.» An der einen oder anderen Stelle, wünschte man sich allerdings, die Autoren hätten nachgebohrt, so bei Alexander Dibelius, Chirurg und heute EuropaChef der Investmentbank Goldman Sachs: Warum genau ist es ihm wichtig, unanständig viel Geld zu verdienen? Ist es gerecht, so viel Geld zu verdienen? Und da gibt es noch einen kleinen Wermutstropfen: Die Personenbeschreibungen eingangs der Interviews rufen nach einem Bild. Die tiefen Hundefalten um den Mund von Deutsche-TelekomChef René Obermann möchte man sehen, so auch die langen Beine von Hubertus von Grünberg, über die er «zu stolpern drohte», als er vom Interview weglief. l Biografie Der Publizist Christian Linder versucht eine Deutung von Heinrich Böll Der sanft-wilde Dichter der Bonner Republik Ein paar Jahre später verhalf die Hippie- und 68er Bewegung einer neuen Sicht auf Hesses Werk zum Durchbruch – und der weise Dichter von Montagnola wurde für Millionen von jüngeren Lesern in West und Ost zum Kultautor. So könnte eines Tages auch eine BöllRenaissance anbrechen. Schon zu seinen Lebzeiten waren sich die Kritiker uneinig über Bölls Qualitäten. Joachim Kaiser schrieb damals, keiner seiner Verächter sei fähig, «Werke zu produzieren, die so selbstverständlich, märchenhaft, unverkrampft und sanft-wild sind wie diejenigen Bölls». Christian Linder: Das Schwirren des heranfliegenden Pfeils. Heinrich Böll. Eine Biographie. Matthes & Seitz, Berlin 2009. 617 Seiten, Fr. 49.50. Von Reinhard Meier Ist Heinrich Böll, neben Günter Grass der berühmteste deutsche Schriftsteller der Nachkriegszeit, heute wirklich schon beinahe vergessen? Der Publizist Christian Linder behauptet das in seiner ausufernden Biografie über den 1985 verstorbenen, zu seinen Lebzeiten teils hoch verehrten und teils heftig angefeindeten Nobelpreisträger. Böll, heisst es bei Linder, gehörte zur alten (Bonner) Bundesrepublik wie das Wirtschaftswunder, die Vertriebenenverbände, die «Bild»-Zeitung und Konrad Adenauer. Heute vermöge Bölls Werk kaum mehr zu fesseln, manche hielten es «mit seinen verwelkt wirkenden Ideen und Stimmungen» wohl nur noch für eine Art «Sperrmüll». Es stimmt, dass Bölls Bücher längst nicht mehr im Mittelpunkt literarischer oder gesellschaftlicher Diskussionen stehen. Aber es ist dennoch gewagt, diesen Autor kurzerhand als eine verstaubte ehemalige Grösse abzuschreiben. Hatten nicht vorlaute Kritiker dies Anfang der sechziger Jahre mit Hermann Hesse getan, einem andern deutschsprachigen Nobelpreisträger? Gegen Macht und Mächtige Heinrich Böll (mit Béret und Zigarette) an der Friedensdemonstration vom 21. Oktober 1983 in Bonn. Heinrich Böll, der «gute Mensch aus Köln», wie ihn seine Anhänger verehrend und seine Gegner ironisch nannten, engagierte sich im Laufe seines erfolgreichen Schriftstellerlebens mit erstaunlicher Hartnäckigkeit gegen alle möglichen etablierten Mächte: gegen die katholische Amtskirche, die CDU, den SPD-Kanzler Helmut Schmidt im sogenannten Nachrüstungsstreit (bei dem er sich, rückblickend betrachtet, verrannte), gegen die Springer-Presse oder gegen manipulative Kungeleien in den Rundfunkanstalten. Doch er war politisch keineswegs einäugig. Unbestechlich und unerschrocken setzte er sich für Verfolgte des Sowjetregimes ein. Er brachte Teile von Solschenizyns verbotenen Schriften in den Westen, und einmal schmuggelte er gar die Frau eines tschechischen Musikers in seinem eigens für diesen Zweck umgebauten Auto über die Grenze. Ins Zentrum seiner Biografie stellt Linder die These, das innerste Motiv für Bölls Schreiben sei «die Verteidigung der Kindheit» gewesen. Oder etwas allgemeiner formuliert: Alle seine Werke gingen letzten Endes auf autobiografische Erfahrungen zurück. Böll selbst hat das in einem Briefwechsel mit Linder zwar zögernd bestätigt, aber ein besonders origineller Deutungszugang ist das nicht. Spielen nicht auch in den Werken anderer grosser Autoren – Thomas Mann, Max Frisch, Lew Tolstoi oder Ernest Hemingway etwa – autobiografische Motive eine fundamentale Rolle? Heinrich Böll erlebte nach Linders Schilderung seine Familie – er war das jüngste von fünf Kindern – als eine Art heile Welt. Der Vater hatte einen bescheidenen Schreinereibetrieb in Köln, der auf kirchliche Aufträge spezialisiert war. Die Mutter, Maria Böll, wird als «Portalfigur» geschildert. Sie war der geistige Mittelpunkt der Familie, körperlich zwar bald nach der Geburt des jüngsten Kindes behindert, politisch aber viel unabhängiger als der Vater, kritisch sowohl gegenüber der katholischen Kirche als auch gegenüber den Nazis. «Wir waren weder echte Kleinbürger noch bewusste Proleten, hatten einen starken Einschlag von Bohème, das Wort ‹bürgerlich› war eins unserer klassischen Schimpfworte geworden.» Aus Protest gegen die automatische Einziehung der Kirchensteuer durch den Staat trat Böll zehn Jahre vor seinem Tod offiziell aus der katholischen Kirche aus. Dennoch blieb er sein Leben lang ein «auf altmodische Weise frommer» Christ, der täglich betete und überzeugt war, dass Engel wirklich existierten. SVen SIMon Ärgerliche Bleiwüsten Linder bietet dem Leser zwar vielerlei Einblicke in das Leben und Denken Heinrich Bölls. Doch trotz des voluminösen Umfangs solcher Schilderungen vermisst man eine überzeugende Einbeziehung von Bölls Werken in das biografische Geflecht und deren analytische Durchdringung. Deshalb erfährt man nicht, was denn nun konkret die autobiografischen Bezüge beispielsweise in den Romanen «Ansichten eines Clowns», «Gruppenbild mit Dame» oder «Ende einer Dienstfahrt» sein sollen. Ärgerlich sind zudem jene seitenlangen Passagen, in denen aus unerfindlichen Gründen kein einziger Abschnitt eingefügt ist. Man wüsste gerne, ob dieser leserunfreundliche Manierismus dem Autor oder dem Verlag anzukreiden ist. l 28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Russland Der britische Historiker Simon Sebag Montefiore entlarvt die «potemkinschen Dörfer» als Geschichtsfälschung. Zudem erzählt er von der stürmischen Liebe am kaiserlichen Hof Zarin Katharina teilte mit Fürst Potemkin Bett und Macht Simon Sebag Montefiore: Katharina die Grosse und Fürst Potemkin. Eine kaiserliche Affäre. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2009. 790 S., Fr. 42.90. Von Sabina Meier Im eisigen Januar 1787 brach Katharina die Grosse mit einem Gefolge von Höflingen und ausländischen Diplomaten in 14 Kutschen und 124 Schlitten von Sankt Petersburg nach Kiew auf. Hunderte von Bediensteten folgten dem kaiserlichen Tross, darunter 30 Wäscherinnen, aber auch Silberpolierer, Apotheker, Ärzte und Mohren. An jedem Posten standen 560 Pferde für die kaiserliche Schlittenfahrt bereit. Die Alleen wurden nach Einbruch der Dunkelheit mit Feuern taghell beleuchtet, und abends speiste die königliche Gesellschaft in überheizten Palästen. Des Komforts und der exquisiten Speisen überdrüssig, beklagte sich der englische Botschafter, die Reise «sei nichts anderes als St. Petersburg, das im Reich hin und her getragen werde». 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010 ULLSteIn Staatliches Gesamtkunstwerk Es war dies der Auftakt einer triumphalen Inspektionsreise der Zarin in den Süden des russischen Reiches. Deren Ziel war es, die von ihrem Günstling Fürst Grigori Alexandrowitsch Potemkin neu eroberte Halbinsel Krim samt Schwarzmeerküste mit eigenen Augen zu besichtigen. In Kiew schiffte sich die kaiserliche Reisegesellschaft auf sieben prächtige Galeeren mit 3000 Ruderern ein. Die Luxuskreuzfahrt wurde ein Gesamtkunstwerk von potemkinschen Dimensionen. An den Ufern versammelten sich zahllose Zuschauer, Städte und Dörfer waren mit architektonischen Installationen und Blumenschmuck dekoriert und wurden durch gigantische Feuerwerke beleuchtet. Tatarische, kalmückische und kosakische Reitertrupps in juwelengeschmückten Waffen und Uniformen verwickelten sich in Scheinkämpfe und demonstrierten ihre Reiterkünste. Höhepunkt der Krimbesichtigung war die brandneue russische Schwarzmeerflotte von 150 Schiffen samt der Hafenstadt Sewastopol, die Potemkin in nur drei Jahren aus dem Boden gestampft hatte. Sogar der österreichische Kaiser Joseph II., der sich der Reise angeschlossen hatte, erblasste vor Neid auf die uneingeschränkte Macht des russischen Staates: «Hier zählen Menschenleben und menschliche Anstrengung nichts.» Kein Wunder, dass die Erfolge Potemkins Unglaube und Neid hervorriefen Zarin Katharina die Grosse (1729 bis 1796) regierte das russische Reich mit starker Hand. Gemälde von Vigilius Eriksen aus dem 18. Jahrhundert. und sich die hartnäckige Legende von den «potemkinschen Dörfern» bildete, als Sinnbild für einen gigantischen Betrug. Der britische Historiker und Bestsellerautor Simon Sebag Montefiore ist mit seiner Biografie Potemkins zur Ehrenrettung des Fürsten angetreten. Er hält die potemkinschen Dörfer für eine Geschichtsfälschung, die russische und ausländische Feinde dem exzentrischen Fürsten angedichtet haben. Die Belege sind zahlreich; Potemkins Leistung bei der Besiedlung und wirtschaftlichen Entwicklung des Südens, seine militärischen Siege gegen das Osmanische Reich und seine zahlreichen Städtegründungen auf dem Territorium der heutigen Ukraine sind kaum zu bezweifeln. Aber Fürst Serenissimus wusste seine Erfolge eben auch effektvoll zu inszenieren, er gilt als Urheber des modernen Politspektakels. Wer war der Eroberer des südlichen «Neurusslands», dessen Erfolge sich mit denen von Peter I. im Norden messen konnten? Die kometenhafte Karriere des Sohns einer verarmten Provinzadelsfamilie begann bei der Garde, die den Zarenpalast in St. Petersburg bewachte. Bereits bei Katharinas Staatsstreich 1762, bei dem die deutschstämmige Gattin des verhassten und unfähigen Peter III. auf den Thron des russischen Zarenreiches gelangte, tat sich der draufgängerische Gardist besonders hervor. Bald gewann er durch seine sprühende Intelligenz und Originalität sowie seine militärischen Verdienste die Zuneigung der Zarin. Seine Verehrung Katharinas als Zarin und als Frau waren nicht zu trennen. Im Alter von 34 Jahren wurde er zum Liebhaber der 44-jährigen Zarin, einer stattlichen Frau in den besten Jahren. Beide waren ausgesprochene Sinnes- und Machtmenschen, ihre Beziehung war entsprechend stürmisch. Katharina teilte mit ihm Bett und Macht und machte ihn zu ihrem wichtigsten politischen Ratgeber und faktischen Mitregenten. Tausende von Briefen zeigen, wie sehr sich verspieltes Privatleben und grosse Politik vermischten. Auch als die heisse Leidenschaft abkühlte und beide anderen Liebschaften nachgingen – Potemkins Skandalharem war berühmt-berüchtigt –, blieben sie einander in lebenslänglicher Freundschaft und fürsorglicher Partnerschaft verbunden. Katharinas Günstlingssystem, Potemkins Sonderstatus und das Kräfteverhältnis in der kaiserlichen Affäre sind in der Biografie einfühlsam herausgearbeitet. Süffig geschrieben Wer von Transvestitenbällen, englischen Gärten und Diamanten, Mätressen und Abenteurern, gigantischen Vermögen und exorbitanten Ausgaben nicht genug haben kann, der kommt am Zarenhof des 18. Jahrhunderts vollends auf seine Kosten. Der Stoff ist filmreif und lässt jede Seifenoper puritanisch und prüde aussehen. Mit kinematografischem Blick und einem oft reichlich dick aufgetragenen Spannungsstil versucht Montefiore die riesige Stoff- und Quellenlage in den Griff zu bekommen. Das Resultat ist ein süffiges, unterhaltsames Buch, wenn sich die Handlung auch zuweilen arg in Klatschgeschichten verzettelt, auf Kosten von Orientierung und Analyse. Schliesslich macht der fieberhafte Hedonismus und grenzenlose Luxus am Hof der Zarin so übersatt, dass man sich – trotz einem umfangreichen Anhang – nach der trockenen Kost wissenschaftlicher Fussnoten sehnt. Dafür muss man dann allerdings die englische Originalausgabe zur Hand nehmen. l Literatur Es ist gar nicht so selten, dass Schriftsteller die Fähigkeit zu schreiben verlieren Ulrich Horstmann: Die Aufgabe der Literatur oder Wie Schriftsteller lernten, das Verstummen zu überleben. Fischer, Frankfurt a. M. 2009. 271 Seiten, Fr. 23.90. Von Manfred Koch Dichter gehen nicht in Rente. Dichter schreiben, bis ihnen der Tod die Feder aus der Hand nimmt. Diese Vorstellung gehört unverbrüchlich zum Mythos des literarischen Schaffens. Die Poesie ist eben kein Beruf, sondern Berufung, Schicksal, lebenslängliche Obsession. Aber es gibt sie dennoch, die Frühpensionäre der Kunst: Autoren, die das Schreiben irgendwann ohne äusseren Grund – Krankheit etwa oder politische Unterdrückung – einfach sein lassen. Ihnen hat der Essayist und Übersetzer Ulrich Horstmann, im Brotberuf Anglistikprofessor, nun ein so lehr- wie pointenreiches Buch gewidmet. Zwei übergreifende Beobachtungen verbinden die dreizehn Porträts. Zum einen, stellt Horstmann fest, nimmt die Zahl der Aussteiger mit dem wachsenden Originalitätsdruck in der Moderne zu. Ein Gedicht, hat Gottfried Benn einmal gesagt, ist entweder exorbitant, oder es ist gar nicht. Verständlich, dass Lyriker immer wieder vor einem solch fürchterlichen Anspruch kapituliert haben. Dafür fallen, so die andere These, die literarischen Bankrotterklärungen seit dem 20. Jahrhundert zunehmend gelassener aus. Das Pathos des tragischen Scheiterns schwindet, die Autoren gehen selbstironisch, manchmal fast sportlich mit der bestürzenden Entdeckung um, dass ihnen nichts mehr einfällt. Horstmanns Held des lakonischen Rückzugs aus der Poesie ist der englische Schriftsteller Philip Larkin, der – obwohl mit Preisen überhäuft – zuerst das Verfertigen von Romanen und Jahre später auch die lyrische Produktion einstellte. Der Öffentlichkeit gab er eine simple Erklärung: «The ability to do so had just vanished.» Mit dem Verlust der Schreibfähigkeit verhalte es sich nicht anders als mit dem Haarausfall; auf einer Glatze lassen sich keine Locken drehen. Was bleibt, ist eine hohe ästhetische Empfindlichkeit, die ihm das routinierte Weitermachen verbietet: «I would sooner write no poems than bad poems.» Ähnlich gelagert ist ein Jahrhundert zuvor der Fall Rimbaud. Das frühreife lyrische Genie gab im Alter von 21 Jahren das Dichten auf und begann eine Karriere als Vagabund und Waffenhändler in Nordafrika. Wer ihn an seine einstige Grösse erinnerte und die vielen ungeschriebenen Meisterwerke einklagte, erhielt eine harsche Abfuhr: «Merde pour la poésie!» So entschieden aufgehört wie Rimbaud und Larkin haben indessen die wenigsten der hier versammelten Autoren. Im Blick auf andere Protagonisten des Buchs zeigt sich, dass Horstmann überwiegend doch von einem alten Thema spricht: dem drohenden Verstummen, das die moderne Literatur unaufhörlich beschwört und dem sie gerade damit entgeht. Samuel Becketts Texte sagen, dass es eigentlich nichts mehr zu sagen gibt, Wolfgang Hildeshei- ULLSteIn Die Muse geht Arthur Rimbaud (1854–1891) gab mit 21 Jahren das Dichten auf. mer schreibt eine Sequenz von Büchern über «das Gefühl, dass ich nicht mehr schreiben kann». Und selbst Wolfgang Koeppen, der nach seinen Romanen der 50er Jahre so gut wie nichts mehr zustande brachte, blieb ein Schriftsteller, der nur das Genre wechselte. Indem er die Öffentlichkeit jahrzehntelang auf sein nächstes, nicht einmal in Ansätzen vorhandenes Opus magnum warten liess und derweil Verlagsvorschüsse und literarische Preise kassierte, wurde der Schreibtischflüchtling zum Performance-Künstler. Er inszenierte einen realen Schelmenroman, der sich – zumindest in Horstmanns Nacherzählung – so vergnüglich liest wie nur irgendeine gut erfundene Geschichte. l Finanzwelt Anlageberater Bernard Madoff hat Tausende mit irrealen Renditeversprechen geprellt Wie sich 65 Milliarden Dollar in Luft auflösen Amir Weitmann: Madoff – Der Jahrhundertbetrüger. Chronologie einer Affäre. Orell Füssli, Zürich 2009. 228 Seiten, Fr. 34.90. Von Charlotte Jacquemart Bernard Madoff, von allen liebevoll «Bernie» genannt, wird als der grösste Betrüger der Finanzgeschichte in die Annalen eingehen. Rund 65 Milliarden Dollar Vermögen lösten sich quasi in Luft auf, als der Anlagebetrug im Zuge der globalen Finanzkrise Ende 2008 aufflog. Anstatt das Geld seiner Kunden in Aktien, Obligationen und Optionen zu investieren, wie der New Yorker mit jüdischen Wurzeln vorgab, erstellte er fiktive Vermögensausweise und verprasste und/oder spendete das ihm anvertraute Geld an karitative Einrich- tungen. 20 Jahre lang kam ihm niemand auf die Schliche: Dank einem hohen Neugeldzufluss war es in guten Jahren leicht, Kapitalrückzahlungen zu leisten. Doch dann kam die Krise: Zu viele Kunden wollten ihr Kapital abziehen, das Kartenhaus fiel zusammen. Amir Weitmann, israelisch-schweizerischer Doppelbürger, hat in aller Eile die Fakten zusammengetragen. Anhand von Beispielen zeigt der Finanzanalyst und Investmentberater auf, dass sich nicht nur private, sondern auch institutionelle Anleger von Madoff hinters Licht führen liessen. Nicht nur diese Beispiele sind aufschlussreich, auch das Geständnis Madoffs im Anhang ist es. Madoff gab vor Gericht zu Protokoll, erst Anfang der neunziger Jahre mit dem Betrug begonnen zu haben – ursprünglich mit der Absicht, wieder damit aufzuhören. Er nannte seine Strategie «Split-Strike Conversion», niemand wusste, was er damit meinte, doch alle liessen sich blenden. Ebenfalls im Anhang findet sich ein Bericht an die amerikanische Aufsichtsbehörde SEC aus dem Jahr 2005, der beweist, dass es durchaus Warner gab. Doch selbst diese Behörde liess sich einseifen. Genial oder nur bösartig? Der Autor versucht, seine eigene Empörung über Madoff, der vor allem Mitbürger aus seiner «eigenen Gemeinde», nämlich der jüdischen, «kalt und ohne Gewissensbisse» betrogen hat, auf die Leserschaft zu übertragen. Doch irgendwie gelingt es Weitmann nicht so richtig: Zu naiv haben sich die skizzierten Opfer, in ihrer Gier nach Vermögensvermehrung, von Madoffs völlig unrealistischen Renditeversprechen blenden lassen. Wer das Abc des Investierens nicht befolgt, erntet nur schwerlich Mitleid. l 28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Landschaft Eine Hommage an das Schaf und die pastorale Lebensweise der Antike Verlorenes Paradies Barbro Santillo Frizell: Arkadien – Mythos und Wirklichkeit. Böhlau, Köln 2009. 188 Seiten, Fr. 44.90. Von Geneviève Lüscher Es ist ein weites Feld, das die schwedische Archäologin in ihrem schmalen, aber reich illustrierten Buch betritt. Die Autorin, Direktorin des Swedish Institute in Rom, hat sich zu Fuss in der italienischen Landschaft umgesehen und nach Spuren der pastoralen Lebensweise gesucht, einer Lebensweise, welche die Landschaft wohl seit dem Neolithikum um 4000 v. Chr. geprägt hat. «Kein Tier hat in der Geschichte der Menschheit so grosse Bedeutung gehabt wie das Schaf», schreibt sie. So wurde beispielsweise die grösste Kuppel der Renaissance, Santa Maria del Fiore in Florenz, von der Gilde der Wollhändler finanziert. Heute haben Schafhaltung und Wollproduktion in Italien keine Bedeutung mehr, aber die Landschaft weist noch Spuren auf, die man lesen kann. Die uralten Wege der «Transhumanz», einer Form der Wanderviehwirtschaft, von der Küste in die Berge, wohin die Hirten ihre Schafe alljährlich trieben, sind zum Teil noch sichtbar. Dieser Wechsel der Weidegründe war eine Voraussetzung für die Haltung grosser Schafherden, die bis zu zwölf Stunden täglich weiden. Im Gegensatz zu Ziegen sind Schafe wählerisch. Während die vertikale Transhumanz eher von kurzer Dauer war, meist nur wenige Tage, wanderten die Tiere beim horizontalen Viehtrieb oft monatelang und legten Strecken bis 800 Kilometer zurück. Heute erfolgt die Dislokation mit Lastwagen. Die Autorin beschreibt die Anfänge der Weidewirtschaft und der Wollproduktion in Griechenland und Italien sowie die Bedeutung der Schaf- und Wollmärkte, der Textilien, die in der Antike – ganz im Gegensatz zu heute – zu den kostbarsten Gütern zählten. Sie besucht die den Tieren gewidmeten Kultplätze, die grossen Viehmarktorte und Thermalquellen, wo krankes Vieh geheilt werden konnte. Aus dem harten Hirtenalltag entwickelt sich schon in der Antike der Mythos vom idyllischen Landleben. Im 16. Jahrhundert werden Hirtengedichte Mode. Ruinenlandschaften mit weidenden Schafen und verkleideten Hirten und Hirtinnen zieren herrschaftliche Parkanlagen und avancieren zu beliebten Motiven in der bildenden Kunst. Arkadien, ein raues Hochland auf dem Peloponnes, entwickelt sich zum Sehnsuchtsort des reisenden Bildungsbürgertums im 18./19. Jahrhundert, wird Utopie und Symbol für eine ideale, aber verlorene Welt; auch dort ist der Tod präsent. Denn «Et in Arcadia ego», der berühmte Sinnspruch auf einem Gemälde des Barockmalers G. F. Barbieri, meint: «Auch ich (der Tod) bin in Arkadien». l Das amerikanische Buch Musiker, Dichterinnen und Drogen im Chelsea Hotel Ausserordentlich anrührend und kulturhistorisch aufschlussreich spannt «Just Kids» einen Bogen von 1967 bis 1973/74, als beide sich schon Künstler nennen konnten. Mapplethorpe hatte Förderer in der New Yorker Society gefunden, während Smith nach vielen Umwegen mit einer Band auftrat und erste Lyrikbände veröffentlicht hatte. In diesen Jahren inspirierten Smith und Mapplethorpe einander und entdeckten rasch eine Seelenverwandtschaft, die das Ende ihrer Liebesbeziehung überstehen und bis zum Aids-Tod von Mapplethorpe im März 1989 dauern sollte. Im Mittelpunkt des Buches 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. Februar 2010 zeichnet «Just Kids» überdies ein Porträt von New York und führt in eine versunkene Welt, in der zwei hungrige «Kids» von 50 Cents satt werden und eine Nischenexistenz führen konnten, die ihnen die Entwicklung ihres Talents erlaubt hat: Manhattan bot Clubs und Galerien für Aussenseiter, aber auch gebrauchte Kleider, billige Absteigen und staubige Antiquariate. Hier fand Smith immer wieder wertvolle Bücher, die sie mit 50 oder 100 Dollar Gewinn verkaufen konnte. Doch jahrelang musste sich das Paar selbst einen Hot Dog im Vergnügungspark Coney Island teilen: Robert ass das Würstchen und Patti das Sauerkraut. norMan SeeFF Ein Touristenpaar gibt der Performance-Künstlerin Patti Smith das Stichwort Just Kids (Ecco, 279 Seiten), um von ihrer Beziehung mit dem Fotografen Robert Mapplethorpe zu erzählen: Kaum 21 Jahre alt, sitzen die zwei im Washington Square Park im Süden Manhattans, er mit bunten Perlenketten unter der Schaffelljacke, sie in Beatnik-Sandalen und zerschlissenen Halstüchern. Die Touristin drängt ihren Gatten, das Paar zu fotografieren: «Die sind Künstler!» Doch der Mann winkt ab: «Ach, hör auf – das sind doch nur Kinder.» Die Szene führt zurück in den Herbst 1967. Smith war gerade mittellos aus dem Süden New Jerseys gekommen, wo sie in Fabriken gearbeitet und ihr Neugeborenes bei Adoptiveltern zurückgelassen hatte. Ihre erste Bekanntschaft in New York war der schlanke Lockenkopf Mapplethorpe, ein betörend «schöner Junge», der wie Smith in einer katholischen Arbeiterfamilie aufgewachsen war. Künstler waren beide damals noch lange nicht, aber werden wollten sie es unbedingt. Robert Mapplethorpe und Patti Smith Ende der 60er Jahre, als ihre Liebesbeziehung noch intakt war. Die Autorin Patti Smith heute (unten). stehen die drei Jahre, die beide im legendären Chelsea Hotel und danach in einem Loft nebenan verbrachten. Diese Zeit endete am 20. Oktober 1972, dem Geburtstag von Smiths Idol Arthur Rimbaud. Das Hotel bot damals Musikern, Dichtern, Drogensüchtigen und Spinnern Zuflucht. Hier lernt das Paar Jimi Hendrix und Janis Joplin ebenso kennen wie Allen Ginsberg. Die schwere Krankheit und der Tod Mapplethorpes umrahmen diese Erinnerungen, was dem Buch eine Note tiefer, ungekünstelter Trauer verleiht. Im Vergleich mit der mitunter gezwungenen Lyrik von Smith wirkt der Text mit seinen kurzen Sätzen frisch und direkt, fast wie gesprochene Worte. Auch deshalb wurde das Buch etwa in der «New York Times» gefeiert. Mit zahlreichen Fotos der beiden illustriert, Die Beziehung des Paares überstand die Hinwendung Mapplethorpes zu den extremsten Spielarten der Homosexualität, die dann auch in seinen Arbeiten Ausdruck fanden. Smith bewunderte ihn für die Kompromisslosigkeit seiner Bilder, aber deren Brutalität verstand sie nicht: «Ich konnte das kaum mit dem Jungen in Übereinklang bringen, den ich kennengelernt hatte.» Mapplethorpes S&M-Bilder sorgen bis heute für Skandale. Aber wie Joplin und Ginsberg sind er und Smith längst in den kulturellen Kanon eingegangen. So macht «Just Kids» auch die Transformation der westlichen Kultur seit 1967 deutlich: Smith wurde 2005 in Paris zum Commandeur des Arts et des Lettres geadelt. Ihre alte Szene ist entweder Aids und Drogen erlegen oder erinnert sich in Büchern und Dokumentarfilmen an die einstige New Yorker Bohème. Im Chelsea Hotel übernachten derweil längst nur noch Touristen. l Von Andreas Mink Agenda Paul Newman Mit stahlblauem Blick Agenda März 2010 Basel Donnerstag, 11. März, 19 Uhr Der Eremit von Ropraz – Jacques Chessex zum Gedenken. Mit Jürg Altweg und Stefan Zweifel. Lesung, Fr. 15.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. 061 261 29 50. Dienstag, 16. März, 20 Uhr Milena Moser: Möchtegern. Lesung, Fr. 12.–. Thalia, Freie Strasse 32, Tel. 061 264 26 25. Donnerstag, 25. März, 19 Uhr Kristof Magnusson: Das war ich nicht. Lesung, Fr. 15.–. Literaturhaus (s. oben). the koBaL CoLLeCtIon Bern Montag, 15. März, 20 Uhr Memo Anjel: Mindeles Liebe. Lesung und Gespräch, Fr. 25.–. ONO Bühne, Kramgasse 6, [email protected]. Er begann seine Karriere in Fernsehserien und auf Theaterbühnen. Doch nach einem ersten, für ihn unbefriedigenden Hollywood-Start mit einem Historienschinken gelang Paul Newman wenig später jener Leinwandauftritt, wie er seinen Vorstellungen entsprach, etwa als Korea-Kriegsveteran in «The Rack» (1956). Bald folgten Glanzrollen in «The Long, Hot Summer» und «Cat on a Hot Tin Roof» (beide 1958). Dank einer gewissen inneren Distanz zur Filmindustrie endete er nicht als «männliche Marilyn Monroe», wie er einmal sagte. Frauen, aber auch Homosexuelle lagen dem Mann mit den stahlblauen Augen und dem Autorennen-Tick zu Füssen. Seine Figur in «The Hustler» von 1961 (Bild), laut Martin Scorsese eine «griechische Tragödie in einem Billardsalon», brachte ihm die zweite von neun Oscar-Nominationen ein. Schade, dass er am Ende ausgerechnet mit Salatdressings und Guetzli Millionen machen musste ... Regula Freuler Ward Calhoun: Paul Newman. Hollywood Collection. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2010. 144 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Fr. 49.50. Sachbuch 1 Diogenes. 272 Seiten, Fr. 32.90. 2 Nagel & Kimche. 455 Seiten, Fr. 32.90. 3 Lübbe. 760 Seiten, Fr. 39.90. 4 Allegria. 304 Seiten, Fr. 29.90. 5 Ullstein. 203 Seiten, Fr. 27.50. 6 Blanvalet. 500 Seiten, Fr. 34.90. 7 Hanser. 363 Seiten, Fr. 37.50. 8 Ullstein. 698 Seiten, Fr. 39.90. 9 Diogenes. 498 Seiten, Fr. 38.90. 10 Hanser. 304 Seiten, Fr. 34.50. 1 Rowohlt. 384 Seiten, Fr. 33.80. 2 AT. 207 Seiten, Fr. 39.90. 3 Heyne. 415 Seiten, Fr. 34.90. 4 Giger. 184 Seiten, Fr. 35.90. 5 Nagel & Kimche. 111 Seiten, Fr. 17.90. 6 AT. 205 Seiten, Fr. 39.90. 7 Orell Füssli. 188 Seiten, Fr. 34.90. 8 Brockhaus. 275 Seiten, Fr. 35.50. 9 Goldmann. 397 Seiten, Fr. 27.50. 10 Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 50.50. Dan Brown: Das verlorene Symbol. William P. Young: Die Hütte. Helene Hegemann: Axolotl Roadkill. Sandra Brown: Ewige Treue. Arno Geiger: Alles über Sally. Jo Nesbø: Leopard. Paulo Coelho: Der Sieger bleibt allein. Herta Müller: Atemschaukel. Samstag, 27. März, 20 Uhr b-lesen: 2. Berner Lesenacht mit Erica Pedretti, Isabelle Stamm, Christoph Simon, Heinz Däpp, Peter Hänni, Fr. 15.–. Kornhausforum, Kornhausplatz, Info www.b-lesen.ch. Montag, 1. März, 19.30 Uhr Belletristik Milena Moser: Möchtegern. Roger de Weck: Nach der Krise. Gespräch mit Joh. Schneider-Ammann, Fr. 15.–. Uni, Hochschulstr. 4, Audimax, Vorverkauf Thalia, Tel. o31 320 20 20. Zürich Bestseller Februar 2010 Martin Suter: Der Koch. Mittwoch, 17. März, 19.30 Uhr Eckart von Hirschhausen: Glück kommt selten allein. Monika Stocker: He, dich kenne ich doch. Lesung. Volkshaus, Blauer Saal, Stauffacherstrasse 60, [email protected]. Donnerstag, 11. März, 20 Uhr Annemarie Wildeisen: Meine Expressküche. Carla Haas: Der Zweifel. Lesung, Fr. 20.–. Kulturmarkt im Zwinglihaus, Ämtlerstrasse 23, Tel. 044 454 10 10. Yangzom Brauen: Eisenvogel. Sonntag, 14. März, 17 Uhr Pascal Voggenhuber: Entdecke deinen Geistführer. Werner van Gent, Antonia Bertschinger: Iran ist anders. Gespräch, Fr. 15.–. Kanzlei, Kanzleistrasse 56, Info unter Tel. 044 405 44 85. Roger de Weck: Nach der Krise. Mittwoch, 17. März, 20 Uhr Donna Hay: Keine Zeit zum Kochen. René Zeyer: Zaster und Desaster. Guinness-Buch der Rekorde 2010. Richard D. Precht: Wer bin ich − und wenn ja, wie viele? Duden. Die deutsche Rechtschreibung, mit CD; 25. Aufl. Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 16. 2. 2010. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Isolde Schaad: Robinson und Julia. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00. Sonntag, 21. März, 17 Uhr Meir Shalev: Aller Anfang. Lesung, Fr. 15.–. Theater Neumarkt, Neumarkt 5, Vorverkauf Tel. 044 267 64 64. Bücher am Sonntag Nr. 3 erscheint am 28. 3. 2010 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 28. Februar 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 <wm>10CAsNsjY0MDAx1TWwtDA2MQYACueULA8AAAA=</wm> <wm>10CEWKOw6AMAxDT5TKaRrUkrGfqaoQIO5_FCIWbD0vz3OaBnzUvu5-GgNJCSVLEtOyuclRfBE9YOysLF5V-59UG13AAB5wONp4AUodOTZZAAAA</wm>