Umsetzung der »International Classification of Functioning
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Umsetzung der »International Classification of Functioning
Rentsch et al.: Umsetzung der ICF in die Alltagspraxis der Neurorehabilitation Originalarbeit Umsetzung der »International Classification of Functioning, Disability and Health« (ICF) in die Alltagspraxis der Neurorehabilitation Ein interdisziplinäres Projekt am Kantonsspital Luzern H. P. Rentsch, P. Bucher, I. Dommen-Nyffeler, C. Wolf, H. Hefti, E. Fluri, M. L. Bucher Koller, A. Deerpaul Krummenacher, M. Lenherr, I. Zumsteg, M. Fischer Abt. für Rehabilitation, Medizinische Klinik, Kantonsspital Luzern Zusammenfassung Die WHO überarbeitete in den letzen Jahren die internationale Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen (ICIDH). Das neue Konzept wurde im Mai 2001 von der Generalversammlung der WHO verabschiedet. Neu heißt sie im Englischen »International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)«. Die ICF umfaßt die funktionalen Aspekte der Gesundheit (Funktionsfähigkeit) und Behinderung einer Person, die mit der körperlichen und geistig/seelischen Verfassung der Person in Zusammenhang stehen. Das aktualisierte Konzept sieht grundlegende Neuerungen vor. Die drei Dimensionen werden nun ressourcenorientiert, positiv definiert. Neu wird auch der Einfluß der Umgebung auf die Behinderung erfaßt (Kontextfaktoren). Die Rehabilitationsarbeit auf der REHAB in Luzern soll in Zukunft auf der Grundlage der ICF erfolgen. Bereits während der Entwicklungsphase hat sich die Rehab stark mit der praktischen Umsetzung des neuen Konzepts befaßt. Wir stellen das Projekt, die damit verbundenen Zielsetzungen sowie die praktischen Umsetzungsschritte auf unserer stationären Neurorehabilitationsabteilung am Akutspital vor. Das umfangreiche Dokument der ICF wird auf ein vereinfachtes gemeinsames Raster für die drei Dimensionen und die Kontextfaktoren reduziert. Damit wird die systematische Anwendung durch das interdisziplinäre Rehabilitationsteam im Alltag möglich. Die in der Neurorehabilitation tätigen Fachbereiche bedienen sich für die Beschreibung der menschlichen Funktionen und Behinderungen einer standardisierten und einheitlichen Beurteilungsgrundlage und Sprache. Dies erleichtert die interdisziplinäre Kommunikation und die Dokumentation der Rehabilitationsverläufe. Wir sind deshalb überzeugt, daß die konsequente Umsetzung der ICF in die Alltagsarbeit zu einer Verbesserung der Qualität der Rehabilitationstätigkeit führt. Schlüsselwörter: ICF, neurologische Rehabilitation, Behinderung, Körperstruktur, Körperfunktion, Aktivitäten, Partizipation, Kontextfaktoren The implementation of the ICF in daily practice of neurorehabilitation H. P. Rentsch, P. Bucher, I. Dommen-Nyffeler, C. Wolf, H. Hefti, E. Fluri, M. L. Bucher Koller, A. Deerpaul Krummenacher, M. Lenherr, I. Zumsteg, M. Fischer Abstract WHO worked on a revision of the International Classification of Impairments, Disabilities, and Handicaps (ICIDH). In May 2001 the new version was officially implemented by the general assembly of the WHO in Geneva. The new term is »International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)«. The ICF system groups the functional states associated with health conditions and disability of a person. The actual concept of ICF provides several improvements. The three dimensions are defined in a positive manner. As a new aspect, the impact of the environment (contextual factors) on disability is recorded. ICF constitutes the theoretical framework for our future work in Lucerne. We present the project, the aims pursued, as well as the steps to implement the ICF in practical work at a unit for Neurorehabilitation in an acute care hospital. The extensive document of ICF was broken down to a simplified raster for the three dimensions and the contextual factors. This allows a common use in everyday work by the multiprofessional team and provides a unified and standard language and framework for description of human functioning and disability for communication and documentation. We are convinced that a consistent use of the ICF in everyday work improves the quality of the treatment in rehabilitation. Key words: ICF, neurological rehabilitation, disability, body functions, body structures, activities, participation, contextual factors Neurol Rehabil 2001; 7 (4): 171-178 Neurol Rehabil 2001; 7 (4): 171-178 Originalarbeit Rentsch et al.: Umsetzung der ICF in die Alltagspraxis der Neurorehabilitation Einleitung Am Kantonsspital Luzern wird eine Neurorehabilitationsabteilung mit 36 stationären und seit 1994 mit 5 teilstationären Rehabilitationsplätzen betrieben. Die Abteilung ist das anerkannte zentralschweizerische Erstrehabilitationszentrum für hirnverletzte und hirnerkrankte Menschen. Ein Team von erfahrenen und kompetenten Fachspezialistinnen und Fachspezialisten, die wohnortnahe Lage und die Vernetzung der Rehabilitationseinrichtungen von der Intensivstation bis zur sozialen und beruflichen Wiedereingliederung in die Wohnregion ermöglichen den hier behandelten Patienten und Patientinnen eine lückenlose Versorgung [1] (Abb. 1). Familie, Angehörige und die Wohn- und Lebenssituation werden mit Beginn der stationären Rehabilitation fest ins Rehabilitationskonzept einbezogen. Der Übergang vom ge-schützten stationären Umfeld in ambulante Rehabilita tionsmaßnahmen erfolgt kontinuierlich. Hausabklärungen und domizilorientierte therapeutische Interventionen werden bereits in die stationäre Behandlung integriert und die Zu-sammenarbeit mit nachbetreuenden Organisationen individuell aufgebaut. Berufliche Maßnahmen werden frühzeitig mit Berufsberatern der Invalidenversicherung abgesprochen. Damit wird ein nahtloser späterer Übergang zur beruflichen Rehabilitation gewährleistet. Der frühe Einbezug des persönlichen Lebensumfeldes des Patienten ins Rehabilitationsprogramm bedingt eine besonders enge, vernetzte Zusammenarbeit im interdisziplinären Rehabilitationsteam unter Beteiligung des Patienten und seiner Angehörigen. Partizipationsziele müssen schon in den ersten Rehabilitationsphasen unter Berücksichtigung des konkreten Kontextes erarbeitet werden und in die Rehabilitationsplanung einfließen. Planung und Durchführung einer derartig vernetzten Rehabilitation stellen hohe Anforderungen an die Interaktionsfähigkeiten des Rehabilitationsteams. Für den Aufbau einer gemeinsamen Kommunikationsbasis und eines systematisierten Pla- nungsvorgehens erwies sich die ICF als sehr hilfreich. Die klare Trennung zwischen den ursprünglichen Ebenen des Schadens, der Fähigkeitsstörungen und der Be-einträchtigung bewog uns schon frühzeitig, unsere konzeptionelle Arbeit im klinischen Alltag danach auszurichten [2]. Als erstes wurde ein Sprachrehabilitationskonzept für Aphasiepatienten erarbeitet und in Assessment wie Therapie konsequent umgesetzt. Eine Publikation erfolgte 1997 [3]. Die Ideen des revidierten WHO-Konzeptes (ICF), welches nun neu auch die Kontextfaktoren miteinbezieht, wurden aufgenommen und der Beschluß gefaßt, in einer Projektarbeit den ganzen Rehabilitationsbetrieb in Luzern systematisch auf die ICF umzustellen [4]. Ziele der WHO ICF-Nomenklatur ICIDH (International Classification of Impairment, Disability and Handicap): WHO-Klassifikation von 1980 ICIDH-2: Bezeichnung ICIDH während des Überarbeitungspro-jektes ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health): Neue Namensgebung der von der WHO im Mai 2001 in Genf verabschiedeten neuen Fassung In diesem Artikel wird der Begriff ICIDH für die erste Klassifikation von 1980, der Begriff ICF für die 2001 verabschiedete Fassung und die vorangehende Projektphase (damals ICIDH-2 genannt) verwendet. 1980 wurde von der WHO die ICIDH publiziert [2]. Sie befaßt sich mit der Problematik der gesundheitlichen Folgen bei Menschen mit chronischen Erkrankungen oder bleibenden Behinderungen. In dieser Situation hilft ein stark kurativ orientiertes Denken nicht weiter. Das neu überarbeitete Klassifikationskonzept umfaßt drei Dimensionen und zudem Kontextfaktoren [4]: Akutspital Tagesrehabilitation Stationäre Rehabilitation Domiziltherapie Ambulante Rehabilitation Berufliche Rehabilitation Soziale Eingliederung Berufliche Eingliederung Abb. 1: Zentralschweizerisches Rehabilitationskonzept für Menschen mit Hirnerkrankungen und Hirnverletzungen Neurol Rehabil 2001; 7 (4): 171-178 Rentsch et al.: Umsetzung der ICF in die Alltagspraxis der Neurorehabilitation 1. Körperfunktion und -struktur: Körperfunktion und- Struktur beschreiben die Dimension des Körpers. Ein Schaden ist ein Verlust oder eine Abnormität der Körperstruktur oder einer physischen oder psychischen Funktion. 2. Aktivität: Eine Aktivität ist die Art und das Ausmaß der gesundheitlichen Integrität auf der Ebene der Person als handelndes Subjekt. Eine Aktivität kann in Art, Dauer und Qualität gestört sein. Beschrieben werden Aktivitäten des täglichen Lebens. Das Betrachtungsfeld ist der Funktionsverlust auf der Ebene der Person als Ganzes. 3. Partizipation: Unter Partizipation versteht man die Art und das Ausmaß des Einbezogenseins einer Person in Lebensbereiche in bezug auf Körperfunktionen, Aktivitäten, gesundheitliche Situation und Kontextfaktoren. Die Partizipation kann in Art, Dauer und Qualität eingeschränkt sein. Sie ist charakterisiert durch das Einbezogensein in die Vielfalt der Lebensituationen. Das Betrachtungsfeld ist die soziale Ebene. Auf dieser Ebene geht es auch um Krankheitsbewältigung (Coping) und um die Reaktion der Gesellschaft auf Krankheit und Behinderung (gesellschaftliche Benachteiligung). 4. Kontextfaktoren: Die Kontextfaktoren bilden den gesamten Hintergrund des Lebens und der Lebensweise einer Person, der durch äußere umweltbedingte Faktoren und innere persönliche Faktoren bestimmt wird. Die Umweltfaktoren sind charakterisiert durch Merkmale der physikalischen und so-zialen Umwelt sowie deren Einstellungen. Die ICF verfolgt die folgenden Hauptziele: 1. Sie stellt eine gemeinsame Sprache für die Beschreibung der Funktionsfähigkeit zur Verfügung, um die Kommunikation zwischen Fachleuten im Gesundheits- und Sozialwesen, insbesondere in der Rehabilitation, sowie den Menschen mit Behinderungen zu verbessern. 2. Sie liefert eine wissenschaftliche Grundlage für das Verständnis und das Studium von Zuständen der Funktionsfähigkeit. 3. Alle modernen Definitionen des Begriffs der Rehabilitation basieren auf der ICF. Die Wiederherstellung oder wesentliche Besserung der Funktionsfähigkeit insbesondere in den Dimensionen der Aktivitäten (Leistungsfähigkeit) und der Partizipation (Teilhabe in Lebensbereichen) einer Person ist die zentrale Aufgabe der Rehabilitation. Daher ist die ICF für die Rehabilitation bei der Feststellung des Bedarfs, der funktionalen Diagnostik, des Rehabilitations-Managements, der Interventionsplanung und der Evaluation rehabilitativer Maßnahmen unverzichtbar. 4. Der Abbau von Hemmnissen in der Gesellschaft und physikalischen Umwelt, die die Partizipation erschweren oder unmöglich machen, und der Ausbau von Schutzfaktoren und Erleichterungen, die die Partizipation trotz erheblicher gesundheitlicher Beeinträchtigungen wie- Neurol Rehabil 2001; 7 (4): 171-178 Originalarbeit derherstellen oder unterstützen, sind wichtige Aufgaben der Gesundheits- und Sozialpolitik sowie der Behinderten- und Menschenrechtspolitik. Zielsetzungen der REHAB Luzern Die gedankliche Auseinandersetzung mit den Grundlagen der ICF und die positiven Erfahrungen beim Umsetzen des ICF-Konzeptes in Diagnostik und Therapie bei der Aphasierehabilitation ermunterte uns, mit solchen Ansätzen auch in den anderen Fachbereichen zu experimentieren. Als Resultat der gemeinsam geführten Diskussionen reifte der Beschluß, die ICF als Grundlage für Assessment, interdiszi plinäre Kommunikation, Rapportwesen, Rehabilitations planung und Dokumentation in allen Fachbereichen einzuführen. Eine Projektplanung wurde in Angriff genommen. Dabei wurden folgende Ziele definiert: 1. Die ICF soll konsequent angewendet werden zur Feststellung des Rehabilitationsindikation, der funktionellen Diagnostik, der Interventionsplanung und der Eva luation rehabilitativer Maßnahmen. 2. Der Dimension der Partizipation soll eine zentralere Bedeutung zukommen, die Kontextfaktoren sollen schon frühzeitig stärker in die Rehabilitationsarbeit miteinbezogen werden. 3. Es soll eine gemeinsame, ICF-konforme Sprache und Nomenklatur in den verschiedenen Fachbereichen entwickelt und in interdisziplinären Rehabilitationsrapporten und unseren Dokumentationen konsequent eingesetzt werden. 4. Die Rehabilitationsplanung soll dementsprechend neu erarbeitet, strukturiert und dann umgesetzt werden. 5. Die Dokumentation in allen Fachbereichen soll vereinheitlicht werden und konsequent auf den ICF-Dimensionen aufbauen. 6. Die Gestaltung und Gewichtung der Inhalte der Rehabilitationsrapporte wird neu überdacht und neu konzipiert. 7. Die verwendeten Assessments sollen ICF-konform sein. 8. Die Berichterstattung soll vereinheitlicht werden. Projektbeschreibung und Projektablauf (Abb. 2) 1. Projektphase 1998/1999 In der ersten Phase werden die Erfahrungen mit der Aphasierehabilitation analysiert und die Zielsetzungen für das Gesamtkonzept formuliert. Parallel dazu geht es darum, das Kader mit der ICF vertraut zu machen. Dies geschieht in Form von Workshops, die interdisziplinär einmal monatlich stattfinden. Die Veranstaltungen sind patienten- und praxisorientiert. Es werden aktuelle Fallbeispiele vorgestellt und diskutiert. Das Thema wird zusätzlich an Rehabinternen Fortbildungen aufgegriffen. Eine Projektplanung mit zeitlichen Fixpunkten wird erarbeitet. Originalarbeit Rentsch et al.: Umsetzung der ICF in die Alltagspraxis der Neurorehabilitation 2. Projektphase 1999/2001 Die zweite Phase enthält verschiedene Teilprojekte. Diese beinhalten die folgenden Aspekte: Erarbeitung eines Grund rasters im Sinne eines relevanten Auszugs aus der ICFKlassifikation, MitarbeiterInnenschulung, freie Anwendungsversuche in den verschiedenen Fachbereichen, Konsequente Abfassung der ärztlichen Konsiliarberichte gemäß ICF-Kriterien und Ausarbeitung eines domzilorientierten interdisziplinären Rehabilitationskonzeptes mit Einbezug der Entlassungsplanung (DOR). ICF-Grundraster zum Gebrauch im interdisziplinären Team und in den Fachbereichen Das Kader der Rehab bearbeitete in 6 Workshops die Beta-2-Version der ICF. Es definierte ein auf die Neurorehabilitation bezogenes vereinfachtes Grundraster für die Dimensionen Körperfunktionen, Aktivitäten, Partizipation sowie für die Kontextfaktoren. Vorbereitet wurden diese Workshops durch eine aus dem Kader gebildete Kerngruppe. Die Workshopteilnehmer setzten sich zusammen aus Ärzten, Pflegepersonen, PhysiotherapeutInnen, ErgotherapeutInnen, einem Neuropsychologen, einer Sprachtherapeutin und einem Sozialarbeiter. Aus dem umfangreichen WHO-Dokument wurde ein für die Neurorehabilitation vereinfachte Grundraster herausfiltriert, das folgende Voraussetzungen erfüllen mußte: – Verwendung der zentralen Begriffe, die in der stationären und poststationären Rehabilitation für alle Fachbereiche von Bedeutung sind, – Reduktion der im Originaldokument enthaltenen ItemVielfalt auf eine vereinfachte, übersichtliche und für alle in der Rehabilitation Tätigen einfach anwendbare Nomenklatur, – klare Beziehung der Begriffe zum WHO-Originaldokument. Das Resultat wurde von allen gut akzeptiert und für sinnvoll erachtet als Grundlage für die interdisziplinäre Kommunikation. Dieses Grundraster deckt die gemäß unserer Erfahrung für den Alltag in der Neurorehabilitation wichtigsten Aspekte der Körperfunktionen, Aktivitäten, Partizipation und Kontextfaktoren ab. Insgesamt wurden für die Phase 1 1997/1998 Aphasierehabilitation Anwendung Erfahrungen Kaderschulung Workshops patientenorientiert Phase 2 1999/2001 DOR MitarbeiterInnenschulung ICF Grundraster DomizilorientiertesInterdisziplinäre WorkshopsErarbeitung durch Reha-KonzeptREHAB-interne FortbildungenRehabkader, Auszug aus interdisziplinäre ICF-Klassifikation Entlassungsplanung Stand der Projektarbeiten Anwendungsversuche Ärztliche Konsiliarberichte FachbereicheAbfassung nach bei bestehendenICF-Kriterien Strukturen Erfahrungsaustausch Rapporte/Dokumentation Fachraster KommunikationICF-konforme Neugestaltung Fachbereiche internInhalte, Gewichtung vertiefen Grundraster externAssessmentinstrumentegemäß eigenen Bedürfnissen Vernehmlassung REHAB-Kader Beschlußfassung Pilotversuche Pilotversuche MitarbeiterInnenschulung PilotrapporteRapportsystem Erproben der Dokumentation Dokumentation Berichte Phase 3 2002 Einführung Rapport-, Dokumentationssystem Phase 4 2002 Evaluation und Verbesserungen Assessmentinstrumente Abb. 2: ICF Umsetzung auf der REHAB des Kantonspitals Luzern. Projektablauf Neurol Rehabil 2001; 7 (4): 171-178 Originalarbeit Rentsch et al.: Umsetzung der ICF in die Alltagspraxis der Neurorehabilitation Dimension Körperfunktion 39, die Aktivitätendimension 28, die Partizipationsdimension 23, die umgebungsbedingten Kontextfaktoren 6 und die persönlichen Kontextfaktoren 15 Hauptbegriffe übernommen. Zur genaueren Differenzierung sind diese Hauptbegriffe teilweise noch in Unterbegriffe aufgeteilt (Tab. 1). Hauptbegriffe Als Beispiel sei die Dimension der Aktivitäten kurz dargestellt und kommentiert (Abb. 3). Die neun in der ICF beschriebenen Ebenen wurden mit ihren offiziellen deutschsprachigen Bezeichnungen übernommen. Die ausführlichen Unterteilungen in verschiedenste Aktivitäten im Originaldokument wurden durch die Projektgruppe Unterbegriffe Assessment (Beispiele) Code Körperposition beibehalten/-Beibehalten der Körperhaltung WHODAS d415 verändern (sitzen, liegen, stehen etc.) Körperposition ändern WHODAS stand up and go d410 (aufstehen, abliegen, absitzen etc.) sich verlagern (Transfer) FIM, Stand up and go, Tinetti, WHODAS d420 Gegenstände tragen, bewegen,Gegenstand anheben, tragenNottingham EATL handhaben grober Hand-/Armgebrauch Feinmotorische Aktivitäten der HandNine Hole Peg Test d430 d445 d440 Gehen d450 kurze Distanzen FIM, WHODAS, Timed Walking Test lange Distanzen (> 1km) WHODAS, Nottingham EATL verschiedene Oberflächen,GeländeNottingham EATL andere FortbewegungsartTreppensteigen/Klettern FIM, Nottingham EATL d455 AusstattungRollstuhl Hilfsmittel (Stock, Rollator etc) FIM FIM d465 Fortbewegung an verschiedenen Orten im eigenen HausNottingham EATL in fremden Häusern d460 außerhalb von HäusernNottingham EATL Fortbewegen mit Transportmittel als Fahrgast privatNottingham EATL als Fahrgast öffentlichNottingham EATL d470 Tab. 1: Grundraster Neurorehabilitation: Dimension: Aktivitäten/Partizipation, Ebene: Mobilität Aktivitäten/Partizipation Lernen, Wissen Anwenden –bewußte sensorische Aktivitäten –Problemlösung –Entscheidung – Aufmerksam sein – Nachahmen – Üben –sich Fertigkeiten aneignen Aufgaben, Ansprüche Kommunikation – Aufgabe lösen – mehrere Aufgaben koordiniert lösen – tägliche Routine durchführen – mit Streß/psychischer Belastung –Körperpositi- –Waschen, –Verstehen on beibehal- Duschen –Mitteilen ten/verän–Essen, Trin–Kommunikation mit dern ken Geräten –Gehen – Körperteile –Telekommu- –andere Art pflegen nikation der Fortbe–Ankleiden, wegung Auskleiden – Gegenstän- –Toilettenakde tragen, tivitäten bewegen, – auf Gesundhandhaben heit achten – Fortbewegung mit Ausstattung (Rollstuhl) – F. an versch. Orten Bewegung, Mobilität Selbstversorgung Abb. 3: ICF Grundraster Neurorehabilitation: Aktivitäten/Partizipation Neurol Rehabil 2001; 7 (4): 171-178 häusliches Leben Interaktionen, Beziehungen bedeutende Lebensberei- –Wohnen, –allgemeine –Bildung, Aus- –gemein- Unterkunft interperso–Erwerb, nelle AktiviZubereitung täten von Gütern –besondere – Haushaltsakinterpersotivitäten nelle Aktivi– Sorgen für Haushaltsgegenstände – für andere sorgen Gemeinschaft, Soziales, staatsbürgerliches Leben bildung schaftliches –ErwerbsarLeben beit, Beschäf- –Freizeit tigung –Staatsbür– wirtschaftligerschaft Originalarbeit Rentsch et al.: Umsetzung der ICF in die Alltagspraxis der Neurorehabilitation bearbeitet und auf das für die stationäre und unmittelbar poststationäre neurorehabilitative Behandlung notwendige Minimum reduziert. Im folgenden sei dies exemplarisch anhand der Beispiele »Lernen und Wissen anwenden« und »Kommunikation« etwas genauer aufgezeigt. Wir kamen im Projektteam zum Schluß, daß aufgrund der klinischen Alltagserfahrungen während der stationären Rehabilitation die Ebene »Lernen und Wissen anwenden« normalerweise mit den folgenden Unterbegriffen beschrieben werden kann: Zielgerichtete sensorische Aktivitäten, Problemlösung, Entscheidungen treffen und Wissen anwenden. »Kommunikation« kann im klinischen Alltag auf die Tätigkeiten Verstehen, Kundgabe, Gespräche führen (einzeln und in Gruppen) sowie für diesen Zweck notwendige Hilfsmittel reduziert werden. Im gleichem Sinne wurden die anderen Ebenen intensiv aufgearbeitet und ein ICFkonformes, vereinfachtes Raster zur Schulung und Anwendung für die Rehab-MitarbeiterInnen festgelegt. Mit den Dimensionen Körperfunktionen, Partizipation und mit den Kontextfaktoren wurde genauso verfahren. Tabelle 1 zeigt die von uns gewählte Unterteilung der beiden Ebenen »Elementare Bewegungsaktivitäten« und »Fortbewegung« in Hauptbegriffe und dazugehörige Unterbegriffe. Damit soll eine Hilfe zur präziseren Beschreibung der Aktivitätsebenen geleistet werden. Wir sind der Meinung, daß die gewählten Begriffe ausreichen, um dem Rehab-Gesamtteam eine qualitativ gute Beobachtung und Beschreibung der Aktivitäten des Patienten zu ermöglichen. Das Raster gibt uns auch eine Übersicht über die Zuordnung der Meßgrößen der eingesetzten Assessmentinstrumente und der ICF-Codenummern. Es war dem Projektteam aber auch klar, daß die Spezialdisziplinen zur Beschreibung ihrer Befunde fachbezogene ergänzende Erweiterungen benötigten. Im Auftrag der Projektleitung erhielt jeder Fachbereich die Aufgabe, anhand der ICF-Vorgaben das Grundraster für den eigenen Bereich fachspezifisch zu ergänzen. Erweiterung des Grundrasters durch Fachraster: Nach Abschluß der Arbeiten am Grundraster erhielten die Fachbereichsleitungen den Auftrag, mit ihren Teams notwendige ergänzende Erweiterungen des allgemeingültigen Grundrasters für den eigenen Fachbereich zu erarbeiten. Diese Fachraster vertiefen die ICF-konforme Anwendung im Spezialbereich. Dies soll am praktischen Beispiel anhand der Aktivitätenebene »Fortbewegung« erläutert wer den (Abb. 4). Für die Tätigkeit »Gehen« erachten wir die folgenden Beobachtungsebenen für alle Teammitglieder als relevant: Gehen über kurze Distanzen, über lange Distanzen, auf verschiedenen Oberflächen, Treppensteigen und Gehen mit Hilfsmitteln (Rollstuhl, Gehhilfen etc). Für die Physiotherapie muß dieses Grundraster erweitert werden. Es müssen auch das Gehen über Hindernisse und weitere Fortbewegungsarten wie Kriechen, Klettern, Rennen, Springen und Schwimmen mitbeurteilt werden. Die phy siotherapeutischen Fachraster müssen um diese Begriffe erweitert werden. Eine ähnliche Erweiterung erfährt das Grundraster für Fortbewegung mit Transportmitteln, das zwischen den Möglichkeiten der Benutzung eines Transportmittels als Passagier und als Fahrer unterscheidet. Ergänzende Fachraster für Physio- und Ergotherapie sind bei Benutzung als Passagier: menschenbetriebene, private und Massentransportmittel. Die Erweiterungen bei Benutzung als Fahrer sind: menschenbetrieben, motorisiert und das Reiten. MitarbeiterInnenschulung und Anwendungsversuche: Parallel zur Grundrasterentwicklung erfolgt eine systematische Grundinformation der MitarbeiterInnen des Rehabteams über die ICF und ihre Ziele. Diese Information erfolgt anhand von interdisziplinären Workshops und über Mitarbeiterorientierung und Schulung durch die Teamleitungen. Dabei werden alle Teammitglieder ermuntert, die Fortbewegung interdisziplinär Gehen Grundraster interdisziplinär –kurze Distanzen –lange Distanzen –verschiedene Oberflächen –mit Hilfsmitteln –Ausrüstung (Rollstuhl) –Treppensteigen Transportmittel Fachraster Physiotherapie Ergotherapie ergänzend Hindernisse andere Fortbewegungsarten –Kriechen –Klettern –Rennen –Springen –Schwimmen Grundraster interdisziplinär als Passagier benutzen Grundraster interdisziplinär als Fahrer benutzen Fachraster Physiotherapie Ergotherapie ergänzend Fachraster Physiotherapie Ergotherapie ergänzend –menschenbetrie–menschenbetrieben –privates Transportmit- ben –motorisiert tel Abb. 4: ICF: Ausschnitt Mobilität: Aufbau des Grund- und Fachrasters Neurol Rehabil 2001; 7 (4): 171-178 Rentsch et al.: Umsetzung der ICF in die Alltagspraxis der Neurorehabilitation Begriffe der ICF bei aktuellen Rehabilitationsbesprechungen und in ihrer Dokumentation anzuwenden, auch wenn noch keine Perfektion gewährleistet ist. Ärztliche Konsiliarberichte: Seit Anfang 1999 werden sämtliche ärztlichen Konsiliarberichte konsequent nach der ICF-Klassifikation abgefaßt. Dies führt zu Vertrautheit mit den Grundbegriffen im Rehabilitationsteam. Domizilorientiertes Rehabilitationskonzept (DOR): Die intensive Beschäftigung mit den Grundlagen der ICF hat bewirkt, daß eine Neuerarbeitung der Entlassungsplanung und der therapeutischen Gestaltung der sozialen Reintegrationsphase in Angriff genommen wurde. Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe war verantwortlich für die Konzeptarbeit und die spätere Umsetzung in den Alltag. Ziele der DOR sind: 1. Erreichen der Selbständigkeit in bezug auf Alltagsaktivitäten im gewohnten oder neuen sozialen Umfeld mit dem Ziel einer guten Lebensqualität. 2. Ermöglichen einer Auseinandersetzung mit der Realität zu Hause für die Betroffenen und deren Bezugspersonen. In der Domizilorientierten Rehabilitation (DOR) während der stationären Phase stehen nicht die Funktions-/Strukturdimension der betroffenen Person, sondern die Dimension der Aktivitäten, die Kontextfaktoren sowie die Partizipationsdimension im Vordergrund. Die betroffenen Personen können die im Verlaufe der Rehabilitation wiedererworbenen Aktivitäten unter Anleitung im persönlichen Umfeld ausprobieren und anpassen. Die Kontextfaktoren (z. B. Familienmitglieder, räumliche Bedingungen) werden in die Therapie miteinbezogen. Dies erhöht die Chancen einer möglichst guten Partizipation in den verschiedenen Lebens bereichen. Das Konzept »Domizilorientierte Rehabilitation während der stationären Phase« (DOR) befaßt sich mit der Patientengruppe, deren Reintegration Interventionen von TherapeutInnen und/oder Pflegepersonen im persönlichen Umfeld des Betroffenen erfordert, unter Einbezug von weiterbetreuenden Personen oder Institutionen. Diese Domiziltherapie kann je nach Problemstellung durch eine Berufsgruppe oder interdisziplinär erfolgen und unterliegt einer klaren Indikationsstellung. Bei einer als realistisch eingeschätzten Reintegration wird die DOR ins stationäre Rehabilitationsprogramm als Vorbereitung des Übergangs in den Alltag integriert. Die Indikation ist gegeben: ■bei PatientInnen mit starken Einschränkungen auf der Aktivitätenebene und/oder erschwerenden Kontextfaktoren ■bei fehlender Möglichkeit, die Reintegration über eine ambulante Nachbetreuung oder mit Hilfe von Angehörigen durchzuführen. Bei einer fraglichen Reintegrierbarkeit ist eine sehr limitierte DOR im Sinne eines Assessments angezeigt, um die notwendigen Entscheidungsgrundlagen zu liefern. Neurol Rehabil 2001; 7 (4): 171-178 Originalarbeit Rehabilitationsbesprechungen und Dokumentation: Seit April 2000 arbeitet eine Projektgruppe an diesem Thema. Ihr Ziel ist es, den Inhalt und dessen Gewichtung, die Organisation, die Strukturierung, den Ablauf sowie die Dokumentation der Rehabilitationsbesprechungen festzulegen. Im Sommer 2001 lagen folgende Ergebnisse vor: ■Inhalt und Gewichtung: Informationen über den Rehabilitanden, ausgerichtet an den verschiedenen ICF-Dimensionen, die zur Definierung des Rehabilitationsziels notwendig sind. Besonderes Gewicht wird auf eine frühzeitige und gründliche Erfassung der Kontextfaktoren gelegt. Das Rehabilitationsziel auf der Partizipationsebene wird gemeinsam mit dem Patienten und seinen Angehörigen erarbeitet. Es werden klar definierte Zwi schenziele festgelegt. Die notwendigen Maßnahmen, die Kriterien zur Evaluation und das Datum der nächsten Folgebesprechung werden abgesprochen. ■Organisation, Strukturierung und Ablauf: Die Aufgaben der Gesprächsleitung und der einzelnen Fachbereiche am Rapport, der Ablauf und die Zeitdauer der Besprechungen sind festgelegt. ■Dokumentation: Die neu strukturierte Protokollierung ist aufgebaut. Sie enthält den aktuellen Funktionszustand, die Überprüfung der Zielerreichung, die Rehabilitationsplanung mit Ziel- und Maßnahmenformulierung und die Festhaltung abgesprochener Termine. Erfahrungsaustausch: Wir suchen den Erfahrungsaustausch mit anderen Institutionen, welche ICF-Projekte verfolgen. Dabei erhoffen wir uns weitere Ideen und Inputs für unser laufendes Projekt. Vernehmlassung/Pilotversuche/MitarbeiterInnenschulung: Die Resultate der Arbeitsgruppe werden in die einzelnen Fachteams zur Vernehmlassung gegeben. Daraus soll das definitive Rapport- und Dokumentationskonzept erarbeitet und an Musterrapporten im Sinne von Pilotversuchen evaluiert werden. Aufgrund der gemachten Erfahrungen erfolgen noch letzte Anpassungen, bevor die Anwendungsschulung der MitarbeiterInnen durchgeführt wird. 3. Projektphase 2001 Nach Erscheinen der offiziellen Deutschübersetzung der ICF wird ab dem 1.1.2001 das Rapport-, Dokumentations- und Berichtsystems in die klinische Alltagsarbeit eingeführt. 4. Projektphase: Parallel zu der Einführung läuft eine Evaluation des Rapport- und Dokumentationswesens. Notwendige Anpassungen sind aufgrund der gemachten Erfahrungen im zweiten Halbjahr des Jahres 2002 geplant. Originalarbeit Rentsch et al.: Umsetzung der ICF in die Alltagspraxis der Neurorehabilitation Konklusion Das Luzerner Rehabilitationsteam steht am Ende der Projektarbeit. Nach dem Abschluß der Arbeiten am Grund raster sind wir alle überzeugt, daß die Einführung der ICF-Sprachregelung als Basis für die Kommunikation, Dokumentation und Berichterstattung in allen Fachbereichen die Qualität der Fach- und Teamarbeit verbessern und das gegenseitige Verständnis im interdisziplinären Arbeitsprozeß fördern wird. Die Rehabilitationsrapporte können in Zukunft strukturierter und interaktiver gestaltet werden. Es werden Grundlagen vorliegen, um Aussagen, Planungen und Zielsetzungen kürzer, aber klarer und verständlicher zu kommunzieren. Die Rehabilitation mit ihren Interventionsebenen und die durch den Rehabilitationsprozeß bewirkten Gewinne können besser sichtbar gemacht werden. Die Kommunikation und Berichterstattung wird strukturierter und für den Informationsempfänger verständlicher. Die Aufarbeitung der ICF-Grundlagen hat in unserem inter-disziplinären Team bereits in der Projektphase zu einer Vertiefung der Basiserkenntnisse und des Verständnisses des Rehabilitationsprozesses geführt. Die Rehabilitationszielsetzungen und Rehabilitationsplanungen werden be-reits heute wesentlich systematischer und zielorientierter vorgenommen. Die Partizipationsdimension und das Um-feld, d. h. die Kontextfaktoren, werden frühzeitig wahrgenommen und in die Rehabilitationszielsetzung und das Be-handlungskonzept eingebaut. Literatur 1. Rentsch H: Rehabilitation des hirnverletzten Menschen: Das Luzerner Rehabilitationskonzept. Rehabilitation (SAR) 1993; 1: 11 2. Matthesius RG, Jochheim KA, Barolin S, Heinz C: In: ICIDH, International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps, Teil 1: Bedeutung und Perspektiven, Teil 2: Internationale Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen. Ein Handbuch zu Klassifikation der Folgeerscheinungen der Erkrankung, übersetzt von R.G. Matthesius. Ullstein Mosby, Berlin/Wiesbaden 1995 3. Bucher PO, Zumsteg I, Rentsch HP: Sprachrehabilitation bei Aphasie im Konzept der Internationalen Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen (ICIDH). Rehabilitation 1997; 36: 238-243 4. ICIDH-2: International Classification of Functioning, Disability and Health, prefinal draft, full version, World Health Organisation, Geneva December 2000 Korrespondenzadresse: Dr. med. H. P. Rentsch Abt. f. Rehabilitation Kantonsspital Luzern CH-6000 Luzern 16 e-mail: [email protected] Neurol Rehabil 2001; 7 (4): 171-178