Eine neue AERA in Thüringen
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Eine neue AERA in Thüringen
Eine neue AERA in Thüringen Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. ISF München Klaus Schmierl Eine neue AERA in Thüringen Einführung und Umsetzung des Entgeltrahmenabkommens in ausgewählten Pilotbetrieben ISF München Forschungsberichte Das diesem Buch zugrunde liegende Vorhaben „Sozialwissenschaftliche Begleitforschung zur ERA-Einführung im Bereich der Metall- und Elektroindustrie Thüringens“ wurde im Zeitraum zwischen dem 1. April 2005 und dem 31. Mai 2008 mit Mitteln der Otto Brenner Stiftung, Frankfurt am Main gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt liegt beim Autor. Die Reihe ISF Forschungsberichte wird herausgegeben vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. – ISF München ISBN 978-3-938468-07-4 Copyright © 2008 ISF München Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Instituts ist unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Lektorat: Frank Seiß, ISF München Layout und Satz: Karla Kempgens, ISF München Druck und Bindung: Druckerei Novotny, 82319 Starnberg Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung 7 1. Einleitung: Die Bedeutung von ERA für die Metall- und Elektroindustrie 9 2. Hypothesen und Methodik der Begleitforschung 2.1 Fragestellungen im Projekt 2.2 Arbeitsprogramm 2.3 Auswahl des Untersuchungsfeldes und methodisches Vorgehen 13 15 18 19 3. Kennzeichen des Entgeltrahmenabkommens für Thüringen 3.1 Eingruppierung und Entgeltgruppen 3.2 Grundsätze der Entgeltgestaltung 23 24 26 4. „Leuchttürme“ der ERA-Einführung: Zu den Pilotunternehmen 31 5. Empirische Befunde zur ERA-Einführung in den Pilotbetrieben 5.1 Meilensteine des Vorbereitungs- und Einführungsprozesses 5.2 Konkrete Vorgehensweisen und Besonderheiten bei der ERA-Einführung und -Umsetzung 5.3 Tarifliche Entsprechung und Kennzeichen der neuen Eingruppierung 5.4 Besondere Probleme der Tarifvertragsanwendung bei der Eingruppierung 5.5 Verfahren und Verhandlungsfälle in der Paritätischen Kommission 5.6 Entgeltgrundlagen: Einführungsprozess und Kennzeichen 33 33 6. 34 40 43 50 53 Betroffenheit unterschiedlicher Beschäftigtengruppen 6.1 Antizipation von Vor- oder Nachteilen durch die Belegschaft 6.2 Wirkungen der veränderten Eingruppierungsrelationen auf unterschiedliche Beschäftigtengruppen 6.3 Begünstigte Beschäftigtengruppen 6.4 Benachteiligte Beschäftigtengruppen 6.5 Konflikte und Proteste seitens der Beschäftigten 60 60 62 64 65 69 7. Organisatorische Implikationen und Folgen sowie offene Regelungsfelder 72 8. Gewerkschafts- und Betriebsrats-Rückhalt: Solidarisierung versus Distanzierung 76 9. Gesamtbewertung von ERA: Vor- und Nachteile aus Sicht der Befragten 9.1 Zielsetzungen 9.2 Vorteile von ERA 9.3 Nachteile von ERA 81 81 85 86 5 10. Resümee: Arbeits- und verbandspolitische Perspektiven durch ERA 10.1 Wechselwirkung zwischen Lohnsystemen und der Etablierung neuer Arbeitsformen 10.2 Gegenbewegung zur Erosion des Tarifvertragssystems? 10.3 Restrukturierung kollektiver institutionalisierter Interessenvertretung versus Verbetrieblichung 87 100 11. Zusammenfassung der Kernbefunde 104 Anhang 109 Literaturverzeichnis 111 89 91 Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen Abbildung 1: Das alte Lohn- und Gehaltssystem und das ERA-System des gemeinsamen Entgelts im Überblick 26 Abbildung 2: Tarifliches Verfahren der Leistungsbeurteilung 27 Abbildung 3: Exemplarische Bezugsgrößen im Leistungsentgelt mit Kennzahlenvergleich 28 Abbildung 4: Zulässige Ziele im Leistungsentgelt mit Zielvereinbarung 29 Abbildung 5: Beispiel für eine Zielvereinbarung 30 Abbildung 6: Schematische Darstellung des Prinzips der Über- und Unterschreiter 46 Abbildung 7: Tarifliches Verfahren bei Widersprüchen gegen die Eingruppierung und die Rolle der Paritätischen Kommission 51 Tabelle 1: Kennziffern für die Metall- und Elektroindustrie Thüringen 20 Tabelle 2: Meilensteine der ERA-Vorbereitung und Einführung in den Untersuchungsbetrieben 34 Tabelle 3: Beispiel eines Überschreiters 47 Tabelle 4: Verrechnung mit den Tariferhöhungen beim Überschreiter 47 Tabelle 5: Einmalige Verrechnung mit dem ERA-Start beim Unterschreiter 48 Tabelle 6: Verrechnung mit zwei Tariferhöhungen beim Unterschreiter 49 Tabelle 7: Zeitschiene zur Anpassung der Entgeltgrundlagen in den Untersuchungsbetrieben 53 6 Vorbemerkung Der vorliegende Bericht stellt wesentliche Ergebnisse des Projekts „Sozialwissenschaftliche Begleitforschung zur ERA-Einführung im Bereich der Metallund Elektroindustrie Thüringens“ dar, das im Auftrag der Otto Brenner Stiftung, Frankfurt/Main und Berlin, vom Frühjahr 2005 bis zum Frühjahr 2008 bearbeitet wurde. Die sozialwissenschaftliche Begleitforschung wurde vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. – ISF München in Abstimmung mit der IG Metall Bezirksleitung in Frankfurt und dem Thüringer Arbeitgeberverband VMET in Erfurt sowie dem Institut der Wirtschaft Thüringens (IWT) in Erfurt durchgeführt. Mit den vorliegenden Ergebnissen werden am Beispiel von drei Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie Thüringens exemplarische Verlaufsformen der Einführung des neuen Entgeltrahmenabkommens (ERA) im Tarifgebiet Thüringen dargestellt. Es wird auf besondere Einführungsprobleme, spezifische Betroffenheiten von Belegschaftsgruppen und Vor- und Nachteile des ERA für diese eingegangen. Bei den analysierten Unternehmen handelt es sich um Vorreiterunternehmen, die als „Leuchttürme“ in den letzten beiden Jahren ERA in Thüringen als Erste eingeführt und umgesetzt haben. Der Dank des Projektbearbeiters und Autors Klaus Schmierl gilt in erster Linie den zahlreichen Gesprächspartnern in den drei Untersuchungsunternehmen, die viel Zeit und Offenheit für die Experteninterviews und Gruppendiskussionen aufgebracht und die ForscherInnen mit umfangreichem Material versorgt haben. Ohne ihr Entgegenkommen, ihr Engagement und ihre Bereitschaft, wiederholt für Fragen und Nachfragen zur Verfügung zu stehen, wären die wissenschaftlichen Auswertungen nicht möglich gewesen. Der Autor dankt vor allem auch den Vertretern der beiden Tarifparteien Kay Ohl (IG Metall) und Siegurd Dokter (VMET), die im Vorfeld der empirischen Erhebungen dem Autor die Besonderheiten der ostdeutschen Tariflandschaft erläutert und den Betriebszugang hergestellt sowie eine Vorversion des vorliegenden Berichts mit vielen hilfreichen Anregungen kommentiert haben. Anregend war auch die erste Runde der gemeinsam mit Antje Schmerbauch durchgeführten und mit Roswitha Weitz (IWT) abgestimmten empirischen Erhebungen in den Betrieben. Zu danken ist auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Otto Brenner Stiftung Dr. Frederic Speidel und Heike Kauls, die das Projekt zum Teil bereits bei der Antragstellung sachkundig betreut und nachhaltig unterstützt haben. Namentlich möchten wir hier zudem die Kollegin Hilde Wagner von der IG 7 Metall erwähnen, die die Antragstellung beratend begleitete und die ERAForschung insgesamt mit auf den Weg gebracht hat. Schließlich sind die Kolleginnen und Kollegen des ISF München zu nennen: Karla Kempgens gestaltete Satz und Layout, Frank Seiß war für das Lektorat des Berichts verantwortlich, das er mit vielen hilfreichen Hinweisen für den Autor verband. München 2008 8 Klaus Schmierl 1. Einleitung: Die Bedeutung von ERA für die Metallund Elektroindustrie In den einzelnen Tarifbezirken und -gebieten der Metall- und Elektroindustrie Deutschlands werden derzeit mit einer Perspektive bis etwa 2009 fundamentale und weit reichende Umstellungen in den langjährig angewandten Lohn- und Gehaltsgrundlagen vorgenommen. Dabei sind die Tarifvertragsparteien der Tarifregionen im Hinblick auf Start und Einführungsphasen unterschiedlich weit vorangeschritten. Aufgrund unterschiedlicher Ausgangsbedingungen und Verhandlungsstände in den einzelnen Tarifgebieten wurden in den letzten Jahren Entgeltrahmen-Tarifverträge und Einführungstarifverträge zum Entgeltrahmenabkommen (ERA) mit je unterschiedlichen Einstiegszeitpunkten abgeschlossen. In allen diesen Abschlüssen werden nunmehr die Verfahren und Einführungsphasen einer Verabschiedung von der bisherigen Trennung zwischen Arbeitern und Angestellten in der Arbeitsbewertung und in den Entgeltgrundlagen zugunsten einer Zusammenführung in vereinheitlichten Entgeltgruppen geregelt (Meine et al. 2006). Damit ist ein langjähriger Streitpunkt zwischen den Arbeitgeberverbänden und der IG Metall zum Abschluss gekommen, der mittlerweile eine nahezu zwanzigjährige Konfliktgeschichte aufweist. Erstmals 1991 hat die Gewerkschaft mit ihrer Kampagne „Tarifreform 2000“ einen Anlauf unternommen, die aus ihrer Sicht ungerechten und unbefriedigenden Entgeltstrukturen in den Betrieben aufzubrechen und für die Zukunft relevante Konzepte und Vorschläge anzubieten (vgl. Lang, Meine 1991; Huber, Lang 1993). Es wurden zwar seit Beginn der 80er Jahre vereinzelt neuartige Tarifabkommen in der Industrie abgeschlossen, die einen mehr oder weniger vorsichtigen Bruch mit den bis dahin geltenden tariflichen Regelungen und langjährig stabilen Entgeltgrundlagen kennzeichneten; zu diesen in der interessierten Öffentlichkeit wahrgenommenen bzw. in der sozialwissenschaftlichen Forschung rezipierten Lösungsansätzen zählen der Lohn- und Gehaltsrahmentarifvertrag I in Nordwürttemberg/Nordbaden 1988 (vgl. Bispinck 1988), der Entgelttarifvertrag der Vögele AG (vgl. Beyse 1990; Knuth, Howaldt 1991; Schmierl 1995) und der VW-Tarifvertrag über die Lohndifferenzierung (vgl. Brumlop 1986; 1986a; Rausch 1990). Eine weitergehende Diffusion dieser in mancher Hinsicht zukunftsweisenden Pilottarifverträge scheint aber bisher nicht stattgefunden zu haben, so dass dieses Feld – abgesehen von den großbetrieblichen Metall- und Elektrounternehmen – in den letzten Jahren von einer unübersichtlichen Vielfalt betriebsspezifischer Entgeltsysteme geprägt war (vgl. Bahnmüller 2002; Schmierl 1995, 2008). 9 Nunmehr wird der ERA-Tarifvertrag in den Betrieben der Metall- und Elektroindustrie eingeführt, und zwar nach einer langen Phase der Nicht-Thematisierung von Lohn und Leistung, in der die Betriebe in der Lohnpolitik bereits Pflöcke eingeschlagen hatten, die auszureißen für die Arbeitnehmerinteressenvertretung nicht einfach war. Der mit ERA vollzogene Einstieg in neue Eingruppierungs- und Entgeltregelungen beinhaltet damit für die Betriebe der Metall- und Elektroindustrie einen umfassenden Bruch mit den bisherigen Lohnund Gehaltsstrukturen und entsprechend hohe Anforderungen an die ERA-Umsetzung. Durch die Reichweite der Veränderungen sowohl auf tarifpolitischer als auch auf betrieblicher Ebene betreten die Tarifparteien und die betrieblichen Verhandlungspartner völliges Neuland. Zum Zeitpunkt der betrieblichen Entscheidungen über den Einstieg in ERA lagen weder auswertbare Erfahrungen aus den Tarifgebieten der Bundesrepublik vor, noch konnte auf Erkenntnisse aus der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Forschung zurückgegriffen werden. Diese Forschungslücke zu schließen beabsichtigt der hiermit vorgelegte Projektbericht zum sozialwissenschaftlichen Begleitforschungsvorhaben. Er strebt einen doppelten Nutzen an: ¾ Aus Sicht der Wissenschaft kann die Untersuchung der neuen Bedeutung zentraler, jedoch umfassend veränderter Verhandlungsfelder in der Metallund Elektroindustrie Hinweise auf die mit ERA zusammenhängenden machtpolitischen Wandlungen im System industrieller Beziehungen und in den Arbeitsbeziehungen liefern. In ihrem Zusammenhang wird möglicherweise die Gültigkeit und Anwendungsreichweite von Flächentarifverträgen wieder gestärkt. Mit der Konzentration auf das Tarifgebiet Thüringen lassen sich zudem im Vergleich mit den Westbezirken ostdeutsche Besonderheiten der ERA-Umsetzung herausarbeiten. ¾ Aus Sicht der Kollektivakteure und betrieblichen Umsetzungsverantwortlichen in der Region erbringt eine sozialwissenschaftliche Begleitforschung durch Evaluierung der Einführungsprozesse, Umsetzungschancen und -schritte von ERA und deren Praktizierung und Akzeptanz in ausgewählten Pilot- bzw. Prototyp-Betrieben wichtige Hinweise darauf, welche Probleme oder Konflikte bei welchem Vorgehen zu erwarten sind und wie eine reibungslose Umsetzung aussehen kann. Die Ergebnisse lassen sich erstens für die Untersuchungsbetriebe selbst und zweitens für die anderen Betriebe des Tarifgebiets, die zeitversetzt mit der ERA-Umsetzung nachfolgen werden, auswerten. Aber auch über das analysierte Tarifgebiet hinaus können anwendungsorientierte Lern- und Transferprozesse insofern angestoßen werden, als die Tarifvertragsparteien Thüringens frühzeitig, als erstes Tarifgebiet in Ostdeutschland, die ERA-Umsetzung beschlossen und begon- 10 nen haben. Die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände der nachziehenden Tarifbezirke können hieraus erste Erkenntnisse zur Praxis der betrieblichen Einführung gewinnen. Schließlich zeichnet sich der ERA-Tarifvertrag Thüringens u.a. durch die Besonderheit aus, dass mit dem Instrument der „Tariflichen Entsprechung“ (siehe Kapitel 5) eine möglicherweise besonders pragmatische und zeitsparende Variante der Bewältigung der Anpassung von Entgeltgruppenübergängen abgeschlossen wurde, deren Anwendung auch anderen Tarifbezirken und -gebieten in der gleichen oder einer modifizierten Form möglich wäre. Eine Jahrhundertreform wie das momentan bundesweit in der Metall- und Elektroindustrie umzusetzende Entgeltrahmenabkommen (ERA) (siehe Huber, Schild 2004; Schulz 2004; Manthey, Meine 2004; Sadowsky 2004; Beraus 2004; Ehlscheid et al. 2006) stellt für die Tarifparteien und die maßgeblichen Verhandlungspartner auf Betriebsebene – Geschäftsleitungen und Betriebsräte –, aber auch für die Belegschaften eine große Herausforderung dar. Müssen doch mit der ERA-Umsetzung die überlieferten Arbeitsbewertungen, Entgeltstrukturen und damit auch die Relationen der Belegschaftsgruppen zueinander in allen Betrieben neu austariert und verhandelt werden. Alles in allem erfolgten und erfolgen in den Betrieben sehr weit reichende, möglicherweise auch konfliktreiche Definitions- und Aushandlungsprozesse. Die langjährig stabilen Unterschiede in der Bewertung der Arbeit von Arbeitern und Angestellten werden neu thematisiert. Gleichermaßen werden die vorherrschenden Formen der Betriebs- und Arbeitsorganisation auf den Prüfstand gestellt. Und schließlich herrschen in den Tarifbezirken und -gebieten der Metall- und Elektroindustrie sehr unterschiedliche Ausgangsbedingungen hinsichtlich der angewandten Arbeitsbewertungsverfahren, der Tarif- bzw. Sozialgeschichte, der Tarifverträge, die auf ERA Einfluss haben, sowie der Regelungen des abgeschlossenen ERA-Tarifvertrags. Mit der Umsetzung von ERA müssen die Gewerkschaft und der Arbeitgeberverband gemeinsam ein Programm bewältigen, das an den Grundfesten der bisherigen Gratifikationsstrukturen und Reproduktionschancen von Arbeitnehmern bzw. der Kostenstrukturen der Verbandsmitglieder rüttelt. Im ganzen Bundesgebiet werden gegenwärtig bzw. im Verlauf der kommenden beiden Jahre in der Metall- und Elektroindustrie für Arbeiter und Angestellte einheitliche Entgeltgrundsätze und -gruppen eingeführt. Hierzu müssen in jedem Betrieb die Arbeitsanforderungen jedes einzelnen Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber neu bewertet und zu der hieraus resultierenden Eingruppierung die Zustimmung des Betriebsrats eingeholt werden. In der Natur der Sache liegt es, dass dabei sowohl Konflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmervertre- 11 tung als auch Streitigkeiten zwischen unterschiedlichen Beschäftigtengruppen vorprogrammiert sind. Nicht ausgeschlossen sind auch Entfremdungsprozesse von sich ungerecht beurteilt fühlenden Arbeitnehmern gegenüber den Betriebsräten und der Gewerkschaft – oder auch von Betrieben gegenüber dem Arbeitgeberverband, falls diese sich vom Verband im Stich gelassen fühlen sollten. Im Tarifgebiet Thüringen liegen mit dem tariflich vereinbarten Instrument der „Tariflichen Entsprechung“ und der spezifischen Bewusstseinslage der Gewerkschaftsmitglieder im Osten Deutschlands zwei Sonderbedingungen vor, deren Wirkung auf die Chancen der Umsetzung zu untersuchen war. Bei der Tariflichen Entsprechung handelt es sich um einen Passus im ERA-Tarifvertrag, nach dem die betrieblichen Arbeitgeber zwischen einer Neubewertung aller Arbeitsplätze/Arbeitskräfte des Betriebs und der Anwendung einer Analogietabelle mit Nennung der alten Lohn- bzw. Gehaltsgruppe und der neuen Entgeltgruppe (als pauschales Äquivalent) wählen können. Die Tarifliche Entsprechung stellt ein thüringisches Spezifikum mit besonderen Vorteilen bzw. Nachteilen dar, dessen Analyse weit reichende Rückschlüsse auf die Praktikabilität und ökonomische Umsetzung von ERA erlaubt. Der vorliegende Projektbericht stellt die wichtigsten Ergebnisse der empirischen und sozialwissenschaftlichen Begleitforschung durch das ISF München dar. Zunächst wird auf die dem Forschungsvorhaben zugrundeliegenden Hypothesen und Methoden (Kapitel 2) sowie die wesentlichen Kennzeichen des ERA-Tarifvertrags (Kapitel 3) eingegangen. In den darauf folgenden Abschnitten werden zunächst die Untersuchungsbetriebe kurz beschrieben (Kapitel 4) und dann die empirischen Befunde vorgestellt: zur Entscheidungslage und zu den Einführungsverfahren von ERA (Kapitel 5), zur Betroffenheit unterschiedlicher Belegschaftsgruppierungen (Kapitel 6), zu den organisatorischen Auswirkungen (Kapitel 7) und zu den Folgen für den Rückhalt der Betriebsräte und Gewerkschaften in den Belegschaften (Kapitel 8). Mit dem Kapitel 9 wird – den Empirieteil abschließend – eine Gesamtbewertung von ERA wiedergegeben, wie sie in den Interviews von den Gesprächspartnern selbst vorgenommen wurde. Es folgt ein sozialwissenschaftliches Resümee (Kapitel 10), in dem die empirischen Erkenntnisse vor dem Hintergrund von Trendaussagen, Thesen und Prognosen evaluiert werden, wie sie derzeit in der Forschung zu Industriellen Beziehungen vorgetragen werden. So können die Resultate in einen theoretisch-konzeptionellen Zusammenhang gestellt werden. Den Abschluss bildet ein kurzer Überblick über den Ertrag des Forschungsprojekts (Kapitel 11). 12 2. Hypothesen und Methodik der Begleitforschung Aus der Perspektive der sozialwissenschaftlichen Forschung zu Industriellen Beziehungen erschließt sich die Bedeutung von ERA in folgenden Überlegungen zur Reichweite und zu den Ebenen der notwendigen Veränderungen: Mit ERA sind weit reichende Konsequenzen für das System industrieller Beziehungen in der Bundesrepublik verknüpft, die auf verschiedenen Ebenen eine Neujustierung des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit mit sich bringen. ¾ In der tariflichen Arena sind die Praktikabilität und die Umsetzung von ERA in den Betrieben zu evaluieren und ggf. zwischenzeitlich Umorientierungen in den tariflichen Details bzw. betrieblichen Umsetzungsschritten einzuziehen. ¾ Auf der betrieblichen Ebene sind die gesamten, langjährig verfestigten Entgeltstrukturen und Relationen zwischen unterschiedlichen Beschäftigtengruppen neu zu fixieren. Hier sind nicht nur Konfliktlinien zwischen unterschiedlich betroffenen Belegschaftsgruppierungen zu erwarten; seitens der Betriebsräte sind auch gegenüber den durch die Arbeitgeber festgestellten neuen Eingruppierungen bzw. Entgeltgrundsätzen eigene Positionierungen und Stellungnahmen sowie Interessenhandeln erforderlich. Zugleich steht aus Sicht der Betriebe die Neudefinition des betrieblichen Entgeltgefüges in Zeiten der angespannten Wirtschaftslage unter dem Diktat der Kosteneinsparung bzw. zumindest Kostenneutralität. ¾ Auf der Vermittlungsebene zwischen den tariflichen Kollektivakteuren und den betrieblichen Verhandlungspartnern müssen Kommunikationsstrukturen zur Verbreitung der tariflichen Regelungen und zur Schaffung von Transparenz über Lösungsmöglichkeiten geschaffen werden. Umgekehrt müssen Erfahrungen mit der Umsetzung auf der betrieblichen Arena in die tariflichen Verhandlungsgremien zurückgespielt werden. ¾ Auf die betrieblichen oder auch gerichtlichen Mediationsgremien, wie die Paritätischen Kommissionen bzw. die Arbeitsgerichte, kommen neue Regelungsnotwendigkeiten zu. Zwar sind die Verhandlungsfelder bekannt, doch hat man es mit neuartigen Regelungsinhalten und Abgrenzungslinien in entgeltpolitischem Neuland zu tun. Zudem wurde mit den Paritätischen Kommissionen ein vorinstanzliches Vermittlungsgremium geschaffen, mit dessen Hilfe die Konfliktlösung im besten Fall im Betrieb selbst erfolgen soll; hierzu können die Tarifvertragsparteien im Falle der Nichteinigung zur 13 Beratung und Unterstützung hinzugezogen werden, ohne allerdings selbst Stimmrecht zu besitzen.1 ¾ Veränderungen in der Akzeptanz der Verbände und Kollektivakteure (Arbeitgeberverband und Gewerkschaft) seitens der Betriebe und der Belegschaften werden von den Erfahrungen mit der ERA-Einführung überlagert. ¾ Zwischen unterschiedlichen Kapitalfraktionen (Kleinbetriebe vs. Konzerne; lokale Unternehmen vs. bezirksübergreifend agierende Unternehmen; Betriebe unterschiedlicher Teilbranchen mit verschiedener Stellung im Wertschöpfungsprozess) müssen unterschiedliche Prioritäten und Lösungen vermittelt und in eine konsistente Politik auf der Verbandsebene überführt werden. Für die Kollektivakteure bietet diese ERA-Umsetzung – neben den beschriebenen Risiken – eine in der Nachkriegszeit einzigartige und beispiellose Möglichkeit, das durch Mitgliederschwund, Verbands- und Tarifflucht verlorene Terrain wieder gut zu machen. Dies hängt jedoch maßgeblich von den Erfahrungen der betrieblichen Akteure mit ERA und mit der Beratung durch „ihre“ Repräsentationsorganisationen ab. Aus der Perspektive sozialwissenschaftlicher Analyse handelt es sich bei der Begleitforschung um eine ausgesprochen günstige Situation zur empirischen Erforschung entgeltpolitischen Wandels, weil in Folge eines einheitlichen Tarifvertrags mit Standardisierungsanspruch alle tarifgebundenen Betriebe eines Tarifbezirks überkommene Entgeltdifferenzierungen und -relationen zugunsten eines einheitlichen Eingruppierungskatalogs für Angestellte und Arbeiter verändern müssen. Und dies in einer Situation, in der die tariflichen Verhandlungsparteien aus Arbeitgeberverband und Gewerkschaft eine ungewohnte Geund Entschlossenheit der Umsetzung an den Tag legen. Auf der Betriebsebene brechen hierbei die seit Beginn der Existenz von Tarifparteien und -verhandlungen vor über 100 Jahren gültigen Trennungen zwischen Arbeitern und Angestellten auf, die bis ins staatliche Sozialversicherungswesen ihre Wirkung entfaltet haben. Folglich findet die Sozialwissenschaft gegenwärtig eine historisch einmalige Situation mit einschneidenden Veränderungen in den Verhandlungsfeldern, Aushandlungsebenen, Vereinbarungsgegenständen, Gremien sowie Partizipationskonzepten vor, die für eine Schärfung der zeitdiagnostischen industriesoziologischen Trendaussagen und Thesen zur weiteren Entwicklung der Industriellen Beziehungen ausgesprochen günstige Voraussetzungen bietet. 1 14 Falls auch auf diesem Wege keine Einigung zustande kommt, muss der Arbeitgeber die Zustimmung durch das Arbeitsgericht ersetzen lassen, wogegen wiederum der Beschäftigte bei einem weiterhin unlösbaren Widerspruch auf dem Rechtswege Klage einreichen kann. 2.1 Fragestellungen im Projekt Die von der Otto Brenner Stiftung beauftragte und geförderte Begleitforschung wurde durch das ISF München in Abstimmung mit der IG Metall Bezirksleitung und dem Thüringer Arbeitgeberverband VMET im Zeitraum zwischen April 2005 und Mai 2008 durchgeführt. Der Schwerpunkt der empirischen Erhebungen in den Betrieben lag in den Jahren 2006 und 2007. Mit der sozialwissenschaftlichen Begleitforschung verbanden sich im Wesentlichen zwei Zielsetzungen: ¾ In empirischer Perspektive ging es um eine Untersuchung der Vorgehensweisen, Umsetzungschancen und -schritte bei der Einführung des ERA und deren Praxis und Akzeptanz in den Betrieben. ¾ In analytischer Perspektive ging es um die Untersuchung der mit ERA zusammenhängenden machtpolitischen Veränderungen im System Industrieller Beziehungen bzw. in den betrieblichen Arbeitsbeziehungen. Hierbei stand vornehmlich die Bewertung der mit der ERA-Einführung einhergehenden (neuen) Bedeutung von zentralen, jedoch umfassend veränderten Verhandlungsfeldern in der Metall- und Elektroindustrie im Mittelpunkt. Zudem sollten ostdeutsche Besonderheiten bei der ERA-Umsetzung analysiert werden. Die die Begleitforschung hauptsächlich leitenden generellen Forschungsfragen bezogen sich daher in doppelter Hinsicht auf die betrieblichen Auswirkungen der Besonderheiten des ERA-Tarifvertrags Thüringens: 1. Wie wirkt sich die Entscheidung für oder gegen die „Tarifliche Entsprechung“ auf die Praxis der ERA-Umsetzung, die Position der betrieblichen Entscheidungsträger und Verhandlungspartner sowie die Entgelt- und Arbeitssituation der Arbeitnehmer aus? Welche Akteure und Argumentationen sind für diese Entscheidung maßgeblich? 2. Inwieweit wirkt sich der besondere Hintergrund der ostdeutschen Wirtschaftsgeschichte seit der Wende und der spezifischen Erfahrungen und Bewusstseinslagen der Gewerkschaftsmitglieder und der im Arbeitgeberverband organisierten Betriebe auf den Einführungsprozess und die Akzeptanz von ERA aus? In diesem Zusammenhang wurde von der Hypothese ausgegangen, dass die Merkmale des Tarifvertrags sowie die Prozeduren der Einführung mitentscheidend für die Betroffenheit von unterschiedlichen Beschäftigtengruppen und die Resonanz des Tarifwerks bei diesen sein werden. Entstehungsgeschichte, Regelungsinhalte und Umsetzungsstrategien von ERA setzen an der von der Ge- 15 werkschaft schon lange als defizitär empfundenen Ungleichbehandlung in der Arbeitsbewertung von Arbeitern und Angestellten an, die sich immer weniger mit ungleichen Arbeits- und Leistungsbedingungen begründen lässt. Einer der Hauptimpulse für ERA seitens der Gewerkschaft war erklärtermaßen immer, ihrer klassischen Klientel zu einem höheren („gerechteren“) Einkommen zu verhelfen (Burkhard 2008). Und dies sind überwiegend männliche Facharbeiter bzw. gewerbliche Arbeitnehmer aus Produktionsbereichen in Großbetrieben klassischer Branchen (Auto-, Metall- und Elektroindustrie etc.). In diesen Betrieben und bei dieser Personengruppe können Betriebsräte und Gewerkschafter ohnehin auf eine stark mitbestimmte Struktur und eine relativ große Mitgliederbasis zurückgreifen (Hassel 1999). Probleme und Konflikte im Hinblick auf die ERA-Akzeptanz waren deshalb eher bei den Angestellten zu erwarten. Der Hoffnung auf eine systematische Fundierung besserer Eingruppierungen bzw. erhöhter Grundentgelte von Gewerblichen stand gegenüber, dass es möglicherweise nachteilige Effekte für andere Belegschaftsgruppen, etwa die bisher im Grundgehalt insbesondere nach längerer Berufstätigkeit und in den Endstufen der Gehaltsentwicklung tendenziell besser gestellten Angestellten, geben könnte. Einschränkend zur vermeintlichen oder tatsächlichen Besserstellung von Angestellten ist hierbei zu berücksichtigen, dass teilweise niedrigere Eingruppierungen und Grundlöhne insbesondere in den Leistungslohnbereichen der Arbeiter vormals durch entsprechende Leistungsmehrverdienste kompensiert wurden. Forschungsbedarf bestand in dieser Hinsicht in einer systematischen Analyse der Wirkungen der neuen Arbeitsbewertungen und Eingruppierungen im ERAKontext für unterschiedliche Belegschaftsgruppen sowie der Reaktionen dieser Arbeitnehmergruppen. Inwieweit sich die ERA-Umsetzung letztlich auch als Instrument der Mitgliedergewinnung (Dribbusch 2002) für die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in der Metall- und Elektroindustrie erweisen wird, hängt – so wurde zu Beginn der Begleitforschung vermutet – auch von der Akzeptanz der ERA-Einführung in den Betrieben und der Beurteilung der Rolle von betrieblichen und überbetrieblichen Interessenvertretungsorganisationen in diesem Prozess durch Belegschaften und Betriebsleitungen ab. Zudem war hier die Frage relevant, ob und wie die Einführung von ERA auch andere Verhandlungsfelder (z.B. die betriebliche Organisation oder die Personal- und Qualifizierungspolitik) tangiert und befördert oder behindert (vgl. Bahnmüller, Fischbach 2004). Zur Überprüfung dieser Hypothese und zur empirischen Prüfung der Frage, inwieweit mit der ERA-Einführung wichtige Zielsetzungen der Tarifvertragsparteien im Interesse ihrer Klientel erfüllt werden konnten, wurden in den Be- 16 triebsanalysen drei Hauptfragestellungen mit einer Reihe von Detailfragen untersucht: 1. die Betroffenheit unterschiedlicher Beschäftigtengruppen durch ERA, 2. die Wechselwirkung zwischen Entgeltsystem und modernen Arbeitsformen und 3. die Einbindung/Akzeptanz der Tarifvertragsparteien im ERA-Umsetzungsprozess. (1) Bei der empirischen Analyse der Betroffenheit unterschiedlicher Beschäftigtengruppen wurden folgende Fragen bearbeitet: ¾ Kenntnisse und Wahrnehmung von ERA, Antizipation von Nachteilen etc. durch die Belegschaft, ¾ konkret erwartete, geplante bzw. bereits aufgetretene Barrieren, Blockadehaltungen und Widerstände, ¾ Wirkungen von veränderten Eingruppierungsrelationen auf die Entgelte unterschiedlicher Arbeiter-/Angestelltengruppen und -typen, ¾ angestelltentypische Interessen an ERA – neue bzw. stärker zu gewichtende Verhandlungsfelder, wie z.B. vereinbarte Arbeitspensen, ausgehandelte Personalbesetzung, Zielvereinbarungen, Arbeitszeitfragen, Karriereplanung bei ERA etc. (2) Die Analyse der Wechselwirkung zwischen betrieblichem Entgeltsystem und modernen Arbeitsformen beinhaltete u.a. die Untersuchung folgender Dimensionen und Fragen: ¾ vorherrschende Arbeitsorganisations- und Produktionsmodelle, ¾ vorgängige lohn- bzw. gehaltsrelevante Arbeitsteilung im Betrieb, ¾ Planung und Implementierung moderner Produktionsmodelle bzw. Arbeitsorganisationsformen (segmentierte Produktion, Fertigungsinseln, teilautonome Gruppenarbeit etc.), ¾ Anschubfunktion von ERA, neue Produktions- und Organisationsmodelle zu etablieren, ¾ Folgen einer arbeitsorganisatorischen Umstellung für die betriebliche Entgeltstruktur. 17 (3) Im Hinblick auf die Einbindung der Betriebsräte und Gewerkschaften wurden folgende Fragen untersucht: ¾ die Rolle von Betriebsräten und der Gewerkschaft während der ERAEinführung, ¾ beschäftigtengruppenspezifische, von den Betriebsräten getragene oder durchgesetzte (Übergangs-)Lösungen, ¾ Wandel des Rückhalts von Betriebsräten und Gewerkschaften in der Belegschaft in Folge der ERA-Einführung, ¾ neu entstehende Abgrenzungslinien zwischen Belegschaftsgruppen und Betriebsräten, ¾ Neuentstehung direkter Partizipationsvorstellungen und Mitsprachemöglichkeiten der Arbeitskräfte in diesen Betrieben und deren (Wechsel-)Wirkung mit klassischen Mitbestimmungs- und Betriebsratsstrukturen. 2.2 Arbeitsprogramm Umgesetzt wurden die Zielsetzungen der Begleitforschung durch folgendes methodisches und empirisches Forschungsdesign: 1. Bestandsaufnahme der Aushandlungsprozesse zwischen den Vertretern der Geschäftsleitung bzw. Personalleitung und den Betriebsräten sowie der betrieblichen Umsetzungslösungen in den Vorreiterbetrieben des Tarifgebiets in zwei Wellen: zu Beginn der Aushandlung unmittelbar nach der Entscheidung für oder gegen die Tarifliche Entsprechung bzw. zu dem im Betrieb zwischen Personalleitung und Betriebsrat vereinbarten Beginn der ERAAnwendung; und exakt ein Jahr später, als die Auswirkungen dieser Entscheidung erkennbar und die Folgen der neuen Entgeltsysteme analysierbar waren. 2. Qualitative Experteninterviews in den ausgewählten Betrieben mit Vertretern der Personalleitung und den Betriebsräten (zu beiden Befragungszeitpunkten) sowie (in der zweiten Empiriewelle zusätzlich) mit betroffenen Beschäftigten (Einzelinterviews bzw. Gruppendiskussionen) und ggf. Vertretern der Geschäftsleitung. Ergänzend wurden Klärungsgespräche mit einzelnen, für das Tarifgebiet zuständigen Funktionären der Gewerkschaft und des Arbeitgeberverbands geführt. 3. Sozialwissenschaftliche Auswertung entlang der Dimensionen: Konsequenzen der Entscheidung zwischen Anwendung der Tariflichen Entsprechung 18 und Neubewertung aller Arbeitsplätze/Arbeitskräfte des Betriebs für die Entgeltstruktur; Auf- und Abwertungen von Arbeitskräften bzw. Arbeitskräftegruppen; personalpolitische Maßnahmen, betriebliche Qualifizierungsmaßnahmen; korrespondierende Einführung bzw. Fortführung moderner Produktionsformen; Rolle der Tarifvertragsparteien, interessenpolitische Positionen des Betriebsrats; Akzeptanz von ERA in der Belegschaft, Konfliktverläufe; Veränderung der Kohäsion der Belegschaftsgruppen; Wandel der Einstellung zum Betriebsrat, Veränderung des Organisationsgrads. 4. Analyse und Bewertung der unabgeschlossenen Verhandlungsfelder, von Lösungsdefiziten sowie von drohenden Risiken aus Sicht der Belegschaften und Belegschaftsvertretungen. 2.3 Auswahl des Untersuchungsfeldes und methodisches Vorgehen Der Bezirk Thüringen erschien auch deshalb für diese Studie geeignet, weil es sich um ein überschaubares Tarifgebiet mit ca. 50 größeren, namentlich bekannten, stabil mitbestimmten und tarifgebundenen Unternehmen mit insgesamt ca. 16.000 Beschäftigten handelt (vgl. IWT 2004, 2007). Insgesamt arbeiteten 2006 einer Verbandsumfrage des Instituts der Wirtschaft Thüringens zufolge in der Metall- und Elektroindustrie Thüringens ca. 79.000 Beschäftigte (IWT 2007; siehe Tabelle 1). Zu diesem Branchenkonglomerat zählen folgende Wirtschaftszweige: Metallerzeugung und -bearbeitung; Herstellung von Metallerzeugnissen; Maschinenbau, Herstellung von Büromaschinen, Datenverarbeitungsgeräten und -einrichtungen; Herstellung von Geräten der Elektrizitätserzeugung, -verteilung u.ä.; Rundfunk- und Nachrichtentechnik; Medizin-, Mess-, Steuer- und Regelungstechnik, Optik, Herstellung von Uhren; Herstellung von Kraftwagen und Kraftwagenteilen; sonstiger Fahrzeugbau. In den letzten Jahren hat sich die wirtschaftliche Situation, sowohl was den Umsatz der Unternehmen als auch was die Beschäftigtenzahl anbelangt, durchaus günstig entwickelt: 19 Kennziffern Einheit Jan. bis Sept. 2006 Vergleich zu 2005 Betriebe Anzahl 902 - 1,6 Beschäftigte Anzahl 78.912 + 2,3 Beschäftigte je Unternehmen Anzahl 87 + 3,6 Umsatz Mio. Euro 9.992 + 13,7 Umsatz je Beschäftigten Tsd. Euro 126,62 + 11,2 Euro 99,85 + 9,5 Mio. Euro 3.216 + 11,4 Produktivität (Umsatz je Arbeitsstunde) Auslandsumsatz Exportquote gesamt davon Exportquote Euro-Zone Bruttolohn bzw. -gehalt Tabelle 1: % 32,2 - 2,1 % 58,8 + 3,7 Mio. Euro 1.595 + 5,6 Kennziffern für die Metall- und Elektroindustrie Thüringen Quelle: IWT 2007, S. 34 Die stärksten Beschäftigungszuwächse fanden in den Wirtschaftszweigen Herstellung von Metallerzeugnissen, Rundfunk- und Nachrichtentechnik sowie Mess-, Steuer- und Regelungstechnik, Optik, Herstellung von Uhren statt (IWT 2007). Während die Wirtschaft Thüringens insgesamt von kleinen Unternehmen (Beschäftigtenzahl zwischen 1 und 49) dominiert ist (sie machen 97,3% aller Betriebe aus), herrschen einer (nicht repräsentativen) Umfrage des IWT unter den verbandsgebundenen Unternehmen zufolge in der Metall- und Elektroindustrie größere Unternehmen vor: Den größten Anteil stellen mit 56,6% der Unternehmen diejenigen mit zwischen 50 und 249 Beschäftigten, danach folgen mit 22,2% Unternehmen mit über 250 Beschäftigten, gefolgt von 16,2% der Unternehmen mit zwischen 10 und 49 Beschäftigten sowie 5,1% der Unternehmen mit 1 bis 9 Arbeitskräften (IWT 2007, S. 43). Bezogen auf die Anzahl der Beschäftigten sind in den großen Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten insgesamt knapp zwei Drittel aller Arbeitskräfte der Metall- und Elektroindustrie tätig, in den Unternehmen mit zwischen 50 und 249 Beschäftigten insgesamt ein Drittel (ebd.). Tarif- und sozialpolitisch werden diese Unternehmen vom Verband der Metallund Elektroindustrie in Thüringen e.V. (VMET) mit Sitz in Erfurt vertreten; er repräsentierte im Jahre 2006 19,3% der in dieser Branche Beschäftigten. Demgegenüber unterliegen nur 56 Unternehmen, das sind ca. 6% aller Unternehmen, der Tarifbindung. Vorwiegend im Feld der Dienstleistungen ist zudem der Allgemeine Arbeitgeberverband Thüringen e.V. (AGVT) als tariffreier, 20 branchenübergreifender und freiwilliger Verband tätig; aus der Metallindustrie sind in diesem Verband ohne Tarifbindung (OT-Verband) weitere 40 Unternehmen Mitglied, was etwa 5% der Metall-Unternehmen in Thüringen entspricht (Haipeter, Schilling 2006; VMET-Homepage). Der AGVT wurde 1993 als „Sammelbecken für nicht tarifgebundene Unternehmen“ gegründet, wobei „die Beiträge für T- und OT-Verband identisch (sind)“ (Haipeter, Schilling 2006, S. 58). Seitens der Gewerkschaften ist die IG Metall Bezirksleitung in Frankfurt/Main für das Tarifgebiet der Metall- und Elektroindustrie Thüringens als Tarifpartner zuständig. Für die ERA-Begleitforschung in Thüringen wurden in Absprache mit den für die Firmen zuständigen tariflichen und betrieblichen Repräsentanten von Gewerkschaft und Arbeitgeberverband sowie dem Kooperationspartner (Institut der Wirtschaft Thüringens) exemplarisch drei Unternehmen aus den tarifgebundenen Arbeitgebern des Tarifbezirks ausgewählt. Mit diesem Forschungsdesign wurden gewissermaßen Pilotbetriebe untersucht, die als Vorreiter mit Vorbildcharakter gewerkschafts- und tarifpolitisch generalisiert werden können, indem man die hier gewonnenen empirischen Erfahrungen zur Schulung und zur Verbreiterung der Umsetzungsstrategie auswertet und nutzt. Zusätzlich wurde im Forschungsvorhaben angestrebt, nicht nur Pilotbetriebe zu analysieren, in welchen die günstigsten Bedingungen herrschen; stattdessen erforderten die skizzierten Forschungsfragen eine gemischte Auswahl. Denn als notwendige Ergänzung zu den klassischen Produktionsbetrieben waren prinzipiell auch diejenigen (proto-)typischen Modellbetriebe zu analysieren, in welchen als Reaktion auf einen – tatsächlichen oder auch nur wahrgenommenen – Angriff auf den privilegierten Status der Angestellten und auf möglicherweise nachteilige Effekte für diese Beschäftigtengruppe im Kontext einer integrierten Entgelttabelle Barrieren, Blockadehaltungen und Widerstände zu erwarten waren. Es handelt sich dabei einerseits um kleine und mittlere Betriebe (KMU), andererseits um Angestelltenbetriebe. Bei der Betriebsauswahl war die Einschätzung leitend, dass es besonders spannend und unter Generalisierungsgesichtspunkten weiterführend wird, wenn beide Charakteristika, KMU und Angestelltenbetrieb, gleichzeitig zutreffen. Die hinter dieser Perspektive stehende Überzeugung war, dass sich Umsetzungserfolg und ggf. weitergehende Rekrutierungspotenziale für neue Gewerkschafts- bzw. Verbandsmitglieder dann und nur dann einstellen, wenn speziell für diese Betriebe und Beschäftigtengruppen interessengruppenspezifische Vorteile einer ERA-Umsetzung herausgearbeitet werden. Derartige Betriebe werden aus Gewerkschaftsperspektive manchmal fälschlicherweise als historische Nachhut abgetan – so als würden diese im Laufe der Zeit aufgrund der Vorbildfunktion der Großbetriebe in der Region hinsichtlich der Verbreiterung der Mitbestimmungsbasis und Umsetzung von 21 tarifvertraglichen Regelungen schon noch nachziehen. Aus wissenschaftlicher Sicht sind daran Zweifel angebracht (vgl. Hassel 1999), so dass gerade für die Analyse von unterschiedlichen Ausgangs- und Umsetzungsbedingungen die Einbeziehung eines derartigen Fallbeispiels Sinn machte. In methodischer Hinsicht wurde bei der Auswahl der Untersuchungsbetriebe deshalb darauf geachtet, ergänzend zu größeren best-case-Fällen auch einen vermutlichen worst-case-Betrieb als Kontrastfall auszuwählen, in welchem beide ein Ablehnungsklima begünstigenden Charakteristika vorliegen und kumulativ wirken können. Bei der Auswahl der Unternehmen war insofern weniger das statistische Kriterium der Repräsentativität ausschlaggebend als vielmehr ein in der soziologischen Methodologie „Theoretical Sampling“ genanntes Auswahlprinzip: Es wird versucht, Fälle mit jeweils prototypischen Kennzeichen und Bedingungen einzubeziehen, um kontrastierende Verlaufsformen und Wirkungen organisatorischer bzw. – wie bei der hier im Mittelpunkt stehenden Themenstellung – tarif- und lohnpolitischer Maßnahmen untersuchen zu können. Bei der Auswahl der Untersuchungsbetriebe wurde infolgedessen versucht, wichtige und exemplarische Typen von Unternehmen zu identifizieren, die durch jeweils spezifische Bedingungen (Teilbranche und Produktspektrum, Betriebsgröße, Angestelltenanteil) charakterisiert sind und gewissermaßen als repräsentativ für Betriebe mit ähnlichen betriebsstrukturellen Ausgangsbedingungen betrachtet werden können. Als Kontrastfall sollte zudem ein KMU einbezogen werden, in dem bereits während des Untersuchungszeitraums mit der ERA-Einführung begonnen wurde. Im Hinblick auf die genannten betriebsstrukturellen Variablen wies das letztlich für die Begleitforschung ausgewählte Sample folgende Charakteristik auf: ¾ ein Großunternehmen aus der Optikindustrie mit einer gemischten Belegschaftsstruktur aus Gewerblichen und Angestellten; ¾ ein stärker produktionsgeprägtes Unternehmen aus der Automobilindustrie mit einem hohen Anteil von Produktionsarbeitern; ¾ ein KMU aus der Optikindustrie mit sehr hohem Angestelltenanteil. Diese drei Unternehmen repräsentieren damit gewissermaßen Prototypen im Hinblick auf deutlich unterschiedliche Belegschaftsstrukturen und Betriebsgrößen. Das entscheidende Kriterium für den Zugang zu den Untersuchungsbetrieben und für den zu erwartenden Nutzen der empirischen Erhebungen lag allerdings in deren dem Arbeitgeberverband und der Gewerkschaft gegenüber artikulierter Bereitschaft, sehr schnell in die ERA-Umsetzung einzusteigen. 22 Methodisch wurden in zwei Wellen (Sommer 2006 und Sommer 2007) leitfadengestützte qualitative Experteninterviews mit den Betriebsräten und den mit der ERA-Umsetzung betrauten Repräsentanten der Geschäftsleitungen bzw. Personalleitungen in den drei ausgewählten Unternehmen durchgeführt. In zwei der drei Untersuchungsbetriebe war es in der zweiten Welle der Erhebungen möglich, den Fragen der Akzeptanz und der Wirkungen von ERA auf einzelne Belegschaftsgruppen durch Einzelinterviews und in Gruppendiskussionen mit einzelnen Beschäftigten nachzugehen. Zur Klärung des Forschungsvorhabens und des Betriebszugangs sowie zur Situation der ERA-Einführung im Tarifgebiet Thüringen fanden zudem Gespräche mit Vertretern des Arbeitgeberverbands VMET sowie dem zuständigen Bezirksleiter der IG Metall statt. Ergänzt wurden die mündlichen Interviews durch eine Erhebung mittels eines gemeinsam mit dem Institut der Wirtschaft Thüringens (IWT) gestalteten Fragebogens in den drei Untersuchungsbetrieben. Es wurde mit diesem Forschungsdesign also nicht eine quantitative Gesamtbzw. Teilerhebung im Sinne statistischer Repräsentativität angestrebt, sondern vielmehr eine in die Tiefe gehende qualitative Analyse der typischen Problembedingungen, der spezifischen Wechselwirkungen zwischen den von ERA tangierten betrieblichen Verhandlungsfeldern und der maßgeblichen Folgen von ERA im Betrieb. Dieser Anspruch war nur mit einem qualitativen Erhebungsdesign einzulösen, da ein standardisiertes Verfahren hierbei zu unflexibel gewesen wäre. Vor der Darstellung der empirischen Untersuchungsergebnisse wird auf den entscheidenden Regulationshintergrund, das Entgeltrahmenabkommen für Thüringen, eingegangen. 3. Kennzeichen des Entgeltrahmenabkommens für Thüringen Das Entgeltrahmenabkommen in Thüringen wurde im Vergleich zu den anderen Tarifbezirken und -gebieten relativ frühzeitig zwischen der IG Metall und dem Arbeitgeberverband VMET abgeschlossen und sieht eine vergleichsweise zügige Umsetzung vor. ERA wurde in Thüringen am 15. Januar 2004 vereinbart. Ein früherer Abschluss gelang nur in den Tarifbezirken Baden-Württemberg (23. Juni 2003), Nordrhein-Westfalen (18. Dezember 2003), Niedersachsen (20. November 2003) sowie Nordverbund (23. Mai bzw. 11. September 2003) (vgl. Reichel 2005). Im Jahre 2004 erfolgten neben Thüringen weitere 23 Abschlüsse für Osnabrück und M+E Mitte, die restlichen Tarifbezirke (Sachsen, Sachsen-Anhalt, Berlin-Brandenburg und Bayern) folgten erst im Jahr 2005. Im Hinblick auf den im Prinzip zwei Jahre umfassenden Einführungszeitraum regelt der ERA-Tarifvertrag in Thüringen, dass ab dem 1. Januar 2006 bis zum 31. Dezember 2007 ERA im Betrieb eingeführt werden konnte. Eine frühzeitigere Einführung konnte auf freiwilliger Basis mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien erfolgen, mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien kann die Frist zur Einführung auch bis zum 31. Dezember 2008 verlängert werden. Mit Ausnahme des Nordverbunds, in dem die ERA-Bestimmungen zum 1. Januar 2008 in Kraft treten sollten, wurde in allen anderen Tarifgebieten eine längere Umsetzungsfrist festgesetzt, nämlich bis 2008 oder 2009. Insofern stellt Thüringen im Hinblick auf den Umsetzungszeitpunkt und Einführungszeitraum einen Sonderfall dar, der zweifellos auf die relative Überschaubarkeit des Tarifgebiets, aber auch auf die ausgesprochen guten Kontakte zwischen der IG Metall und dem VMET zurückgeht. Im folgenden Abschnitt werden die grundsätzlichen Regelungen im ERA-Tarifvertrag für das Tarifgebiet Thüringen dargestellt. Wenngleich es sich im Hinblick auf die ERA-Umsetzung um vier gesonderte Tarifverträge handelt – das Entgeltrahmenabkommen (ERA), den Tarifvertrag zur Einführung des Entgeltrahmenabkommens, den Tarifvertrag über Entgelte und Ausbildungsvergütungen sowie den Tarifvertrag ERA-Anpassungsfonds – werden im Folgenden zur Charakterisierung der wesentlichen Regelungen die Termini „ERA“ oder „ERA-Tarifvertrag“ verwendet. 3.1 Eingruppierung und Entgeltgruppen Es erfolgt eine Eingruppierung der Beschäftigten entsprechend ihren Tätigkeitsanforderungen in zwölf Entgeltgruppen (E 1 bis E 12) (ERA, § 3 Abs. 1). Die Eingruppierung richtet sich nach den summarischen Anforderungsmerkmalen des Entgeltrahmenabkommens (ERA, § 3 Abs. 2) und erfolgt nach derjenigen Tätigkeit, die das Niveau der Gesamttätigkeit prägt. Insofern müssen auch mehrere unterschiedliche Qualifikationsanforderungen berücksichtigt werden. Wichtig ist hier die ganzheitliche Betrachtung der Anforderungen – der zeitliche Umfang der jeweiligen Tätigkeit ist nun nicht mehr, wie in früheren Regelungen, ausschlaggebend (ERA, § 3 Abs. 4). Die tariflichen Niveaubeispiele, die Anhaltspunkte für die Eingruppierung geben sollen, können freiwillig durch von den Betriebsparteien erstellte betriebliche Richtbeispiele ergänzt werden (ERA, § 3 Abs. 7). Beschäftigte, die die Voraussetzungen für die jeder Entgeltgruppe zugeordnete Zusatzstufe dauerhaft erfüllen, werden für die Dauer der Tätigkeit in der zugehörigen Zusatzstufe vergütet (ERA, § 3 Abs. 9). Ein Einspruch der Beschäftigten gegen die Eingruppierung ist möglich, wenn 24 diese die Eingruppierung für unzutreffend halten; eine Ablehnung des Einspruchs durch den Arbeitgeber muss schriftlich begründet werden. Streitfälle müssen zwischen dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat mit dem Ziel einer Verständigung behandelt werden (ERA, § 3 Abs. 8). Es sind zwölf Entgeltgruppen von E 1 bis E 12 und zwölf Zusatzstufen Z 1 bis Z 12 (ERA, § 4) vorgegeben. Die Entgeltgruppe E 5 stellt die künftige Referenz und Bezugsbasis für Tarifänderungen und für die Anpassungen der Entgeltrelationen zu anderen Entgeltgruppen dar und wird vergeben für: „Fachspezifische Aufgaben oder Facharbeiten, deren Erledigung weitgehend festgelegt ist. Erforderlich sind Kenntnisse und Fertigkeiten, wie sie durch eine mindestens 3-jährige abgeschlossene fachspezifische Berufsausbildung erworben werden“ (ERA, § 4). Stellvertretend für die ähnlichen Bestimmungen zu den übrigen Zusatzstufen sei der Wortlaut der Zusatzstufe Z 5 zitiert: „Es werden Tätigkeiten der Entgeltgruppe E 5 ausgeführt. Dem Beschäftigten werden zusätzlich dispositive Aufgaben und/oder Aufgaben der Anleitung und Führung von Beschäftigen dauerhaft übertragen. oder Dem Beschäftigten werden zusätzliche Tätigkeiten dauerhaft übertragen, die wesentlich über die Anforderungen der Entgeltgruppe E5 hinausgehen und deshalb eine zusätzliche Qualifikation erfordern.“ (ERA, § 4) Die Entgeltgruppe E 8 entspricht der Einstiegsgruppe für Hochschulabsolventen, kann aber bei der Ausführung hochwertigster Facharbeiten, die ein hohes Dispositionsvermögen und Verantwortung erfordern, auch Nicht-Akademikern zugeteilt werden: „Erforderlich sind Kenntnisse und Fertigkeiten, wie sie in der Regel durch eine abgeschlossene mindestens 3-jährige fachspezifische Berufsausbildung und eine mindestens 2-jährige Fachausbildung oder durch eine abgeschlossene 3-jährige Hochschulausbildung (z.B. Bachelor) erworben werden.“ (ERA, § 4) Im Falle einer vorübergehenden Übertragung einer höherwertigen Tätigkeit wird eine, im ERA tarifvertraglich definierte, „persönliche“ Zulage erteilt; also dann, wenn dem Beschäftigten vertretungsweise eine andere Tätigkeit übertragen wird, die den Anforderungsmerkmalen einer höheren als seiner Entgeltgruppe entspricht, und wenn die Vertretung länger als sechs Wochen dauert; die persönliche Zulage wird für die Dauer der ausgeübten Tätigkeit ab der 7. Woche der Vertretung be- 25 zahlt und bemisst sich nach der Differenz des Grundentgelts des Vertretenen zum Grundentgelt des Vertretenden (ERA, § 5). Durch Betriebsvereinbarung ist eine abweichende Definition der Entgeltgruppen im Rahmen eines betrieblichen Entgeltsystems möglich, die dann aber der Zustimmung der Tarifvertragsparteien bedarf (ERA, § 6). Auch die Anwendung einheitlicher Konzern- oder Unternehmenssysteme ist zulässig (ERA, § 6). 3.2 Grundsätze der Entgeltgestaltung Der ERA-Tarifvertrag erlaubt drei unterschiedliche Grundsätze der Entgeltgestaltung (ERA, § 7): Zeitentgelt mit Beurteilung, Leistungsentgelt mit Kennzahlenvergleich und Leistungsentgelt mit Zielvereinbarung (siehe Abbildung 1). Abbildung 1: Das alte Lohn- und Gehaltssystem und das ERA-System des gemeinsamen Entgelts im Überblick Quelle: IG Metall 2005, Arbeitsblatt 2, S. 1 Bei allen Entgeltgrundsätzen ist eine individuelle oder gruppenbezogene Ermittlung zulässig. Für alle drei Entgeltgrundsätze ist zudem im Fall von Meinungsverschiedenheiten, über die zunächst zwischen Arbeitgeber und Beschäftigtem keine Einigung erzielt werden kann, ein Reklamationsverfahren geregelt. Es sieht die Bildung einer Paritätischen Kommission vor, welche sich aus vier betriebsangehörigen Mitgliedern zusammensetzt, die jeweils zur Hälfte vom Arbeitgeber und vom Betriebsrat benannt werden (ERA, § 11 Abs. 1). Die tarifvertraglichen Vorgaben im Hinblick auf die drei Entgeltgrundsätze besagen Folgendes: 26 Zeitentgelt mit Beurteilung (ERA, § 8): Das tarifliche Beurteilungsverfahren sieht eine Differenzierung in fünf Beurteilungsstufen für die einzelnen Leistungsbeurteilungsmerkmale „Effizienz“, „Qualität“, „Flexibilität“, Verantwortliches Handeln“ und „Kooperation/Führungsverhalten“ vor (siehe Abbildung 2). Die jeweils durch den Vorgesetzten vorgenommene Leistungsbeurteilung soll einmal Abbildung 2: Tarifliches Verfahren der Leistungsbeurteilung Quelle: IG Metall 2005, Arbeitsblatt 9, S. 3 im Jahr überprüft werden. Die Leistungszulagen der Beschäftigten im Zeitentgelt müssen mindestens 10% der Summe der tariflichen Grundentgelte der nach dem Entgeltgrundsatz „Beurteilung“ erfassten Beschäftigten im jeweiligen Geltungsbereich betragen. Dabei kann nicht jeder Beschäftigte im Zeitentgelt eine Leistungszulage beanspruchen. Falls ein Beschäftigter einer höheren Entgeltgruppe zugeordnet wird, kann die Leistungszulage entfallen und muss neu festgelegt werden. Sofern im Unternehmen vom tariflichen Beurteilungsverfahren abgewichen werden soll, sind in einer Betriebsvereinbarung zum Beurteilungsverfahren mindestens die folgenden Kennzeichen festzulegen: Beurteilungsmerkmale und -stufen, Gesamtpunktzahl und ihre Verteilung auf die Merkmale (Gewichtung), 27 ggf. Funktionsbereiche, die mit unterschiedlichen Gewichtungen versehen werden können. Im Leistungsentgelt mit Kennzahlenvergleich (ERA, § 9) kann die Ermittlung und Aktualisierung der Daten durch Messen, Zählen, Rechnen, Schätzen, Vergleichen, Zusammensetzen, Interpolieren usw. erfolgen (siehe Abbildung 3), sofern die technischen und organisatorischen Voraussetzungen gegeben sind (s. zu den einzelnen Methoden: Ehlscheid et al. 2006). Das Leistungsergebnis muss erfassbar und durch den Beschäftigten beeinflussbar sein. Die Daten können manuell, maschinell oder datentechnisch erfasst werden. Der Abschluss einer Betriebsvereinbarung zum Leistungsentgelt auf der Basis von Kennzahlen ist zwingend vorgeschrieben. Der ERA-Tarifvertrag enthält detaillierte Vorgaben zum Regelungsinhalt (z.B. zum Geltungsbereich, Personenkreis, den verwendeten Kennzahlen, der Datenermittlung, der Kennzahlenentgeltlinie, Einzel- oder Gruppenarbeit, Mehrstellenarbeit, Einführungszeitpunkt sowie Kündigungsfrist) (ERA, § 9 Abs. 4). Bei Anwendung der Gruppenvergütung (ERA, § 9 Abs. 5) kann die Verteilung des Leistungsentgelts nach gleichem, ungleichem oder in der Gruppe vereinbartem Verteilungsschlüssel erfolgen. Das Leistungsentgelt mit Zielvereinbarung (ERA, § 10) bezieht sich auf Leistungsmerkmale, die sich Abbildung 3: Exemplarische Bezugsgrößen im Leistungsals konkrete Ziele in einer entgelt mit Kennzahlenvergleich gegebenen Arbeitsstruktur Quelle: IG Metall 2005, Arbeitsblatt 10, S. 3 für eine Zielvereinbarungsperiode in beiderseitigem Einvernehmen zwischen Beschäftigten und Vorgesetzten formulieren lassen. Die Zielarten lassen sich beispielsweise als prozessbezogene (etwa Stückzeit, Maschinennutzungsgrad, Durchlaufzeiten), kundenbezogene (etwa Kundenreklamation, Kundenzufriedenheit), produktbezogene (etwa Produktinnovation, Fertigungsgerechtigkeit), mitarbeiterbezogene (etwa Zusammenarbeit, Führungsverhalten, Fluktuationsrate, Arbeitssorgfalt) und finanzbezogene Ziele (etwa Vertriebsspanne, Bestände, Ressourcenverbrauch) bestimmen (siehe 28 Abbildung 4 und Abbildung 5). Eine Kombination von quantitativen und qualitativen Zielen ist zulässig (ERA, § 10 Abs. 4). Analog zum Leistungsentgelt mit Kennzahlenvergleich sind auch hierbei die grundlegenden Regelungsinhalte einer Zielvereinbarung in einer zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat abzuschließenden Betriebsvereinbarung (inkl. einer Zuordnung von Zielerreichungsgrad und Zielerreichungszulage) festzulegen. Im Durchschnitt der Beschäftigten im Entgeltgrundsatz Zielvereinbarung müssen die Leistungsentgelte mindestens 10% der Summe der tariflichen Grundentgelte der nach dem Entgeltgrundsatz Zielvereinbarung erfassten Beschäftigten im jeweiligen Geltungsbereich erreichen. In Betrieben mit in der Regel nicht mehr als 200 Beschäftigten kann die Zielvereinbarung nur durch freiwillige Betriebsvereinbarung eingeführt werden (ERA, § 10 Abs. 7). Abbildung 4: Zulässige Ziele im Leistungsentgelt mit Zielvereinbarung Quelle: IG Metall 2005, Arbeitsblatt 11, S. 2 29 Abbildung 5: Beispiel für eine Zielvereinbarung Quelle: IG Metall 2005, Arbeitsblatt 11, S. 4 Bevor in den folgenden Abschnitten die konkreten Umsetzungsschritte und -wirkungen des ERA-Tarifvertrags dargestellt werden, werden einige Kennzeichen der ausgewählten Untersuchungsbetriebe skizziert. 30 4. „Leuchttürme“ der ERA-Einführung: Zu den Pilotunternehmen Das nicht repräsentative Sample der Vorreiter- und Pilotunternehmen besteht aus einem produzierenden Unternehmen aus der Automobilindustrie mit einer hohen Bedeutung der Produktionsbereiche mit gewerblichen Arbeitskräften und annähernd gleich verteilten Anteilen von Gewerblichen und Angestellten (A1), einem Großunternehmen aus der Optikindustrie mit einem Anteil der Gewerblichen von ca. einem Drittel und der Angestellten von ca. zwei Drittel (O1) sowie einem KMU aus der Optikindustrie mit sehr hohem Angestelltenanteil (O2). Sie stehen damit stellvertretend für unterschiedliche Betriebs- und Belegschaftsstrukturen, Leistungsprogramme, Branchen und Betriebsgrößen (vgl. zur Entwicklung der für die Metall- und Elektroindustrie wichtigsten Branchen Maschinenbau, Optik und Automobilindustrie in Ostdeutschland: Berka et al. 2007; Scheuplein et al. 2007; IWT 2007; Jakszentis, Hilpert 2007). Das als GmbH geführte Unternehmen A1 zählt als rechtlich selbstständige 100prozentige Tochter eines großen deutschen Fahrzeugherstellers zur Automobilindustrie (Betriebsgründung 1990). Am ostdeutschen Standort sind 200-300 Arbeitskräfte beschäftigt, wozu auch 20-30 Auszubildende in einer seit 1994 vereinbarten Ausbildungspartnerschaft mit zwei weiteren lokalen Betrieben der Automobil- und Automobilzulieferindustrie zählen. Während die Belegschaft im Zeitraum zwischen 2000 und 2006 um ca. 10% gesunken war, wird seitdem mit einer weitgehend stabilen Belegschaftsgröße und voll in die Sparte des Mutterkonzerns eingebunden produziert. Was die Belegschaftsstruktur angeht, besteht die Belegschaft zu jeweils etwa der Hälfte aus Gewerblichen und Angestellten, wenn die vor der ERA-Einführung gültigen Personalkategorien angewandt werden. Sowohl die Arbeitsaufgaben der Gewerblichen als auch der Angestellten sind primär auf die Vorbereitung, Planung und Durchführung der eigenen Produktion ausgerichtet; der Betrieb ist in seinem Leistungsprogramm folglich hochgradig von den Produktionsbedingungen und -anforderungen geprägt. Aufgrund einer stärkeren Gewichtung des „Prozessdenkens“ fand in den letzten Jahren eine geringfügige Umschichtung in der Größe der Abteilungen statt: Während die Belegschaftsstärke in Produktion und Montage von ca. 110 Arbeitskräften auf ca. 95 gesunken ist, fand in den arbeitsvorbereitenden Abteilungen (Forschung und Entwicklung, Konstruktion, Arbeitsvorbereitung) eine Aufstockung statt. Diese Aufstockung wurde vornehmlich durch internen Aufstieg aus der Produktionsbelegschaft bewältigt; so haben von den damaligen Facharbeitern inzwischen 27 ihren Technikerabschluss gemacht und wurden in die entsprechend höhere Entgeltgruppe eingestuft. Der Anteil der Fach- 31 arbeiter an den Gewerblichen beträgt 80%. Es besteht eine sehr breite Qualifikationsstruktur mit Besatz der Entgeltgruppen E 2 bis E 12, wobei E 2 nur zeitlich begrenzt für Einsteiger und Hilfskräfte in der Produktion vergeben ist. Etwa die Hälfte der Belegschaft ist in E 6/7 eingestuft, ca. 15% in E 3-4 und die restlichen ca. 35% in E 9-11; in letzterer befinden sich überwiegend die Angestellten, also Ingenieure, Techniker und ein Großteil der Meister. Das ebenfalls als GmbH geführte Unternehmen O1 ist der Optikindustrie zuzurechnen und bestand bereits vor der Wiedervereinigung Deutschlands im Rahmen einer Kombinatsstruktur. Der Schwerpunkt des betrieblichen Leistungsprogramms liegt primär auf der Forschung und Entwicklung komplexer optischer Systeme, die in Klein- und Mittelserien am Standort auch in einer eigenen Produktion mit ausschließlich qualifizierten Fachkräften gefertigt werden. Hier verlief die Betriebsgrößenentwicklung deutlich turbulenter. Die gegenwärtige Belegschaft umfasst ungefähr 1.000 Beschäftigte, wovon ein Drittel Gewerbliche und zwei Drittel Angestellte sind. Sie ist durch eine deutliche Reduzierung der Betriebsgröße seit ca. 15 Jahren zustande gekommen, insbesondere aufgrund von Personalfreisetzungen und Ausgründung von Geschäftsfeldern. So waren 1991 noch 3.000 Arbeitskräfte beschäftigt. Die freigesetzten Beschäftigten wurden nicht durchweg in die Arbeitslosigkeit entlassen, sondern vielmehr im Rahmen ständiger Konzernumstrukturierungen in neu gebildeten Schwesterunternehmen aufgefangen. Dieser Wandel spiegelt sich auch in der Tatsache, dass seitens der Personalabteilung des besuchten Unternehmens die Entgeltabrechnung weiterhin für insgesamt 1.400 Personen auch aus externen Firmen gemacht wird (insgesamt zehn weitere örtliche Unternehmen). Dieser Trend zum Personalabbau erfuhr in den letzten beiden Jahren insofern eine Umkehr, als in den Jahren 2006 und 2007 40 Neueinstellungen vorgenommen wurden. Bezogen auf die reguläre Gesamtbelegschaft von etwa 1.000 Beschäftigten haben knapp 50 Prozent einen Hochschulabschluss, wiederum die Hälfte davon, also ein Viertel der Gesamtbelegschaft, besteht aus den außertariflichen leitenden Angestellten. Etwa ein Drittel der Gesamtbelegschaft machen gewerbliche Mitarbeiter aus, welche zu 100 Prozent Facharbeiter sind. Die rechtlich selbstständige Tochter eines ostdeutschen Konzerns der Optikindustrie O2 zählt mit 100-200 Beschäftigten zu den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Historisch ist sie eine der Ausgründungen aus dem zu DDR-Zeiten bestehenden örtlichen Kombinat. In den letzten Jahren war die GmbH mit einer weitgehend stabilen Belegschaftsgröße zum weit überwiegenden Teil in der Forschung und Entwicklung sowie Konstruktion von in Kleinserie gefertigten optischen Systemen tätig, konnte seit 2000 zehn gewerbliche Beschäftigte einer vormalig als Zulieferer tätigen Produktionsfirma integrieren 32 und verzeichnet gegenwärtig auch darüber hinaus ein leichtes Wachstum der Belegschaft. 90% der Gesamtbelegschaft sind Hochschulabsolventen überwiegend aus dem naturwissenschaftlichen Bereich, ca. 20% davon sind Promovenden. Lediglich 10% der Belegschaft weisen einen Realschulabschluss oder sonstigen Abschluss auf. Bei dem Unternehmen handelt es sich im Hinblick auf das Leistungsprogramm und Kerngeschäft um ein reines Forschungs- und Entwicklungsunternehmen. Alle drei Untersuchungsbetriebe berichten über gegenwärtige Rekrutierungsschwierigkeiten bei der Suche nach neuem, qualifiziertem Personal auf Facharbeiter- oder Akademikerniveau – eine Situation, mit der sie bekanntlich nicht allein stehen (vgl. von Behr, Semlinger 2004; Reinberg, Hummel 2003; Bonin et al. 2007, BITKOM 2007; Koppel 2007; VDI 2007). 5. Empirische Befunde zur ERA-Einführung in den Pilotbetrieben 5.1 Meilensteine des Vorbereitungs- und Einführungsprozesses Die erste Gemeinsamkeit der drei Untersuchungsbetriebe ist darin zu sehen, dass sie zum frühestmöglichen Zeitpunkt ERA eingeführt haben. Alle drei Betriebe standen im Zuge der ERA-Vorbereitung in engem Kontakt mit dem regionalen Arbeitsgeberverband VMET in Erfurt und der IG Metall Bezirksleitung in Frankfurt. Sie stellen sowohl im Hinblick auf den Umstellungszeitpunkt als auch hinsichtlich der Gründlichkeit der Vorbereitung und internen Informationspolitik Pilotfirmen und „Leuchtturmbetriebe“ dar. In der Tabelle (siehe Tabelle 2) sind maßgebliche Einführungsschritte und Meilensteine ersichtlich. 33 A1 O1 O2 Frühjahr 2004 Jan. 2005 Jan. 2005 1. Beginn ERAVorbereitungen durch Arbeitgeber 2. Info über Einführung an Betriebsrat Juli 2004 Juli 2005 Juli 2005 3. Abgleich der alten und neuen Entgeltgruppen, zusammen mit VMET & Betriebsrat Sept. 2004 Aug. 2005 Aug. 2005 4. Abstimmung mit Konzernmutter Okt. 2004 bis Dez. 2004 nicht nötig nicht nötig 5. Info über Einführung an Beschäftigte Dez. 2004 Aug. 2005 (Flyer) Aug. 2005 (Flyer) Betriebsversammlung Betriebsversammlung Nov. 2004 bis Dez. 2004 30.09.2005 30.09.2005 Feb. 2005 Nov. 2005 Okt. 2005 keine Nov. 2005 bis Jan. 2006 Nov. bis Dez. 2005 01.04.2005 01.03.2006 01.03.2006 6. Betriebsvereinbarung zur ERA-Einführung 21.02.2005 (Unterzeichnung) 7. Info Beschäftigte über individuelles Entgelt vorher/nachher 8. Verhandlungen über Streitfälle in PaKo 9. Wirksamkeit der neuen Entgelttabelle Tabelle 2: 5.2 Meilensteine der ERA-Vorbereitung und Einführung in den Untersuchungsbetrieben Konkrete Vorgehensweisen und Besonderheiten bei der ERA-Einführung und -Umsetzung Über die formale Zeitschiene hinaus wird im Folgenden auf die Vorgehensweisen eingegangen, die den schnellen Einführungsprozess gestützt und beschleunigt haben. Teilweise sind diese Vorgehensweisen den untersuchten Betrieben gemeinsam, andererseits gibt es auch Prozeduren, die jeweils nur für einen der Betriebe spezifisch sind. Zunächst zu den Gemeinsamkeiten: Die Personalleiter/-innen aller drei Unternehmen waren bereits in der Vergangenheit im Vorstand und im Mitgliederrat bzw. in der Tarifkommission des Arbeitgeberverbandes VMET aktiv und damit selbst maßgeblich an der Vorbe- 34 reitung und Gestaltung des Tarifvertrags beteiligt. Dies und die Tatsache, dass die drei Betriebe bereits frühzeitig in der Anwendung des neuen Tarifsystems Vorteile gesehen haben, veranlasste sie dazu, bei Arbeitgeberverband und IG Metall ihr Interesse an einer frühen ERA-Einführung zu bekunden. Zudem führte diese enge Abstimmung mit den Tarifparteien bereits in der Phase der Definition und Aushandlung des Tarifvertragswerks dazu, dass der Verhandlungspartner im Binnenverhältnis – die Betriebsräte – bereits sehr frühzeitig mit aktuellen Informationen versorgt war. Zu erkennen ist ferner, dass sich beide Tarifparteien von dem in diesen drei Betrieben zu erwartenden Umsetzungserfolg gewissermaßen eine Werbung für den ERA-Tarifvertrag im gesamten Tarifgebiet erhofften. Mit der Konzentration auf diese Betriebe war zudem die verbandspolitische Hoffnung verbunden, weitere Unternehmen in der Tarifbindung zu erhalten bzw. zusätzliche Firmen zur Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband zu bewegen. Schließlich ging es den Tarifparteien mit dem Beweis einer friktionslosen ERA-Einführung auch darum, das in den Verbänden anderer Tarifbezirke mitunter kritisierte Verfahren der Tariflichen Entsprechung, bei dem man informell von einer „Regelüberführung“ sprechen kann, zu legitimieren – und sich diesen gegenüber als Vorreiter der Tarifumsetzung darzustellen. Aussagen der an der Aushandlung beteiligten Vertreter von Arbeitgeberverband und IG Metall zufolge wurde bereits im Rahmen des Verfahrens zur Definition des Tarifwerks ein sehr offener Verhandlungsstil mit gutem Gesprächsklima und guten persönlichen Kontakten gepflegt. Hier zeigte sich ein starkes gemeinsames Interesse am Erfolg der ERA-Einführung. Dies spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass es im Zuge der betrieblichen ERA-Vorbereitung und im Rahmen der damit verbundenen Schulungen keine strikte Trennung zwischen Verbandsschulungen für die Geschäftsleitungen und Gewerkschaftsschulungen für die Betriebsräte gab, sondern oftmals auch die jeweilige „Gegenseite“ an den grundlegenden Schulungen partizipierte und das entsprechende Material nutzen konnte; möglicherweise deutet sich darin eine auf die gemeinsamen Leidenserfahrungen seit der Wiedervereinigung zurückgehende „fraktionsübergreifende“ Solidarität und „Alle-gemeinsam-in-einem-Boot“Mentalität an. Ergänzend wurden, aufgrund der interessenpolitischen Bedingungen der jeweiligen Betriebsparteien, auch jeweils gesonderte Beratungen durchgeführt. Demgemäß nutzten die Personalleitungen und Vorgesetzten der Abteilungen eher die konkreten Vorlagen des VMET zur Tätigkeitsbeschreibung und Arbeitsbewertung der Mitarbeiter; und die Betriebsräte griffen bevorzugt auf das Material der IG Metall (z.B. Zeitpläne, Mindestanforderungen für Zusatzstufen, Übergangsregelungen, Fristen) zurück. So bot z.B. die IG Metall für Betriebsrats- und Ersatzmitglieder eigene Schulungen speziell auf das jeweilige Unternehmen abgestimmt an, um dessen betriebsspezifische Voraussetzungen und 35 Probleme zu klären. Insgesamt aber bestand bei der Informationsbeschaffung über die grundlegenden Tarifvertragsregelungen eine ziemlich große Schnittmenge hinsichtlich der von beiden Betriebsparteien genutzten Ansprechpartner. Drei weitere gemeinsame unternehmensinterne Gründe für die schnelle ERAEinführung lassen sich erkennen: 1. Alle Betriebsparteien gingen zum Zeitpunkt der Entscheidung über die ERA-Umsetzung und während der Ausgestaltung der Betriebsvereinbarungen davon aus, dass die vorgängigen Arbeitsbewertungen und Entgeltstrukturen im Betrieb bereits der betrieblichen Realität angemessen sind und zutreffen – z.B. weil vor nicht allzu langer Zeit eine Arbeitsbewertung der betrieblichen Arbeitsprozesse und -plätze oder eine Aktualisierung der Funktionsbeschreibungen stattgefunden hatte. 2. Alle Betriebsparteien wollten einer möglicherweise für den Betrieb ungünstigeren bzw. betriebsferneren Lösung im Mutterkonzern zuvorkommen, die z.B. durch einen einheitlichen Konzern-ERA-Vertrag oder durch eine Übertragung des ERA-Tarifvertrags aus anderen Tarifbezirken möglich gewesen wäre. Es hätte z.B. zur Vorgabe der Übernahme des ERA-Tarifvertrags von Baden-Württemberg oder Bayern kommen können, wobei im letzteren Fall aufgrund der Tatsache, dass dieser deutlich später als die übrigen ERATarifverträge abgeschlossen wurde, Verzögerungen hätten eintreten können. Man stimmte auch darin überein, dass ein Abwarten von Konzernlösungen, sofern sie überhaupt gefunden werden könnten, in Zukunft nur weitere Irritationen in den Betrieb tragen würde. Entsprechende Überlegungen wurden z.B. hinsichtlich des Alleinstellungsmerkmals „Tarifliche Entsprechung“ oder im Hinblick auf die Sicherung der bewährten Betriebsund Entgeltstrukturen angestellt; übrigens auch seitens der Betriebsräte. Die Personalleitung von O1 erwähnt in diesem Zusammenhang auch die „Verzweiflung über die Tätigkeitsbeschreibungen in anderen Tarifgebieten“. Hiermit wird auf die Geschichte der einschlägigen Tarifverträge angespielt: Aufgrund der unterschiedlichen Bedeutung und Entwicklung der Wirtschaftsstrukturen in den einzelnen Tarifbezirken hatten sich zum Teil sehr unterschiedliche Arbeitsbewertungsverfahren (analytische versus summarische Arbeitsbewertung) etabliert, die nicht ohne größeren Aufwand auf andere Tarifbezirke übertragbar gewesen wären. 3. Auf Betriebsrats- und Beschäftigtenseite wirkte sich die Besitzstandswahrung, auf Unternehmensseite die Kostenneutralität der ERA-Einführung als der raschen Umsetzung förderlich aus. Zudem wurde die ERA-Einführung von den Betriebsparteien intern eher als eine nur formale Transformation 36 von Bezeichnungen denn als konkreter und grundsätzlicher Strukturwandel verkauft. So berichten die Betriebsräte, dass ihre Kolleginnen und Kollegen wussten: Trotz der Vereinheitlichung der Bezeichnungen von „Gewerblichen“ und „Angestellten“ soll die ehemalige Struktur grundsätzlich beibehalten werden. Über diese Gemeinsamkeiten hinaus lassen sich verschiedene Sonderbedingungen in den einzelnen Betrieben herausarbeiten, die eine rasche Umsetzung ermöglichten: Bei A1 waren insofern für eine schnelle ERA-Umsetzung sehr günstige Voraussetzungen gegeben, als die vorgängigen Organisations- und Entgeltstrukturen bereits ERA-ähnlich waren und demgemäß eine leichtere Anpassung möglich war. Bereits vor der ERA-Einführung wurde eine einheitliche Entgelttabelle ohne Differenzierung zwischen Gewerblichen und Angestellten und zudem eine für alle Beschäftigten einheitliche Entgeltgrundlage „Entgelt mit Leistungszulage“ angewandt. Es bestanden bereits zehn einheitliche Entgeltgruppen, so dass mit der neuen ERA-Regelung lediglich auf dem Niveau von E4 (unterhalb der Facharbeiter-Entgeltgruppe) und von E10 (für Hochschulabsolventen) zusätzliche Entgeltgruppen eingeführt wurden. Für die Position des Betriebsrats und die Antizipation von ERA durch die Belegschaft war aufgrund der relativ geringen Unterschiede der neuen zur alten Eingruppierungsregelung hohe Akzeptanz gegeben. Betriebsrat und Personalleitung waren auch gemeinsam der Meinung, dass durch die im Tarifvertrag geregelte Offenheit und Objektivität der Bewertung ohnehin eine hohe Akzeptanz seitens der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vorausgesetzt werden könne. Mit der Besitzstandswahrung wurden zugleich die vormaligen, über dem Tarif liegenden betrieblichen Entgelte abgesichert. Eine mit dem Betriebsrat abgestimmte Zeitplanung beinhaltete ferner eine frühzeitige und umfassende Information der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch die Personalleitung; dazu wurden die Beschäftigten über die Verteilung des Flyers an die Belegschaft hinaus in Gruppen (die z.B. einer Meisterei entsprachen und ca. 30 Leute umfassten) eingeteilt und erhielten die Perspektiven der ERA-Umstellung durch Präsentationen im Umfeld ihres Arbeitsplatzes vorgestellt und erklärt; das konnte das „Mitarbeiterforum“ sein oder auch ein Aushang am „Boxenstopp“ in der Produktion. Auch die Arbeitnehmer selbst sahen sich durch Veranstaltungen und Entgeltformulare über „die Hintergründe, wie das vonstatten gehen soll, und mit Funktionsbeschreibung etc.“ sehr gut informiert. Aufgrund der Besitzstandswahrung wurde nach Aussage der befragten Arbeitskräfte ERA allerdings nur am Rande zur Kenntnis genommen, gewissermaßen abgehakt und nicht breiter debattiert. ERA ist in diesem Betrieb mittlerweile vollständig umgesetzt: Der Strukturan- 37 passungsfonds wurde bereits unmittelbar nach dem ERA-Einstieg in einer Einmalzahlung zusammen mit der Entgeltauszahlung an die gesamte Belegschaft ausgeschüttet, wozu noch im ersten Monat der ERA-Anwendung eine Betriebsvereinbarung abgeschlossen wurde. Damit waren bereits sehr schnell nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens keine weiteren Schritte mehr notwendig. In diesem Fall liegt ein weiterer wesentlicher Grund für die schnelle Umsetzung in der bevorstehenden Verrentung des Personalleiters, der „den Nachfolgern keine Altlasten hinterlassen wollte“. Eine vergleichbar günstige Situation lag bei O1 vor. Als Gründe für den frühen Zeitpunkt der Einführung sehen die Gesprächspartner die Tatsache an, dass es sich um eine gemeinsame Initiative von Betriebsrat und Personalleitung handelte, dass zu diesem Zeitpunkt die ERA-Fachleute (vor allem der kurz vor der Rente stehende Personalleiter) noch im Betrieb waren, dass die Einführung noch vor der Betriebsratswahl vereinbart sein sollte und dass eine gute Abwicklung der Anpassung mittels SAP gesehen wurde. Im Hinblick auf die vorgängige Entgeltpraxis waren die Voraussetzungen für die Umstellungen insofern schon gegeben, da die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereits vorher nach zutreffenden Tätigkeitsbeschreibungen eingeteilt waren. In diesem Unternehmen wurde im Rahmen der Vorbereitung zusätzlich zu den Abstimmungen zwischen Betriebsrat und Personalleitung ein größerer Lenkungskreis installiert, da in Anbetracht der Reichweite und Zukunftswirkung der ERA-Einführung eine spezifische Informierung und Weiterbildung möglichst vieler Unternehmensbereiche als notwendig erachtet wurde. Die Mitglieder dieses Lenkungskreises – bestehend aus insgesamt acht Personen aus dem Betriebsrat, der Personalleitung, den Leitern von Schwerpunktbereichen wie Produktion und EDV/IT sowie aus dem Führungsgremium (Geschäftsführer, kaufmännischer Leiter) – berichteten jeweils über die Fortschritte in ihren Abteilungen. Zwei Betriebsräte nahmen an IG-Metall-Schulungen teil und hatten darüber hinaus die Möglichkeit, an ERA-Workshops des VMET in Erfurt zu partizipieren. Der Betriebsrat hatte im Vorfeld zwei weitere Beschäftigte als ERA-Beauftragte hinzugezogen, so dass vier „ERA-Leute“ im Betriebsrat mit dem Thema befasst waren. Schließlich mussten von der Personalleitung wegen der günstigen Entgeltlinie in Thüringen keine Vorgaben vom Mutterkonzern berücksichtigt oder abgewartet werden; eine konzerninterne Abstimmung wäre auch unsinnig gewesen, da sich nahezu alle Standorte in anderen Tarifgebieten befinden. Insofern konnte man sich bei der Informationsbeschaffung auf die Kontakte zu nur in Thüringen ansässigen Schwesterfirmen beschränken. Bei O2 lagen aufgrund der Tatsache, dass es sich um einen „kleinen und mittleren Betrieb“ (KMU) mit einer zudem sehr homogenen (überwiegend akade- 38 mischen) Belegschaftsstruktur handelte, vergleichsweise überschaubare Regelungsvoraussetzungen und -notwendigkeiten vor. Während die Personalleitung hauptsächlich mit dem VMET in Verbindung stand, nahm der Betriebsrat das Schulungsangebot bei der IG Metall in Anspruch. Auf der Grundlage der von der IG Metall vorgeschlagenen Zeitpläne forderte der Betriebsrat auch von sich aus Informationen von der Geschäftsleitung ein; im Betriebsrat selbst hatten sich die Betriebsratvorsitzende und ein weiterer Mitarbeiter auf ERA spezialisiert. Da die Betriebsratvorsitzende auch als Mitglied im Konzernbetriebsrat vertreten ist, wurde frühzeitig deutlich, dass ein eigenständiger Einstieg in ERA sinnvoll und notwendig ist, da im Konzern der Status der Einführung von ERA je nach Bundesland sehr unterschiedlich war. Verstärkend in dieser Richtung wirkte auch die Tatsache, dass O2 die einzige Firma im Konzernverbund ist, die tarifgebunden ist. Allerdings war der Haustarifvertrag der Konzernmutter bereits ERA-ähnlich, so dass sich auch von dieser Seite keine Hindernisse für die ERA-Umsetzung boten. Dem Betriebsrat zufolge konnte somit ein „relativ reibungsloser Ablauf der ERA-Einführung“ vonstatten gehen, da auch seitens der Unternehmensleitung „die erforderlichen Daten fristgerecht vorlagen“. Dennoch hätte sich der Betriebsrat mehr Zeit zur eigenen Vorbereitung gewünscht, um sich z.B. über die konkrete Einstufung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die Entgeltgruppen gründlicher intern – auch mit den Betroffenen – abzustimmen. Auch die Personalleitung bestätigt, dass „mit der Entscheidung zur Einführung alle (einschl. Betriebsrat) ziemlich überfahren wurden, da es lediglich eine Bekanntgabe gab, dass eingeführt wird, ohne zu fragen, ob eingeführt werden soll“. Dies entspricht allerdings durchaus dem im Tarifvertrag bekräftigten Anweisungs- und Entscheidungsvorrecht des Arbeitgebers. Ergänzt wurde diese Ankündigung letztlich im Verlauf der Einführungsvorbereitung durch zum Teil auch sehr kurzfristige, eher informelle Absprachen zwischen Geschäftsführung und Betriebsrat, wie es in einem KMU möglich ist. Einem derartigen weit reichenden Umstellungsprozess immanent und im Tarifvertrag geregelt ist die Möglichkeit zum Abschluss von freiwilligen Betriebsvereinbarungen. In allen drei Unternehmen wurde aufgrund der beabsichtigten Anwendung der Regelung Tariflicher Entsprechung im Vorfeld eine „Betriebsvereinbarung zur Einführung sowie über die Anwendung der Tariflichen Entsprechung und die Verfahren der Überleitung zur Neueingruppierung“ abgeschlossen. Im Unternehmen O1 wurde zusätzlich eine Betriebsvereinbarung über die Regelung der Umstellung von bestehenden Betriebsvereinbarungen auf ERA unterzeichnet, die im Kern die Begriffsersetzung und -anpassung in den vorhandenen anderen Betriebsvereinbarungen klärte. Hierbei war der Ansprechpartner für den Betriebsrat zumeist die Gewerkschaft; es wurden aber auch Kontakte zu anderen Betrieben via Internet aufgenommen, Vorlagen und Arbeitsmo- 39 delle des VMET genutzt, Gespräche mit Betriebsräten und Personalleitern anderer Betriebe geführt sowie Kontakte auf Seminaren zur wechselseitigen Unterstützung geknüpft. Beim Fahrzeugteilehersteller A1 wurden zwei zusätzliche Betriebsvereinbarungen unterzeichnet: eine Betriebsvereinbarung zur vorzeitigen Auszahlung des Anpassungsfonds und eine Betriebsvereinbarung zur Verwendung der individuellen Ausgleichszulage. Mit der letzteren Betriebsvereinbarung, zwei Monate vor der formalen ERA-Anwendung unterzeichnet, sollte explizit klargelegt werden, dass die ermittelte tarifliche Ausgleichssumme den Beschäftigten bei der ersten Tariferhöhung zu 100% als individuelle Wiederzuführung ausgeschüttet wird. Auf diese Weise wurde für die Mitarbeiter auch auf betrieblicher Ebene, über den Wortlaut des Tarifvertrags hinaus, noch einmal explizit festgehalten, dass sie dasselbe Entgelt wie zuvor erhalten und einige sogar mehr. 5.3 Tarifliche Entsprechung und Kennzeichen der neuen Eingruppierung Die Betriebsvereinbarung zur Anwendung der Tariflichen Entsprechung wurde in den Untersuchungsbetrieben als erster Schritt der Koordinierung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat abgeschlossen, noch vor der Sichtung und Einzelfallprüfung der neuen betrieblichen Entgeltrelationen durch den Betriebsrat und die Mitarbeiter selbst. Die Erkenntnis von Differenzierungsnotwendigkeiten kann sich folglich oftmals erst deutlich später herausstellen. Dies führte in den drei Untersuchungsbetrieben zu einem jeweils betriebsspezifisch angepassten Umgang mit dem Instrument Tarifliche Entsprechung (s. auch Tabelle im Anhang). Während bei dem Unternehmen aus der Automobilindustrie schnell erkennbar war, dass die Tarifliche Entsprechung für die gesamte Belegschaft angewendet werden konnte, stellte sich in den beiden Betrieben aus der Optikindustrie eine begrenzte Abkehr von der vollständigen Anwendung der Tariflichen Entsprechung als erforderlich heraus. Auch dies ist übrigens eine Möglichkeit, die der Tarifvertrag explizit vorgibt. Aus zwei Gründen wurde bereits frühzeitig in A1 festgestellt, dass die Tarifliche Entsprechung zu 100%, also ohne Ausnahme, für die Gesamtbelegschaft übernommen werden kann: Zum ersten wurde die letzte vollständige Eingruppierung aller Arbeitskräfte unmittelbar nach der Betriebsgründung 1992 getätigt, so dass seitens Personalleitung und Betriebsrat die übereinstimmende Einschätzung bestand, dass aufgrund der stimmigen Eingruppierung für die Mitarbeiter kein Risiko besteht, niedriger eingestuft zu werden. Zum zweiten wurde schon vor ERA eine übertarifliche Bezahlung gewährt, so dass in Verbindung mit der Zu- 40 sage, dieses Niveau zu halten, die Akzeptanz in der Belegschaft gesichert schien. Da das Unternehmen vor der ERA-Einführung ein eigenes Tarifsystem angewandt hatte, dessen Grundstruktur übernommen werden sollte, wurde die ERAEinführung mit Zustimmung der Tarifvertragsparteien auf der Grundlage einer Betriebsvereinbarung nach einer eigenen Regelung Tariflicher Entsprechung durchgeführt. Dennoch wurden nochmals, über die zügige Anwendung der Tariflichen Entsprechung hinaus, Arbeitsplatzbeschreibungen für alle Beschäftigten erstellt, und zwar eigenständig und ohne Hilfe von außen (in Arbeitskreisen). Dafür waren drei Gründe maßgeblich: die Absicherung der Entscheidungen im Rahmen der Regelüberführung, die Zielsetzung einer Reduzierung der Anzahl unterschiedlicher Funktionsbeschreibungen und die bevorstehende konzernweite Aktualisierung von Arbeits- und Tätigkeitsbeschreibungen. Durch das Erstellen einer Funktionsmatrix und eine Grobgliederung in Sachbearbeiter, Spezialisten und Referenten gelang im Gesamtkonzern eine Reduzierung der ursprünglich 800 Funktionsbeschreibungen auf nunmehr 200, wovon 120 im AngestelltenBereich liegen. Diese Matrix wurde durch einen Arbeitsbewertungsfachmann der Konzernmutter überprüft und abgezeichnet. Der in einem anderen Bundesland angesiedelte Mutterkonzern wollte anfangs – auch aufgrund der Tatsache, dass dort die ERA-Einführung etwas später bevorstand – keine Empfehlungen aussprechen, erkannte aber nach der ERA-Anwendung in seinen Standorten die Notwendigkeit zur konzernweiten Vereinheitlichung der Arbeitsbewertungen sowie das Erfordernis einer partiellen Revision von Eingruppierungen. Deshalb wurden die Wortlaute der Funktionsbeschreibungen erst im Nachhinein im gesamten Konzern abgeglichen, vereinheitlicht und im Jahre 2006 verbindlich fertiggestellt. Diese wurden nun am untersuchten Standort nachträglich den Mitarbeitern zur Kenntnis gegeben, ohne dass sich jedoch an der individuellen Eingruppierung etwas geändert hätte. In O1 bestand zunächst die Überzeugung, dass die Tarifliche Entsprechung zu 100% angewandt werden könne, da die letzte vollständige Eingruppierungsrunde erst 1991 aufgrund des damaligen neuen Tarifvertrags stattgefunden hatte. Zudem war im Jahr 2004 eine Aktualisierung vorgenommen worden, um die nicht weniger als 800 Tätigkeitsbeschreibungen im Unternehmen auf 300 zu reduzieren, wobei z.T. vollkommen neue erstellt wurden. Es lagen also bereits bei der Gründung 1991 für die damals 3.000 Mitarbeiter Tätigkeitsbeschreibungen vor, die immer schon über eine Paritätische Kommission geregelt wurden. Strukturelle Veränderungen im Laufe der Zeit hatten jedoch dazu geführt, dass Mitarbeiter andere Tätigkeiten ausübten, als sie ihre Tätigkeitsbeschreibung auswies. Auch die Anzahl der Mitarbeiter hat sich erheblich reduziert. Da aber Tätigkeitsbeschreibungen vorlagen, schien eine 1:1-Überleitung zunächst ziemlich sicher. ERA bot dann den Anlass, in einzelnen Bereichen 41 nachzufragen, ob die Mitarbeiter noch die Tätigkeit ausübten, die ihrer Beschreibung entsprach, wobei erkannt wurde, dass sich in einzelnen Punkten die Eingruppierungen nach dem alten IG-Metall-Tarif von den Regelungen des neuen ERA-Tarifvertrags unterschieden. So kamen im Vergleich zum alten Tarif, in dem neun Lohngruppen, jeweils sechs K- und T-Gruppen sowie vier Meistergruppen bestanden, durch ERA mit der Entgeltgruppe 9 und der Entgeltgruppe 11 zwei neue Entgeltgruppen hinzu, für die eine eindeutige Zuweisung der alten höheren K- bzw. T-Gruppen nicht ohne weiteres möglich war. Teilweise wurden auch Neueingruppierungen vorgenommen. Dies betraf ca. 70 Mitarbeiter, die meist aus Abteilungen mit technologischen Veränderungen kamen. Insgesamt stellte sich dann – abgesehen von den Einsprüchen in der Paritätischen Kommission (s.u.) – heraus, dass 90% der Belegschaft nach den Maßgaben der Tariflichen Entsprechung überführt werden konnten, während die restlichen 10% im Zuge der ERA-Einführung neu eingruppiert wurden. Zur Ermittlung der tatsächlichen Anwendbarkeit der Tariflichen Entsprechung wurde im Einzelnen folgendes Vorgehen angewandt: Die Personalabteilung erstellte für jeden einzelnen Mitarbeiter eine Liste mit Tätigkeitsbeschreibungen, die durch den Abteilungsleiter bzw. Meister kommentiert werden konnte. Letztlich waren die Abteilungsleiter zuständig für die Tätigkeitsbeschreibung ihres Bereichs. Sie erhielten mittels des Musters von der Personalleitung eine Hilfe, konnten diese Liste – in Absprache mit anderen Leitern zum Zweck der abteilungsübergreifenden Vereinheitlichung der Beschreibungen – überarbeiten und an die Personalleitung zurücksenden. Bis ca. März 2005 wurden so 120-130 der 300 Tätigkeitsbeschreibungen aufgrund technischen und organisatorischen Wandels überarbeitet und zusätzlich 40 Tätigkeiten, die 100 Mitarbeiter betrafen, neu beschrieben. Anschließend wurden diese Tätigkeitsbeschreibungen den Mitarbeitern selbst zur Korrektur vorgelegt. Sofern keine grundlegenden Einwände oder Korrekturwünsche bestanden, wurden diese Tätigkeitsbeschreibungen durch die Paritätische Kommission (PaKo), also von der Personalabteilung gemeinsam mit dem Betriebsrat, bewertet und den einzelnen Entgeltgruppen zugewiesen. Dabei wurden die Entgeltgruppen E11 und E9 nicht belegt, die Z-Stufe wurde nur den Meistern gewährt. Anschließend erhielten die Mitarbeiter ein Schreiben mit der Mitteilung ihrer Tätigkeit, ihrer Eingruppierung und der Zusammensetzung ihres Entgelts (alt und neu). Diese Umsetzung der Neueingruppierung fand im Juli und August 2005 statt, um bis Jahresende Widersprüche zu klären und beenden zu können. Unmittelbar vor dem ERAStichtag weiterhin ungeklärte Fälle zu Beginn des Jahres 2006 wurden nach dem alten Tarifvertrag behandelt und erst später abgearbeitet. 42 Vergleichbar lief es in O2. Begonnen wurde hier ebenfalls mit der Anfertigung von Arbeitsplatzbeschreibungen durch die Geschäftsführung/Personalleitung, über deren Gültigkeit und Anwendung eine gemeinsame Abstimmung mit dem Betriebsrat erfolgte. Dieser Prozess verlief wider Erwarten schleppend, da die bestehenden Beschreibungen veraltet waren und neue Beschreibungen für alle Mitarbeiter sich als nötig erwiesen. Initiiert wurde das Verfahren, indem die Eingruppierung den Abteilungsleitern übertragen wurde. Sie mussten entscheiden, ob ein Mitarbeiter nach der Tariflichen Entsprechung umgestellt oder neu eingruppiert werden muss. Im Rahmen dieser Sichtung stellte sich zunächst heraus, dass es insgesamt ca. 20 bis 30 Tätigkeitsbeschreibungen gab, wovon die Hälfte aufgrund der Übereinstimmung mit dem neuen Tarifvertragswortlaut nach der Tariflichen Entsprechung behandelt werden konnte, während für die anderen 50% eine Neueingruppierung nötig war. Für diese wurden neue Tätigkeitsbeschreibungen erstellt und den neu definierten Entgeltgruppen zugeordnet. Dabei wurde erkannt, dass nur bei einzelnen der Neueingruppierten tatsächlich entgeltrelevante Veränderungen in den Tätigkeiten stattgefunden haben. Im Nachhinein ist nun erkennbar, dass zwar bei einem Großteil die Tätigkeitsbeschreibungen nicht mehr zutreffend waren, dass aber bei den Entgeltgruppen von insgesamt 80-85% der Belegschaft die Überführung, materiell gesehen, mit einer Tabellenüberführung im Sinne der Tariflichen Entsprechung übereinstimmte. Zum Abschluss erhielt jeder Mitarbeiter eine Information von der Personalleitung, wie sich das Gehalt vor und das Entgelt nach der Einführung zusammensetzt. Ein Betriebsrat kommentierte, das sei „viel Aufwand“ gewesen, aber „eine große Hilfe für die Mitarbeiter, die Sachlage nachzuvollziehen“. Die zuerst nur für die neu eingruppierten Mitarbeiter erarbeiteten Tätigkeitsbeschreibungen wurden anschließend, etwas zeitversetzt, auch für die Mitarbeiter mit Regelüberführung aktualisiert. Da ca. ein Drittel der Belegschaft aus außertariflichen Mitarbeitern besteht und die AT-Gehälter über E12 in ERA und über T6 im alten Tarifvertrag liegen, konnten diese nicht in die ERA-Systematik aufgenommen werden, weil eine adäquate tarifliche Eingruppierung nicht möglich gewesen wäre. 5.4 Besondere Probleme der Tarifvertragsanwendung bei der Eingruppierung Bei der Anwendung des ERA-Tarifvertrags zeichneten sich im Rahmen der Arbeitsbewertungen in allen Untersuchungsbetrieben ähnliche Probleme ab: (1) Problem der neuen Zusatzstufen: Diese stellen eine wichtige Veränderung zum vormals angewandten Tarifvertrag dar und sind – nach Einschätzung der Gesprächspartner – im ERA-Tarifvertrag nicht eindeutig geregelt. Wie oben 43 dargestellt, wurde dort zu jeder der zwölf Entgeltgruppen jeweils eine Zusatzstufe definiert, die Beschäftigten zusteht, welche zusätzlich dauerhaft dispositive Aufgaben und/oder Aufgaben der Anleitung und Führung von Beschäftigten ausführen oder denen dauerhaft zusätzliche Tätigkeiten, die wesentlich über die Anforderungen der Entgeltgruppe hinausgehen und deshalb eine zusätzliche Qualifikation erfordern, übertragen werden. In der betrieblichen Anwendung stellten sich u.a. folgende Fragen: Welche dispositiven Funktionen rechtfertigen eine Eingruppierung in eine Z-Stufe? Wie ist bei einer nur zeitlich befristeten Übernahme dispositiver Funktionen zu verfahren? Welcher Zeitraum der Berufserfahrung soll für die Eingruppierung in eine Z-Stufe zugrunde gelegt werden? Für die Betriebe bestand dabei das Problem, dass aufgrund der Besitzstandswahrung der zur ERA-Einführung gültigen Eingruppierung die Z-Gruppen weiterhin bezahlt werden müssen, auch dann, wenn sie später wieder wegfallen. In O1 wurde deshalb in einer Absprache der Personalleitung mit dem Betriebsrat vereinbart, die Z-Gruppen zunächst nicht zu verwenden, sondern stattdessen weiterhin Zulagen zu zahlen und eine endgültige Entscheidung so lange zu vertagen, bis erste Erfahrungen mit der ERA-Anwendung vorliegen. Da bei einer künftigen Rückstufung von einer Z- auf eine E-Stufe das Entgelt als Besitzstand festgeschrieben und erst über Jahre hinweg abgebaut und tariflich verschmolzen wird, sah sich der Betrieb davon abgehalten, Z-Gruppen in größerem Umfang anzuwenden, auch wenn die Tätigkeiten das u.U. ermöglicht hätten. (2) Anwendbarkeit der Niveaubeispiele: Angesichts der Vielfalt von unterschiedlichen Arbeitsfunktionen und dem zwischen verschiedenen Betrieben kaum vergleichbaren Zuschnitt der Arbeitsplätze zeigte sich eine gewisse Unsicherheit, ob die tariflichen Niveaubeispiele trotz Abweichungen zur betrieblichen Realität angewandt werden dürfen oder sollen, womit sie auch entgeltrelevant würden. In einem Fall kam es zu einem Einspruch der IG Metall wegen Verwendung der von der Gewerkschaft als für den Betrieb nicht zutreffend klassifizierten Niveaubeispiele; nach einer neuerlichen Prüfung mit Beratung des VMET wurden dann letztlich nur diejenigen Niveaubeispiele verwendet, die nach Einschätzung der Betriebsparteien passten. (3) Wirkung, Berechnungsmodus und Ausschüttung der tariflichen Ausgleichszulage: Sowohl bei der Anwendung der Tariflichen Entsprechung als auch bei Neueingruppierungen können sich die Gesamteinkommen der Beschäftigten bei einem Vergleich des alten Entgelts mit dem neuen Entgelt unterscheiden. Es wird hier von „Überschreitern“ bzw. „Unterschreitern“ gesprochen (siehe Abbildung 6). Bei den „Überschreitern“ überstiege das alte Gehalt das neue Entgelt, wenn die neuen Eingruppierungsregelungen vollständig in Kraft gesetzt würden – ihr neues Entgelt wäre daher niedriger als das alte. Die Besitzstands- 44 regelung im Tarifvertrag verhindert eine solche Entgeltkürzung, ermöglicht allerdings eine Anrechnung auf künftige Tariferhöhungen: „Für den Fall, dass das neue tarifliche ERA-Entgelt (Grundentgelt zuzüglich Leistungskomponenten, zuzüglich einer Belastungszulage (…)) den bisherigen tariflichen Lohn bzw. das tarifliche Gehalt unterschreitet, erfolgt die Sicherung des Einkommens durch Ausweisung einer Ausgleichszulage, die nicht an tariflichen Erhöhungen teilnimmt“ (Tarifvertrag zur Einführung des Entgeltrahmenabkommens, § 6 Abs. 3). „Diese Ausgleichszulage ist voll anrechenbar, wenn der Beschäftigte in eine höhere Entgeltgruppe umgruppiert wird. Sie ist ansonsten bis zur Hälfte des Erhöhungsbetrages der jeweiligen Tarifentgelterhöhung anrechenbar“ (ebd., § 6 Abs. 4). Bei den „Unterschreitern“ würde umgekehrt das alte Gehalt das neue Entgelt unterschreiten, wenn die neuen Eingruppierungsregelungen vollständig in Kraft gesetzt würden; ihr neues Entgelt wäre also höher als das alte. Um die Betriebe – aus der Interessenlage des Arbeitgeberverbands – vor sprunghaft steigenden Entgeltsummen zu schützen und um – aus der Interessenlage der Gewerkschaft – zu verhindern, dass die Betriebe aus diesem Grund höhere Neueingruppierungen vermeiden, wurde im Tarifvertrag eine schrittweise Anhebung der Entgelte von Unterschreitern vereinbart: „Für den Fall, dass das neue tarifliche Grundentgelt das bisherige tarifliche Grundentgelt überschreitet, erfolgt die Anpassung des Einkommens durch Ausweisung einer Entgeltdifferenz, auf die nicht einbezogene übertarifliche Verdienste angerechnet werden können“ (ebd., § 7 Abs. 1). „Verbleibende Differenzen werden zum Stichtag der betrieblichen Ersteinführung des neuen Entgeltrahmenabkommens um 100 € reduziert, das heißt, die maximale Entgelterhöhung zum Zeitpunkt der ERA-Einführung beträgt 100 €“ (ebd., § 7 Abs. 2). „Eine weiterhin verbleibende Differenz wird als Anpassungsbetrag ausgewiesen“ (ebd., § 7 Abs. 3). „Der Anpassungsbetrag wird jeweils nach 12 Monaten, beginnend mit Stichtag der betrieblichen Ersteinführung des Entgeltrahmenabkommens, um 100 € verringert, maximal jedoch um den verbliebenen Anpassungsbetrag“ (ebd., § 7 Abs. 4). „Spätestens nach 60 Monaten erfolgt die vollständige Anpassung an das Entgelt des Entgeltrahmenabkommens “ (ebd., § 7 Abs. 5). 45 Abbildung 6: Schematische Darstellung des Prinzips der Über- und Unterschreiter Quelle: IG Metall 2005, Arbeitsblatt 12, S. 1 (4) Wirksamkeit des Überschreiter-Unterschreiter-Problems: Zur Beantwortung der für die Beschäftigten zentralen Frage, wie sich das individuelle Entgelt nach der ERA-Einführung entwickelt, muss demnach zwischen Überschreitern und Unterschreitern unterschieden werden. Die Überschreiter – also diejenigen Beschäftigten, deren bisheriger Grundlohn oder deren altes Grundgehalt zuzüglich Leistungskomponenten und -zulagen über der Gesamtentgeltäquivalenz der neuen Entgeltgruppe liegt – erhalten zum Zeitpunkt der ERA-Einführung weiterhin ihre vorgängige Lohn- oder Gehaltssumme. Die rechnerische Differenz zwischen Alt und Neu wird als „Ausgleichszulage“ ausgewiesen und auf künftige Tariferhöhungen so lange angerechnet, bis sie abgeschmolzen ist. An Tariferhöhungen partizipieren die Überschreiter damit für diesen Zeitraum nicht in Form einer Einkommenssteigerung, die dem vollen Volumen der Tariferhöhung entspricht. Rechnerisch wird hier so verfahren, dass die Hälfte des Tariferhöhungsbetrags von der kalkulatorisch ausgewiesenen Ausgleichszulage abgezogen wird; dies wird bei künftigen Tariferhöhungen so lange wiederholt, bis keine Ausgleichszulage mehr übrig ist. Erst dann profitieren die Beschäftigten wieder in vollem Umfang von den Tariferhöhungen. Am Beispiel eines fiktiven 30jährigen technischen Angestellten, der im Rahmen der Tariflichen Entsprechung von der T4 in die Entgeltgruppe E8 überführt wird und bei dem sich aufgrund der gleichen Durchschnittsregelungen in beiden Tarifverträgen die Leistungszulage nicht vermindert, entwickelt sich das Entgelt folgendermaßen (siehe Tabelle 3; die Basiszahlen entsprechen nicht den Tarifentgelten, sondern wurden gerundet, da lediglich das Grundprinzip der Ausgleichszulage und des Anpassungsbetrags verdeutlicht werden soll). 46 Vor ERA Grundgehalt T4 Leistungszulage 10% Summe alt Tabelle 3: 3.000,00 300,00 3.300,00 Mit ERA-Start Grundentgelt E8 2.900,00 Leistungszulage 10% 290,00 Ausgleichszulage 110,00 Summe neu 3.300,00 Beispiel eines Überschreiters Quelle: Arbeitsblatt 12 des IG Metall Bezirk Frankfurt zur ERA-Umsetzung in der Metall- und Elektroindustrie, S. 3 sowie ERA-Rechner für das Tarifgebiet Thüringen und eigene Berechnungen Eine Tariferhöhung von 3% (auf das Grundentgelt) angenommen und zugleich unterstellt, es findet keine Veränderung in der Leistungsbeurteilung statt, würde diese Steigerung bei der ersten Tariferhöhung 87,00 € betragen, die zur Hälfte, also mit 43,50 €, von der zum Start von ERA ausgewiesenen Ausgleichszulage (110 €) abgezogen werden würde, so dass ein Rest von 66,50 € kalkulatorisch stehen bleibt. Bei der zweiten Tariferhöhung von wiederum unterstellten 3% würde ebenfalls nur die Hälfte des Steigerungsbetrags von 89,61 € – das sind 44,81 € – in eine Entgelterhöhung einberechnet werden, so dass wiederum eine verminderte restliche Ausgleichszulage ausgewiesen bliebe. In diesem Beispiel ist die Ausgleichszulage mit der dritten Tariferhöhung endgültig verrechnet. Nach Aussage der Gesprächspartner in den Untersuchungsbetrieben war bei ca. 90% der Überschreiter allerdings die Situation gegeben, dass in der Regel mit der ersten und spätestens mit der zweiten Tariferhöhung eine vollständige Verrechnung der Ausgleichszulage stattgefunden hat (siehe Tabelle 4). Grundentgelt E8 Leistungszulage 10% Ausgleichszulage Summe neu Tabelle 4: 1. Tariferhöhung 2. Tariferhöhung 3. Tariferhöhung 2.987,00 3.076,61 3.168,91 298,70 307,66 316,89 66,50 21,69 0,00 3.352,20 3.405,96 3.485,80 Verrechnung mit den Tariferhöhungen beim Überschreiter Quelle: ERA-Rechner für das Tarifgebiet Thüringen und eigene Berechnungen Ähnlich kompliziert stellen sich die Berechnungsgrundlagen bei den Unterschreitern – also denjenigen Beschäftigten, deren bisheriger Grundlohn oder altes Grundgehalt zuzüglich Leistungskomponenten und -zulagen unter dem Gesamtentgelt der neuen Entgeltgruppe liegt – dar. Sie verdienen auf der Grund- 47 lage der Eingruppierung mit der ERA-Einführung mehr, bekommen die Entgelterhöhung aber nicht sofort voll ausbezahlt. Sie erhalten stattdessen zum ERA-Start ein um maximal 100 € höheres Grundentgelt, während der evtl. verbleibende Rest als „Anpassungsbetrag“ ausgewiesen wird. Jeweils nach zwölf Monaten erhöht sich ihr Bruttoentgelt so lange um maximal 100 €, bis der negative Anpassungsbetrag abgeschmolzen ist; nach insgesamt fünf Jahren muss die gesamte noch ausstehende Differenz in vollem Umfang ausbezahlt werden. Im Gegensatz zu den Überschreitern partizipieren die Unterschreiter an den folgenden Tariferhöhungen allerdings voll. Am Beispiel eines gewerblichen Mitarbeiters, der im Rahmen der Anwendung der Tariflichen Entsprechung von der Lohngruppe 6 in die Entgeltgruppe 5 – mit einer Anpassung der tariflich durchschnittlichen Leistungszulage von zunächst 13% (Durchschnitt im alten Tarifvertrag) auf dann 10% (Durchschnitt im ERA-Tarifvertrag) – überführt worden ist, entwickelt sich das Entgelt z.B. wie in Tabelle 5 beispielhaft kalkuliert. In diesem Fallbeispiel sind also die „Altlasten“ bereits mit der erstmaligen Anwendung der neuen Entgelttabelle von ERA bereinigt. Vor ERA Grundlohn L6 Leistungszulage 13% Summe alt Tabelle 5: 2.000,00 260,00 2.260,00 ERA-Start Grundentgelt E5 2.100,00 Leistungszulage 10% 210,00 nachrichtlich: Anpassungsbetrag (nicht wirksam, da Differenz geringer als 100 €) (50,00) Summe neu 2.310,00 Einmalige Verrechnung mit dem ERA-Start beim Unterschreiter Quelle: Arbeitsblatt 12 des IG Metall Bezirk Frankfurt zur ERA-Umsetzung in der Metall- und Elektroindustrie, S. 2 sowie ERA-Rechner für das Tarifgebiet Thüringen und eigene Berechnungen Schließlich soll am Beispiel eines Beschäftigten, bei dem im Rahmen einer neuen Arbeitsbeschreibung und -bewertung eine Höhergruppierung vorgenommen wurde, das Prinzip eines über mehrere Tariferhöhungen mitzuführenden Anpassungsbetrags verdeutlicht werden. Das Entgelt eines gewerblichen Mitarbeiters, der von der Lohngruppe 6 in die Entgeltgruppe 6 – wiederum mit Anpassung der tariflich durchschnittlichen Leistungszulage von zunächst 13% auf dann 10% – eingruppiert worden ist, entwickelt sich z.B. folgendermaßen (siehe Tabelle 6): 48 Vor ERA Grundlohn L6 Leistungszulage 13% Summe alt Entgeltauszahlung Tabelle 6: 2.000,00 260,00 2.260,00 2.260,00 ERA-Start 1. Tariferhöhung 2. Tariferhöhung 2.300,00 2.369,00 2.440,07 230,00 236,90 244,01 Entgeltsumme neu 2.530,00 2.605,90 2.684,08 - Anpassungsbetrag (270 € Differenz abzüglich auszuzahlender 100 €) - 170,00 - 70,00 - 00,00 2.360,00 2.535,90 2.684,08 Grundentgelt E6 Leistungszulage 10% Verrechnung mit zwei Tariferhöhungen beim Unterschreiter Quelle: ERA-Rechner für das Tarifgebiet Thüringen und eigene Berechnungen Zusammengefasst sind also nur bei größeren Abweichungen in den Grundentgelten, die entweder auf eine größere Differenz zwischen den alten und neuen Entgelttabellen (bei Anwendung der Tariflichen Entsprechung) oder auf eine deutliche Höher- oder Abgruppierung im Zuge der neuen Arbeitsbewertungen zurückgehen, längere Korrekturphasen nach dem Zeitpunkt der ERA-Einführung vorzunehmen. In der Regel sind die kalkulatorischen Unterschiede bereits mit der ersten Tariferhöhung ausgeglichen. Im Hinblick auf die empirische Relevanz dieser Überschreiter-UnterschreiterProblematik stellt sich die Lage in den Untersuchungsbetrieben folgendermaßen dar: Bei A1 waren aufgrund der vorgängig übertariflichen Bezahlung ausschließlich Überschreiter im Unternehmen vorzufinden, deren Entgelt durch die Gewährung der tariflichen sowie zusätzlich einer individuellen Ausgleichszulage abgesichert war. Bei O1 waren von den insgesamt damals etwa 1.000 Beschäftigten 32 Unterschreiter und 34 Überschreiter; aus diesem Grund ergab sich nach der Neueingruppierung für ca. 7% der Beschäftigten eine Änderung des tariflichen Bruttogrundentgelts. Die Überschreiter bestanden zu zwei Dritteln aus technischen Angestellten und zu einem Drittel aus kaufmännischen Angestellten; die Unterschreiter bestanden zu zwei Dritteln aus gewerblichen Mitarbeitern. Von den annähernd 150 Beschäftigten bei O2 waren 59 Überschreiter und 21 Unterschreiter; zehn ATZ-Leute wurden nicht in ERA eingruppiert (die jeweiligen Anteile an der Gesamtbelegschaft ergeben somit etwa 16% Unterschreiter, 44% Überschreiter und ca. 40% mit gleichbleibendem Entgelt). 49 Der Vergleich der alten mit den neuen individuellen Entgeltgruppen wurde in allen Betrieben umfassend dokumentiert und dem Betriebsrat sowie den Beschäftigten auf ihren Entgeltzetteln ausführlich ausgewiesen. Man war sich jedoch zum Zeitpunkt der zweiten Erhebungswelle im Sommer/Herbst 2007 in allen Fällen bewusst, dass „die Über- und Unterschreiter auch künftig personalpolitisch überwacht werden müssen“ (Betriebsrat), was aufgrund der Hilfe durch die neuen einheitlichen Arbeitsbeschreibungen und die Dokumentierungen durch die Personalleitung seitens der Betriebsräte als bewältigbar erachtet wurde. Es gab einige Irritationen durch die Formulierungen im Tarifvertrag, wo das Verb „unterschreitet“ dort verwendet wird, wo es um die Überschreiter geht, und umgekehrt. Abgesehen davon stellten sich jedoch zum Zeitpunkt der ERA-Einführung Betriebsräte und Beschäftigte durchaus die Frage, wie sich in den Folgejahren tatsächlich die Gehälter entwickeln werden. „Ein bisschen Unsicherheit war eigentlich, hab ich so mitgekriegt, bei vielen, diese Ausgleichszahlung, die ja irgendwie ein bisschen schwammig ist. Also nach dem Motto oder auch der Frage „Hab ich das nächsten Monat auch noch oder in einem Jahr?“ (Techniker). 5.5 Verfahren und Verhandlungsfälle in der Paritätischen Kommission Die unterschiedlichen die ERA-Einführung und -Anwendung regelnden Tarifwerke schreiben die Einrichtung einer Paritätischen Kommission für Meinungsverschiedenheiten in zwei Fällen vor: In der entsprechenden Regelung im Entgeltrahmenabkommen (§ 11 Abs. 1) wird das Reklamationsverfahren explizit für Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit den neuen Grundsätzen der Entgeltgestaltung und den Fragen der Leistungsermittlung geregelt (siehe Abbildung 7). Für Reklamationen und Streitfälle, die sich auf die Arbeitsbewertung und Eingruppierung beziehen, ist das Instrument der Paritätischen Kommission im Tarifvertrag zur ERA-Einführung spezifiziert (§ 5). Widersprüche können sowohl von den Betriebsräten als auch den Beschäftigten selbst eingelegt werden. In der Tat nutzten die Untersuchungsbetriebe dieses Instrument für Meinungsverschiedenheiten, die im Zusammenhang mit den neuen Eingruppierungen auftraten, bereits in der Anfangsphase der ERA-Einführung sehr intensiv – speziell beim Thema der Überschreiter bzw. Unterschreiter. Das Instrument wurde also offenbar als sinnvolle Instanz zur Konfliktlösung angesehen. Diese Paritätischen Kommissionen (im Folgenden: PaKo) setzten sich aus vier betriebsangehörigen Mitgliedern zusammen, die zur Hälfte vom Arbeitgeber und zur Hälfte vom Betriebsrat benannt werden. 50 Abbildung 7: Tarifliches Verfahren bei Widersprüchen gegen die Eingruppierung und die Rolle der Paritätischen Kommission Quelle: IG Metall 2005, Arbeitsblatt 7, S. 1 Bei A1 wurde keine PaKo gebildet, da aufgrund der Besitzstandswahrung das spätere Entgelt der Beschäftigten dem vorherigen entsprach und auch in der Belegschaft allgemein keine Probleme gesehen wurden. Ein Mitarbeiter legte mündlich Einspruch ein, weil er wegen der Führung von drei Mitarbeitern in eine höhere Z-Stufe eingruppiert werden wollte. Diese Frage wurde einvernehmlich zwischen der Personalleitung, dem Betriebsrat und dem Beschäftigten geklärt. In O1 wurden in der PaKo 23 Einsprüche verhandelt. Die Verhandlungen ergaben, dass ein Drittel der Widersprüche berechtigt und zwei Drittel nicht berechtigt waren. Letztlich wurden alle Widersprüche beigelegt mit dem Hinweis, dass bei weiterhin bestehender Unzufriedenheit der Rechtsweg offen stehe. Im Herbst 2006 ergaben sich allerdings neuerliche Diskussionen, als die Mitarbeiter das konkrete Ergebnis in Händen hatten; so suchten 30 bis 40 Mitarbeiter Gespräche mit dem Betriebsrat, dessen Erklärung zu den Tarifvertragsregelungen und dem Verfahren der Eingruppierung offenbar einsichtig war, denn es wurde keine neue PaKo einberufen. Eine gewichtigere Rolle spielte die PaKo im Betrieb O2: Während ERA von der Belegschaft insgesamt akzeptiert wurde, waren zwölf Mitarbeiter mit der Neueingruppierung nicht zufrieden, da sie eine Abgruppierung zu erwarten 51 hatten (Überschreiter). Bei zwei Fällen konnte im Vorfeld, ohne formale Behandlung in der PaKo, bilateral mit den Beschäftigten die Höherstufung eines Mitarbeiters und die Akzeptanz der Herunterstufung durch den anderen Mitarbeiter geklärt werden. Die restlichen zehn Einsprüche wurden in zwei Sitzungen der PaKo (zusammengesetzt aus der Betriebsratsvorsitzenden, einem Betriebsratskollegen sowie jeweils einer Vertreterin der Geschäftsführung und Personalleitung) verhandelt. Hierbei wurden die Einsprüche entweder durch den Betriebsrat oder direkt durch die Mitarbeiter bei Geschäftsführung und Personalleitung eingebracht; in allen Fällen wurden die Widersprüche gemeinsam von Betriebsrat und Mitarbeiter ausgearbeitet, wobei der Betriebsrat sowohl Gespräche mit den Mitarbeitern selbst, um deren Argumente zu sammeln, als auch Gespräche mit den zuständigen Abteilungs- und Projektleitern geführt hat. Bei der Hälfte wurde in der PaKo zu Gunsten der Mitarbeiter im Sinne einer Höherstufung entschieden, bei der anderen Hälfte zu Gunsten der Geschäftsleitung im Sinne der Beibehaltung der Eingruppierung. Nach den Verhandlungen erging jeweils eine schriftliche Information von der Geschäftsführung an die Mitarbeiter über den Ausgang der Entscheidungen in der PaKo. Zwei Mitarbeiter hatten angekündigt, nach einer PaKo-Entscheidung zu ihren Ungunsten den Rechtsweg zu beschreiten, nach einem Klärungsgespräch mit der Personalleitung davon aber Abstand genommen. Nach Einschätzung der Personalleitung hat diese Problemklärung zur Einsicht der Mitarbeiter geführt, „dass eine höhere Stufe vielleicht auch zu viel Arbeit ist und somit für ihn nicht zu schaffen ist“. Mit einem Mitarbeiter konnte auch nach den PaKo-Verhandlungen keine Einigung erzielt werden, so dass dort in Abstimmung mit ihm beschlossen wurde, eine Klärung im Zusammenhang mit einer im Rahmen eines Arbeitsplatzwechsels anstehenden Neu-Eingruppierung zu suchen und dann evtl. eine Höherstufung vorzunehmen bzw. einen andersgearteten Kompromiss zu finden. Aufgrund der Reichweite der ERA-Umstellungen und da es im Betrieb sehr viele Überschreiter gab, hatte die Personalleitung eigentlich mehr Einsprüche erwartet; da die meisten dieser Überschreiter in der höchsten Gehaltsgruppe (T6) waren und in ihrer Eingruppierung gleichblieben, gab es jedoch keine Beschwerden dieser Mitarbeiter. Weder der Betriebsrat noch die Personalleitung verzeichneten Rückmeldungen von denjenigen Mitarbeitern, bei denen sich nichts geändert hat. Die betriebsklimatische und personalpolitische Bedeutung der PaKo wird vom Betriebsrat mit der Aussage hervorgehoben, „dass die Mitarbeiter, über die in der PaKo verhandelt wurde, gegenüber ERA nun positiv eingestellt sind, da sie sich durch das Unternehmen ernst genommen fühlen“. Dabei bezieht sich diese Aussage explizit auch auf die Fälle, bei denen zu ihren Ungunsten entschieden wurde, da diese Einsprüche 52 betriebsintern zum Einstieg in eine Diskussion und bilaterale Klärungen sowie für informative Begründungen genutzt wurden. 5.6 Entgeltgrundlagen: Einführungsprozess und Kennzeichen In den Untersuchungsbetrieben haben sich im Prozess der Umsetzung der neuen Entgeltgrundlagen neben gemeinsamen auch jeweils unterschiedliche Vorgehensweisen herausgebildet: In A1 war bereits vor der ERA-Einführung eine einheitliche Entgelttabelle ohne Differenzierung zwischen Gewerblichen und Angestellten und zudem eine für alle Beschäftigten einheitliche Entgeltgrundlage „Entgelt mit Leistungszulage“ angewandt worden. Da hier entschieden wurde, diese auch im ERA-Tarifvertrag vorgesehene Entgeltgrundlage beizubehalten, galten bereits zum Zeitpunkt der ERA-Einführung am 1.4.2005 die neuen Entgeltgrundlagen. In den beiden anderen Betrieben zeichnete sich hingegen ab, dass eine zeitliche Entkopplung zwischen Entscheidung und Umsetzung sinnvoll und erforderlich ist (siehe Tabelle 7). A1 O1 O2 1. Entscheidung zu Entgeltgrundlagen 01.04.2005 Entkopplung von der Umsetzung der Entgelttabellen 01.07.2006 2. Umsetzung 01.04.2005 Anfang 2007 01.07.2007 3. Neue Entgeltgrundlagen Entgelt mit Leistungszulage 80% der Tarifbeschäftigten: Entgelt mit Leistungszulage Entgelt mit Leistungszulage (betriebliches Modell) (tarifliches Modell) (tarifliches Modell) Bei den 20% Prämienlöhnern steht Entgeltgrundlage zur Disposition Tabelle 7: Zeitschiene zur Anpassung der Entgeltgrundlagen in den Untersuchungsbetrieben Zunächst ist festzuhalten, dass der neue Tarifvertrag für das Entgelt mit Leistungszulage bei den Vorgaben zum Durchschnittssatz dieser Leistungszulagen im Unternehmen von den Regelungen des alten Tarifvertrags abweicht. Der alte Tarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie sah bei Anwendung dieses 53 Entlohnungsgrundsatzes für die gewerblichen Mitarbeiter einen Zeitlohn mit einer 13-prozentigen Leistungszulage im Betriebsdurchschnitt und für die Angestellten ein Gehalt mit einer durchschnittlich zehnprozentigen Leistungszulage vor. Mit ERA wird hier eine einheitliche Regelung in Form des Entgelts mit einer durchschnittlichen Leistungszulage getroffen, die „mindestens 10% der Summe der tariflichen Grundentgelte der nach dem Entgeltgrundsatz ‚Beurteilung’ erfassten Beschäftigten im jeweiligen Geltungsbereich betragen“ muss (ERA, § 8 Abs. 1). Das ERA geht im Normalfall davon aus, dass eine Betriebsvereinbarung zum Beurteilungsverfahren abgeschlossen wird, aus der z.B. die Beurteilungsmerkmale und -stufen sowie die Gesamtpunktzahl und Gewichtung hervorgehen (ERA, § 8 Abs. 2). Insofern die betrieblichen Verhandlungspartner – Arbeitgeber und Betriebsrat – auf eine Betriebsvereinbarung verzichten wollen, muss die Beurteilung nach dem in Anhang A des ERA spezifizierten „Tariflichen Beurteilungsverfahren“ erfolgen (ERA, § 8 Abs. 4). Sollte der Arbeitgeber wiederum keine methodische individuelle Leistungsbeurteilung vornehmen wollen oder können, wird den einzelnen Beschäftigten eine mindestens zehnprozentige Leistungszulage garantiert (ERA, § 8 Abs. 5). Diese dreistufige Neuregelung und die nunmehr aufgehobene ursprüngliche Abweichung der durchschnittlichen Leistungszulagen im Gewerblichenbereich und im Angestelltenbereich stellte die Betriebe vor die Anforderung, die vormals differierenden Regelungen zu vereinheitlichen und insbesondere im Falle der vormals gewerblichen Mitarbeiter eine Entscheidung über den Umgang mit den (zumindest) durchschnittlich verminderten Leistungszulagen zu treffen. Im Einzelnen stellen sich die Regelungen zu den neuen Entgeltgrundlagen folgendermaßen dar: Beim Automobilbetrieb A1 wurde bereits seit Jahren konzernweit eine einheitliche Entgeltgrundlage angewandt: Entgelt mit Leistungszulage; es gab also schon vor der ERA-Einführung keine Differenzierung in Gehalts- und Lohnempfänger. Zudem wurde bereits eine konzernübliche Erfolgsbeteiligung gewährt. Im Hinblick auf die neu geregelte Zulagenhöhe wurde eine Betriebsvereinbarung unterzeichnet, um auch weiterhin die bislang gültigen Regelungen der Zulagenermittlung und -ausschüttung und zugleich die Tarifvertragsregelungen anwenden zu können. Demzufolge erhält der jeweilige Fachbereich zwar die ursprünglich bezahlten vollen 13% als Budget zur Verfügung gestellt, wovon aber nur 10% ausbezahlt werden müssen. Der Rest soll vom Fachbereich für Weiterbildungsmaßnahmen in seinem Bereich verwendet werden; ein ggf. nicht ausgeschütteter Restbetrag dieser 13% wird für die betriebliche Altersvorsorge angespart. Im Gesamt des Betriebes wird damit die Summe aller Entgelte für den individuellen Anspruch – also „was der Mitarbeiter aus dem 54 Topf erhält“ – prozentual als 3% der Entgeltsumme kalkuliert (d.h. die noch nicht ausgeschüttete Differenz zwischen 13% und 10%). Die Struktur des neuen Entgelts besteht nunmehr aus folgenden Komponenten: Grundentgelt, Leistungszulage aufgrund einer Leistungsbeurteilung, übertarifliche Zulage oder Funktionszulage, tarifliche Ausgleichszulage, individuelle Ausgleichszulage aufgrund der vormaligen 13%-Leistungszulage, wobei sich im Zeitablauf die tarifliche Ausgleichszulage durch Aufstockung der individuellen Zulage verringert. Das Verfahren der Ermittlung der Leistungszulage entspricht allerdings nicht dem in Anhang A des ERA-Tarifvertrags definierten Modell, da hierfür eine gesonderte Kalkulationsgrundlage in einer eigenen Betriebsvereinbarung vereinbart wurde. So gibt es im Unternehmen fünf Beurteilungsmerkmale – Zusammenarbeit, persönlicher Einsatz, Veränderungsbereitschaft, fachliches und methodisches Arbeiten, Arbeitsergebnis – in gleicher Gewichtung mit jeweils fünf Ausprägungsstufen, denen definierte Prozentzahlen zugewiesen sind. Die Besonderheiten des hier angewandten Verfahrens liegen in der Gegenüberstellung einer Vorgesetztenbeurteilung und der Selbsteinschätzung, ferner im „Anrecht“ des Mitarbeiters auf eine schriftlich festgehaltene Potenzialeinschätzung und in der Möglichkeit zur Befragung von Prozesspartnern in Bereichen mit übergreifender Zusammenarbeit/projektorientierten Arbeitsweisen. Eine allen Beschäftigten zugängliche „Schematische Darstellung des Ablaufs der Leistungsbeurteilung“ legt in einem Flussdiagramm beispielsweise die zwischen dem Vorbereitungsgespräch und dem Abschlussgespräch zwingend vorgesehenen Prüfverfahren durch den nächsthöheren Vorgesetzten, die Personalleitung und den Betriebsrat fest, schreibt die Art der Mitteilung an den Mitarbeiter in einem einheitlichen Ergebnisformular vor und spezifiziert das Verfahren bei Nicht-Einigung zwischen Mitarbeiter und Vorgesetztem (in Form der Verhandlung in einer PaKo). Den beurteilenden Vorgesetzten wurde im Zuge der Einführung dieses Modells ein umfangreicher Foliensatz zur Leistungsbeurteilung und zur Definition der Beurteilungskriterien zur Verfügung gestellt. Zudem erhalten die jeweiligen Vorgesetzten der Bereiche vor der Beurteilung von der Personalleitung einen Vergleich der Mitarbeiter – ein sog. Portfolio, aufgeschlüsselt nach einzelnen Kriterien und den Punkten, die in die Leistungsbeurteilung eingehen – auf der Grundlage der vorjährigen Leistungsbeurteilung ausgehändigt. Die Selbsteinschätzung wird folgendermaßen gehandhabt: Der Fachbereichsleiter bekommt zu seinem ausgefüllten Beurteilungsformular mit dem Namen der Mitarbeiter ein weiteres Blatt ohne die Beurteilungen, so dass der Mitarbeiter sich anhand der Beurteilungskriterien selbst einschätzen kann; diese Selbsteinschätzung wird anschließend mit der vom Vorgesetzten durchgeführten Leistungsbeurteilung verglichen. Der Abgleich mündet in eine ge- 55 meinsame Beurteilung oder evtl. ein Einspruchsverfahren. Die Bewertungen finden im Zeitentgelt alle zwei Jahre, im (früheren) Gehaltsbereich jedes Jahr statt, da in diesem Arbeitsfeld häufigere Projektwechsel stattfinden. Auch beim KMU der Optikindustrie O2 wird ein Zeitentgelt mit Leistungszulage angewandt, wobei hier das tarifliche Modell genutzt wird. Der Hauptteil der Beschäftigten erhält Leistungszulagen von 10%, die Spreizung in der gesamten Belegschaft liegt zwischen 4 und 16%. Aufgrund der Anwendung des vormaligen Tarifvertrags hatten auch hier die gewerblichen Mitarbeiter vor ERA einen Zeitlohn mit einer durchschnittlich 13-prozentigen Leistungszulage und die Angestellten ein Gehalt mit einer durchschnittlich zehnprozentigen Leistungszulage erhalten. Alle Mitarbeiter (außer den AT-Angestellten) bekommen nun Entgelt nach ERA-Tarif plus Leistungszulage (wie früher die Angestellten). Durch die volle Anwendung der tarifvertraglichen Regelungen mussten folglich die gewerblichen Mitarbeiter, die allerdings nur 10% der Belegschaft stellen, bei den im Entgeltzettel ausgewiesenen Leistungszulagen eine durchschnittliche Minderung von 3% hinnehmen; dass diese von den Tarifparteien im ERA vereinbarte verminderte durchschnittliche Leistungszulage im Gewerblichenbereich bei den finanziellen Volumina gewissermaßen kompensiert bzw. ausgeglichen war durch ein für die Gewerblichen höheres Grundentgelt, so dass sich an den Gesamtentgelten und den Absolutbeträgen der Leistungszulagen nicht allzu viel änderte, wird in der Wahrnehmung durch die Beschäftigten und in der Reaktion auf die in der Entgeltabrechnung ausgewiesenen Einzelkomponenten allenfalls am Rande zur Kenntnis genommen bzw. führt zu Erklärungsnotwendigkeiten seitens der Personalleitung oder Betriebsräte. Die Summe der Entgelte nach ERA ist eben nun genauso hoch wie zuvor, wobei insgesamt ein hohes Entgeltniveau vorliegt. Eine weitere Problematik bei den Leistungszulagen entsteht in O2 dadurch, dass sich die Errechnung dieses Durchschnitts auf die einzelnen Abteilungen bezieht und die durchschnittliche Leistungszulage für alle Mitarbeiter der Abteilung 10% betragen muss. Dies ist ein Problem für Abteilungen mit nur ein oder zwei tariflichen Mitarbeitern, da es für diese kleinen Abteilungen schwierig ist, diesen Durchschnitt einzuhalten. Die individuelle Leistungszulage wird nach einem Punktesystem mit jährlicher Einstufung durch den Vorgesetzten ermittelt. Die Beurteilung ist in fünf Beurteilungsstufen differenziert, welche 0 bis 20% der Leistungszulage entsprechen. Bei einer Änderung der Leistung bzw. der Arbeitsbedingungen in den einzelnen Projekten muss sich der Mitarbeiter an den Vorgesetzten wenden, um evtl. eine Erhöhung der Leistungszulage zu erlangen. Es gibt keine Vorgabe der Personalleitung im Hinblick auf die 56 Zuteilung der Leistungszulagen, damit auch die unterste Eingruppierungsgruppe die höchste Leistungsstufe erhalten kann. Der Ablauf der Leistungseinschätzung ist hier folgender: Der Abteilungsleiter füllt einen Bewertungsbogen für den entsprechenden Beschäftigten aus, die Personalverwaltung überträgt die gesammelten Beurteilungen in das EDV-System, die Geschäftsführung prüft die Leistungsbewertungen im Anschluss daran und achtet insbesondere auf die „Ausreißer“, wobei diese nach Aussage der Personalleiterin meistens berechtigt sind. Anschließend wird der endgültige Prozentsatz den Abteilungsleitern und Mitarbeitern mitgeteilt. Dieses Verfahren hat sich gut bewährt und der Bedarf an Schulungen für die Abteilungsleiter hielt sich in Grenzen. Es wurde zudem ein Schreiben an die Abteilungsleiter verfasst, dass und wie sich das Bewertungssystem verändert hat und dass sie darauf achten sollen, dass jedes Kriterium bewertet wird. Insgesamt sind die Abteilungsleiter daran interessiert, dass die Balance zwischen den einzelnen Mitarbeitern und Abteilungen gehalten wird, und verfolgen die Bewertungen der anderen Abteilungen. Beim Großunternehmen der Optikindustrie O1 waren, über die gesamte Belegschaft betrachtet, im alten Lohn- und Gehaltsmodell 80% der tariflichen Mitarbeiter im Zeitlohn bzw. Gehalt mit Leistungszulage gratifiziert, 20%, durchweg Gewerbliche, waren Prämienlöhner (somit etwa 200 gewerbliche Mitarbeiter). Bei den tariflichen Angestellten bestand das Gehalt einheitlich aus dem Grundgehalt und einer Leistungszulage, die aufgrund einer Einschätzung des Vorgesetzten ermittelt wurde. Bei den AT-Mitarbeitern wurden die Zulagen auf der Basis von Zielvereinbarungen ermittelt. Die oben genannten 20% der Gesamtbelegschaft, die „klassischen“ Prämienlöhner in der Fertigung, entsprechen etwa 80% der gewerblichen Mitarbeiter in den unmittelbaren Produktionsbereichen. In der Produktion herrscht das Prinzip der Werkstattfertigung mit getrennten Bereichen wie Drehen, Fräsen, Schleifen etc. vor. Dort wird Gruppenarbeit praktiziert; die Gruppengrößen variieren zwischen zwei und 60 Mann und liegen i.d.R. bei elf bis 15 Mitarbeitern. Historisch gesehen waren diese Produktionsarbeiter immer schon Leistungslöhner, zunächst mit Akkordlohn, der bei 128,5% gedeckelt war (wovon 3,5% als Rüstzeit berücksichtigt wurden), der später als identischer Prämienlohn weitergeführt wurde. Seit 1995 galt dort Gruppenentlohnung: Der gedeckelte Akkord war an die Zielkriterien für die Gruppe (Gruppenbonus) gebunden, für die eine gleiche Verteilung der Zulagen vorgenommen wurde. Die Lohnscheine wurden also nur noch über die Gruppe erfasst. Für das Unternehmen hatte das den Vorteil, dass Reserven und Zeit in der Leistungslohnabrechnung eingespart 57 werden konnten. Für die Werker wiederum hatte das den Vorteil, dass sich ihr Leistungslohn gewissermaßen zu einem festen Monatsgehalt wandelte. Die restlichen 20% der Gewerblichen (überwiegend in Montage und Werkzeugbau) hatten bereits im alten Tarifvertrag Zeitlohn mit Leistungszulage erhalten. Zum Zeitpunkt des ERA-Einstiegs wurde gemeinsam zwischen Personalleitung und Betriebsrat beschlossen, dass die vorgängigen Entgeltprinzipien zunächst erhalten bleiben sollten. Man wollte damit der Befürchtung entgegentreten, dass sich bei einer gleichzeitigen Umstellung auf die ERA-Eingruppierung und auf ein neues (Gruppen-)Entgeltsystem Fehler ergeben. Zudem erschien eine gleichzeitige Umstellung vom Arbeitsaufwand her nicht möglich. So wurde zuerst nur eine ERA-Umstellung beim Grundentgelt vorgenommen. Im Falle der Zeitentgelte mit Leistungszulage wurden die ERA-Regelungen übernommen, so dass es zu einer Angleichung der Niveaus der Entlohnung kam, da es jetzt nur noch 10% Leistungszulage für alle gibt. Die Leistungsbeurteilungen wurden nun im letzten Jahr, also 2007, aktualisiert. Die Beschäftigten werden durch den Vorgesetzten beurteilt und erhalten je nach Bewertung eine Leistungszulage von 0 bis 20% mit einem Deckel von 10% auf die Entgeltsumme des Unternehmens. Die momentane Überlegung der Personalleitung geht allerdings in die Richtung, die Regelungen für die Gruppenprämien zu erneuern, weil die Motivationswirkung dieser gedeckelten Prämien nachlässt. Das Grundproblem liegt aus Sicht der Unternehmensleitung darin, dass die Mitarbeiter bei 128% zu arbeiten aufhören und ihre Lohnscheine einreichen (dies ist eine in der gesamten Metall- und Elektroindustrie bekannte Tendenz, die auf die Zufriedenheit der Beschäftigten mit einer Gehaltshöhe von 128% des Lohns der tariflichen Eingruppierung und eine individuelle Strategie zur Sicherung der langfristigen Leistungsfähigkeit zurückgeht; vgl. Schmierl 1995). Aus Sicht der Personalleitung ist eine Veränderung der Entgeltgrundlagen in den unmittelbaren Produktionsbereichen daher notwendig. Insofern befindet man sich für diese Prämienlöhner auch im Jahr nach der ERA-Einführung noch in der Konzeptionsphase: Gegen eine Ablösung des Gruppenprämiensystems spricht, dass sich viele Mitarbeiter an ihr Geld gewöhnt haben und bei Einführung eines Zeitentgelts mit Leistungszulage die Gefahr einer „Nasenprämie“ gesehen wird, da die Leistungszulage auf einer Einschätzung des Vorgesetzten beruht und hier eine Bewertung ohne subjektive Kriterien nur schwer denkbar ist. Demgegenüber ist es für die Produktionsplanung und -steuerung entscheidend, dass sich produktionsbezogene Kennziffern in der Buchhaltung abbilden lassen und für die Mitarbeiter nachvollziehbar sind. Der Vorschlag der Personalleitung ging in die Richtung, zur Vereinfachung der im Unternehmen praktizierten Berech- 58 nungsgrundlagen künftig für alle Mitarbeiter Zeitentgelt mit Leistungszulage anzuwenden. Als Übergangsregelung für die Prämienlöhner wurde dem Betriebsrat vorgeschlagen, die Differenz zwischen Gruppenprämie und durchschnittlicher Leistungszulage als freiwillige Zulage auszuzahlen, die jährlich mit der Tariferhöhung abgeschmolzen wird, so dass in einigen Jahren alle Mitarbeiter aus dem Prämienlohn heraus wären. Mit der Zielsetzung, den Prämienlohn abzuschaffen, kündigte die Personalleitung drei Betriebsvereinbarungen, ohne bisher eine neue Betriebsvereinbarung abschließen zu können, da man sich mit dem Betriebsrat noch nicht auf ein gemeinsames Modell einigen konnte. Da diese Betriebsvereinbarungen nach § 87 Betriebsverfassungsgesetz mitbestimmungspflichtig sind und nachwirken, solange keine neue Betriebsvereinbarungen verabschiedet worden sind, haben sie für die betriebliche Interessenvertretung einen Sonderstatus; zudem unterliegen sie im Falle einer nicht möglichen Einigung der Entscheidung in der Einigungsstelle. Den Vorstellungen der Personalleitung setzt der Betriebsrat zwei Vorschläge entgegen. Einerseits könnte die Maschinenlaufzeit als Messgröße für eine Standardprämie vereinbart werden, die zwischen 10 und 20 Prozent liegen könnte. Ein Unterschreiten der Maschinenlaufzeit könnte dann nach vorab definierten prozentualen Prämienstufen prämiert werden. Andererseits könnte man sich auf eine Bonusregelung als übertarifliche Zulage verständigen, bei der betrieblich sinnvolle Messgrößen – wie z.B. Gruppenzeitgrad – ausgewählt und vereinbart werden könnten. Eine Einigung über die divergierenden Vorschläge steht noch aus. Zusammenfassend lässt sich folgendes Fazit ziehen: Die Verfahren der Eingruppierung und Arbeitsbewertung bereiteten bei der ERA-Einführung in der Regel keine größeren Probleme. Meinungsverschiedenheiten zwischen Personalleitung und Betriebsrat oder Enttäuschungen der betroffenen Arbeitskräfte konnten spätestens bei den Verhandlungen in der Paritätischen Kommission ausgeräumt werden. Schwierigkeiten und Verzögerungen prägten hingegen die Umsetzung der ERA-Richtlinien zu den neuen Entgeltgrundsätzen und -methoden. Während in den kleineren Unternehmen mit einer weitgehend homogenen Belegschaft und in den beiden Fällen, in welchen bereits vor der ERA-Umsetzung ein einheitlicher Entgeltgrundsatz (Lohn bzw. Gehalt mit Leistungszulage) angewandt wurde, eine zeitnahe Anpassung der Entgeltgrundsätze nach der betrieblichen Entscheidung für eine Vereinheitlichung der Leistungszulage für alle Beschäftigten möglich war, ist die vollständige Umsetzung des ERA-Tarifvertrags in dem heterogeneren Großunternehmen mit vormals drei unterschiedlichen Entgeltgrundsätzen nicht für die komplette Belegschaft gelungen. Es deutet sich darin zudem eine grundsätzliche Schwierigkeit an, ein in der Regel bei Leistungslöhnen im vormals gewerblichen Bereich z.T. höheres individuelles Gesamteinkommen (aufgrund einer höheren 59 Leistungslohnkomponente bei geringerem Grundentgelt) in einen im gesamten Unternehmen einheitlichen Entgeltgrundsatz zu überführen. Schließlich würde auch die im ERA ermöglichte Anwendung eines Leistungsentgelts mit Kennzahlenvergleich eine im Vergleich zum alten Akkord bzw. Prämienlohn vorgenommene Neuordnung und Definition der in die Messung des Leistungsergebnisses eingehenden Daten und Kennzahlen erfordern, die insbesondere bei den für die von Facharbeit geprägten Segmente der Metall- und Elektroindustrie typischen invariablen (gedeckelten) Akkord- oder Prämienlöhnen neben den methodischen Klärungsnotwendigkeiten durchaus auch praktische Schwierigkeiten (etwa in Bezug auf ein durch geschultes Personal zutreffend ermitteltes Leistungsergebnis) bereitet. 6. Betroffenheit unterschiedlicher Beschäftigtengruppen Begünstigte und Benachteiligte, Konflikte im Einführungsprozess Bei der übergeordneten Fragestellung nach der Betroffenheit unterschiedlicher Belegschaftsgruppierungen geht es zum einen um die Frage des Umsetzungserfolgs bzw. der Barrieren, die sich während des Einführungsprozesses herausstellen. Es geht zum zweiten um eine Abschätzung der tatsächlichen, mitunter langfristigen und teilweise einkommensrelevanten Folgen von ERA für einzelne Beschäftigtengruppen. 6.1 Antizipation von Vor- oder Nachteilen durch die Belegschaft Hinsichtlich des Umsetzungserfolgs sind die von den Beschäftigten im Vorfeld oder im Verlauf der ERA-Einführung erlangten Kenntnisse über ERA, ihre Wahrnehmung des Vertragswerks sowie ihre Antizipation von Vor- oder Nachteilen relevant. Diesen Fragen wurde in Gesprächen mit der Personalleitung und dem Betriebsrat, vor allem aber in den Einzelgesprächen bzw. Gruppendiskussionen mit den Beschäftigten nachgegangen. Der Befund fällt hier allerdings ziemlich knapp aus, was sich für die Akzeptanz von ERA wiederum als günstig darstellt. ERA wurde von den Beschäftigten erst dann wahrgenommen und zum Thema, als die bevorstehende ERA-Umsetzung im Unternehmen von Geschäftsführung, Personalleitung und Betriebsrat betriebsintern schriftlich oder mündlich bekannt gegeben und vorgestellt wurde. Eine Möglichkeit zur Informierung über das Thema und die bevorstehenden Einführungsverfahren über die Me- 60 dien bestand nicht, da diese Thematik vollkommen an diesen vorbeigegangen zu sein scheint. Angesichts der Reichweite der tarif- und lohnpolitischen Veränderungen und der Bedeutung der Metall- und Elektroindustrie sowie Automobilindustrie in Deutschland ist dies zwar erstaunlich, aufgrund der „Sperrigkeit“ des Themas „Entgelt“ andererseits aber nicht überraschend. „Also ich sag mal, hier in unserem Werk wurde da eigentlich schon sehr gut informiert. Also da gibt’s jetzt gar nichts dran zu bemängeln, aber ich mein jetzt, so ganz allgemein in der Öffentlichkeit, ich bin überzeugt, es gibt noch viele Bekannte, Verwandte, Freunde, die man so kennt, die haben da vielleicht noch nie was davon gehört“ (Mitarbeiter). Waren die Betriebsräte und Gewerkschaftsmitglieder mit den kommenden Veränderungen durch ERA über Informationen oder die Mitgliederzeitschrift der IG Metall noch vertraut, gilt dies für die nicht in der Gewerkschaft befindlichen Beschäftigten nicht. „Also ich hab das, ehrlich gesagt, erst mitbekommen, als es eingeführt wurde, also es hier vorgestellt und auch der Belegschaft erklärt wurde. Vorher war das eigentlich ein bisschen, ziemlich weit weg, muss ich ganz ehrlich sagen. Also das ist jetzt auch so, in der Allgemeinpresse hab ich darüber eigentlich fast nichts gelesen. Erst dann, als man das Wort erst mal so im Kopf hatte, ist man darauf aufmerksam geworden“ (Mitarbeiter). Es lassen sich dafür wohl auch eine Reihe von dem ERA-Abschluss selbst sowie dem Entgeltthema immanenten Gründen ausmachen: 1. Ein erster Grund dürfte darin liegen, dass ERA in Thüringen im Vergleich zu den anderen Tarifbezirken und -gebieten relativ frühzeitig zwischen der IG Metall und VMET abgeschlossen wurde und einen vergleichsweise zügigen Umsetzungszeitraum vorsah. Damit konnten Erfahrungen aus anderen Tarifbezirken nicht bereits antizipativ zum Erkennen möglicher Wirkungen wahrgenommen werden. 2. Ein zweiter Grund liegt naturwüchsig in den betrieblichen Strategien, sich als Pilotbetrieb, als entgeltpolitischer Vorreiter und als „Leuchtturmbetrieb“ zu profilieren. So waren die drei Untersuchungsbetriebe definitionsgemäß die allerersten in Thüringen (und zählten sicherlich auch zu den ersten in der Bundesrepublik), die ERA einführten. Von daher konnte im Tarifgebiet nicht auf ERA-spezifische Informationen aus anderen Firmen zurückgegriffen werden. Ein Erkennen der Implikationen und Konsequenzen von ERA hätte von den Beschäftigten daher eine sehr weitgehende Kenntnis des Tarifvertrags und eine intensivere Befassung mit möglichen betrieblichen und individuellen Auswirkungen vorausgesetzt. 61 3. Dies wiederum hat dazu geführt, dass sich ERA nicht in der Aufmerksamkeit der Medien widerspiegelte. Damit die Medien die Relevanz eines Themas im Wirtschaftsleben erkennen, muss es aktiv an sie herangetragen oder durch betriebliche Konflikte in der Region erkennbar werden. Das war zum Einstiegszeitpunkt der Leuchtturmbetriebe weder in Thüringen noch in den anderen Tarifgebieten der Fall. Und Tarifverträge bzw. Entgeltregelungen sind generell ein Thema, das eine einschlägige lohn- und tarifpolitische Kompetenz voraussetzt, die bei den Medien nicht ohne weiteres als gegeben veranschlagt werden kann. Die Chancen für ein frühzeitiges Antizipieren dessen, was mit ERA auf die Umsetzungsbetriebe und deren Beschäftigte zukommt, waren somit sehr begrenzt. Folglich waren in den Untersuchungsbetrieben von den Sozialpartnern oder den Beschäftigten im Vorfeld der konkreten Einführung noch keine konkret zu erwartenden Barrieren, Blockadehaltungen und Widerstände erkennbar, die den Umsetzungserfolg hätten tangieren können. Weitere Ursachen waren die betriebliche Informationspolitik und eine entscheidende Regelung im ERATarifvertrag, nämlich zur Besitzstandswahrung. Mit dieser Vereinbarung und den in den Firmen vor der Einführung ausgesandten Signalen an die Belegschaft, dass ERA nicht zur Einkommensreduzierung genutzt werden soll und kein Beschäftigter netto weniger „in der Tasche“ haben wird, wurden die Belegschaften im Vorfeld keiner unnötigen Unruhe ausgesetzt. „Kurz vor der Umstellung war in der Gehaltsabrechnung oder in der Lohnabrechnung ein Flyer, ein Zettel dabei, wo das noch mal drauf stand. So ein Extrazettel, war sogar in einem Extraumschlag. Und da konnte jeder sehen: Was hatte ich vorher, welche Gruppe, welche Zulagen, und unterm Strich, was hatte ich an Bruttolohn, was habe ich künftig? Denn die große Frage ist ja immer: Es wird was Neues eingeführt – habe ich mehr oder weniger Geld? Das ist die erste Frage, die man sich stellt. Und um dem vorzugreifen, wurde das so dokumentiert, dass das jeder verstanden hat“ (Mitarbeiter). Die Erkenntnis von möglichen individuellen Nachteilen setzte in den überwiegenden Teilen der Belegschaften erst zum Zeitpunkt der nächsten Tariferhöhungen ein, als die Übergangsregelungen bei den Überschreitern griffen, die wegen der über die Jahre gestreckten Anpassung ihrer niedrigeren Eingruppierung nur zum Teil an den Tariferhöhungen partizipieren durften. 6.2 Wirkungen der veränderten Eingruppierungsrelationen auf unterschiedliche Beschäftigtengruppen Kommen wir nun zu den Wirkungen der veränderten Eingruppierungsrelationen auf die angepassten Entgelte unterschiedlicher Arbeiter-/Angestellten- 62 gruppen und -typen, die sich aus den konkreten Entgelttabellen des ERA Thüringen nach der Umstellung ergeben haben. Sie wurden, wie oben geschildert, für die Beschäftigten auch erst zu diesem Zeitpunkt erkennbar. Einen entscheidenden Vorgriff darauf haben die Tarifvertragsparteien dadurch getätigt, dass sie sich zur Begünstigung der Tariflichen Entsprechung auf eine in zwölf Entgeltgruppen differenzierte neue Relation der Entgeltgruppen zueinander in Gestalt einer neuen Entgelttabelle geeinigt haben (s. Tabelle im Anhang). Die sich in diesem Tabellenwerk widerspiegelnde Zielsetzung weist einige Besonderheiten und implizite Stellungnahmen zum absoluten und relativen Wert von Arbeit und Qualifikationsniveaus auf. Es seien hier lediglich die für die folgenden Ausführungen relevanten Veränderungen benannt. 1. Im Gegensatz zur früheren Tarifvertragsregelung, dass die Eingruppierung nach dem Grundsatz der „überwiegend“ ausgeführten Tätigkeit erfolgt, sieht der ERA-Tarifvertrag vor, dass die Eingruppierung nach derjenigen Tätigkeit erfolgt, die das Niveau der Gesamttätigkeit prägt, so dass eine ganzheitliche Betrachtung der Anforderungen vorzunehmen ist. Der zeitliche Umfang der Tätigkeit ist nicht mehr maßgebend. 2. Mit dem ERA-Tarifvertrag sollte zudem die Durchlässigkeit zwischen den vormals stärker getrennten Gehalts- bzw. Lohngruppen gestärkt werden, so dass es auch einem nicht mit einem bestimmten Berufsabschluss ausgestatteten Beschäftigten durch langjährige Berufserfahrung oder durch die Übernahme dispositiver Funktionen möglich wird, in höhere Entgeltgruppen aufzusteigen. Damit werden die in der betrieblichen Praxis erworbenen Erfahrungen gegenüber den formalen Bildungsabschlüssen aufgewertet. Beispielsweise lautet die Beschreibung der Entgeltgruppe 9 folgendermaßen: „Erforderlich sind Kenntnisse und Fertigkeiten, wie sie in der Regel durch eine mindestens 3-jährige Berufsausbildung, eine mindestens zweijährige Fachausbildung und langjährige Berufserfahrungen oder durch eine abgeschlossene 3-jährige Hochschulausbildung (z.B. Bachelor) und langjährige Berufserfahrungen erworben werden“ (ERA, § 4). Damit wird erstmals den vormaligen Lohnempfängern die Chance eröffnet, durch Berufserfahrung in eine Entgeltgruppe vorzurücken, die bislang den technischen und kaufmännischen Angestellten der höheren Gehaltsgruppen vorbehalten war. 3. Mit den zwölf den jeweiligen Entgeltgruppen zugeordneten Zusatzstufen sollte den Betriebsparteien ein Instrument an die Hand gegeben werden, qualifikatorische Polyvalenz bzw. die Übernahme von Führungsfunktionen zu gratifizieren. Die Beschreibungen der Zusatzstufen Z1 bis Z3 lauten: „Vom Beschäftigten wird zusätzlich eine tätigkeitsübergreifende Qualifika- 63 tion gefordert.“ Die Beschreibungen der Zusatzstufen Z4 bis Z9 lauten: „Dem Beschäftigten werden zusätzlich Aufgaben der Anleitung und Führung von Beschäftigten dauerhaft übertragen oder dem Beschäftigten werden zusätzliche Tätigkeiten dauerhaft übertragen, die wesentlich über die Anforderungen der Entgeltgruppe hinausgehen und deshalb eine zusätzliche Qualifikation erfordern.“ Die Beschreibungen der Zusatzstufen Z10 bis Z12 lauten: „Dem Beschäftigten werden dauerhaft zusätzlich Aufgaben der verantwortlichen Anleitung und Führung von Beschäftigten übertragen, die auch die Weisungsbefugnis einschließen.“ 4. Mit dem neuen ERA-Tarifvertrag kamen im Vergleich zum alten Tarif, in dem neun Lohngruppen, jeweils sechs K- und T-Gruppen sowie vier Meistergruppen bestanden, mit der Entgeltgruppe 9 und der Entgeltgruppe 11 zwei neue Entgeltgruppen hinzu, die eine Spreizung der Entgeltgruppen im oberen Bereich mit sich brachten. Sie ermöglichten eine stärkere Differenzierung bei den höheren, akademisch geprägten bzw. leitenden Positionen. Vor diesem tarifpolitischen Hintergrund sind bestimmte betriebliche Anpassungsprobleme und individuelle Betroffenheiten der Beschäftigten erklärbar. Insbesondere hat die Ausgestaltung Auswirkungen darauf, welche Beschäftigtengruppen eher zu den Begünstigten (bzw. Profiteuren) und welche eher zu den Benachteiligten zählen oder sich zugehörig fühlen. Im Folgenden wird zunächst auf die Gruppierungen der Begünstigten, sodann der Benachteiligten und schließlich auf die unmittelbar nach der Einführung aufgetretenen Konfliktlagen eingegangen. 6.3 Begünstigte Beschäftigtengruppen An erster Stelle sind hier diejenigen Gruppen zu nennen, die im Rahmen der Anwendung der Tariflichen Entsprechung oder Neueingruppierung eine Höhergruppierung erfahren haben oder als Unterschreiter künftig mehr Einkommen zur Verfügung haben werden. Während es im Unternehmen A1 aufgrund der vorgängigen übertariflichen Bezahlung keine Unterschreiter gab, wurden in O1 und in O2 eine Reihe der gewerblichen Mitarbeiter aus Produktion und Montage höher eingruppiert. In O1 wurden von etwa 70 Neueingruppierungen nach den endgültigen Verhandlungen in der PaKo ca. 30 Höherstufungen vorgenommen, die Personen aus dem Kreis der gewerblichen Mitarbeiter und der kaufmännischen Angestellten (also der ehemaligen K-Gruppen) betrafen. Besonders sind hier die niedrigeren Gehaltsgruppen (Sekretärinnen und Teamassistentinnen sowie die Gewerblichen; aber auch die niedrigeren kaufmännischen Angestellten) begünstigt, die in den beiden Unternehmen mit Unter- 64 schreitern hiervon profitierten. Konkret bedeutet dies für die Einkommenssituation dieser Belegschaftsgruppen, dass sie mit der ERA-Umsetzung eine Verbesserung um sofort maximal 100 € monatlich verzeichnen können. Bei O2 fanden die Höhergruppierungen überwiegend in der Produktion statt, also unter den gewerblichen Beschäftigten. Zudem deutete sich eine Verbesserung der Einkommenssituation von neu eingestellten Hochschulabsolventen in O2 insofern an, als diese seitens der Personalleitung aufgrund der Spreizung der höheren Entgeltgruppen nun sofort in E10 eingestuft werden (also höher als früher); wegen der relativ großen Abstände zwischen K4/T4, K5/T5 und K6/T6 waren Neurekrutierte bisher zunächst vorsichtig eher in die untere Gehaltsgruppe eingestuft worden, nun erhalten sie aufgrund der neuen ausdifferenzierten Entgeltrelationen eine bessere Eingangseingruppierung. Auf einen ähnlichen Zusammenhang wird in A1 hingewiesen, wonach durch die neuen, zwischengeschalteten Entgeltgruppen nun bessere Aufstiegschancen für die jetzigen Ingenieure vorhanden sind. Hier waren bisher nur wenige Mitarbeiter in E9 und E10 eingestuft; durch die geringeren Abstände ist nun die Bereitschaft des Unternehmens gesteigert, diese höheren Entgeltgruppen schrittweise zuzuteilen. 6.4 Benachteiligte Beschäftigtengruppen Als benachteiligte Beschäftigte können sich die Überschreiter verstehen. Nicht deshalb, weil sie absolut weniger Entgelt erhalten würden, da dies die Besitzstandswahrung und die vorübergehende Gewährung der Ausgleichszulage verhindert, sondern entweder im Hinblick auf eine niedrigere Eingruppierung oder aufgrund der Tatsache, dass mit der Tariflichen Entsprechung die neu zugewiesenen Tarifentgelte insbesondere bei den höheren Angestellten unter den vorherigen Tarifgehältern lagen. Dementsprechend werden in allen Untersuchungsbetrieben die vormaligen Empfänger der Gehaltsgruppen T4, T5, T6 (bei den technischen Angestellten) bzw. K4, K5, K6 (bei den kaufmännischen Angestellten) zu den „Verlierern“ gezählt. Besonders getroffen wurde die Belegschaft in O2, wo der Akademikeranteil bei 90% liegt und die Forschungsund Entwicklungsabteilungen gegenüber den Produktionsbereichen dominieren. In ähnlicher Weise – allerdings aufgrund der höheren Betriebsgröße nicht bei einem derart großen Belegschaftsanteil – wurden in O1 von den insgesamt 70 Neueingruppierungen etwas über 30 Herunterstufungen vorgenommen, die sich überwiegend auf diesen Kreis der technischen Angestellten und z.T. der kaufmännischen Angestellten konzentrieren. Deutlich entschärfter stellt sich in diesem Zusammenhang die Situation in A1 dar, wo – wie oben beschrieben – zum ersten die Produktionsabteilungen eine hohe Bedeutung haben und wo zum zweiten nahezu alle Entgeltgruppen besetzt sind; in diesem Betrieb sind 65 zwar alle Beschäftigten „Überschreiter“, was aber nicht in der Tariflichen Entsprechung, sondern vielmehr in der Angleichung der vorherigen übertariflichen Bezahlung an den neuen ERA-Tarif begründet ist. Um individuelle Benachteiligung und Härten zu vermeiden und die Zusage einzuhalten, dass kein Beschäftigter weniger verdient, wird in diesem Unternehmen – wie oben genauer geschildert – zusätzlich zur tariflichen Ausgleichszulage ein individueller Ausgleichsbonus gewährt, der das Niveau der übertariflichen Bezahlung für die bereits beschäftigten Arbeitskräfte auch künftig absichert. Eine strenge Überführung in den (niedrigeren) ERA-Tarif wird lediglich für neu eingestellte Kräfte vorgenommen. Die grundsätzliche individuelle Betroffenheit der Beschäftigten geht somit weniger auf eine tatsächliche Einkommenseinbuße zum Zeitpunkt der ERAEinführung zurück als vielmehr auf zwei von diesem Zeitpunkt entkoppelte Veränderungen. Zum einen mussten die Beschäftigten bei der auf die ERAEinführung folgenden Tariferhöhung feststellen, dass die Ausgleichszulage zur Hälfte auf das Volumen der Tariferhöhung angerechnet wird, sie somit nur zur Hälfte von der Tarifentgelterhöhung profitieren; diese Ausgleichszulagen – und damit die rechnerisch geringeren Tarifentgelte – betrugen zum Zeitpunkt der ERA-Einführung in den meisten Fällen zwischen 50 und 100 €. Zum zweiten sahen sich diese höheren Angestelltengruppen, vornehmlich aus dem Kreis der technischen Angestellten (der Gehaltsgruppen T4, T5 und T6), die sich insbesondere in den technologiegeprägten Unternehmen O1 und O2 zu den Leistungsträgern des Betriebs rechnen, in ihrem beruflichen Selbstverständnis bzw. in der gesellschaftlichen Wertschätzung ihrer Qualifikation in Frage gestellt. Aufgrund des ohnehin hohen Einkommensniveaus in diesen Arbeitskräftekategorien und aufgrund der zumeist begrenzten Möglichkeiten zum Arbeitsplatzwechsel führte dies aber nicht zu größeren Protesten oder Konflikten; zudem konnten diese Unzufriedenheiten in der Regel durch Gespräche mit und zwischen Personalleitung und Betriebsrat ausgeräumt werden. Dort wurde argumentiert, diese Änderungen der Entgeltrelationen seien nicht der betrieblichen Anwendung und Praxis, sondern ausschließlich dem Verhandlungsergebnis der Tarifparteien zuzuschreiben. Dennoch: „Die Gleichstellung von T- und K-Gruppen hat am meisten den Betriebsrat betroffen“ (Personalleiterin). Hierbei ist noch einmal auf die Grundentgeltrelationen einzugehen, die im alten Tarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie galten und im neuen ERA verändert wurden: Im alten (für Thüringen gültigen) Hessen-Tarif gehörten die technischen Angestellten der Gehaltsgruppen T4, T5 und T6 zu den im Vergleich zu allen anderen Lohn- und Gehaltsempfängern am höchsten bezahlten Arbeitskräften; in Relation zur 100%-Ecklohngruppe (L6) betrug das 66 Grundgehalt ohne die Leistungszulagen bei T4 etwa 151%, bei T5 etwa 172% und bei T6 etwa 198%. Mit der von den Tarifparteien beschlossenen Äquivalenz in der Tariflichen Entsprechung und der Zuteilung dieser Gehaltsgruppen zu den Entgeltgruppen E8, E10 und E12 wurden dreierlei Anpassungen vorgenommen. Zum ersten entsprechen die neuen Relationen dieser Gruppen zur Entgeltgruppe 5, die die Bezugsbasis für Tarifänderungen und für die Entgeltrelationen zu den anderen Entgeltgruppen darstellt, neuerdings 137% (beim Äquivalent für T4), 160% (bei T5) und 185% (bei T6); dies resultiert daraus, dass bei der Definition der neuen Entgelttabelle zur Kompensation der in den unteren Entgeltgruppen (E1 bis E8, die mit den früheren Lohngruppen L2 bis L9 vergleichbar sind) relativ erhöhten Grundentgelte drei Prozentpunkte aus der früheren Leistungszulage, die bei den Arbeitern im Betriebsdurchschnitt 13% betrug, bzw. 3,5 Prozentpunkte des früheren Akkordrichtsatzes, in die neuen Grundentgelte eingearbeitet wurden; die im Vergleich zum neuen Entgeltgrundsatz mit einer im Durchschnitt zehnprozentigen Leistungszulage für alle Beschäftigten vormals höheren durchschnittlichen Leistungszulagen der früheren gewerblichen Mitarbeiter wurden insofern in die neuen Grundentgelte einberechnet. Zum zweiten rückten mit der Tariflichen Entsprechung die oberen Entgeltgruppen näher an die unteren heran, indem die Spreizung zwischen diesen Entgeltgruppen verringert wurde. Zum dritten wurden im Rahmen der Tariflichen Entsprechung die technischen Angestellten mit den kaufmännischen Angestellten vergleichbaren Niveaus gleichgestellt, deren ursprüngliche Gehaltsrelationen sich weitgehend identisch in den neuen Entgeltrelationen abbilden. Das bedeutet, dass die kaufmännischen Angestellten offenbar als Referenz für die neuen Entgeltrelationen verwendet und die technischen Angestellten dem mit einer Tendenz nach unten angeglichen wurden. Dieser Sachverhalt trifft bei Anwendung der Tariflichen Entsprechung somit vor allem die höheren Gehaltsstufen in den Entwicklungsabteilungen; in Abhängigkeit vom Leistungsprogramm des Unternehmens ist damit in Unternehmen, deren Kompetenz hauptsächlich in der Forschung und Entwicklung und weniger in der Produktion angesiedelt ist, ein großer Teil der Belegschaft von dieser Anpassung der Grundentgelte betroffen. Das ist bei O1 und O2 der Fall. In Absolutzahlen bedeutet das für die Betroffenen eine Verminderung des tariflichen Gesamtentgelts um etwa 100 €, die als Ausgleichszulage entgolten werden. Dies brachte im Rahmen der ERA-Einführung insbesondere für die Betriebsräte mit diesen Kollegen Diskussionsbedarf über die Folgen von ERA mit sich. Insgesamt deuten die Personalleitungen (und zum Teil auch die Betriebsräte) im Hinblick auf diese Überschreiter an, dass sich die T4-, T5- und T6-Kräfte nun zwar individuell als benachteiligt fühlen können, dass sie jedoch im Rahmen einer weitgehenden Revision der gesamten Tarifstruktur einem „natürli- 67 chen“ Angleichungsprozess unterliegen, den man nicht als Benachteiligung bezeichnen könne. Dieser sei zudem durch die Besitzstandswahrung in seinen finanziellen Auswirkungen auf die Beschäftigten abgefedert. Zum Zeitpunkt der zweiten Befragungsrunde im Sommer 2007 waren diese noch mitgeführten Ausgleichszulagen in allen Betrieben bei 90% der davon Betroffenen so weit mit den Tariferhöhungen abgeglichen und verrechnet, dass keine weiteren Restbeträge mehr ausgewiesen werden mussten. Beim Großteil der restlichen 10% der Überschreiter (wie auch bei den Unterschreitern) ist dies mit der Tariferhöhung 2008 vollkommen ausgeglichen. Nur in absoluten Ausnahme- und Einzelfällen müssen die Korrekturbeträge noch bis 2009 mitgeführt und kalkuliert werden. In den Gesprächen mit der Personalleitung im Untersuchungsbetrieb A1 wurde darüber hinaus eine Gruppierung erwähnt, deren Schlechterstellung auf die Konzernstruktur sowie betriebliche Umsetzungen zurückgeht. Es handelt sich um drei Angestellte des oberen Tarifsegments im Einkauf. Die Funktionen im Einkauf waren überwiegend in der Zentrale nicht bewertete Stellen, da hier die Bezahlung vorrangig nach der Entscheidungsfreiheit und dem Volumen, das der Einkäufer „jongliert“ hatte, ermittelt wurde (Provisionen). Im Rahmen der bereits erwähnten konzernweiten Aktualisierung und zahlenmäßigen Reduzierung von Arbeitsbewertungen wurden auch die Einkäufer in das allgemeine System der Funktionsbeschreibungen integriert. Dabei wurden die Eingruppierungen in diesem Bereich massiv nach unten korrigiert. Am Standort hatte dies die Konsequenz, dass die Sachbearbeiter von der Entgeltgruppe E6 in die Entgeltgruppe E5 kamen. Individuell hatten diese Beschäftigten zwar wiederum keine Einkommenseinbußen, da zur Übergangsregelung letztlich die E6 beibehalten wurde. Doch die niedrigere Eingruppierung schlug sich in den Arbeitsbeschreibungen nieder, die bei der nächsten Positionsbesetzung entsprechend angesetzt werden. Als kritischer stellte sich der Sachverhalt bei denjenigen Führungskräften heraus, die im Einkauf des Mutterkonzerns Verantwortung getragen hatten und an den Standort des Untersuchungsbetriebs versetzt wurden, da sie sich im Vergleich zur früheren Eingruppierung minder bewertet fühlten und aufgrund des Arbeitsplatzwechsels in ein anderes Tarifgebiet auch absolute finanzielle Einbußen in Kauf nehmen mussten. In allen drei Untersuchungsbetrieben wurde sowohl von den Personalleitungen als auch von den Betriebsräten hervorgehoben, dass der Zeitpunkt der ERAEinführung von der Personalleitung „clever“ gewählt war. Da die Personalleitungen wussten, dass die meisten Beschäftigten, wenn überhaupt, allenfalls geringe Abstriche an ihrem Entgelt zu verzeichnen haben, legten sie die ERAEinführung einen Monat vor die nächste Tariferhöhung bzw. in einem Fall in den 68 gleichen Monat. So erlebten die Mitarbeiter höchstens einen Überbrückungsmonat lang ein finanzielles Minus, das im nächsten Monat wieder überkompensiert wurde, da die Tariferhöhung in vielen Fällen höher als der Auffüllbetrag ausfiel. Das hat nach Aussage der Gesprächspartner viel „böses Blut“ erspart. 6.5 Konflikte und Proteste seitens der Beschäftigten (1) Abgesehen von den soeben beschriebenen Notwendigkeiten für die Personalleitungen und Betriebsräte, besonders betroffenen Arbeitskräftegruppen gegenüber die Einführung, Anwendung und Wirkung von ERA zu erläutern und legitimieren, kam es in keinem der Untersuchungsbetriebe zu relevanten negativen Reaktionen, die sich als förmliche Proteste, offene Konflikte oder Leistungszurückhaltung geäußert hätten. Verunsicherungen konnten in der Regel relativ zügig auf dem Dialogwege ausgeräumt werden, da nach Einschätzung der befragten Personalleitungen und Betriebsräte vielfach lediglich aus dem Nicht-Verstehen des Vorhabens Missverständnisse resultierten, die im Betriebsalltag allerdings schnell Gerüchte und unzutreffende Einschätzungen zur Zielsetzung des Unternehmens entstehen ließen. Vereinzelt gab es Unmut bei den bisher T5 und T6 zugeordneten Personen (wegen der neuen Verdienstübersichten), jedoch griffen die Umsetzungsverantwortlichen im Betrieb, die die Schwierigkeit der Materie erkannt hatten, diese betriebsklimatischen Verwerfungen in den oben beschriebenen Informationsrunden auf, in welchen wiederholt geklärt wurde, dass niemand absolut weniger verdient. Die größten Informationsdefizite und Verunsicherungen stellten sich bei den Mitarbeitern im Hinblick auf die Ausgleichszahlungen ein. Einige Personalleiter bzw. Personalleiterinnen befürchteten, dass bei der nächsten Tariferhöhung neuerliche Diskussionen und Erläuterungen erforderlich sein werden, da die Mitarbeiter dann wieder zu informieren sind, wie ihr Gehalt vor und ihr Entgelt nach der Einführung unter Berücksichtigung der Ausgleichszulagen bzw. Anpassungsbeträge aussieht. In A1, wo – wie oben erwähnt – zum Ausgleich der vormals übertariflichen Bezahlung ergänzend ein individueller Ausgleichsbonus ermittelt wurde, kam es bei einzelnen Beschäftigten nach etwa einem Jahr zu Bedenken bezüglich der Verrechnung und des Charakters des im Gehaltszettel getrennt ausgewiesenen individuellen und tariflichen Ausgleichs, die sich aber durch entsprechende Informationen schnell ausräumen ließen. (2) Trotz der mit ERA neu definierten Entgeltrelationen ergaben sich keine Spannungen zwischen Arbeitskräftegruppen, wie z.B. den ehemaligen kaufmännischen und technischen Angestellten oder den ehemaligen Angestellten 69 und den grundsätzlich relativ begünstigten Lohnempfängern. Es stellte sich vielmehr heraus, dass die nun einheitlichen Gruppen im weitaus größten Teil der Belegschaft positiv aufgenommen wurden. Vor allem die Abschaffung der Unterschiede zwischen Lohn- und Gehaltsempfängern stieß auf durchweg positive Resonanz. Zu berücksichtigen ist hier auch, dass bei A1 schon seit 1992 ein einheitliches Entgeltsystem zur Anwendung kam und demzufolge die Angestellten bei der Umstellung keine Angst hatten, eine tatsächliche oder vermeintliche „elitäre“ Stellung zu verlieren. Lediglich in einem Untersuchungsbetrieb wurden Beschwerden an die Personalleitung herangetragen, in deren Zuge die Überschreiter aus den Gehaltsgruppen T5 und T6 Blockadehaltungen (z.B. Dienst nach Vorschrift bzw. Kündigung) angekündigt, aber letztlich nicht wahr gemacht hatten. Eine gewisse Bedeutung hatte hier nach Aussage der Personalleitung, dass in diesen Gruppen das durchschnittliche Alter bei ca. 45 Jahren liegt und dadurch die allgemeine Bereitschaft oder Chance, einen anderen Arbeitsplatz zu finden, nicht so hoch ist. Insgesamt allerdings kamen “überraschend wenig Beschwerden“ (Personalleitung). Eine stärkere Wirkung entfaltete in den Untersuchungsbetrieben O1 und O2 die etwas zeitverzögerte Umsetzung der in ERA definierten neuen Entgeltgrundlagen. In beiden Fällen wurden die im neuen „Zeitentgelt mit Leistungszulage“ praktizierten Leistungsbeurteilungen moniert. Im Kern der Proteste ging es um die dieser Entgeltgrundlage per definitionem immanenten subjektiven Grundlagen der Beurteilung. Zur Darstellung dieser Problematik wird exemplarisch auf einen Untersuchungsbetrieb eingegangen: Bei O2 wurden die Leistungszulagen nach dem ERA-System erst zum 01.07.2007 eingeführt. Von der ursprünglichen Absicht der Geschäftsführung und Personalleitung, diese schon zum 01.07.2006 einzuführen, wurde Abstand genommen, da von den Beschäftigten dagegen Einspruch erhoben wurde. Die wichtigsten Argumente waren dabei, dass der Einschätzungszeitraum für die Leistungszulagen ein Jahr beträgt und ERA zu diesem Zeitpunkt erst seit drei Monaten in Kraft war; so hätten sich die Mitarbeiter in ihrer Leistungsverausgabung ein Jahr lang an den alten Kriterien der Leistungszulagen orientiert, und man könne ihnen nun nicht sofort die neuen ERA-Kriterien „überstülpen“. Damit wurde aber der Personalleitung zufolge das entscheidende Problem nur vertagt, da den Mitarbeitern dann eben zeitversetzt verständlich zu machen war, dass die jetzt eingeführten Leistungszulagen auf den Vorgaben des ERA zur tariflichen Leistungsbeurteilung mit einer vom alten System abweichenden Zuteilung der Zulagenniveaus auf die Beurteilungsstufen beruhen – und das, obwohl die Einführung von ERA schon ein Jahr zurückliegt. Da die Berechnung der Leistungszulagen anders als beim alten Modell erfolgt, ist es außer- 70 dem möglich, dass Beschäftigte trotz gleicher Beurteilung eine andere absolute Leistungszulage bekommen. Das alte Einschätzungsmodell umfasste 100 Punkte, die auf sechs Stufen aufgeteilt waren. Innerhalb dieser Stufen gab es eine jeweils fest definierte prozentuale Leistungszulage: So erhielt ein Mitarbeiter, der 85 Punkte erreichte, die gleiche Leistungszulage wie ein Mitarbeiter mit 100 Punkten, und ein Mitarbeiter mit 84 Punkten bekam eine ebenso hohe Leistungszulage wie jemand mit 69 Punkten. Bei dem neuen Verfahren wird hingegen jeder Beurteilungspunkt auf einer linearen Bewertungsskala abgebildet, so dass jeder Punkt in der Leistungsbewertung einen halben Prozentpunkt des für die Abteilung durchschnittlich 10% betragenden Zulagenvolumens ausmacht. Insgesamt können maximal 28 Punkte erreicht werden, wobei der Hauptteil der Beschäftigten Leistungszulagen von 10% erhält (was dem Median der Leistungspunkte, ca. 19 bis 20, in der Firma entspricht) und die Spreizung zwischen 4 und 14% liegt. Dieses neue Verfahren kann nach Einschätzung der Personalleitung von den Beschäftigten als wesentlich größerer Ansporn zur Leistung verstanden werden, da eine genauere Differenzierung und eine engere Kopplung von geringfügigen Leistungssteigerungen mit höheren Zulagen ermöglicht ist. Mit dem Instrument der Leistungsbeurteilung sind jedoch – abgesehen von der Notwendigkeit zu begründen, warum um ein Jahr zeitversetzt die Beurteilungssystematik geändert wurde – drei Komplikationen im Hinblick auf die betriebliche Gerechtigkeit verbunden: ¾ Beurteilungen sind stets subjektiv und stark vom jeweiligen Beurteilenden abhängig, so dass trotz gleicher Leistung der Beschäftigten Unterschiede in der Beurteilung entstehen können, die u.U. auf persönlichen Umständen oder auf Beziehungen des jeweiligen Abteilungsleiters zum Mitarbeiter beruhen könnten: Sympathie; Freundschaft; höhere Wertschätzung von höher eingruppierten Mitarbeitern, denen evtl. psychologisch bedingt auch eine höhere Leistung attestiert wird; Eigeninteresse des Abteilungsleiters, bestimmte Mitarbeiter in der Abteilung zu halten, etc. ¾ Ein zweiter, mit der Persönlichkeit des jeweiligen Abteilungsleiters zusammenhängender subjektiver Faktor besteht darin, dass manche Abteilungsleiter bekanntermaßen eine Tendenz zu hohen Leistungsbeurteilungen aufweisen, während andere kritischer oder strenger beurteilen. ¾ Eine dritte Problematik liegt in der unterschiedlichen Abteilungs- und Gruppengröße begründet. Bei einer relativ großen Abteilung wirkt sich die geforderte Durchschnittsbildung nicht unmittelbar in großen Ungleichgewichten der Beurteilungen aus, während bei kleinen Gruppen die Zuteilung einer 71 hohen Zulage an einen Mitarbeiter zwangsweise mit einer verminderten Beurteilung bei einzelnen anderen Mitarbeitern korrespondieren muss. „Wenn ich z.B. in der Qualitätssicherung nur zwei wirklich gute Leute habe, kann ich niemanden schlechter machen. … Der Abteilungsleiter zieht ja nicht die ganze Abteilung hoch, sondern nur Einzelne. Da hat er schon selbst das Problem, dass er den anderen erklären muss, warum die runtergehen, und bei den Höhergestuften wirkt das nicht in dem Umfang. Es wird ja insgesamt weniger. Wenn ich den einen hochstufe, muss das sich ja immer wieder ausgleichen“ (Personalleiterin).2 Auf diese Einschätzungsproblematik Bezug nehmend, wurden zwei Beschwerden über die individuelle Leistungsbeurteilung eingereicht. Aufgrund dieser Einsprüche verfassten Personalleitung und Betriebsrat jeweils ein allgemeines Antwortschreiben an die Beschäftigten, das die Unterschiede zwischen alter und neuer Leistungsbewertung erläuterte und deutlich machte, dass Einsprüche nur gegen die Bewertung des Vorgesetzten, nicht hingegen gegen das Berechnungsverfahren an sich eingelegt werden können. Ähnliche Beschwerden von Mitarbeitern, die eine höhere Leistungszulage erhalten wollten, traten auch bei O1 auf und wurden am Betriebsrat und an der Personalleitung ausgelassen, die sich jedoch auf keine Diskussion einließen. Konflikte und Spannungen zwischen den unterschiedlich beurteilten Mitarbeitern kamen nach der Kenntnis von Betriebsrat und Personalleitung nicht vor. 7. Organisatorische Implikationen und Folgen sowie offene Regelungsfelder Neben den unmittelbar entgeltbezogenen Umsetzungseffekten und Konsequenzen von ERA stellen sich bei einer Gesamtbetrachtung der Wirkung von ERA Fragen nach den organisatorischen und mittelbaren Konsequenzen für die betriebliche Aufbau- und Ablauforganisation sowie nach erkennbaren personalpolitischen Vor- und Nachteilen. Im Rahmen der empirischen Erhebungen wurde auf folgende denkbare Effekte eingegangen: 2 72 Vor etwa zehn Jahren war schon einmal der Fall aufgetreten, dass die Leistungseinschätzungen überprüft wurden und ein besserer Mitarbeiter mehr als 10% bekam, was zur Folge hatte, dass die Firma innerhalb kurzer Zeit von anfangs 10% bei durchschnittlich 13% Leistungszulage anlangte. Deswegen werden diese 10% Leistungszulage auch beibehalten: „Wir bleiben bei den 10%, und auch wenn viele Leute besser werden, bleiben wir bei den 10%.“ 1. Veränderungen in der Abteilungsgliederung im Zusammenhang mit ERA (z.B. in der Arbeitsvorbereitung, Produktionsplanung, Zeitwirtschaft etc.) 2. Erwartete oder realisierte Beschäftigungseffekte der ERA-Einführung: − Beschäftigungsaufbau, -abbau, -sicherung; Personalbestand − Beschäftigungseffekte in anderen Unternehmensbereichen − Art der betroffenen Arbeitsplätze 3. Personalpolitische Auswirkungen von ERA − Unternehmensstruktur und Abteilungsgliederung (Profit/Cost Center) − Geschäfts-Portfolio − Outsourcing, Produktionsverlagerung und Fremdvergabe − Rolle der Personal- vs. Finanzabteilung − Verantwortlichkeiten und Hierarchie − mittlere und untere Managementebene − Arbeitsorganisation (und Gruppenarbeit), Arbeitsplatzgestaltung − Projektarbeit und Projektmanagement − Benchmarking- und Kontrollsysteme, PPS − Rekrutierungspolitik − spezifische Weiterbildung − Arbeitszeit- und Schichtmodelle Zusammenfassen lassen sich die Befunde zu den mittelbaren Folgen in dem Fazit: In keinem dieser Felder lassen sich die in den letzten Jahren eingetretenen Veränderungen ursächlich auf die ERA-Einführung zurückführen. Diese Nein-Aussage und dieser scheinbar negative Befund sind durchaus als klares Ergebnis hinsichtlich der ERA-spezifischen Auswirkungen zu werten. Sie bedeutet zum einen, dass die ERA-Einführung keine grundsätzlicheren „Verwerfungen“ im Unternehmen bewirkt hat, sondern im Einklang mit den betrieblichen Bedingungen umgesetzt werden konnte. Sie bedeutet zum anderen, dass sich insbesondere die weitergehenden Hoffnungen der Gewerkschaften, mit den neuen ERA-Regelungen könne sich auch eine Anschubfunktion für moderne Arbeitsformen herausbilden, nicht erfüllt haben. (1) EDV-Kompatibilität bezüglich ERA: In keinem der Fälle war eine Umstellung der EDV notwendig, da sich die bereits in der Vergangenheit angewandten Systeme als flexibel erwiesen. Es wird auch von einer guten Bewältigung von ERA durch SAP berichtet, wo sich im Hinblick auf die Datenpflege keine großen Unterschiede zwischen alter und neuer Entlohnung ergeben ha- 73 ben. Zwar mussten die Entgeltarten bzw. -komponenten neu definiert und angelegt werden, was z.B. bei Schichtzuschlägen etwas aufwändigere Berechnungen erforderte, die jedoch nur einmal vorgenommen werden mussten. Aufgrund der klareren und einfacheren Tätigkeitsbeschreibungen ergab sich hingegen vielfach eine Vereinfachung in der Bedienung der Systeme und Pflege der Daten. Lediglich in einem Fall, bei dem die Lohn- und Gehaltsbuchhaltung schon früher outgesourct war, mussten infolge von ERA die Daten in ExcelTabellen eingegeben werden, da im alten Programm nichts dafür vorgesehen war. In einem Fall, in dem die technische Kompatibilität grundsätzlich gegeben war, entstand durch das geänderte, an die tariflichen Methoden angepasste Leistungsbeurteilungssystem für die EDV insofern ein größerer Aufwand, als eine Umstellung der Software notwendig wurde. (2) Personelle und personalpolitische Folgen: In keinem der Untersuchungsbetriebe ergeben sich quantitative oder qualitative Beschäftigungseffekte bezogen auf ERA. Es kam auch nicht zu personalpolitischen Auswirkungen oder zu spezifischen Weiterbildungen, die über die Schulungen im Vorfeld der Einführung für die Betriebsräte und Personalleitungen hinausgingen. Auch die Fragen nach personellen Folgen im Sinne der Erreichung angestelltentypischer Interessen an ERA, wie z.B. neue bzw. stärker zu gewichtende Verhandlungsfelder, vereinbarte Arbeitspensen, Chancen zur Aushandlung von Personalbesetzung, Bevorzugung von Zielvereinbarungen oder Veränderungen in Arbeitszeitfragen bzw. im Hinblick auf die Karriereplanung, ergaben einen negativen Befund. Eine entsprechende Wirkung entfaltete ERA folglich in diesen Verhandlungsfeldern nicht. Positive Erwartungen werden seitens der Personalleitungen im Hinblick auf die Wirkung der ERA-Anwendung für die künftige betriebliche Rekrutierungspolitik gehegt. So erhoffen sich die Personalleitungen aufgrund der auch von außen wahrgenommenen Kontinuität der Firmen in der Tarifpolitik durchaus auch interessantere Bewerber. In diesem Sinne könnte sich herausstellen, dass die Anwendung des Flächentarifvertrags anziehend wirkt und gewisse „Abschreckungsmomente“ eines ostdeutschen Standorts für hoch qualifizierte Bewerber kompensiert werden können. In diesem Sinne berichtet eine Personalleiterin, dass sich Bewerber gezielt danach erkundigen, ob der Betrieb ERA anwendet. (3) Arbeitsorganisatorische Folgen von ERA: Eine Zielsetzung der Begleitforschung bestand im Herausarbeiten von Wechselwirkungen zwischen dem betrieblichen Entgeltsystem und modernen Arbeitsformen, insbesondere im Sinne einer auf ERA zurückgehenden Planung und Implementierung moderner Produktionsmodelle bzw. Arbeitsorganisationsformen (wie segmentierte Produktion, Fertigungsinseln, teilautonome Gruppenarbeit). Diese so genannten mo- 74 dernen Produktionskonzepte und Arbeitsformen existieren in den Betrieben in der Tat und haben bereits vor der ERA-Einführung bestanden. Eine entsprechende Impuls- oder Inkubatorwirkung lässt sich aus der Umsetzung des ERA folglich nicht ableiten. In allen Untersuchungsfällen wurde auf die bereits bestehenden flachen Hierarchien mit wenigen Ebenen verwiesen, deren Struktur sich auch mit ERA nicht ändert. Es gibt also keine Verschiebungen in den Hierarchie-Ebenen oder in der Abteilungsgliederung und auch keinen Bedeutungsgewinn einer Abteilung durch die Tarifreform. Die vollzogenen arbeitsorganisatorischen Umstrukturierungen wurden vielmehr unabhängig von ERA vorgenommen. In einem Fall bezogen sie sich auf eine stärkere Durchlaufoptimierung und Prozessorientierung, in deren Verlauf die arbeitsvorbereitenden Abteilungen (Forschung, Konstruktion) gestärkt wurden, während die gewerblichen Abteilungen einen Abbau hinnehmen mussten. In einem anderen Fall geht der Ursprung der Umstrukturierung auf ein neues Unternehmensziel, die „Einführung konstanterer Arbeitsstrukturen“, zurück: Während früher einzelne Software- und Hardwareentwickler, Konstrukteure, Systemingenieure und Verwaltungskräfte bei größeren Projekten zu einer Abteilung zusammengefasst wurden, die nach Projektabschluss wieder aufgelöst wurde, soll nun die Unternehmensstruktur selbst entsprechend den neu geschnittenen Geschäftsfeldern entwickelt werden. Die Mitarbeiter werden den Geschäftsfeldern direkt und fest zugeordnet und sollen sich nicht erst für ein Projekt zusammenfinden. Die bestehenden Arbeitszeit- oder Schichtmodelle sind gleich geblieben. (4) Abschließend soll noch kurz auf den Umsetzungsbedarf im Hinblick auf die Errechnung und Ausschüttung des Strukturanpassungsfonds eingegangen werden: Während – wie oben beschrieben – die Ausschüttung des kalkulierten Gesamtvolumens der ERA-spezifischen Entgeltkosteneinsparung bei A1 bereits unmittelbar mit dem Einführungstermin im Jahr 2006 in einer Betriebsvereinbarung geregelt und sofort vorgenommen wurde, werden in den beiden anderen Untersuchungsbetrieben dazu noch entsprechende Vorgehensweisen zu definieren sein. Im Großbetrieb O1 beschäftigt die Strukturanpassungskomponente das Unternehmen weiterhin. Da bisher noch keine interne Regelung beschlossen bzw. mit dem Betriebsrat vereinbart ist, bestehen dort noch gewisse Verunsicherungen über die Verrechnung: „Die Mitarbeiter fragen sich, ob sie überhaupt noch etwas bekommen oder ob das Geld versickert ist“ (Betriebsrat). Bei O2 sieht die Personalleitung als noch bestehendes Problem die Kostenneutralität bzw. den Strukturanpassungsfonds von 2,79% an, dessen Endabrechnung noch nicht fertig ist, da die Formel zur Berechnung aus dem Tarifvertrag nicht eindeutig scheint. Da die Summe der Kosten aber erst nach 75 fünf Jahren gerechnet sein muss, „geht man da mit Ruhe heran“, wobei der Betriebsrat nun jedes Jahr eine Zwischenberechnung von der Geschäftsführung verlangt, um sicherzustellen, dass diese über die noch ausstehende Kalkulation Protokoll führt. Unabhängig von ERA weist der Betriebsrat eines Betriebs auf aus seiner Sicht noch offene Regelungsbedarfe und Möglichkeiten zu neuen Betriebsvereinbarungen hin, die vor allem aus Gewerkschaftssicht relevant sind: ¾ Regelungen für Familien mit Kindern, um zum Beispiel bei der Arbeitszeitoder Urlaubsplanung eine familienfreundliche Personalpolitik zu ermöglichen. ¾ Regelung für die Reisezeit bei Auslandsdienstreisen. Da diese nicht in einem Tarifvertrag geregelt sind, sieht die Geschäftsführung keinen Anlass für eine Änderung. Bei der derzeitigen Regelung werden nach dem Stellen eines Dienstreiseantrags insgesamt nur vier Stunden Reisezeit sowie die tatsächlich angefallene Arbeitszeit (wie im Tarifvertrag vorgesehen) angesetzt, was dazu führt, dass für längere Dienstreisen, insbesondere ins Ausland, ein großer Teil an privater Zeit aufgebracht werden muss. 8. Gewerkschafts- und Betriebsrats-Rückhalt: Solidarisierung versus Distanzierung In diesem Abschnitt wird auf die gewerkschafts- und vertretungspolitischen Folgen der Umsetzung dieser Jahrhundertreform einzugehen sein, die für den Tarifpartner IG Metall wichtig sind. Wie in den Abschnitten zu den Begünstigten und den Benachteiligten im Einzelnen beschrieben, ergeben sich aus der ERA-Anwendung für unterschiedliche Belegschaftsgruppierungen persönliche, z.T. einkommensrelevante Vor- oder Nachteile. Daher liegt die Frage nahe, ob sich solche Erfahrungen auf den Rückhalt des Betriebsrats im Unternehmen und die Bindung der Kolleginnen und Kollegen an die Gewerkschaft auswirken, da Betriebsrat und Gewerkschaft maßgeblich an der Gestaltung bzw. betrieblichen Umsetzung von ERA beteiligt waren. Ferner stellt sich die Frage, wie sich die Bindungen zwischen den Betriebsräten und der Gewerkschaft im Zusammenhang mit der ERA-Einführung verändert haben. (1) Rückhalt des Betriebsrats: Wie für ein Vorhaben wie ERA zu erwarten, kam es zunächst zu Irritationen in den Betrieben und Belegschaften, welche Konsequenzen sich aus diesem Tarifwerk für die Einkommenssituation erge- 76 ben könnten. Zwar waren es vor allem die Tarifvertragsparteien, die insbesondere bei der Definition der Überleitungstabellen zur Tariflichen Entsprechung die entscheidenden Vorgaben zu neuen Entgeltrelationen gemacht haben und mit je interessegeleiteten Zielsetzungen und Werthaltungen zur relativen Bewertung von Qualifikationsgruppen auch Änderungen in den bisherigen betrieblichen Entgeltstrukturen vorgeschlagen bzw. vorgenommen haben. Und natürlich geht es bei der Akzeptanz und individuellen Betroffenheit der Beschäftigten auch darum, welche konkreten Interessen der Arbeitgeber mit der ERA-Umsetzung verfolgt. Dennoch werden die Betriebsräte während des Einführungsprozesses mit den ERA-Maßgaben identifiziert. Das gilt insbesondere dann, wenn sie, wie in den Untersuchungsbetrieben, eine erfolgreiche ERAEinführung intensiv als ihre originäre Aufgabe verstehen. Zudem hängen die Einstellungen der Beschäftigten auch mit den Erfahrungen im Einführungsprozess und der dabei praktizierten Informationspolitik im Betrieb zusammen. Ein Indiz für den Rückhalt der Betriebsräte (und zugleich der Gewerkschaft) in der Belegschaft ist der betriebliche Organisationsgrad, der statistisch bei den Gewerblichen höher als bei den Angestellten ist. Daraus erklärt sich auch der ursprünglich höhere Organisationsgrad im Untersuchungsbetrieb mit eigener Produktion A1. Dort ist der Organisationsgrad im Betrieb von ehedem 45% auf ca. 32% gesunken, was von den Gesprächspartnern auf die Befürchtungen der Beschäftigten zurückgeführt wird, es drohe eine Absenkung der ursprünglich übertariflichen Bezahlung auf das Tarifniveau. So sind nach Aussage des Betriebsrats manche Überschreiter relativ schnell aus der Gewerkschaft ausgetreten. Aufgrund der betrieblichen Informationspolitik und der späteren Erkenntnis in der Belegschaft, dass die übertarifliche Bezahlung als Besitzstand unangetastet bleibt, hat sich der Organisationsgrad nunmehr wieder stabilisiert. Ein weiterer Grund für die Stabilisierung liegt darin, dass zwischenzeitlich das Betriebsratsgremium gewechselt hat und nun ein neuer Betriebsratsvorsitzender gewählt ist. In den beiden anderen Betrieben, in denen der Angestelltenanteil überwog, lag der Organisationsgrad ohnehin etwas darunter: in einem Fall bei 30% (bei Arbeitern und Angestellten gleichermaßen), im anderen Fall bei 25%. In beiden Fällen blieb der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den letzten Jahren in etwa konstant und hat sich auch mit der ERA-Einführung nicht geändert. Auch in den beiden Fällen mit niedrigerem Organisationsgrad wird herausgestellt, dass der Rückhalt des Betriebsrates im Unternehmen groß ist, dass aber normalerweise die Belegschaft die Arbeit des Betriebsrates nicht bemerkt. Die Mitarbeiter nehmen überwiegend auch die Gewerkschaften positiv wahr: „da diese z.B. für Tariferhöhungen kämpfen, was Einzelpersonen oder der Betriebsrat mit der Geschäftsführung nicht leisten können“ (Betriebsrat O2). Obgleich die Belegschaften während der Einführung von ERA erkannt haben, 77 dass der Betriebsrat noch einige Vorteile für die Beschäftigten ausgehandelt hat, wirkt sich dies nicht in einer Bereitschaft zum Gewerkschaftsbeitritt bzw. einer Erhöhung des betrieblichen Organisationsgrads aus. Begründet wird dieser Sachverhalt von einer Gesprächspartnerin aus der Belegschaft mit der Mitarbeiternähe bzw. -distanz von Betriebsrat und Gewerkschaft: Bezüglich der Rolle der Gewerkschaften ist diese kaufmännische Angestellte der Ansicht, dass diese zwar auch „etwas“ geleistet haben, aber im Hinblick auf das Verhältnis der Mitarbeiter zur Gewerkschaft und eine evtl. Annäherung „ist diese schlichtweg zu weit von den Mitarbeitern entfernt“, weswegen tendenziell eher der Einfluss des Betriebsrates gesehen wird, da dieser eben „näher“ ist. Ein weiteres Indiz für den Rückhalt der Betriebsräte in der Belegschaft ist die Wahlbeteiligung an den Betriebsratswahlen. Sie liegt in den Untersuchungsbetrieben für die Wahlen 2002 und 2006 gleichbleibend zwischen 67% und 86% und hat sich durch die ERA-Einführung nicht nennenswert verändert. In einem Fall liegt die Wahlbeteiligung 2006 sogar höher, was der Betriebsrat seiner guten Arbeit bei der ERA-Einführung zuschreibt. Ein letztes Indiz für den Rückhalt der Betriebsräte in der Belegschaft lässt sich an der Selbsteinschätzung der befragten Betriebsräte und der Fremdeinschätzung des Betriebsratshandelns seitens der Mitarbeiter ablesen. In allen Untersuchungsbetrieben hat sich maßgeblich durch ERA die Rolle und Bedeutung sowie Wahrnehmung des Betriebsrats in der Belegschaft deutlich verbessert. Die Rolle der Betriebsräte während der Einführung von ERA wird von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern explizit positiv gewürdigt: Er habe eine positive Rolle gespielt, indem er sich für die Mitarbeiter eingesetzt und für diese etwas erreicht habe. Diese positive Einschätzung der Betriebsratsarbeit wird in den meisten Fällen auch von Mitarbeitern geteilt, die sich durch die ERA-Umsetzung als benachteiligt einschätzen oder über die als Streitfall in der PaKo verhandelt wurde; schon die Thematisierung des eigenen Falls und die ernsthafte Repräsentation durch den Betriebsrat der Geschäftsführung oder Personalleitung gegenüber wird entsprechend anerkannt und gewürdigt, da sich die Mitarbeiter in ihren individuellen Interessen wahrgenommen und ernst genommen fühlen. Die jeweiligen Betriebsräte erfahren auch durch persönliche Rückmeldungen von Beschäftigten Anerkennung dafür, dass sie die Mitarbeiter gut informiert haben; ihnen wird eine hohe Beratungskompetenz zugeschrieben: „Und das Vertrauen zum Betriebsrat ist ein bisschen mehr gewachsen jetzt. Auch durch die ERA-Sache und durch die Beratung. Die Kommunikation läuft besser und die Leute trauen sich auch mal, was zu fragen“ (Betriebsrat A1). „Die erste Anlaufstelle für uns Mitarbeiter ist der Betriebsrat, ansonsten die Personalleitung“ (Mitarbeiter A1). „Seit 1991 sind 60% der gewählten 78 Betriebsräte die gleichen, was darauf schließen lässt, dass die Mitarbeiter wissen, dass sie sich auf Betriebsrat und dessen Aussagen verlassen können“ (Betriebsrat O1). „Endlich ist das Thema mal erledigt“ (Mitarbeiter O1). „Durch dieses Engagement bei der ERA-Einführung haben die Betriebsräte nun einen guten Stand bei den Mitarbeitern“ (Betriebsrat O2). In einem der Untersuchungsbetriebe berichtet ein befragter Mitarbeiter der Entwicklungsabteilung, dass die Bewertung des Betriebsrats abhängig von der Einstufung als Überschreiter oder Unterschreiter sei: „Die Überschreiter, die nun weniger Entgelt bekommen, sehen erst auf den zweiten Blick, dass die ERA-Einführung und nicht der Betriebsrat hierfür verantwortlich ist. Bei den Unterschreitern hingegen hat der Betriebsrat an Ansehen gewonnen, obwohl wiederum der Betriebsrat hierfür nicht verantwortlich ist. Die Mitarbeiter sehen nicht, welche Arbeit und Engagement der Betriebsrat in ERA investiert hat: Es ist nun nicht so, dass die Betriebsrätin (Name ersetzt, K.S.) die Blumensträuße bekommen hätte. Sie hätte es, weiß Gott, verdient gehabt.“ In einem Fall, bei dem im Rahmen der letzten Betriebsratswahl ein Wechsel im Gremium und ein Austausch des alten Betriebsratsvorsitzenden zustande kam, deutet sich allerdings eine gewisse Konfliktlinie zwischen der Politik des alten Betriebsratsvorsitzenden und dem Selbstverständnis des neuen Betriebsratsgremiums an: So wird von den neuen Betriebsräten moniert, dass der alte Betriebsrat kaum Kontakt zur Gewerkschaft hatte bzw. auch nicht aufnahm und womöglich deshalb die Tarifliche Entsprechung allzu schnell durchzog. Im Rückblick hätte der neue Betriebsrat hier eine sorgfältigere Einarbeitung in die Thematik durch die Einbeziehung von Erfahrungen der Gewerkschaft gewünscht. Zudem wäre ihm zufolge rückschauend eine gründlichere Thematisierung der Arbeitsbewertungen im Betriebsratsgremium und in der Belegschaft wünschenswert gewesen, weil dadurch evtl. die Möglichkeit für vereinzelte Anpassungen im Sinne der Beschäftigten deutlich geworden wäre. Somit war der neue Betriebsrat mit nachträglichen Rückfragen von Kolleginnen und Kollegen konfrontiert, „als die Leute die Bewertung bekommen und gesagt haben: da steht ja gar nicht alles drin, was ich mache“. Zu diesem späten Zeitpunkt war allerdings aufgrund der Zustimmung des alten Betriebsrats zu den neu erstellten, zur Stellungnahme vorgelegten Funktionsbeschreibungen dem neu gewählten Betriebsrat jegliches Mitspracherecht genommen. Diese Problematik musste gewissermaßen als Nachhutgefecht durch den neuen Betriebsrat in der Diskussion mit einzelnen Beschäftigten gelöst werden, was von diesen auch entsprechend als Leistung des neuen Betriebsrats anerkannt wurde. Insgesamt stellte dies alles aber nicht den Rückhalt des neuen Betriebsrats in der Belegschaft in Frage, ja es erhöhte diesen sogar, da sich der neue Betriebs- 79 rat von der Praxis des alten distanzieren und als Interessenvertreter agieren konnte, der die Belange der Belegschaft angemessen zu vertreten versuchte. (2) Auch im Hinblick auf den Rückhalt der Gewerkschaft bei den Betriebsräten lassen sich im Zusammenhang mit der ERA-Umsetzung positive Wirkungen feststellen. Gerade in einem teilweise von Unsicherheit und Unkenntnis geprägten umfangreichen Umsetzungsprozess eines Tarifwerks in die Betriebe kommt der Gewerkschaft bzw. den örtlichen Bevollmächtigten eine phasenweise deutlich gestärkte Bedeutung für die Erläuterung von Details und die Bereitstellung von Umsetzungshilfen zu. Diese Unterstützungsfunktion wird auch in den Betrieben geschätzt. Bestätigt wird, dass die Betriebsräte gerne mit den Gewerkschaften zusammenarbeiten, da sie von dort Unterstützung bei Nachfragen bekommen. Vor dem Hintergrund der Selbsteinschätzung einer gewissen Betriebsblindheit wird von einzelnen Befragten herausgestellt, dass die Gewerkschaft besser die Meinung bzw. Position von beiden Seiten – Arbeitgeber und Gewerkschaften – zu einer bestimmten Thematik kennt. Damit habe sie eine wichtige Aufklärungsfunktion über entscheidende Meilensteine oder auch Umsetzungsaspekte, auf die ein Betriebsrat besonders zu achten hat. Die schon immer sehr guten Kontakte zwischen Gewerkschaft und Betriebsrat wurden in den Untersuchungsfällen während der ERA-Einführung deutlich intensiviert. Nach Abschluss der ERA-Einführung haben sich diese Kontakte wieder auf ein „normales Maß“ eingependelt und sind nun nicht besser oder schlechter als vor der Einführung. In einem Fall, in dem der die Einführung anfangs begleitende Betriebsratsvorsitzende wenig Kontakt mit der örtlichen Verwaltungsstelle der Gewerkschaft hatte, da es offenbar Kommunikationsschwierigkeiten mit dem damaligen örtlichen IG-Metall-Bevollmächtigten gab, der ohne die Bezirksleitung in Frankfurt nichts entscheiden wollte, konnte sich die Bezirksleitung in Frankfurt einschalten und die entsprechenden Nachfragen klären. Mit einem personellen Wechsel sowohl im Betriebsratsvorsitz als auch in der Position des Bevollmächtigten haben sich nunmehr die Kontakte entscheidend gebessert, so dass in letzter Zeit verstärkt Anfragen an die Verwaltungsstelle gerichtet werden, von der nunmehr auch zutreffende und hilfreiche Ratschläge kommen. Als weiterer vorteilhafter Effekt der ERA-Einführung zeigte sich in einem Fall, dass bestehende Kontakte zu den Betriebsräten anderer Betriebe in der Region aufgrund von ERA deutlich ausgeweitet und institutionalisiert wurden; es finden nunmehr fest vereinbarte Betriebsratsstammtische statt, um eine wechselseitige Informierung und Hilfestellung auch in Fragen, die über ERA hinausgehen, zu gewährleisten und zu intensivieren. 80 9. Gesamtbewertung von ERA: Vor- und Nachteile aus Sicht der Befragten In diesem Abschnitt soll versucht werden, eine Gesamtbewertung von ERA vorzunehmen, die auf die Zielsetzungen im Zusammenhang mit ERA sowie auf die Vor- und Nachteile aus der Perspektive der Befragten Bezug nimmt. Es werden somit lediglich die subjektiven Einschätzungen der Gesprächspartner referiert, und zwar nur diejenigen, die den Begleitforschern gegenüber offen artikuliert wurden, wobei hier die Befunde nicht nach den Untersuchungsbetrieben, sondern nach den interessenpolitischen Betriebsparteien Betriebsrat und Personalleitung differenziert werden. Insgesamt ist eine doch recht große Schnittmenge der Zielsetzungen und Bewertungen von ERA seitens der beiden verantwortlichen Betriebspartner zu erkennen. Dies lässt sich möglicherweise als Hinweis darauf deuten, dass für beide Fraktionen mit ERA der Ansatz verknüpft war und zum Teil erfolgreich realisiert werden konnte, eine systematische Bereinigung der historisch oftmals naturwüchsig entstandenen Entgeltstrukturen in den Betrieben vorzunehmen und in diesem Zuge historische „Altlasten“ zu beseitigen. Dies spiegelt sich auch in den oben beschriebenen Umsetzungsprozessen und Verfahrensweisen wider, insbesondere im Rahmen der Informationspolitik. Beide Parteien agierten hier so, dass es sich erkennbar um „ihr“ Projekt handelte. Die ERA-Einführung wurde betriebsintern gerade nicht als Spielball instrumentalisiert, um die eigenen Interessen auf Kosten der „Gegenseite“ zu verwirklichen oder innerbetrieblich Terrain zu Ungunsten der Gegenseite gutzumachen. Ferner kann man an den hier dokumentierten Erfahrungen ablesen, dass es den Tarifparteien im Vorfeld der Einführung und im Zuge der Aushandlung von ERA offensichtlich gelungen ist, widerstreitende Interessenlagen in den einzelnen Regelungen zu ERA und zum Einführungsprozess in Einklang zu bringen, so dass nicht nur die Personalleitungen und Betriebsräte, sondern auch der weit überwiegende Großteil der Beschäftigten – auch ungeachtet persönlicher Nachteile – mit ERA eine durchaus positive Gesamtbewertung verbinden und darin einen insgesamt sinnvollen Tarifabschluss sehen. 9.1 Zielsetzungen Gemeinsames Interesse der Betriebsparteien war die Zielsetzung, die ERAEinführung dazu zu nutzen, die Arbeitsbewertungen und Tätigkeitsbeschreibungen, deren Erarbeitung oft lange zurücklag, zu aktualisieren und zugleich redundante, widersprüchliche, uneinheitliche, unzureichende oder auch fehlende Beschreibungen zu eliminieren bzw. abzugleichen. Man erhoffte sich damit 81 von ERA eine bessere Übersicht über die im Betrieb vorhandenen Arbeitsplätze, Funktionsbereiche und Qualifikationen. So waren die Stellenbezeichnungen in der Vergangenheit oftmals sehr unterschiedlich und uneindeutig („Entwickler I, II, III, Softwareentwickler I, II, III, Controller I, II, III“). Die Tätigkeitsbeschreibungen sollten dazu genutzt werden, eine höhere Eindeutigkeit und Abgrenzungsschärfe als früher zu erreichen. Aufgrund technologischer und arbeitsorganisatorischer Veränderungen in den Betrieben in den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich herausgestellt, dass diese nicht immer zur Anpassung von Arbeitsbewertungen und Eingruppierungen geführt haben und dass sich die Anforderungsprofile der gewerblichen, technischen und kaufmännischen Beschäftigten nicht mehr so streng wie in der Vergangenheit trennen lassen. Sie vermischen sich zunehmend, ein Trend, den eine einheitliche Entgelttabelle zu berücksichtigen verspricht. Zu den betriebsinternen Umstellungen kamen zumindest in zwei der drei Untersuchungsbetriebe wiederholte Umschichtungen der Standorte, Arbeitsstätten, Abteilungen und Firmenstrukturen, die auf die Zerschlagung der alten Kombinatsstruktur zurückzuführen waren und wegen des wirtschaftsstrukturellen Wandels seit der Wiedervereinigung erforderlich waren oder schienen. Da dabei die Rettung bzw. Sicherung des Betriebs im Vordergrund stand und eine derart turbulente Firmenentwicklung den Aufwand für eine stabile und in der Zukunft anwendbare Beschreibung der Tätigkeitsfelder nicht zu rechtfertigen schien, wurde pragmatisch mit den alten Arbeitsbewertungen weitergearbeitet. ERA stellte somit einen willkommenen Anlass dar, in den einzelnen Bereichen nachzufragen, ob die Mitarbeiter tatsächlich noch die Tätigkeit ausführen, die ihrer Beschreibung entspricht. Hier bot ERA in einer sich abzeichnenden Phase der Stabilisierung der Betriebsstrukturen die Chance, gewissermaßen einen betrieblichen Neuanfang in der Entgeltsystematik und -gerechtigkeit zu wagen. Ein weiterer Aspekt war die Zielsetzung, die im Rahmen der Geschäftstätigkeiten in den letzten Jahren an Bedeutung zunehmende permanente Prozessoptimierung durch ein adäquates Entgeltsystem zu stützen, das den neuen Flexibilitäten und abteilungsübergreifenden Kooperationsbezügen entgegenkommt. Mit den in ERA definierten Entgeltgruppenwortlauten und den auf dispositive Funktionen abhebenden Zusatzstufen konnte man sich einen entsprechenden Beitrag zu dieser Zielsetzung erhoffen, wenngleich sich in der Praxis insbesondere bei den Zusatzstufen gewisse Anwendungsprobleme ergaben. Beide Parteien stimmten auch in dem Ziel überein, Fehler und Unterlassungen, die im Laufe der Zeit bei der Eingruppierung und in der Leistungsgratifikation entstanden sind, zu korrigieren und zu bereinigen. Der Terminus „Nasenprämien“ etwa zielt auf den Sachverhalt, dass Vorgesetzte oder Personalleitungen 82 oder Arbeits- und Zeitstudienleute oder auch Betriebsräte manchmal dazu tendierten, einzelne Beschäftigte weniger nach objektiven Kriterien und Bewertungsmaßstäben einzustufen als vielmehr aus persönlichen bzw. macht- oder rekrutierungspolitischen Motiven heraus. Die durch ERA erzwungene Befassung mit Entgeltgrundsätzen und den Kriterien für die Ermittlung von Leistungszulagen hat hier für eine höhere Transparenz, Eindeutigkeit und Nachvollziehbarkeit gesorgt. Eine wesentliche Zielsetzung für die schnelle ERA-Einführung war die Hoffnung beider Betriebsparteien, mittels der Anwendung der Tariflichen Entsprechung eine möglichst reibungslose Umsetzung zu erreichen und dabei Konflikte aus dem Unternehmen herauszuhalten. Insbesondere wollte man vermeiden, infolge klimatischer Verunsicherungen der Belegschaft durch eventuelle Hiobsbotschaften aus anderen Betrieben im eigenen Vorhaben gebremst oder tangiert zu werden. Mit ERA verband sich zudem für die Personalleitungen die Zielsetzung, durch eine erfolgreiche Einführung und eine Bereinigung der firmeninternen Entgeltsysteme zügig und konfliktfrei das Thema ERA abzuschließen. Nicht zu vernachlässigen war ferner die Absicht, sowohl intern gegenüber der Belegschaft als auch extern gegenüber den Tarifvertragsparteien und schließlich gegenüber den eigenen Muttergesellschaften zu dokumentieren, dass das Unternehmen tarifgebunden zu bleiben und den Flächentarifvertrag anzuwenden beabsichtigt. Dies war auch ein Grund für die frühzeitige Umsetzung: selbst zu handeln, bevor der Konzern ERA umsetzt, um nicht in die komplizierte Umsetzungsphase des Konzerns hineinzukommen. Da ERA in den diversen Tarifbezirken unterschiedliche Regelungen vorsieht und insbesondere bei bezirksübergreifenden Eigentumsstrukturen im Konzernverbund sehr aufwändige künftige Angleichungsprozesse erwartbar waren, verband man mit der schnellen ERA-Einführung die Strategie, diesen Irritationen und Verzögerungen vorzugreifen und zudem spätere Interventionen der Mutter zu vermeiden. Schließlich war man der Auffassung, dass sich die Betriebe im konzerninternen Konkurrenzkampf um die kostengünstigsten Standorte durch die Anwendung der in der Entgeltlinie für den Betrieb günstigen ostdeutschen ERA-Lösung durchaus Kostenvorteile im Werksverbund verschaffen konnten – eine Zielsetzung, die übrigens auch von den Betriebsräten mitgetragen wurde. Es soll nun abschließend auf zwei Zielsetzungen eingegangen werden, die im Grunde jeweils nur eine der beiden Betriebsparteien für maßgeblich erachtete. Für die Betriebsräte bestand mit der Tariflichen Entsprechung die große Chance zur Sicherung des bisherigen erreichten Lohnniveaus in der Firma und zum Beibehalten des Gehaltsgefüges gegenüber drohender Abgruppierung aller Mitarbeiter im Falle von Neueingruppierungen. Für die Personalleitungen 83 sollte mit ERA und dabei insbesondere mit den aktualisierten Tätigkeitsbeschreibungen ein „unkompliziertes Ergebnis“ erreicht werden, das mit dem so genannten „Buchwerk“, also der betrieblichen Lohn- und Gehaltsbuchhaltung, sowie mit der Produktionsplanungs- und -steuerungssoftware (etwa SAP) kompatibel und im weiteren Nutzungsverlauf ohne Aufwand zu entnehmen sein sollte. Eine letzte Zielsetzung, die weniger mit der ERA-Umsetzung als vielmehr mit der arbeitsmarkt- und rekrutierungspolitischen Wirkung der ERA-Anwendung auf potenzielle Bewerber zusammenhängt, greift die aktuellen Knappheiten qualifizierter Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt sowie die durch den demografischen Wandel bedingten künftigen personalpolitischen Veränderungsprozesse auf. So dürften zwar die Hauptentscheidungsgründe eines Bewerbers, für einen bestimmten Betrieb zu arbeiten, die Arbeitsaufgaben, die Entlohnung, die Nähe zum Produkt, das Klima in der Firma und die eigenen Einflussmöglichkeiten oder auch die Betriebsgröße sein. Allerdings hat in den Untersuchungsfirmen bei vergangenen Bewerbungsgesprächen für die Bewerber in der Tat die Tatsache eine Rolle gespielt, ob und welchen Tarifvertrag die Firma hat, da die Gültigkeit eines Flächentarifvertrags den Bewerbern offenbar ein Gefühl von Sicherheit verleiht. Dieser Befund ist durchaus überraschend und wurde aus sozialwissenschaftlicher Perspektive bei bisherigen empirischen Untersuchungen zur Bedeutung und Wirkung von Tarifverträgen offenbar unterschätzt bzw. gar nicht systematisch erhoben. Auf den zweiten Aspekt – eine aufgrund der durch den demografischen Wandel verursachten Fachkräfteknappheit künftig stärkere Bedeutung der Tarifbindung – ging ein befragter (weit blickender) Geschäftsführer ein. Ihm zufolge kommt auf den Mutterkonzern in den nächsten zehn Jahren aufgrund des demografischen Wandels das Problem zu, etwa 1.500-2.000 Neueinstellungen vorzunehmen, und dies unter dem Vorzeichen, dass sich die Konkurrenz auf dem Markt um gute Leute verschärfen wird, so dass besonders die ostdeutschen Standorte Schwierigkeiten haben könnten, gute Mitarbeiter nach Thüringen zu locken. Der Geschäftsführer verspricht sich vom ERA-Flächentarifvertrag, dass dieser ein gezieltes Werbemittel für potenzielle Bewerber und einen Konkurrenzvorteil gegenüber tarifungebundenen Unternehmen darstellen könnte. 84 9.2 Vorteile von ERA Für die Betriebsräte zeichnet sich in der bewertenden Nachbetrachtung ERA überwiegend durch folgende Vorteile aus: ¾ Insgesamt verspricht ERA bei richtiger Anwendung und aufgrund der systematischen Anwendung von Tätigkeitsbeschreibungen eine gerechtere Entgeltpolitik für die Beschäftigten. ¾ Zu diesem Zweck war es ohnehin notwendig, alle Lohn- bzw. Gehaltsgruppen einmal einheitlich zu gestalten. Dies gilt zum einen für die vereinheitlichten Funktionsbeschreibungen für die Gewerblichen und die Angestellten. Speziell betrifft dies zum zweiten die technischen und kaufmännischen Berufe, da man die Aufgaben der beiden Gruppen nicht mehr streng trennen kann und diese sich vermischen: Technische Angestellte müssen sich nach kaufmännischen Kriterien richten, kaufmännische Angestellte müssen Verständnis für den technischen Prozess haben. ¾ Besonders im gewerblichen Segment wird nun eine bessere Eingruppierung der (neuen) Mitarbeiter nach Ausbildung und Berufserfahrung möglich. ¾ Obgleich es bei den Z-Stufen Unklarheiten gab, wird darin prinzipiell der Vorteil einer Vereinfachung der Berechnungsmethode gesehen, da es nach dem alten Tarifvertrag im Hinblick auf Vertreterzulagen bei Gewerblichen immer Probleme gab, die sich nun mit der Z-Stufe bereinigen lassen. ¾ Mit der ERA-Einführung haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in vielen Fällen erstmals ihre Funktionsbeschreibungen schriftlich erhalten. Damit sind die Grundlagen und Entwicklungsperspektiven für die Kolleginnen und Kollegen transparent geworden. ¾ Positiv beurteilt wird von den Mitarbeitern ebenfalls die Aufhebung der Trennung zwischen Lohn- und Gehaltsempfängern, und es wird auf die höhere Gerechtigkeit und Durchlässigkeit verwiesen. Zudem wird mit den Funktionsbeschreibungen und klaren Bestimmungen zur Ermittlung der Leistungszulagen auch der Vorteil gesehen, dass keine reinen „Nasenbeurteilungen“ mehr möglich sind. 85 Weitgehend stimmen die von der Personalleitung betonten Vorteile mit den von den Betriebsräten erwähnten überein. Aus der Perspektive der Arbeitgeberseite und der Personalentwicklung lassen sich aber noch weitere Vorteile benennen: ¾ Die bereits genannte Aufhebung der Unterschiede zwischen Angestellten und Gewerblichen, die der Personalleitung eine vereinfachte und vereinheitlichte Eingruppierung ermöglicht und die durch die vormals differente Bewertung entstehenden Kosten vermeidet. ¾ Die Überwindung der Unübersichtlichkeit der K- und T-Tarife schafft eine neue Eindeutigkeit, Vergleichbarkeit und Transparenz. Durch die nun aktualisierten und bekannt gegebenen Tätigkeitsbeschreibungen werden die ursprünglich unterschiedlichen Bezeichnungen eindeutiger. ¾ Da die Eingruppierungstabelle jetzt mehr Gruppen als früher enthält, bringt vor allem die neue E11 zwischen T5 und T6 mehr Zwischenschritte und ersetzt bisherige Verfahren, die dies nicht selten über Zulagen regelten. Somit ist es auch für die Personalleitungen einfacher, die Karriereentwicklung der Beschäftigten zu berücksichtigen. Mit den Entgeltgruppen 9 bis 11 ergeben sich im Bereich der Ingenieure viele Entwicklungsmöglichkeiten. „Da ist dann noch Luft nach oben“ (Personalleitung). ¾ Auch im Facharbeiterbereich wird über die reine Berufsausbildung hinaus eine bessere Berücksichtigung von Weiterbildung und Berufserfahrung ermöglicht, so dass zum ersten die Weiterbildungsbereitschaft gesteigert und zum zweiten auch in diesem Feld bessere Aufstiegsmöglichkeiten gegeben sind. ¾ Früher gab es häufig keine Vergütung einer leitenden Tätigkeit. Nun wird durch die Z-Stufe ein Ansporn gesetzt, eine leitende Tätigkeit zu übernehmen. Nicht jeder Mitarbeiter, der eine weiterreichende oder führende Tätigkeit übernimmt, muss nun sofort AT-Mitarbeiter werden. ¾ Durch ERA kommt es nicht nur zu einer besseren Offenheit und Objektivität der Eingruppierung, sondern auch zu einer Vereinheitlichung der Vielzahl von Lohn- und Gehaltsformen. 9.3 Nachteile von ERA Während von den Betriebsräten im Hinblick auf ERA im Vergleich zu den alten Regelungen keine entscheidenden Nachteile gesehen werden, sofern die Richtlinien korrekt angewendet werden, heben die Personalleitungen zwei 86 Nachteile hervor, die dem ERA-Tarifvertrag bzw. dem bundesrepublikanischen Tarifsystem zugrunde liegen: So ist es mit ERA zum einen nicht gelungen, die gesamte Tariflandschaft in der Bundesrepublik zu vereinheitlichen, weil immer noch zu viele einzelne Tarifverträge in der BRD gelten. Insbesondere in Konzernverbünden mit Verteilung der Standorte über mehrere Bundesländer oder auch beim Arbeitsplatzwechsel von Beschäftigten über die Ländergrenzen hinweg ergeben sich dadurch Veränderungen in Eingruppierung und Entgelt, die evtl. auch persönliche Nachteile mit sich bringen. Zum zweiten wird die trotz der E11 noch immer relativ geringe Bandbreite der oberen Entgeltgruppen moniert. Hochschulabsolventen werden bei Neueinstellung bzw. Einstieg in die Betriebe in E10 eingestuft, so dass sie in ihrer beruflichen Karriere nur noch in die Gruppen E11 und E12 aufsteigen können. Mit dem Erreichen von E12, was in der Regel mit der Übernahme einer Projektleitung verbunden ist, gibt es keine weiteren Aufstiegsmöglichkeiten. Es ist dann nur noch die Möglichkeit gegeben, Zusatzstufen oder Zulagen mit den entsprechenden Mitarbeitern zu vereinbaren. Es gelingt folglich auch nicht, bisherige AT-Leute in den ERA-Tarif einzubeziehen. Für Hochschulabsolventen sind aus Sicht einiger befragter Personalleiterinnen und -leiter diese drei Gruppen immer noch zu wenig. Zu berücksichtigen ist bei der Bewertung dieser Aussagen, dass das durchschnittliche Unternehmen der Metallindustrie aufgrund einer differenzierteren Belegschaftsstruktur und höherer Anteile von Produktionsbelegschaften wohl keine vergleichbaren Probleme mit der Eingruppierung von Hochschulabsolventen hat. 10. Resümee: Arbeits- und verbandspolitische Perspektiven durch ERA Wie bereits eingangs erwähnt, wurde mit der ERA-Einführung von den Tarifparteien und Betrieben der Metall- und Elektroindustrie eine Jahrhundertaufgabe in Angriff genommen. Damit wurde nahezu 20 Jahre nach dem erfolglosen Versuch der Gewerkschaft, die zwischen Arbeitern und Angestellten getrennten Lohn- bzw. Gehaltsgrundlagen zu integrieren, nämlich der „Tarifreform 2000“ Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts, gemeinsam (!) mit den Arbeitgeberverbänden ein neuer Versuch unternommen und zu einem Abschluss in elf ERA-Tarifverträgen geführt. Dieser blieb allerdings weitgehend ohne große Resonanz in der interessierten Öffentlichkeit bzw. in den öffentlichen Medien. Beide Tarifparteien und auch die sich mit dem Thema befassenden Wissenschaftler verbanden mit den Abschlüssen weitreichende Hoff- 87 nungen auf eine systematische Evaluierung und Bereinigung der historisch gewachsenen betrieblichen Entgeltstrukturen. Zugleich jedoch wurde erkannt bzw. befürchtet, dass mit der neuerlichen Thematisierung von Arbeitsbewertungen und Entgeltgrundlagen und aufgrund der neuartigen Tarifbestimmungen umfangreiche Konflikte in die Betriebe der Metall- und Elektroindustrie getragen werden könnten (vgl. zu den frühen Erwartungen im Hinblick auf die Folgen der ERA-Abschlüsse in deutschen Tarifbezirken: Huber, Schild 2004; Schulz 2004; Manthey, Meine 2004; Sadowsky 2004; Beraus 2004). Mit dem Anspruch, diese ambivalenten Einschätzungen aus der Phase der ERAVorbereitung an den tatsächlichen Erfahrungen der betrieblichen Wirklichkeit zu messen, ist das hier dokumentierte Forschungsvorhaben angetreten. Die von der Otto Brenner Stiftung geförderte Begleitforschung konzentrierte sich – unter anderem aufgrund der Tatsache, dass seitens der Hans-Böckler-Stiftung zeitgleich drei weitere Forschungsprojekte in anderen Tarifbezirken gefördert wurden3 – im Rahmen einer empirischen Evaluierung auf drei Vorreiterunternehmen im Tarifgebiet Thüringen. Mittlerweile liegen von den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, aber auch von Wissenschaftlern Zwischenberichte, Praxisbeispiele und Auswertungen vor, die darauf hindeuten, dass die im vorliegenden Projektbericht dargestellten Verfahrensweisen und Problemlagen keinesfalls nur besonders positive Einzelfälle im ostdeutschen Tarifgebiet Thüringen repräsentieren. Es zeigt sich, dass sich die besonders kritischen Einführungsphasen und die jeweiligen Betroffenheiten von Belegschaftsgruppen durchaus in den unterschiedlichen Tarifgebieten gleichen. Die Unternehmen, die ERA bereits eingeführt haben, erkennen nach anfänglichen „Berührungsängsten“ zum weit überwiegenden Teil große Vorteile für das Unternehmen und die Beschäftigten in Richtung einer höheren Transparenz und besseren Nachvollziehbarkeit von Eingruppierungen und Leistungsbeurteilungen sowie eines gewachsenen Vertrauens in tarifliche Regelungen (vgl. die Praxisbeispiele zur ERA-Einführung in unterschiedlichen Tarifgebieten: Lohölter 2005; Otzipka 2005; Paatz, Ludwig 2005; Averkamp et al. 2006; Hofmann, Rösner 2007 (Nordrhein-Westfalen); Timmer 2005; Weidel 2006; Bossemeyer, Mackau 2006 (Nordverbund); Blümle 2006 (Baden-Württemberg); Brossardt, Mantl 2007 (Bayern) sowie die arbeitswissenschaftliche Beraterliteratur: Becker et al. 2006; Reichel 2005). Bezieht man die Zwischenergebnisse der von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Begleitforschungsprojekte in einen ersten Vergleich der Umsetzungsverfahren und -erfah3 88 Es handelt sich dabei um die jeweils ein bestimmtes Tarifgebiet untersuchenden Begleitforschungsprojekte: ERA-TV in der niedersächsischen Metallindustrie (Sperling, Kuhlmann und Bahnmüller), ERA-TV Baden-Württemberg (Bahnmüller und Schmidt) und ERA NRW (Wannöffel, Bender und Skrotzki). rungen in den unterschiedlichen Tarifbezirken bzw. -gebieten ein, scheinen die Erkenntnisse aus Niedersachsen den hier dargestellten Ergebnissen zur Einführung und zu den Wirkungen von ERA in Thüringen sehr nahe zu kommen (Kuhlmann, Sperling 2008a, 2008b), während aus den Tarifbezirken BadenWürttemberg und Nordrhein-Westfalen von einem deutlich konfliktreicheren Umsetzungsprozess mit hohen Anteilen von Überschreitern und entsprechender Unzufriedenheit unter der Gewerkschaftsklientel berichtet wird (Bahnmüller, Schmidt 2007, 2008a, 2008b; RUB, IGM 2008).4 In den letzten Abschnitten wurden die empirischen Befunde zur ERA-Einführung in drei prototypischen Betrieben der Metall- und Elektroindustrie Thüringens vorgestellt. Über diese eher deskriptive Darstellung von exemplarischen Erfahrungen, Problemlagen und Lösungsansätzen in den Betrieben hinaus soll abschließend aus sozialwissenschaftlicher Perspektive eine Bewertung der arbeitsund interessenpolitischen Perspektiven von ERA vorgenommen werden, die zum Teil auch von den Tarifparteien mit je unterschiedlicher Schwerpunktsetzung als Zielsetzung der ERA-Einführung verfolgt wurden: ¾ Wechselwirkung zwischen Lohnsystemen und der Etablierung neuer Arbeitsformen, ¾ Umkehr der Erosion des Tarifvertragssystems, ¾ Restrukturierung der kollektiven institutionalisierten Interessenvertretung. 10.1 Wechselwirkung zwischen Lohnsystemen und der Etablierung neuer Arbeitsformen Über die Neuthematisierung der Entgeltrelationen hinaus erhoffte sich insbesondere die Gewerkschaft von ERA positive Effekte hinsichtlich der Wechselwirkung zwischen betrieblichen Entgeltsystemen und modernen, auch im Hinblick auf Humanisierung der Arbeit fortschrittlichen Ansätzen der Arbeitsorganisation. Derzeit von Unternehmen verfolgte Rationalisierungsstrategien umfassen – trotz ebenfalls feststellbarer gegenläufiger Tendenzen industrieller Arbeit – oftmals auch „neue Produktionskonzepte“ und neue Formen der Arbeitsorganisation, welche mit Begriffen wie Just-in-time-Produktion, Modu- 4 Aus Nordrhein-Westfalen liegen wegen eines zeitlich späteren Projektbeginns und einer noch nicht vollständig abgeschlossenen Empirie noch keine hinreichend vergleichbaren Ergebnisse vor (vgl. Skrotzki 2008). Erste, in einer Reihe von Workshops mit Betriebsräten und in Interviews mit Tarifsekretären der IG Metall bzw. Verbandsingenieuren des Verbands der Metall- und Elektroindustrie gewonnene Befunde deuten auf eine Reihe von Konfliktfeldern bei der ERA-Einführung hin (RUB, IGM 2008). 89 larisierung und Segmentierung, fraktale Fabrik, Fertigungsinseln und teilautonome Gruppenarbeit beschrieben werden (Kuhlmann et al. 2004). Für die Effizienz, Akzeptanz und Nachhaltigkeit solcher neuen Arbeitsformen spielt das betriebliche Lohnsystem eine zentrale Rolle (Schmierl 1994, 1995). Die Funktionsfähigkeit dieser Art der Fertigungs- und Arbeitsorganisation muss durch ein geeignetes Lohnsystem gestützt und gesichert werden, wie auch umgekehrt die Anwendbarkeit von neuen Entgeltregelungen von einer nicht prohibitiven Form der Arbeitsorganisation im Betrieb abhängt. Das bedeutet zum einen, dass eine für Arbeiter und Angestellte integrierte Entgelttabelle auch eine innerbetriebliche Anpassung der Hierarchieebenen und klassischen Unterordnungsverhältnisse impliziert. Das bedeutet zum zweiten, dass die Kriterien der ERA-Entgeltgruppen in einer Weise definiert, umgesetzt und angewandt werden müssen, dass die bei modernen Arbeitsformen gestärkte eigenständige Leistungsverausgabung, freiwillige Kooperation und Selbstregulierung der Arbeitsgruppen auch tatsächlich in Form geeigneter qualitativer Leistungskriterien gestützt und stimuliert werden können. Der Bestand an wissenschaftlichen Erkenntnissen in diesem Zusammenhang hat die zentrale Bedeutung der betrieblichen Lohnpolitik für den Umsetzungserfolg moderner Arbeitsformen nachgewiesen. Der Befund lautet, dass Lohnsysteme für die Arbeitskräfte die oftmals auftretenden ambivalenten Wirkungen von Gruppenarbeit/Fertigungsinseln sowohl verstärken als auch begrenzen helfen können (vgl. Altmann et al. 1982, 1982a; Drexel 1985; Deutschmann 1989, 1989a, 1991; Gohde, Kötter 1990; Erb 1989; Hirsch-Kreinsen, Ramge 1994; Schmierl 1994, 1995, 1996; zu Zielvereinbarungen in Ostdeutschland: Hinke 2003). Mit den neuen Eingruppierungsbestimmungen insbesondere im Hinblick auf die mittels der Zusatzstufen gratifizierte Übernahme dispositiver Funktionen sowie auf die Anwendung einer nunmehr für Gewerbliche und Angestellte einheitlichen Entgeltsystematik waren anfangs große Erwartungen verbunden: Sie sollten Impulswirkungen für die Einführung neuer Arbeitsformen und Produktionskonzepte ausüben. Man erhoffte sich dadurch eine im Entgeltsystem abgestützte Auflösung bisheriger Trennlinien zwischen Arbeitsvorbereitung, Produktionsplanung und -steuerung einerseits und der Produktion andererseits. Mit ERA war auch die Zielsetzung verbunden, durch die explizite Benennung der Gratifikation dispositiver Funktionen im Tarifvertrag auch die bislang von den Beschäftigten zwar abgeforderten, aber nicht entgoltenen Kompetenzen zur Sicherstellung einer reibungslosen Produktion zu bezahlen – und dadurch die Unternehmen zu veranlassen, derartige, bereits bezahlte Fähigkeiten und Fertigkeiten tatsächlich auch durch geeignete, stimulierende Produktionsprozesse und Arbeitsformen zur Wirkung kommen zu lassen. 90 Diese Hoffnungen insbesondere der IG Metall haben sich allerdings nicht erfüllt. Die so genannten modernen Produktionskonzepte und Arbeitsformen haben in den Betrieben bereits vor der ERA-Einführung bestanden und existieren auch weiterhin. Die in den Betrieben kürzlich in dieser Richtung vollzogenen arbeitsorganisatorischen Umstrukturierungen wurden vollkommen unabhängig und unbeeinflusst von ERA vorgenommen. Eine entsprechende Impulsoder Inkubatorfunktion lässt sich für ERA folglich nicht ableiten. Positiv gewendet ist allerdings festzuhalten, dass ERA in keinem Fall als Barriere oder blockierend gegen eine Modernisierung von Arbeits- und Produktionsmodellen gewirkt hat. Zusammengefasst ist damit aus unserer Kenntnis der Lage in den Thüringer Betrieben der Einschätzung von Bahnmüller und Schmidt zur Erfüllung der arbeitsorganisatorischen Zielsetzungen der IG Metall (2007a, S. 21ff.) zuzustimmen. Die von der IG Metall mit ERA verbundenen Hoffnungen auf eine Stimulierung der Einführung moderner Arbeitsformen haben sich nicht erfüllt; arbeitsorganisatorische Änderungen sind, sofern sie stattgefunden haben, unabhängig von ERA erfolgt. 10.2 Gegenbewegung zur Erosion des Tarifvertragssystems? (1) In den letzten Jahrzehnten ließ sich in Gesamtdeutschland bekanntlich ein Trend zur Abnahme kollektiver Verbindlichkeit und verbandlicher Mobilisierungsfähigkeit feststellen, der als Wandel der für Deutschland charakteristischen Tariflandschaft bezeichnet wurde (Bispinck 2003; Schmierl 2001, 2003a, 2003b) und sich im Grunde durch zwei Elemente auszeichnete. Erstens sank die quantitative Bedeutung und Reichweite von flächendeckenden Verbandstarifverträgen aufgrund abnehmender Tarifbindung. Zweitens wandelte sich der qualitative Charakter der generellen Verbindlichkeit von abgeschlossenen Tarifverträgen durch Flexibilisierung und Differenzierung. So waren die 90er Jahre zum ersten in quantitativer Hinsicht durch eine abnehmende Tarifbindung von Unternehmen gekennzeichnet, die sich bis dato so weit fortgesetzt hat, dass gegenwärtig weniger als die Hälfte der deutschen Unternehmen der Tarifbindung unterliegt (Ellguth 2003, 2004; vgl. für Ostdeutschland zudem: Hinke et al. 2002; Bonin 2005). Dem WSI-Tarifarchiv (2008) zufolge sind im Jahr 2006 60% der Betriebe im Westen Deutschlands und 75% der Ostbetriebe keinem kollektiv abgeschlossenen und verbindlichen Flächentarifvertrag oder Firmentarifvertrag unterworfen (gewesen). Immerhin orientieren sich weitere 25% der Westbetriebe und 30% der Ostbetriebe am Flächentarifvertrag, so dass sich die Bedeutung der Tarifvertragsgültigkeit nicht nur aus dem Anteil der tarifgebundenen Unternehmen erschließt. Mit ein 91 Grund für diese Entwicklung war ein Trend der Verschiebung zu Firmentarifverträgen, die für nur eine Unternehmung gelten (Ellguth 2003; IAB-Betriebspanel 2003; Müller-Jentsch, Ittermann 2000). Darüber hinaus wurde in diesem Zusammenhang in den vergangenen Jahren für die Bundesrepublik z.B. von Strategien der Tarifflucht durch den Austritt aus dem Arbeitgeberverband, der Tarifabstinenz durch Verzicht auf einen Verbandseintritt verkleinerter und dezentralisierter Betriebe nach Unternehmensrestrukturierungen oder des Tarifunterlaufens durch Wechsel in einen Tarifverband mit günstigeren Bedingungen berichtet (vgl. Bispinck 2001, 2003; Hassel 2000; Bonin 2005). Zum zweiten waren auch weitgehende qualitative Veränderungen in der Einheitlichkeit und Reichweite gültiger Tarifabschlüsse zu beobachten. Galten Tarifverträge mit einheitlichen Standards bis in die 80er/90er Jahre hinein gleichermaßen verbindlich für alle Betriebe des Tarifgebiets, so wurden mittlerweile die Tarifbestimmungen in nahezu allen Tarifbereichen so weit geöffnet bzw. differenziert, dass es auch den tarifgebundenen Unternehmen in einzelnen Verhandlungsgegenständen und unter bestimmten Bedingungen ermöglicht wird, von den einheitlichen und verbindlichen Standards des Flächentarifvertrags abzuweichen (Bispinck 2003). Durch Differenzierung oder Absenkung von Tarifstandards (z.B. durch Härtefallregelungen oder Öffnungsklauseln) wurde somit auch innerhalb des Geltungsbereichs des Tarifvertrags eine Anpassung an betriebsspezifische Bedingungen ermöglicht. Zusammenfassen lassen sich die Veränderungen in folgender Bestandsaufnahme: „Ein Blick auf die Tarifverträge zeigt, dass die Verknüpfung von branchenweiten verbindlichen tariflichen Vorgaben mit betrieblichem Handlungsspielraum ein typisches Charakteristikum unseres Tarifsystems ist, das in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen hat“ (Bispinck 2003, S. 398). Ein wichtiges Einfallstor für diese Einschränkung der Bindungswirkung stellte die Übertragung der westdeutschen Tarifstandards auf die Ökonomie Ostdeutschlands dar, da im Transformationsprozess ein schleichender Bedeutungsverlust tariflicher Normen hingenommen werden musste (Artus et al. 2000). Schließlich lassen sich auch knapp 15 Jahre nach der Wiedervereinigung in den beiden Teilen Deutschlands immer noch sehr unterschiedliche Bedingungen der Tarifvertragsgültigkeit und -anwendung, der Verbreitung von Betriebsräten oder auch Arbeitsstandards finden (Hinke et al. 2002; Kohaut, Schnabel 2002, 2003; Ellguth 2003, 2004; Artus 2004; Bonin 2005). (2) Durch die ERA-Umsetzung erhofften sich die Tarifparteien nicht zuletzt eine diese „Erosionstendenzen“ eindämmende, wenn nicht gar stoppende breitenwirksame Debatte um die Wirksamkeit und Effizienz von kollektiven Tarifverträgen sowie eine Rückkehr zu standardisierten, vereinheitlichenden Tarif- 92 regularien im Entgeltbereich. Die aktuellen Auswertungen des IAB-Tarifpanels lassen in dieser Hinsicht – zunächst noch ohne ERA-Effekte – den vorsichtigen Schluss zu, dass die in der zweiten Hälfte der 90er Jahre voranschreitende Abnahme der Tarifbindung mittlerweile (evtl. nur vorläufig?) insofern gestoppt werden konnte, als diese sich im Jahr 2006 auf ein in den letzten vier Jahren weitgehend stabiles Niveau eingependelt hat: Auf die von Tarifbindung abgedeckten Beschäftigten aller Wirtschaftszweige berechnet, sind nunmehr im Westen ca. 65% aller Beschäftigten (nach 76% in 1998 und 70% in 2003) und im Osten ca. 54% aller Beschäftigten (nach 63% in 1998 und 54 % in 2003) in tarifgebundenen Unternehmen tätig (WSI-Tarifarchiv 2008; Ellguth 2003, 2004). Für das Tarifgebiet Thüringen liegt hinsichtlich des oben festgestellten Trends zur Abnahme der Tarifbindung im Gegensatz zum Westen Deutschlands eine besondere Situation insofern vor, als die geringe Tarifbindung ausschließlich darauf zurückzuführen ist, „dass sich die große Zahl der Neugründungen von Unternehmen in Thüringen in der Regel in den Anfangsjahren nicht einer tariflichen oder verbandlichen Bindung anschließt und auch traditionelle Mitgliedschaften, wie sie in den westlichen Bundesländern durchaus üblich sind, hier nicht vorhanden sind“ (Verbandsingenieur). Auf den vorgängig beschriebenen Sachverhalt bezogen handelt es sich hinsichtlich der Mitgliederstruktur des Arbeitgeberverbands in Thüringen somit eher um eine Tarifabstinenz und weniger um Austritte aus dem Arbeitgeberverband, der seit ca. zehn Jahren nach eigener Aussage kein Unternehmen durch Kündigung der Mitgliedschaft verloren hat. Die bisherigen Erfahrungsberichte und Praxisdarstellungen aus Unternehmen lassen zudem den vorsichtigen Schluss zu, dass mit der ERA-Einführung gemeinsam mit den Betriebsräten ein vorheriger Wildwuchs bei von Tarifverträgen abweichenden betrieblichen Leistungslohnmodellen bereinigt wurde und in vielen Fällen nunmehr die tariflichen Bestimmungen zu den Leistungsentgeltgrundlagen vollständig übernommen und in Kraft gesetzt wurden (Lohölter 2005; Otzipka 2005; Paatz, Ludwig 2005; Averkamp et al. 2006; Hofmann, Rösner 2007; Timmer 2005; Weidel 2006; Bossemeyer, Mackau 2006; Blümle 2006). Über den statistischen (quantitativen) Trend der Tarifbindung hinaus scheinen damit auch in qualitativer Hinsicht die Unternehmen den Bestimmungen des Tarifvertrags tatsächlich Folge zu leisten. Sollte diese Tendenz über die betrachteten Einzelfälle hinausgehen, würde sich darin in der Tat eine Rückkehr zu vereinheitlichten Tarifregularien im Entgeltbereich und eine Abkehr von den in den letzten zehn Jahren zum Normalfall gewordenen Abweichungsbestrebungen bewahrheiten. 93 Die umfassende Vorbereitung, Verhandlung und Diskussion innerhalb der Verbände zu ERA hat vor diesem Hintergrund zweifelsohne – zumindest in den tarifgebundenen Mitgliedsunternehmen – das Thema Lohn und Leistung nach einer langen Phase vornehmlich betriebsspezifischer und hochgradig diversifizierter Lösungen (Schmierl 1995, 2008) wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt und eine neue Runde betrieblicher Aushandlungen zur Lohn- und Leistungsgerechtigkeit eingeläutet, die möglicherweise auch Ausstrahlungseffekte auf die nicht dem Tarifvertrag unterliegenden Firmen entwickeln kann, was jedoch in hohem Maße von der Unterstützungsleistung der Tarifparteien abhängt. (3) Zur Bewertung, inwiefern diese Zielsetzung im Tarifgebiet Thüringen erreicht wurde, ist in einem kurzen Exkurs auf die besondere Tarifhistorie im Osten einzugehen, auf die die befragten Verbandsvertreter und Gewerkschaftsfunktionäre hingewiesen haben: Zum Zeitpunkt der Westanbindung wurden in den ostdeutschen Tarifgebieten zunächst Tarifanpassungen der alten DDR-Tarife an die neuen Betriebsstrukturen und Arbeitsformen sowie neue Eingruppierungen vorgenommen. Damals herrschte die Vorstellung, das bestehende Tarifsystem des Westens für die gesamten neuen Bundesländer eins zu eins anwenden zu können. Dieses Vorhaben ist jedoch bald gescheitert – unter anderem wegen der regional hochgradig unterschiedlichen Tarifverträge im Westen und der andersgearteten Ausgangsbedingungen im Osten sowie der Notwendigkeit, abgesenkte Tarifregelungen zu verankern, um die Existenz und Wettbewerbsfähigkeit der Ostbetriebe nicht zu gefährden. In den Gebieten der ehemaligen DDR wurden sodann pragmatisch die Tarifwerke der territorial nächsten Verbände des Westens übernommen. Sachsen übernahm den Tarifvertrag von Bayern; der Hessen-Tarifvertrag fand in Thüringen Anwendung; für Mecklenburg-Vorpommern galt der Tarifvertrag des Nordverbunds, für Berlin und Brandenburg der von Westberlin und schließlich für SachsenAnhalt der von Niedersachsen. Die zwischenzeitlichen Erfahrungen seit der Wende zeigten – der Einschätzung der befragten Tarifvertragsverantwortlichen zufolge – in diesen ostdeutschen Tarifgebieten, dass die besondere Form der Tarifpolitik, wie z.B. die vereinbarten Steigerungsstufen des Entgelts der Beschäftigten, Insolvenzen beschleunigt und die Flucht aus dem Tarifverband bzw. Nicht-Eintritte von Ausgründungen aus den zerschlagenen Kombinaten begünstigt hat: „Die lohnpolitische Entwicklung in Ostdeutschland nach der Vereinigung zerfällt in zwei Phasen: eine Periode am Beginn der wirtschaftlichen Transformation mit massiven Lohnsteigerungen, um den Abstand gegenüber dem westdeutschen Lohnniveau aufzuholen, und eine Periode lohnpolitischer Zurückhaltung, die mit der Verfesti- 94 gung der wirtschaftlichen Probleme in den neuen Ländern etwa 1995 beginnt und seitdem anhält“ (Bonin 2005, S. 163). Begleitend kam hinzu, dass bis 1995 journalistische Meinungsmache gegen die Tarifbindung (wie z.B. im Handelsblatt) eine hohe Bedeutung und Resonanz hatte. Neue OT-Verbände (= ohne Tarifbindung) wurden gegründet, die einen hohen Zulauf im Osten erfuhren. In Thüringen ist dieser OT-Verband als Dachverband für unterschiedliche Branchen organisiert und nennt sich „Allgemeiner Arbeitgeberverband“. Seit etwa dem Jahr 2000 konnte der Abwärtstrend im Tarifgebiet Thüringen in einer gemeinsamen Anstrengung von IG Metall, den Arbeitgeberverbänden und Westunternehmen gestoppt werden. Das gemeinsame Interesse des VMET und der IG-Metall-Bezirksleitung in Frankfurt bestand vor diesem Hintergrund darin, ERA dazu zu nutzen, einerseits diese Entwicklung zu stoppen bzw. zu verlangsamen und andererseits die erfolgreiche ERA-Einführung in wichtigen tarifgebundenen Unternehmen als Werbeträger für die Tarifbindung zu vermarkten. Zugleich ging man davon aus, dass ERA auf eine hohe betriebliche Akzeptanz stoßen könnte, da aus den Kontakten zu Unternehmen die Einschätzung begründet schien, dass die ERA-Unternehmen hofften, mit ERA alte Sünden wiedergutzumachen, wie z.B. die weitverbreiteten Nasenprämien für Beschäftigte oder die Lohndrift durch die Anwendung von Senioritätsprinzipien anstatt von klassischen Arbeitsbewertungen. Man erwartete, dass die Betriebe und die Betriebsräte ERA als positiv erachten und in ERA eine Chance sehen, diese Konfliktlinien aufzulösen, da es damit gelingen kann, in den Betrieben für längere Zeit „Ordnung zu schaffen“. Ein Indiz für die zu Recht erwartete hohe Akzeptanz auch seitens der Betriebsräte waren die vom Verband VMET durchgeführten Informationsveranstaltungen zu ERA, in denen Betriebsräte ein Drittel der Teilnehmer stellten. Diese starke Kooperationsbereitschaft zwischen Betriebsrat und Unternehmen ist wohl ebenfalls ein ostdeutsches Spezifikum, das von der gemeinsamen Wende-Erfahrung und der Erkenntnis herrührt, dass das Überleben des Betriebs eine „gemeinsame Aufgabe“ ist. In diesem Sinne war der ERAEinstieg hinsichtlich der Mitgliedsunternehmen in Thüringen auch davon überlagert, dass aufgrund von massiven Personalabbaumaßnahmen der letzten Jahre etwa 90% aller Arbeitsplätze in der Industrie verloren gingen und dadurch eine ungünstige Belegschaftsstruktur entstand; es handelte sich bei den Abgängen vor allem um Arbeitskräfte ohne Kündigungsschutzfristen (also eher jüngere und kürzlich eingestellte Beschäftigte), so dass die meisten Betriebe zum Zeitpunkt des ERA-Einstiegs durch überwiegend alte und teure Belegschaften geprägt und die Leute nicht selten unterqualifiziert eingesetzt waren. Schließlich konnte man für Thüringen davon ausgehen, dass die meisten Eingruppierungen gegenwärtig auch tatsächlich korrekt sind, da in ca. 70% der Betriebe in den letzten 15 Jahren 95 zumeist gemeinsam mit den Tarifparteien – bzw. initiiert vom VMET – mehrmalige Überprüfungen der Eingruppierung stattgefunden haben. Dies war eine Reaktion auf die unterschiedlichen Tarifhistorien zur Wiedervereinigung, da zum Wendezeitpunkt 1990 die Eingruppierung der Belegschaften nichts mit dem gültigen Tarifvertrag zu tun hatte. Da dadurch der Tarifvertrag verletzt und veraltet war, wurden auch von der IG Metall mehrere Neueingruppierungsrunden (u.a. aufgrund 22-prozentiger Personalkostensteigerung gegenüber DDR-Zeiten) befürwortet. „Damit ist in Thüringen die Eingruppierung richtiger“ (Tarifsekretär). Dies war ein zentraler Grund dafür, im Tarifvertrag die Regelung zur Tariflichen Entsprechung zu vereinbaren. Eine im Hinblick auf die Fragestellung nach den verbandspolitischen Zielsetzungen und Effekten von ERA wichtige Sonderbedingung liegt offenbar auch in zwei weiteren Kennzeichen vor: dem von beiden Tarifparteien geteilten Interesse an einem ERA-Erfolg und dem hochgradig von Konsens geprägten Prozess der Definition des Tarifvertrags. Der VMET steht nach eigener Aussage voll hinter dem Tarifvertrag ERA-Thüringen: „Wir wollen ERA“ (Verbandsingenieur). Man war auch stolz darauf, dass Thüringen mit seinem ERAAbschluss im Vergleich zu anderen Tarifbezirken sehr früh dran war und etwa zum gleichen Zeitpunkt wie Baden-Württemberg abgeschlossen hat. Die Gründe hierfür liegen zum einen in einem sehr kollegialen und offenen Verhältnis des VMET zur IG Metall (Hauptgeschäftsführer VMET: „Der Arbeitgeberverband Thüringen und die IG Metall sind sehr gesprächsfähig“) und zum zweiten in der geschickten Gestaltung des Aushandlungsprozesses. In diesem Sinne wurden die Tarifverhandlungen in diversen Klausursitzungen vorangetrieben, die insgesamt ca. 100 Runden umfassten und jeweils etwa zwei Tage dauerten. Die Sitzungen liefen in der Regel so ab, dass einleitend ein Vortrag von VMET und/oder IG Metall die Grundlinien der Vorschläge umriss, man den Abend gemeinsam verbrachte und am nächsten Tag „Nägel mit Köpfen“ machte. Am zweiten Tag wurden i.d.R. die vom Geschäftsführer für Tarifwesen und Arbeitswissenschaften des VMET geschriebenen Textentwürfe, die durch farbige Hervorhebungen im Text im Hinblick auf die zwischen IGM und VMET unstrittigen, ungeklärten bzw. kritischen Formulierungen gekennzeichnet waren, diskutiert und nur dann endgültig angenommen, wenn sie von beiden Seiten akzeptiert wurden („Abnicken nur mit Konsens“). Das Gremium war mit je sechs Experten beider Parteien besetzt. Als ein Grund für den schnellen Abschluss wird von den Verhandlungsparteien auf das offene Gesprächsklima verwiesen, so dass „keine Pokersitzungen abgehalten“, sondern die Konfliktlinien sehr offen angesprochen wurden. Zudem wurden die Verhandlungen nicht durch wechselnde Verhandlungspartner verlangsamt; der Erfolgsfaktor war somit die konsistente Verhandlungsgruppe in gleicher Zusammensetzung 96 und Größe; es gab keine Untergruppierungen, sondern eine konsistente Entscheidungsgruppe – mit zwei Ausnahmen: Aus der 6plus6-Gruppe schieden im Verlauf der Verhandlungen zwei „Verhandlungsführer der Arbeitgeber“ aus, die beide von ihren Konzernen abgerufen wurden. Von Arbeitgeber-Seite waren ferner zwei Betriebspraktiker (Personalleiter von Betrieben) und vier VMET-Vertreter (Hauptgeschäftsführer, Stellvertretender Hauptgeschäftsführer, Geschäftsführer für Tarifwesen und Arbeitswissenschaften sowie ein Vertreter des Mitgliederrats) beteiligt. Ein weiterer Erfolgsfaktor liegt darin, dass die verhandelnden Arbeitgeberrepräsentanten den Mitgliederrat – das wichtigste Entscheidungsgremium des VMET – früh informiert hatten. Zur Vorbereitung der Sitzungsinputs wurde vom VMET eine ERA-Experten-Kommission einberufen, in der 15 Mitgliedsfirmen mit unterschiedlichen Arbeitnehmergruppen aus den Unternehmen ihre Vorstellungen einbrachten. Zugleich ging man flexibel mit dem Aushandlungsgremium um, so dass das 6plus6-Gremium ggf. fallweise variiert wurde, wenn z.B. für eine spezifische Fragestellung ein von der IG Metall gewünschter Betriebsrat dabei sein sollte. Seitens der IG Metall wurden in dieses Gremium drei Tarifsekretäre des Bezirks, zwei Bevollmächtigte des Tarifgebiets und eine Betriebsrätin abgestellt. Während im Prozess der Tarifvertragsaushandlung in der IG-Metall-Tarifkommission zwar Teilergebnisse zur Relation zwischen alter und neuer Entgeltstruktur erläutert, aber keine schrittweisen Teilentscheidungen getroffen wurden, wurde das Tarifwerk im IGM-Arbeitskreis ERA erst nach endgültiger Aushandlung mit dem VMET als Ganzes verabschiedet. Lediglich bei der Frage, welches Entgelt welcher Entgeltgruppe entspricht, wurde in einem kleineren Vierer-Gremium aus zwei VMET-Funktionären und zwei Tarifsekretären des Bezirks verhandelt. Aus Sicht des VMET waren zwei weitere Faktoren ausschlaggebend für den Erfolg: In den Verhandlungen wurde erstens nicht mit virtuellen Betrieben argumentiert, sondern nur mit realen. Zweitens wurden unabhängig voneinander – und ausgehend von den jeweiligen interessenpolitischen Kontakten und Informationsquellen – zwei Entgelttabellen über die Realität in den Betrieben des Tarifgebietes intern vorbereitet und in den Sitzungen miteinander verglichen, wobei sich eine 99-prozentige Übereinstimmung der Kalkulation des VMET und der IG Metall ergab. Letztlich habe man durch dieses offene Verfahren ein Jahr in den Verhandlungen gewonnen. (4) Insofern kann aufgrund der empirischen Befunde in den Betrieben und aufgrund der übereinstimmenden Einschätzungen der VMET-Funktionäre sowie des befragten Bezirksleiters der IG Metall für Thüringen die (gegenüber den Aussagen von Haipeter und Schilling 2006 relativierende) Einschätzung von Bahnmüller und Schmidt (2007a, S. 9f.) geteilt werden, dass es den Arbeitge- 97 berverbänden sehr wohl um eine Stärkung des Flächentarifvertrags und eine tarifvertragskonforme ERA-Umsetzung in den Betrieben geht. Mit ERA ist zudem auch aufgrund der Tatsache, dass ein derartiges Regelwerk einigermaßen gleichzeitig in allen Tarifbezirken eingeführt wird, zweifelsohne auch seitens der Arbeitgeberverbände die Hoffnung verbunden, Unternehmen (wieder oder neu) in die Tarifbindung zu bringen. Allerdings muss hinsichtlich einer Generalisierung der in diesem Bericht dargestellten Befunde auf die übrigen tarifgebundenen Unternehmen in Thüringen oder gar in Ostdeutschland einschränkend erwähnt werden, dass der Themenschwerpunkt im hier vorgestellten Projekt weniger auf der Tarifpolitik als vielmehr auf dem Verfahren der Umsetzung sowie der Wirkung des ERA in den Betrieben lag. Während die in der hier dokumentierten Studie zusammengefassten Befunde zu den ERA-Verfahren und -Erfahrungen in den Vorreiterund Leuchtturmbetrieben Thüringens in der Tat von den Arbeitgeberverbandsvertretern und dem IG-Metall-Bezirksleiter als repräsentativ für die tarifgebundenen Unternehmen Thüringens bestätigt wurden, setzt die Zusammenfassung von Bahnmüller und Schmidt stärker an der tarifpolitischen Ebene und an interessenpolitischen Zielsetzungen der Verbände an. Es soll deshalb abschließend die Frage erörtert werden, inwieweit sich im Verlauf der letzten fünf Jahre ein Fazit von Hinke et al. aus ihrer Studie zur Gestaltung der Lohn- und Leistungsbedingungen in Ostdeutschland bewahrheitet hat: „Wenn die Tarifparteien die hier angemahnten Reformbemühungen realisieren, dürfte das Instrument des Flächentarifvertrags in der ostdeutschen Metallindustrie wieder stärkeren Rückhalt in den Betrieben gewinnen“ (2002, S. 189). Zwei sehr vorsichtig zu wertende Indizien scheinen in der Tat die Aussage zu stützen, dass der oben beschriebene, im Osten Deutschlands insbesondere in der ersten Hälfte der 90er Jahre z.T. dramatisch verlaufene Trend zur Abnahme der Tarifbindung bzw. zur Etablierung einer sehr geringen Tarifbindung von Unternehmen und zur Aufweichung bzw. Nicht-Anwendung von Tarifregelungen in Thüringen zumindest gebremst, wenn nicht gar gestoppt werden konnte. In diese Richtung weist zunächst und zum ersten die Tatsache, dass in Thüringen der Organisationsgrad von Unternehmen im Verband in den letzten Jahren geringfügig zu steigen scheint, während der OT-Verband stagniert. Auch hat der im Vergleich zu anderen Tarifbezirken sehr niedrige Organisationsgrad (von ca. 5 bis 6% der Betriebe und ca. 20% der Beschäftigten) bekanntermaßen eher historische Gründe, die auf den Einbruch der Ostindustrie nach der Wende und die Zerschlagung von Kombinaten in kleinere und mittlere Unternehmen zurückzuführen sind. Haipeter und Schilling haben das in ihrem Buch besonders in den empirischen Teilen treffend beschrieben (2006). 98 Zum zweiten scheint es in Thüringen gelungen zu sein, die tarifgebundenen Unternehmen auch im Rahmen der geplanten zeitlichen Umsetzungsperspektive zur vollständigen Übernahme des ERA zu veranlassen. Im Hinblick auf den Umsetzungsstand des ERA in Thüringen ist nach Auskunft des zuständigen Verbandsingenieurs zum Zeitpunkt des Projektabschlusses folgender Status erreicht: Von den tarifgebundenen Unternehmen haben zum April 2008 85% das Entgeltrahmenabkommen bereits eingeführt; in weiteren fünf bis sechs Firmen wird derzeit ERA eingeführt – mit dem Ziel, bis Ende 2008 fertig zu werden; insgesamt haben in diesem Tarifgebiet also bis Ende 2008 90% der tarifgebundenen Unternehmen ERA umgesetzt. Die restlichen 10% haben in Abstimmung mit den Tarifvertragsparteien tarifvertragsgemäß eine spätere Einführung nach 2008 vereinbart. Zudem wurde auch von 20% der OT-Firmen das Entgeltrahmenabkommen übernommen. (5) Bei der Bewertung der Sonderstellung der Befunde bzw. im Hinblick auf eine Abschätzung, ob die durchweg konsensuellen und zügigen Verhandlungsverfahren in den drei Leuchtturmunternehmen lediglich besonders günstige Ausnahmefälle darstellen oder ob ähnliche Verläufe in anderen thüringischen Betrieben vorliegen, kann über die Einschätzung der Tarifparteien zur tatsächlich gegebenen Repräsentanz der Untersuchungsbetriebe für die Tarifunternehmen in Thüringen hinaus auf ein Indiz der Regelung von Konflikten bzw. Widersprüchen in den Betrieben selbst rekurriert werden. Hinsichtlich des Konsenses und der Konflikthäufigkeit in den tarifgebundenen Unternehmen im Gegensatz zu den drei Leuchttürmen lässt sich auf der Grundlage einer Auswertung des Arbeitgeberverbands festhalten, dass zwar von knapp 30% der in den tarifgebundenen Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmer zunächst Widerspruch gegen die Eingruppierung eingelegt wurde, dass aber letztlich für 90% aller Tarifarbeitnehmer die Eingruppierung innerbetrieblich (das bedeutet: im Falle von Einsprüchen in der Paritätischen Kommission, im Falle von unlösbaren Widersprüchen zwischen den Betriebsparteien ggf. unter Beteiligung der Tarifvertragsparteien) geregelt wurde. Die Frage, inwieweit ERA auch eine Ausstrahlung auf die nicht tarifgebundenen Unternehmen in Thüringen entfaltet hat, lässt sich allerdings aus einer ungenügenden Datenlage heraus kaum beantworten. Insgesamt aber geht der Arbeitgeberverband „davon aus, und das belegt auch die Zahl der tariffreien Betriebe, die das ERA-System bereits anwenden, dass ERA eine Chance darstellt, zukünftig die Tariforientierung und Tarifbindung langfristig zu verbessern“. Gestützt wird diese Einschätzung auch durch die Tatsache, dass es in Thüringen keine so genannten „ERA-Verweigerer“ gibt. 99 Stellt man sich abschließend die Frage, ob sich an den beschriebenen Vorgehensweisen und Verfahren bei der ERA-Einführung in Thüringen ein genereller ostdeutscher Sonderweg ablesen lässt, so ist diese zunächst mit Nein zu beantworten. Insbesondere die Tarifliche Entsprechung ist eine originär für Thüringen angewandte Methode einer (pragmatischen) Regelüberführung, die in anderen west- und ostdeutschen Tarifgebieten kein Gegenstück besitzt. Andererseits gibt es im Tarifgebiet Thüringen durchaus Besonderheiten, die sich im Sinne eines ostdeutschen Sonderwegs der ERA-Einführung interpretieren ließen. So ist eine hohe Interessenkongruenz zwischen den Vertretern von Kapital und Arbeit zu beobachten, sowohl auf der Ebene der Tarifparteien als auch im Betrieb. Für die Arbeitsbeziehungen in den Betrieben deutet sich ein zwischen den Personalleitungen und Betriebsräten einheitliches starkes Interesse an der ökonomischen Sicherung des Betriebs an, das auf die gemeinsamen Erfahrungen mit der wirtschaftshistorischen Entwicklung seit der Wiedervereinigung zurückzuführen sein dürfte. Damit hängen wohl auch die hohe Akzeptanz sowie eine vergleichsweise begrenzte Problematisierung der Umsetzungsmaßnahmen innerhalb der Belegschaften zusammen. Nicht zu vernachlässigen ist jedoch, dass die im Rahmen der Begleitforschung ausgewählten Betriebe primär wegen ihrer frühzeitigen ERA-Einführung in die Bestandsaufnahme einbezogen wurden und gerade dafür ein hoher betrieblicher Konsens sicherlich mitverantwortlich war. Inwieweit es sich hier tatsächlich um eine generelle ostdeutsche Besonderheit handelt, müsste allerdings erst noch geprüft werden. Hierzu wäre ein systematischer Vergleich der thüringischen Erfahrungen mit denjenigen aus den anderen ostdeutschen Tarifbezirken erforderlich. 10.3 Restrukturierung kollektiver institutionalisierter Interessenvertretung versus Verbetrieblichung Für die Industrial-Relations-Forschung lassen sich aus der Analyse dieser Prozesse aufgrund der empirischen Konzentration auf ausgewählte Betriebe nicht – wie zu Projektbeginn erhofft – Rückschlüsse auf die Fragen nach einer Neubewertung des Wandels in den Industriellen Beziehungen ziehen. ERA bezeichnet zwar eine in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Wegscheide zwischen einem fortschreitenden Bedeutungsverlust der Kollektivakteure in der Gesellschaft und einer Revitalisierung der kollektiven Ebene der Arbeitsregulierung. Mit den vorliegenden empirischen Erkenntnissen lassen sich zwar gewisse Evidenzen für die Beurteilung von Veränderungen in den betrieblichen Arbeitsbeziehungen aufgrund des ERA-Umsetzungsprozesses herleiten – weitergehende Aussagen zum Wandel der institutionellen Systemarchitektur in 100 der Bundesrepublik verbieten sich wegen der extrem niedrigen Tarifbindung in Thüringen allerdings. Es soll abschließend auf der Grundlage der empirischen Befunde dennoch auf eine Frage eingegangen werden, die in der sozialwissenschaftlichen und gewerkschaftsnahen Forschung als „Verbetrieblichungsthese“ debattiert wird. Als Konsequenz der in Abschnitt 10.2 skizzierten tarifpolitischen Entwicklungen wurden in der Vergangenheit mit zunehmender Tendenz tarifvertragliche Regelungsnotwendigkeiten auf die Ebene von Unternehmen bzw. Betrieben verlagert. Die in der Industriesoziologie bekannten Trends einer Dezentralisierung und Verbetrieblichung der Interessenvertretung im Sinne einer Gewichtsverlagerung von der tariflich-sektoralen auf die betriebliche Ebene (Deiß 2000; Funder 2001) treffen allerdings oftmals auf betriebliche Bedingungen, die nicht unbedingt eine angemessene Bearbeitung der tarifvertraglichen Aufgaben im Betrieb erlauben (vgl. Schmierl 1998; Meil et al. 2003; Frerichs, Pohl 2001; Fichter et al. 2001; Höpner 2002; Streeck, Höpner 2002; Artus et al. 1998; Funder 2000; Bergmann et al. 1998; Bosch et al. 1999; Flecker 1998; Artus 2004). Hinsichtlich der Frage „weitergehende Verbetrieblichung der Tarifpolitik versus Revitalisierung der kollektiven Ebene der Arbeitsregulierung“ ist nun bei einer Bewertung des gegenwärtigen Prozesses der ERA-Einführung eine widersprüchliche Tendenz festzustellen. (1) Einerseits lässt sich der in der Forschung zu Industriellen Beziehungen schon seit langem beschriebene Trend einer Verbetrieblichung von Aushandlungsverfahren in Gestalt einer Übertragung von Aufgaben und Einigungsverfahren der Tarifebene auf die Betriebsebene auch in den neuen ERA-Tarifverträgen feststellen: Es kommt zum einen zu einer Verbetrieblichung der Entscheidung über Entgeltgrundsätze durch eine breite Palette von in den Tarifverträgen erlaubten Entgeltmodellen; in diesem Sinn haben die Tarifvertragsparteien (im Hinblick auf das Thüringer Entgeltrahmenabkommen) den Betrieben die Entscheidung übertragen, weiterhin die bisherigen betrieblichen Vereinbarungen zum Leistungsentgelt (Tarifvertrag ERA-Einführung, § 8) anzuwenden oder mit dem Zeitpunkt der ERA-Einführung die jeweiligen Regelungen des Entgeltrahmenabkommens zu übernehmen. Zum zweiten werden – offenbar zum Zweck der Komplexitätsreduktion auf der Tarifebene – formale, substanzielle Definitionen ersetzt durch eine Prozeduralisierung der endgültigen Regulierung, ablesbar z.B. an der per Tarifvertrag sanktionierten Etablierung so genannter Paritätischer Kommissionen in den Betrieben. Mit Hilfe dieser Paritätischen Kommissionen, in die der Arbeitgeber und der Betriebsrat jeweils die gleiche Anzahl von Vertretern entsenden, sollen Konflikte 101 bzw. Auslegungsunterschiede zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern unmittelbar vor Ort gelöst werden, anstatt an die Einigungsstelle der Tarifparteien oder in Schlichtungsverfahren delegiert zu werden. An diesem konkreten Fall lässt sich allerdings auch erkennen, dass Verbetrieblichung nicht immer und zwangsläufig mit einer Erosion des Tarifvertragssystems gleichgesetzt werden kann – haben sich doch gerade diese Paritätischen Kommissionen bei der ERAEinführung in den Betrieben als durchgängiges Erfolgsmodell herausgestellt. Sie haben einerseits einen Diskurs und Einigungszwang zwischen Unternehmensleitung und Betriebsrat angestoßen und andererseits zu einem Kleinarbeiten bzw. Ernstnehmen von Einsprüchen der Beschäftigten und in deren Folge zu einer höheren Akzeptanz von ERA in den Belegschaften geführt; darüber hinaus wurde dadurch die aktive und Mitarbeiterinteressen vertretende Rolle der Betriebsräte von den Arbeitskräften erkannt und anerkannt (s. Kapitel 8). Auch aufgrund der Öffnung für die Festlegung einzelner Regelungen der betrieblichen Entgeltpolitik auf dem Weg einer Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat in Betriebsvereinbarungen, wie sie ERA explizit vorsieht, kann hier in der Tat von einer Verbetrieblichung gesprochen werden – allerdings in Form einer „kontrollierten Dezentralisierung“ (Bispinck 2004), deren wesentliches Kennzeichen die Zustimmung der Tarifvertragsparteien zu abweichenden betrieblichen Regelungen und die dadurch gegebene Kontrolle von Abweichungen ist. Die Tarifvertragsparteien haben damit folglich große betriebliche Spielräume eröffnet und durch eine entsprechende Definition der tariflichen Grundlagen mit Wahl- und Entscheidungsoptionen einen großen Teil der Verantwortung für die Entgeltgestaltung den Betriebsparteien übertragen. Während dies einerseits Forderungen nach einer betriebsnahen Tarifpolitik Rechnung trägt, hängt aus der Perspektive der Arbeitnehmervertretungen eine erfolgreiche Interessenpolitik im Sinne der Beschäftigten damit andererseits sehr viel stärker von einer mit der Gewerkschaft abgestimmten Positionierung und von ausreichenden Machtressourcen der Betriebsräte ab. Gewerkschaftspolitisch erfordert ein derartiger Weg des Beschreitens einer betriebsnäheren Tarifpolitik folglich eine weitergehende Verknüpfung von Tarif- und Betriebspolitik, bei der neben der Mitgliederentwicklung zur Erhöhung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades in den Betrieben die „gezielte Verbesserung der betrieblichen Umsetzungsmöglichkeiten und -instrumente für Tarifverträge“ (Huber et al. 2005, S. 659; vgl. auch Urban 2005) grundlegend in den Blick genommen und geleistet wird (vgl. Iwer, Wagner 2005; Wetzel 2005). (2) Andererseits sind mit der gemeinsamen, zeitlich koordinierten Initiative zur ERA-Einführung in allen bundesdeutschen Tarifgebieten der Metall- und Elek- 102 troindustrie von beiden Tarifvertragsparteien mit großem Aufwand Anstrengungen unternommen worden, dem „Wildwuchs“ betrieblicher Regelungen in der Eingruppierung und Entgeltthematik entgegenzuwirken und die tarifpolitische Ordnungsfunktion (wieder) zu stärken. Insbesondere deutet die ERA-Einführung auf eine Stärkung von flexiblen Reaktionsweisen der Kollektivakteure in den zentralen Produktionsbranchen hin, indem die Akteure, Verfahren und Institutionen in diesem Feld mit den gegenwärtigen Herausforderungen konstruktiv umgehen (Schmierl 2001, 2003, 2003b; Heidling et al. 2004; Meil et al. 2003). Mitentscheidend in dieser Hinsicht ist auch die Tatsache, dass es mit ERA erstmals gelungen ist, die Entgeltregelungen maßgeblicher Belegschaftsteile – der vormaligen Angestellten – durch die Definition als Leistungsentgelte in die Mitbestimmung durch die Betriebsräte einzubeziehen. Die ERA-Tarifverträge gelten bislang zwar nach Aussage der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände nur für rund 30% der Beschäftigten (unter Einbeziehung der neu abgeschlossenen Entgelttarifverträge in der Metall- und Elektroindustrie), werden aber ohne Zweifel den zukünftigen Standard in der Industrie sowie in den Dienstleistungssektoren darstellen und für die Arbeitsbedingungen und -beziehungen entscheidende Kollektivvertragsnormierungen bereitstellen. Auch die Befunde der empirischen Begleitforschung in Thüringen lassen darauf schließen, dass mit der ERA-Einführung die kollektiven Interessenvertretungsverbände im Allgemeinen und die Gewerkschaft im Besonderen gestärkt aus dem Umsetzungsprozess hervorgehen und Terrain sowohl in der Wahrnehmung der Belegschaften als auch der Unternehmen gutmachen konnten (s. Kapitel 8). Darüber hinaus werden die in der sozialwissenschaftlichen Forschung mit der Verbetrieblichung und Erosion kollektiver Interessenvertretung in Verbindung gebrachten neuen, direkten Partizipationschancen von Beschäftigten in modernen Betriebs- und Arbeitsformen, die es erlauben würden, die eigenen Interessen bilateral durchzusetzen und den Betriebsrat institutionell zu übergehen (Müller-Jentsch 2000), mit ERA offenbar nicht in diesem (von manchen befürchteten) Sinn befördert. Vielmehr zeigt die in allen Fällen gestiegene Zustimmung der Belegschaften zur Betriebsratsarbeit eine Stärkung der Institution Betriebsrat an. In diesem Sinne deuten die Befunde zur Einführung der neuen ERA-Tarifverträge eine positive Antwort auf die Frage an (Hassel, Leif 2002; Schmierl 2003a; Frerichs, Pohl 2001; Fichter et al. 2001), ob und inwieweit die Gewerkschaften als Kollektivakteure auch künftig in der zunehmend gewandelten Arbeitsgesellschaft Bestand haben werden, bzw. sie geben Hinweise darauf, in welcher Richtung Reformen zur Bewältigung der „grundlegenden Herausforderungen“ (OBS 2002) erforderlich sind. 103 (3) Allerdings wird in diesem Zusammenhang die künftige verbandspolitische Entwicklung mitentscheidend dafür sein, inwieweit sich die ERA-Umsetzung letztlich auch als Instrument der Mitgliedergewinnung und -entwicklung (Dribbusch 2002; Huber et al. 2005) für die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in der Metall- und Elektroindustrie erweist. Dies hängt sicherlich auch von der Akzeptanz der ERA-Einführung in den Betrieben und der Beurteilung der Rolle von betrieblichen und überbetrieblichen Interessenvertretungsorganisationen in diesem Prozess durch die Belegschaft und die Betriebsleitungen ab. Die Anlage des Begleitforschungsprojekts erlaubt allerdings aufgrund der doch sehr beschränkten empirischen Repräsentativität dazu keine allgemein zutreffende Aussage. Die Erfahrungen in den Untersuchungsbetrieben verweisen allerdings darauf, dass aufgrund der breiten ERA-Akzeptanz eine derartige Mitgliederrekrutierung durchaus gelingen könnte, hierfür aber die Betriebsräte und Gewerkschaftsfunktionäre diese Aufgabe auch tatsächlich ausdrücklich in ihren Zielekanon einbeziehen müssten. Demgegenüber steht dort aber gegenwärtig die praktische ERA-Umsetzung so weit im Vordergrund, dass die Gefahr besteht, derartige Chancen zur Stärkung der eigenen Machtbasis in den Unternehmen sowie der Verhandlungsfähigkeit von Betriebsräten zu vergeben. 11. Zusammenfassung der Kernbefunde Mit dem vorliegenden ISF-Forschungsbericht wurden in Kürze die wesentlichen Ergebnisse des Projekts „Sozialwissenschaftliche Begleitforschung zur ERA-Einführung im Bereich der Metall- und Elektroindustrie Thüringens“ vorgestellt, das im Auftrag der Otto Brenner Stiftung, Frankfurt/Main und Berlin, von April 2005 bis Mai 2008 bearbeitet wurde. Die Begleitforschung wurde vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. – ISF München (Projektbearbeiter: Klaus Schmierl) durchgeführt und mit der IG Metall Bezirksleitung in Frankfurt und dem Thüringer Arbeitgeberverband VMET in Erfurt sowie dem Institut der Wirtschaft Thüringens (IWT) in Erfurt abgestimmt. Am Beispiel von drei typischen Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie Thüringens wurden exemplarische Verlaufsformen der Einführung des neuen Entgeltrahmenabkommens (ERA) im Tarifgebiet Thüringen vorgestellt. Es wurde auf besondere Einführungsprobleme, spezifische Betroffenheiten von Belegschaftsgruppen sowie Vor- und Nachteile von ERA für diese eingegangen. Bei den analysierten Unternehmen handelt es sich um Vorreiterunternehmen, die als „Leuchttürme“ in den letzten beiden Jahren ERA in Thüringen als 104 Erste eingeführt und umgesetzt haben. In zwei Empiriewellen (Sommer 2006 und Sommer 2007) wurden leitfadengestützte qualitative Experteninterviews mit den Betriebsräten, den Personalleitungen und den betroffenen Arbeitskräften geführt. Ergänzend zu den Erhebungen in den Betrieben fanden Gespräche mit Vertretern des Arbeitgeberverbands und der IG Metall Bezirksleitung statt. Mit der sozialwissenschaftlichen Begleitforschung verbanden sich im Hinblick auf den Projektauftrag im Wesentlichen zwei Zielsetzungen: ¾ In empirischer Perspektive ging es um eine Untersuchung der Vorgehensweisen, Umsetzungschancen und -schritte bei der Einführung des ERA und deren Praxis und Akzeptanz in den Betrieben. Besonderes Augenmerk galt dabei dem Umgang mit der für das Tarifgebiet Thüringen vereinbarten „Tariflichen Entsprechung“; hierbei handelt es sich um ein tariflich vereinbartes Instrument im ERA-Tarifvertrag, das den Arbeitgebern die Wahl zwischen einer Neubewertung aller Arbeitsplätze/Arbeitskräfte des Betriebs und der Anwendung einer Analogietabelle mit Nennung der alten Lohnbzw. Gehaltsgruppe und der neuen Entgeltgruppe (als pauschales Äquivalent) überlässt. ¾ In analytischer Perspektive ging es um die Untersuchung der mit dem ERA zusammenhängenden machtpolitischen Veränderungen in den betrieblichen Arbeitsbeziehungen. Hierbei stand die Bewertung der mit der ERA-Einführung einhergehenden (neuen) Bedeutung von zentralen, jedoch umfassend veränderten Verhandlungsfeldern in der Metall- und Elektroindustrie im Mittelpunkt. Zudem sollten ostdeutsche Besonderheiten bei der ERA-Umsetzung analysiert werden. Die Kern-Ergebnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Die Tarifliche Entsprechung gab den Betrieben bei der Eingruppierung offenbar eine geeignete Methodik an die Hand, mit vergleichsweise überschaubarem Arbeitsaufwand eine Überleitung der alten Entgeltsystematik in eine neue Entgelttabelle vorzunehmen. Sie dürfte mitverantwortlich dafür gewesen sein, dass alle Untersuchungsbetriebe eine zügige und schnelle Umsetzung des ERA bewältigten. Zudem wurde das Instrument insofern flexibel gehandhabt, als für (quantitativ geringe) Anteile der Belegschaft in Abstimmung mit dem Betriebsrat zusätzlich neue Arbeitsbewertungen als Grundlage der neuen Eingruppierungen durchgeführt wurden. 2. Bei der Anwendung des ERA zeichneten sich im Rahmen der Arbeitsbewertungen in allen Untersuchungsbetrieben ähnliche Definitions- bzw. Interpretationsprobleme ab: die Verfahren der Anwendung und Zuweisung 105 der mit ERA neu eingeführten Zusatzstufen für dispositive Aufgaben bzw. Führungsfunktionen, die tatsächliche Anwendbarkeit der Niveaubeispiele auf die betrieblichen Anforderungsprofile sowie die Wirkung, der Berechnungsmodus und die Ausschüttungsverfahren der tariflichen Ausgleichszulagen bei Überschreitern bzw. der Anpassungsbeträge bei Unterschreitern. 3. Während die neuen Eingruppierungen bereits zeitnah zur Umsetzung des ERA aktualisiert werden konnten, erforderten die Regelungen des ERA zu den neuen Entgeltgrundsätzen grundlegendere Vorbereitungen und Umsetzungsschritte. Im Fall der Überführung klassischer Leistungslohnformen (Prämienlohn) in die neuen ERA-Leistungsentgelte musste eine Entkopplung vom ERA-Einführungszeitpunkt vorgenommen werden, so dass diese etwas zeitverzögert eingeführt wurden. Die Anwendung der Zeitentgelte mit Beurteilung, wofür das ERA eine neue Durchschnittsregelung vorsieht, erforderte einerseits einen höheren internen Begründungsaufwand und andererseits eine betriebliche Überprüfung der subjektiven, seitens der Vorgesetzten in die Leistungsbeurteilung einfließenden Bewertungsfaktoren. 4. Im Hinblick auf die Betroffenheit unterschiedlicher Belegschaftsgruppierungen lassen sich prinzipiell begünstigte und benachteiligte Beschäftigtengruppen erkennen. Begünstigte sind in der Regel die Unterschreiter, die mit ERA ein höheres Grundentgelt erhalten: in Thüringen die vormals gewerblichen Mitarbeiter, ebenso niedrige kaufmännische Angestelltengruppen. Zu den Verlierern zählen die Überschreiter, die mit ERA ein geringeres Grundentgelt erhalten würden, würde die Besitzstandswahrung nicht ihr individuelles Entgelt absichern: die höheren kaufmännischen Angestellten (K4, K5, K6) und vor allem die höheren technischen Angestellten der „alten“ Gehaltsgruppen T4, T5, T6. Aufgrund der im ERA geregelten Besitzstandswahrung und Absicherung der Bruttoentgelte entfalteten sich zwar keine weitergehenden Proteste oder Widerstände im Betrieb; allerdings führten die durchaus komplizierten Ausgleichsberechnungen in den neuen Entgeltübersichten zunächst zu Verunsicherung bei den Beschäftigten. Die Akzeptanz von ERA wurde in den Betrieben in diesen Fällen insbesondere durch eine umfassende Informationspolitik seitens der Personalleitungen und entsprechende Beratungen durch den und mit dem Betriebsrat hergestellt. 5. Mit der ERA-Einführung wird die Einrichtung einer betrieblichen Paritätischen Kommission für Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang mit der Arbeitsbewertung und Eingruppierung sowie hinsichtlich der neuen Grundsätze der Entgeltgestaltung vorgegeben. Diese Paritätischen Kommissionen setzen sich aus vier betriebsangehörigen Mitgliedern zusammen, die zur Hälfte vom Arbeitgeber und zur Hälfte vom Betriebsrat benannt werden. 106 Dieses Instrument zur Verhandlung von Reklamationen wurde bereits in der Anfangsphase der ERA-Einführung sehr intensiv – speziell beim Thema der Überschreiter und Unterschreiter – genutzt und durchweg als sinnvolle Instanz zur betrieblichen Konfliktlösung angesehen. 6. Die Umsetzung des ERA war in keinem Fall ursächlich für organisatorische Umstellungen verantwortlich und entfaltete auch keinerlei Beschäftigungseffekte oder personalpolitische Wirkungen. ERA erfüllte damit aber auch nicht die Hoffnungen insbesondere der Gewerkschaft auf eine Impuls- und Inkubatorfunktion für moderne Arbeitsformen und neue Produktionstypen. 7. Von den Personalleitungen und Betriebsräten, aber auch von den Beschäftigten wird eine übereinstimmende positive Einschätzung und Gesamtbewertung des ERA im Hinblick auf die Erreichung der Zielsetzungen sowie die Vorteile vorgenommen: eine gerechtere Entgeltpolitik und höhere Entgelttransparenz für die Beschäftigten aufgrund der systematischen Anwendung von Tätigkeitsbeschreibungen; die Aufhebung der Trennung zwischen Lohn- und Gehaltsempfängern sowie eine höhere Durchlässigkeit durch einheitliche Funktionsbeschreibungen; eine bessere Eingruppierung von Mitarbeitern besonders im gewerblichen Segment entsprechend der Ausbildung und Berufserfahrung; die Förderung der Weiterbildungsbereitschaft und bessere Karriereperspektiven sowie bessere Differenzierungsmöglichkeiten in den höheren Entgeltgruppen durch zusätzliche Entgeltgruppen bzw. Zusatzstufen. 8. Den Betriebsräten wird seitens der Beschäftigten eine hohe Beratungs- und Informationskompetenz sowie interessenpolitische Vertretungsmacht bei der Einführung des ERA zugeschrieben; dies deutet eine Stärkung der Institution Betriebsrat in diesen Unternehmen an. Zugleich zeichnet sich eine gestiegene Wertschätzung der Gewerkschaft bei den Betriebsräten, aber auch in den Belegschaften aufgrund deren Rolle beim Abschluss und bei der Einführung des ERA an. Allerdings wirkt sich dies nicht in Gewerkschaftseintritten oder einer Erhöhung des gewerkschaftlichen Organisationsgrads aus. 9. Mit der bis Mitte bzw. Ende 2008 nahezu komplett vollzogenen ERA-Einführung in allen tarifgebundenen Unternehmen in Thüringen gelang es offenbar, dem „Wildwuchs“ betrieblicher Regelungen in der Eingruppierung und Entgeltthematik entgegenzuwirken und die tarifpolitische Ordnungsfunktion des Flächentarifvertrags in den Unternehmen mit Tarifbindung (wieder) zu stärken. Allerdings liegt deren Anteil in Thüringen nach wie vor extrem niedrig und hat sich auch mit der Einführung des ERA nicht 107 nennenswert verändert. Mitentscheidend für eine Bewertung seitens der Gewerkschaft ist in dieser Hinsicht auch die Tatsache, dass es mit ERA gelungen ist, die Entgeltregelungen maßgeblicher Belegschaftsteile – der vormaligen Angestellten – durch die Definition als Leistungsentgelte in die Mitbestimmung durch die Betriebsräte einzubeziehen. Abschließend sei im Hinblick auf die Bewertung der Befunde auf die methodische Anlage der Begleitforschung verwiesen, die eine weite Generalisierung (z.B. auf die ERA-Einführung in Ostdeutschland) ohne eine breitere empirische Überprüfung verbietet. Mit dem Forschungsdesign war nämlich weniger eine quantitative Erhebung im Sinne statistischer Repräsentativität angestrebt als vielmehr eine in die Tiefe gehende qualitative Analyse der typischen Problembedingungen, der spezifischen Wechselwirkungen zwischen betrieblichen Verhandlungsfeldern und der maßgeblichen Folgen des ERA im Betrieb. Bei der Auswahl der Untersuchungsbetriebe wurde infolgedessen versucht, exemplarische Typen von Unternehmen zu identifizieren, die durch jeweils spezifische Bedingungen (Teilbranche und Produktspektrum, Betriebsgröße, Angestelltenanteil) charakterisiert sind und gewissermaßen als repräsentativ für Betriebe mit ähnlichen betriebsstrukturellen Ausgangsbedingungen betrachtet werden können. In diesem Sinne wurden Pilotbetriebe des Tarifgebiets untersucht, deren Erfahrungen als prototypisch gelten und (insbesondere durch die Evaluierung des Instruments der Regelüberleitung „Tarifliche Entsprechung“) für künftige gewerkschafts- und tarifpolitische Umsetzungsstrategien genutzt werden können. 108 Anhang: Regelung Tariflicher Entsprechung im ERA Thüringen Tarifvertrag zur Einführung des Entgeltrahmenabkommens, Anlage 1 109 110 12. Literaturverzeichnis Altmann, Norbert; Binkelmann, Peter; Düll, Klaus (1982a): Neue Arbeitsformen, betriebliche Leistungspolitik und Interessen der Beschäftigten. In: Soziale Welt, 33. Jg., Heft 3/4, S. 440-465. Altmann, Norbert; Binkelmann, Peter; Düll, Klaus; Stück, Heiner (1982): Grenzen neuer Arbeitsformen – Betriebliche Arbeitsstrukturierung, Einschätzung durch Industriearbeiter, Beteiligung der Betriebsräte, Frankfurt/New York. Artus, Ingrid; Schmidt, Rudi; Sterkel, Gabriele (2000): Brüchige Tarifrealität. 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