Die Zeitkonstruktion im Roman Billard um halbzehn

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Die Zeitkonstruktion im Roman Billard um halbzehn
Die Zeitkonstruktion im Roman Billard um halbzehn
Magisterarbeit zur Erlangung des Magister Artiums an der deutschen
Fakultät der Shanghai International Studies University
Vorgelegt von
Chen Hangfei
Betreut von
Herrn Prof. Dr. Chen Zhuangying
Shanghai, im August 2014
Dankwort
Die vorliegende Arbeit wurde im September 2014 abgeschlossen und im Dezember 2014
der deutschen Fakultät der SISU als Abschlussarbeit des Magisterstudiums vorgelegt.
Ein besonderer Dank gilt für meinen Betreuer, Herrn Prof. Dr.Chen Zhuangying, der mich
während des Magisterstudiums ständig unterstützt hat. Für die Konzeption und die
Gliederung der vorliegenden Arbeit hat er mich vielfältige und aufschlussreiche
Anregungen und Ratschläge gegeben. Im Laufe des Schreibens hat er mir auch mit Rat und
Tat beigestanden. Ohne seine Anregungen und Hilfe wäre diese Arbeit nicht zustande
gekommen.
Ich möchte auch Herrn. Prof. Dr. Wei Maoping, Herrn. Prof. Dr. Xie Jianwen, Herrn. Prof.
Dr. Chen Xiaochun und Herrn. Prof. Dr. Wang Zhiqiang danken. Sie alle haben mir
während des Magisterstudiums beigebracht, wie man wissenschaftlich arbeiten sollte.
Zum Schluss möchte ich noch meinen Studienkollegen danken, die direkt oder indirekt zur
Entstehung dieser Arbeit in Form fachlicher oder anderweitiger Unterstützung beigetragen
haben.
Shanghai, September 2014
Chen Hangfei
摘要
海因里希伯尔是战后德国最重要的德语作家之一。其中他的短篇小说最为著名。
他的作品闪烁着人性的光辉。对伯尔作品的讨论大多着眼于人性,作品内容和对战争
的反思,而作品的叙事手法往往被忽视。
伯尔于 1959 年完成长篇小说《九点半打台球》。和伯尔的其他作品一样这部长篇
小说也备受争议。评论的重心过多地放在了作品中出现的羔羊和水牛的比喻,以致小
说的结构艺术被低估了。时间不仅是小说构成的一个重要成分,而且也可能是小说的
题材。这篇论文主要研究小说的时间结构,并试图阐释时间构成的可能性,以及时间
结构和人物历史意识的关系。
小说主要围绕着费迈尔三代人展开的。但是三代人的故事并不是按照严格的时间
顺序叙述的。主要通过人物海因里希,罗伯特,约翰娜和施莱拉的回忆再现了三代人
的故事。1958 年 9 月 6 日,祖父海因里希费迈尔迎来了他的 80 岁生日。家庭成员和
最亲近的朋友聚到一起为其庆生。他们回忆了过去。
框架时间被限定在一天。通过回忆,费迈尔一家的故事徐徐展开。故事时间超出
了叙事时间。德国历史通过这一建筑师世家的故事展现出来并带有主观性和独特性。
通过主观的时间经历,作品展现了人物的时间和历史观。
关键词:时间结构,回忆,历史观
Abstrakt
Heinrich Böll ist einer der berühmtesten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit.
Vor allem genießen seine Kurzgeschichten den meisten Beifall. Seine Werke sind mit
Humanität gekennzeichnet. Die Humanität der Figuren, der Inhalt sowie die Reflexion
über die Kriege stehen im Zentrum der Diskussionen. Aber die Erzähltechniken geraten
immer wieder in den Hintergrund.
Billard um halbzehn vollendete Heinrich Böll im Jahre 1959. Wie Bölls andere Werke
ist dieser Roman sehr kontrovers. Die Kritiker schenken den Metaphern von Lamm und
Büffel zu viel Aufmerksamkeit, sodass die Konstruktionskunst des Romans unterschätzt
wird. In der vorliegenden Arbeit beschäftige ich mich mit der Zeitkonstruktion des Romans
und versuche, die Gestaltungsmöglichkeiten der Zeit und das Verhältnis zwischen der
Zeitkonstruktion und dem Zeitbewusstsein der Figuren darzulegen.
Im Roman dreht es sich um die Geschichte der drei Fähmel-Generationen. Aber sie
wird nicht in strikter chronologischer Reihenfolge erzählt, sondern in den Erinnerungen
von den Figuren Heinrich, Robert, Johanna und Schrella wiederbelebt. Am 6. September
1958 feiert Heinrich Fähmel seinen 80. Geburtstag. Die Familienmitglieder und die Leute
aus dem engsten Kreis kommen zusammen. Sie erinnern sich an die Vergangenheit.
Die äußere Zeit wird auf einen Tag reduziert. Aber in den Erinnerungen der Figuren
tut sich das Panorama der Familie vor den Augen auf. Die erzählte Zeit geht über die
Erzählzeit hinaus. Und die deutsche Geschichte wird mit dem Schicksal der
Architektenfamilie kombiniert und gewinnt dabei eine subjektive Färbung. Durch die
subjektiven Erlebnisse der Figuren wird das Zeit- und Geschichtsbewusstsein dargestellt.
Schlüsselwörter: Zeitkonstruktion, Erinnerung, Geschichtsbewusstsein
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ........................................................................................................................... 1
1.1. Motivation der Untersuchung.................................................................................................. 1
1.2. Der Autor und der Roman ....................................................................................................... 2
1.2.1. Der Autor und die Besonderheiten seiner Werke ............................................................................. 2
1.2.2. Der Schaffensprozess des Romans .................................................................................................. 3
2. Die Zeitebenen des Romans .............................................................................................. 4
3. Die Zeit in der Literatur ..................................................................................................... 7
3.1. Die Verdrängung des Zeitflusses ............................................................................................. 7
3.2. Die Integration von Zeitstufen ................................................................................................ 9
4. Die Möglichkeiten zur Konstituierung der Zeit ............................................................... 11
4.1. Kaleidoskop............................................................................................................................ 11
4.2. Zeitausdehnung durch Assoziationen .................................................................................... 12
4.3. Zeitraffung durch Bewegung................................................................................................. 15
5. Die subjektiven Zeiterfahrungen der Figuren .................................................................. 17
5.1. Robert Fähmel ....................................................................................................................... 17
5.2. Heinrich Fähmel .................................................................................................................... 21
5.4. Schrella .................................................................................................................................. 26
5.5. Johanna Fähmel ..................................................................................................................... 28
6. Die Bedeutung der physikalischen Zeitangaben .............................................................. 33
7. Die Bewältigung der Vergangenheit ................................................................................ 36
7.1. in Hinsicht der Figuren .......................................................................................................... 36
7.2. in Hinsicht der Struktur ......................................................................................................... 40
8. Überwindung der Zeit ...................................................................................................... 42
8.1. Die Simultanität..................................................................................................................... 42
8.2. Die Motive ............................................................................................................................ 46
9. Die Bedeutung des Titels Billard um halbzehn................................................................ 49
9.1. Billard und Roberts Beruf ..................................................................................................... 49
9.2. Billard und die Erinnerung .................................................................................................... 50
9.3. Billard und die Konstruktion ................................................................................................. 51
10. Schlusswort .................................................................................................................... 53
11. Literaturverzeichnis ....................................................................................................... 56
1. Einleitung
1.1. Motivation der Untersuchung
Billard um halbzehn ist der erste Versuch Bölls, „seine Epoche in einem nach Personal
und Zeitabfolge umfänglichen Roman darzustellen“
1
. Deshalb weist er eine
Kompliziertheit an Konstruktion und Konfiguration vor.
Bewusst setzt sich Böll in diesem Roman mit der Zeit auseinander. Die äußere Zeit
wird auf einen Tag, den 6. September 1958, reduziert. Trotz der geringen Zeitdauer tut sich
das Panorama der Fähmels in den vergangenen 50 Jahren durch Erinnerungen vor den
Augen auf.
Die Zeit ist ein wichtiges Bauelement des Romans. Dem Autor stehen mehrere
Möglichkeiten zur Verfügung, die Zeit zu überwinden. Günter Müllers Theorie von
erzählter Zeit und der Erzählzeit legt den Grund zur weiteren Forschung. Eberhard
Lämmert befasst sich eingehend mit dem Verhältnis zwischen erzählter Zeit und der
Erzählzeit und stellt fest, dass die Zeit ausgedehnt und gerafft werden kann. Nach Oskar
Holls Auffassung kann die Zeit im Roman sogar überwunden werden. Die Erzähltechniken
wie die Simultanität und die Motive dienen dazu, die Zeit aufzuheben.
In Billard um halbzehn ist die Zeit nicht nur ein wichtiger Faktor der Konstruktion,
sondern auch an sich ein Gegenstand des Romans, „weil sie bewußt zur Gestaltung des
erzählenden Werkes herangezogen wird, und gewinnt im selben Verhältnis, wie sie bewußt
dargestellt wird, an thematischer Bedeutsamkeit“ 2 . Die Familienmitglieder Robert,
Heinrich und Johanna tauchen in den Erinnerungen ab und sind der Zeit entzogen. Aber
durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit und die Konfrontation mit der wirklichen
Zeit wird die Bewältigung der Vergangenheit vollendet.
1
2
Schröter, Klaus: Heinrich Böll mit Selbstzeugnissen, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 79.
Holl, Oskar: Der Roman als Funktion und Überwindung der Zeit, Bonn 1968, S. 161.
1
1.2. Der Autor und der Roman
1.2.1. Der Autor und die Besonderheiten seiner Werke
Heinrich Böll, geboren am 21. Dezember 1919 in Köln und gestorben am 16. Juli
1985 in Kreuzau-Langenbroich, ist einer der berühmtesten deutschen Schriftsteller der
Nachkriegszeit.
Zwischen 1937 und 1938 machte Böll eine Buchhändlerlehre. Dabei machte er erste
schriftliche Versuche. Von 1929 bis 1945 war Böll als Infanterist im Zweiten Weltkrieg im
Einsatz. Seine ersten Kurzgeschichten wurden 1947 in Zeitschriften veröffentlicht. Die
Erzählung Die schwarzen Schafe feierte bei der Gruppe 47 einen großen Erfolg und wurde
mit dem Preis der Gruppe 47 ausgezeichnet. Im Jahre 1959 und 1963 erschienen die
Romane Billard um halbzehn und Ansichten eines Clowns. Bölls bedeutendster Roman
Gruppenbild mit Dame entstand im Jahre 1971. 1972 wurde ihm der Nobelpreis für
Literatur verliehen. Die Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum schuf er 1974,
die vielleicht der spektakulärste Erfolg Bölls ist. 1979 wurde der Roman Fürsorgliche
Belagerung veröffentlicht.3
Die Komposition von Bölls Werken ist von zwei Prinzipien gekennzeichnet. Eines ist,
dass sich die ganze Geschichte aus mehreren geschlossenen Erzähleinheiten und
Handlungssträngen zusammensetzt wie im Roman Gruppenbild mit Dame. Sie gleichen
einem Mosaik. Das andere ist, dass die vergangenen Gelegenheiten, die eine lange Zeit
umfasst, in vergleichsweise kurzer Zeit durch Vergegenwärtigung eingeholt werden wie im
Roman Billard um halbzehn.4
Der Roman Billard um halbzehn „bedeutet in mehr als einer Hinsicht die
Fortentwicklung und den bisherigen Höhepunkt seiner Technik und Thematik“5. In diesem
Roman kommen die Erzähltechniken, die er zuvor in den Romanen Und sagt kein einziges
Wort und Haus ohne Hüter probte, zum Höhepunkt. Jetzt stellt Böll die Vergangenheit von
50 Jahren aus Perspektiven mehrerer Leute dar. Ohne Zweifel ist Billard um halbzehn der
Roman Bölls, der formal und inhaltlich einen großen Umfang annimmt.
3
4
5
Vgl. Schröter, Klaus: Heinrich Böll mit Selbstzeugnissen, Reinbek bei Hamburg 1982.
Vgl. Weber, Dietrich: Deutsche Literatur der Gegenwart in Einzelstellung Band 1, Stuttgart 1976, S. 211-213.
Schwarz, Wilhelm Johannes: Der Erzähler Heinrich Böll, Bern 1973, S. 41.
2
1.2.2. Der Schaffensprozess des Romans
Böll erklärte im Gespräch mit Horst Bienek am Beispiel vom Roman Billard um
halbzehn, dass das Schreiben für ihn Verwandeln und Zusammensetzen bedeutet. Damit
gewinnt man auch Einblick in den Hintergrund und den Schaffensprozess des Romans.
Am Anfang wurde das ganze eigentlich als eine Kurzgeschichte gedacht. Das
Schlagballspiel war die erste Zeile. Es entstammt einer historischen Angelegenheit. Im
Jahre 1934 wurden vier Kommunisten in Köln hingerichtet. Aber später verwandelte sich
das Thema. Böll besuchte in Gent den Altar der Gebrüder van Eyck. In der Mitte stand das
Gotteslahm. Dann kam der komplizierte Schaffensprozess. Böll bekannte sich, dass er
später die beiden Anlässe wieder vergaß.6
Wie ein Schaffensprozess beim Schreiben aussah, erklärte Böll bei dem Gespräch
auch. Böll bediente sich einer farbigen Tabelle, die drei Schichten hat, nämlich die
Gegenwart, die Reflektiv- oder Erinnerungsebene und die Motive. Diese Tabelle wurde bei
Entwicklung des Romans zunehmend kompliziert. Sie diente als Erinnerungsstütze und
Kompositionshilfe. In diesem Rahmen korrigierte Böll den Roman.7
An dem Schaffensprozess ist zu erkennen, dass Böll in dem Roman die historischen
Gegebenheiten und eigene Erfahrungen bearbeitet. Vielfältige Erzähltechniken werden
eingesetzt. Um den großen Umfang von 50 Jahren zu rekonstruieren, bedient er sich der
komplizierten Zeitebenen.
6
7
Vgl. Bienek, Horst: Werkstattgesprräche mit Schriftstellern, München 1976, S. 173.
Ebd. S. 175.
3
2. Die Zeitebenen des Romans
Die von Böll im Gespräch mit Horst Bienek erwähnten Schichten, und zwar die
Gegenwart, die Erinnerungsebene und die Motive, spielen auch bei der Konstruktion im
Billard um halbzehn eine wichtige Rolle. Technisch gesehen zeigt es „eine neue
Kompositionsmethode mit seiner gelungenen Führung von Assoziationen zu einem
gedanklichen Zusammenhang in einer stark reduzierten Fabel, die aber noch epischen
Atem besitzt“8. Die Fabel ist die Feier des 80. Geburtstags von Heinrich Fähmel. Und viele
Figuren erinnern sich an die Vergangenheit. Damit gewinnt die erzählte Zeit einen großen
Umfang sowie „Hintergrund und epische Breite“ 9 . Der Roman, der aus vielen
Erinnerungsmonologen zusammengesetzt wird und damit „jede Kontinuität einer
durchgehenden Handlung auslöscht und statt dessen Fragmente von Handlungen
diskontinuierlich, unter Zerschlagung des zeitlichen Zusammenhangs montiert“
10
,
erschwert das Lesen. Um einen Überblick beim Lesen zu geben, werden zuerst die
Ereignisse wie im Folgenden chronologisch geordnet.
Die Erinnerungen:
Am 06.09.1907 kam Heinrich Fähmel in der Stadt an. Er zog ins Atelier gegenüber
dem Büro von Kilbs Notariats ein. Dann nahm er im Wettbewerb für das Projekt Sank
Anton teil. Im ersten Weltkrieg wurde Heinrich vom Frontdienst befreit und wegen seiner
wichtigen Arbeit befördert.
Am 30.09.1907 gab Heinrich Fähmel bei Kilbs den Entwurf von der Abtei Anton ab.
Viereinhalb Wochen später entschied sich die Jury für Heinrichs Entwurf. Damit hatte er
eine Chance, Johanna Kilb einen Heiratsantrag zu machen.
Am 13.09.1908 heiratete Heinrich mit Johanna. Im nächsten Jahr wurde die Tochter
Johanna geboren.
1910 wurde der Sohn Heinrich geboren. Und die Tochter Johanna starb.
1915 wurde der Sohn Robert geboren.
Noble, C.A. M.: Die Ansichten eines Clowns und ihre Stellung in Bölls epischer Entwicklung. In: Böll – Untersuchung
zum Werk, Bern 1975, S.155.
9 Weber, Dietrich: Deutsche Literatur der Gegenwart in Einzelstellung Band 1, Stuttgart 1976, S. 213.
10 Durzak, Manfred: Der deutsche Roman der Gegenwart – Entwicklungsvoraussetzungen und Tendenzen Böll Grass
Johnson Wolf, Stuttgart 1971, S. 97.
4
8
1917 wurde der Sohn Otto geboren. Und der Sohn Heinrich starb.
1935 fand das Schlagballspiel statt, bei dem Robert mit einem entscheidenden Ball
den Trick von Nettlinger und Wakiera untergrub. Nettlinger verlor absichtlich den Ball an
die Gegner. Damit traf der Ball von Gegenern Schrella immer wieder. Auf dem Heimweg
räumte Schrella ein, dass er nie vom Sakrament des Büffels kostete und deswegen von
Nettlinger gepeinigt wurde. Später trat Robert auch in die Widerstandsgruppe der Lämmer
ein, welche gegen die nationalsozialistische Herrschaft kämpfte.
Am 21.07.1935 wurde Ferdi hingerichtet, dessen Attentat auf Wakiera fehlschlug.
Deswegen setzten sich Robert Fähmel und Schrella, die auch schworen, nie vom
Sakrament des Büffels zu essen, in die Niederlande ab.
1939 kehrte Robert zurück, weil seine Mutter um Gnade bat. Und im selben Jahr
wurde seine Tochter Ruth geboren.
1942 starb Roberts Frau Edith beim Bombardement. Die Mutter Johanna wurde für
verrückt erklärt und in die Heilanstalt gebracht.
1945 wurde die Abtei Sankt Anton von Robert, der in der Armee für das Schussfeld
zuständig war, in die Luft gesprengt.
Die Gegenwart (am 06.09.1958):
Gegen 11.30 rief Robert bei der Sekretärin Leonore an und tadelte sie wegen der
Preisgabe der Telefonnummer vom Hotel „Prinz Heinrich“, in dem Robert ungestört von
halb zehn bis zwölf Billard spielte (Kapitel 1).
Von 11.30 bis 12.00 blieb Heinrich in Roberts Büro und erfuhr von dem Vorfall
(Kapitel 1).
Von 9.30 bis 10.50 spielte Robert im Beisein vom Hotelboy Hugo Billard, wobei er
Hugo von dem Ballspiel erzählte und Hugo ihm von seiner Vergangenheit (Kapitel 3).
Nettlinger suchte nach Robert und es gelang ihm, Nettlinger zu entkommen (Kapitel 2).
Von 12.00 bis 14.00 ordnete Leonore bei Heinrich die Akten (Kapitel 4).
Um 14.00 ging Heinrich in die Heilanstalt in Denklingen, um Johanna zu besuchen.
Und später kam auch Robert zu Besuch (Kapitel 5).
Um 15.30 holte Nettlinger Schrella von der Strafabteilung ab und lud ihn zum Essen
ein, der wegen der Fahndungsliste verhaftet worden war (Kapitel 7). Später nahm Schrella
5
Straßenbahn 11 nach Blessenfeld (Kapitel 9).
Von 15.40 bis 16.10 trank Robert mit seinem Vater in der Gaststube des Denklinger
Bahnhofs Bier. Dann holten sie Ruth ab (Kapitel 6).
Um 16.20 hatten Joseph und Marianne ein Zwiegespräch auf dem Kosakenhügel,
nachdem sie einen gefährlichen Fahrtest auf einer Autobahn gemacht hatten (Kapitel 8).
Um 17.00 besuchten Heinrich, Robert, Joseph, Marianne und Ruth gemeinsam die
Ruine der Abtei Anton (Kapitel 10). Später gingen sie Johanna abholen, die in der
Heilanstalt eine Pistole stahl (Kapitel 11).
Kurz nach 18.00 kamen die Fähmels im Hotel Prinz Heinrich an. Robert und Schrella
spielten Billard. Und Heinrich und Johanna zogen sich ins Zimmer zurück (Kapitel 12) .
Um 18.50 schoss Johanna auf Herrn M. auf dem Balkon nebenan. Leonore, die zum
Hotel kam, um Robert über die taktischen Fehler zu informieren, Robert, Schrella , Joseph,
Marianne, Ruth hörten den Schuss. Johanna wurde abgeführt und die anderen
versammelten sich in Heinrichs Atelier. Heinrich sagte die Geburtstagsfeier ab und bekam
später eine Torte in Nachahmung von Abtei Anton geschenkt (Kapitel 13).
6
3. Die Zeit in der Literatur
3.1. Die Verdrängung des Zeitflusses
Nach Ansicht von Oskar Holl ist der Roman eine Kunst der Zeit. Wenn die Handlung
chronologisch erzählt wird, stellt der Roman die „Funktion der Zeit“ dar. Wenn der Roman
auf die unchronologische Weise präsentiert wird, wird die Zeit überwunden. Holl gelangt
zum Schluss, der Roman „braucht die Zeit, um sich zu entwickeln, er setzt sich aber auch
über die Chronologie hinweg, weil er, wie Erzählungen immer, der Erinnerung
nachgebildet ist“11. Oskar Holl führt im Buch Roman als Überwindung der Zeit drei Wege
zur „Verdrängung des Zeitflusses“12an.
1.
Das Bruchstück:
Die wirkliche Zeit ist eigentlich so kontinuierlich wie ein Fluss. Der Roman kann
nicht alle Ereignisse aufzeichnen. Deshalb mangelt es dem Roman die Kontinuität. Jede
Beschreibung ist „eine einengende Auswahl aus der theoretisch unendlichen Zahl von
Blick- und Beziehungspunkten“13.
2.
Die Wiederholung:
Die zweite Art, den Zeitfluss im Roman zu verdrängen, ist die Wiederholung.
3.
Raffung und Dehnung:
„Die Erzählung kann rascher ablaufen, als die ihr zugrunde liegende Handlung
abgelaufen ist, oder auch langsamer.“14 In erster Situation spricht man von Raffung. Die
letztere definiert man als Dehnung. Damit kann der Zeitfluss in der wirklichen Zeit
aufgehoben werden.
Von den dreien Wegen zur Verdrängung des Zeitflusses wird der letzte am meisten
angewandt und ist deshalb von großer Wichtigkeit. Eberhard Lämmert hat sich auch im
Buch „Bauform des Erzählens“ damit auseinandergesetzt. Seiner Meinung nach gibt es
drei Formen, und zwar Zeitraffung, zeitdeckendes Erzählen und dehnendes Erzählen. Um
damit beschäftigen zu können, muss man sich zuerst der Theorie von Günther Müller über
11
12
13
14
Holl, Oskar: Der Roman als Funktion und Überwindung der Zeit, Bonn 1968, S. 234.
Ebd. S. 96.
Ebd. S. 97.
Ebd. S. 100.
7
die Zeit zuwenden.
Günther Müller unterscheidet zwischen der Erzählzeit und der erzählten Zeit. Die
Erzähltzeit ist die Zeitdauer des Erzählens einer Geschichte. Und die erzählte Zeit misst,
wie lange eine Geschichte dauert.15 Diese beiden Komponenten können in folgendem
Verhältnis stehen.
1.
Die Zeitraffung: Wenn die Erzählzeit geringer als die erzählte Zeit ist, wird
die Zeit gerafft. Der Grenzfall ist die Aussparung. In diesem Fall wird die Zeit einfach
weggelassen. Dann wird die Geschichte fortgesetzt.
2.
Die Zeitausdehnung: Wenn die Erzählzeit länger als die erzählte Zeit ist, wird
die Zeit ausgedehnt. Die Leser haben den Eindruck von der Retardation und
Verlangsamung der Zeit.
3.
Die Zeitdeckung: Wenn die Erzählzeit und die erzählte Zeit fast gleich sind,
spricht man von Zeitdeckung.
Eberhard Lämmert geht auf die drei Arten ausführlicher ein.
1.
Die Zeitraffung:
Bei Zeitraffung ist zwischen der sukzessiven und der iterativ-durativen Raffung zu
unterscheiden.
a.
Die sukzessive Raffung reiht die Ereignisse nach der zeitlicher
Reihenfolge auf. Sie spielen sich in Richtung der erzählten Zeit ab.
b.
Bei
interativ-durativer
Raffung
werden
einige
Ereignisse
zusammengefasst, um einen verhältnismäßig großen Zeitraum zu überwinden.
Diese Gegebenheiten
wiederholen sich entweder regelmäßig, oder nehmen einen
großen Zeitraum in Anspruch. Die Zeit wird jeweils iterativ und durativ gerafft.
2.
Zeitdeckendes Erzählen:
Zeitdeckendes Erzählen ist normalerweise streng sukzessiv. Bei reiner Wiedergabe
von direkter Rede deckt sich die erzählte Zeit fast mit der Erzählzeit.
3.
Dehnendes Erzählen:
Beim dehnenden Erzählen kommen folgende zwei Situationen häufig vor:
a.
Bei Wiedergabe von Gedanken, Träumen und Bewusstseinsvorgängen,
Vgl. Waldmann, Günter: Neue Einführung in die Literaturwissenschaft – Aktive analytische und produktive Einübung
in Literatur und den Umgang mit ihr – Ein systematischer Kurs, Baltmannsweile 2003, S. 130.
8
15
die eigentlich in einer kurzen Zeitdauer vorkommen, wird die Zeit gedehnt. Damit
macht die kurze Handlung bei den Lesern den Eindruck von Verlangsamung.
b.
Die Zeit wird gedehnt, wenn Dialoge wiedergegeben werden, „denen
gleichzeitig verlaufende Handlungen, Gedanken, sowie Beschreibungen und
Glossen des Erzählers beigefügt sind“16.
3.2. Die Integration von Zeitstufen
Die Zeitstufen, nämlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, können auf
verschiedene Arten integriert werden. Oskar Holl führt drei Beispiele an.
1.
Nicht mehr und noch nicht:
Diese Formel kommt in H. Brochs Roman Der Tod des Vergil vor. Der Roman spielt
in einer Zeit, die „der Einschnitt zwischen der schon abgestorbenen unerlösten antiken
Welt und der noch nicht anhebenden (durch Christus) erlösten Welt“17 ist. Eine Gegenwart,
ein Jetzt, ist nicht vorhanden, „weil es keine Verbindung mehr zu einer abgetanen
Vergangenheit und keine zu einer noch nicht sichtbar und denkbar werdenden Zukunft
gibt“18.
2.
Anspielung und Leitmotiv:
Unter Leitmotiv ist „eine inhaltliche, zur stehenden Form gewordene Wendung“19 zu
verstehen. Das Leitmotiv ergibt sich immer unter bestimmten Umständen, so dass der
Leser es als bekannt wahrnimmt. Auf diese Weise wird dem Leser „ein perspektivischer
Durchblick durch die Dichte der Handlung “20 gegeben. Obwohl das Leitmotiv unter
gleichen Bedingungen vorkommt, ist dessen Bedeutung niemals identisch. Es wird von
verschiedenen Phasen beeinflusst und gewinnt damit an neuer Bedeutung.
3.
Die autonome Setzung:
Die autonome Setzung setzt sich mithilfe der Montage durch. „Assoziationen treten
16
Ebd. S. 84.
17Holl,
18
19
20
Oskar: Der Roman als Funktion und Überwindung der Zeit, Bonn 1968, S. 204.
Ebd. S. 204.
Ebd. S. 207.
Ebd. S. 207.
9
an die Stelle strenger Notwendigkeit.“21
Neben den oben genannten Wegen, verschiedene Zeitschichten zu integrieren,
gehören auch der innere Monolog und die erlebte Rede dazu. Ein innerer Monolog ist „die
Wiedergabe von in Wirklichkeit unausgesprochenen Gedanken, Assoziationen, Ahnungen
der Personen in Sprache, direkter Ich-Form“.22 Und die erlebte Rede stellt dar, wie die
Reden im Bewusstsein der Figuren aufgenommen werden.23
21
22
23
Ebd. S. 214.
Gero, Wilpert von: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 1979, S. 371.
Vgl. Ebd. S. 371.
10
4. Die Möglichkeiten zur Konstituierung der Zeit
4.1. Kaleidoskop
Ingrid Riedel geht im Artikel Johnsons Darstellungsmittel und Kubismus auf die
Übertragung vom Kubismus in die literarische Komposition ein. „Die formale Invention
des Kubismus besteht vor allem in der Neukomposition der Bildfläche, aperspektivisch,
more geometrico, zu einem fugenlosen flächenhaften Strukturgeflecht eigener Logik.“24
Die literarische Kompositionstechnik, die gleiche Sache aus vielen Blickwinkeln
darzustellen, ist der polyperspektivischen Kompositionsweise des Kubismus ähnlich. 25
„Der Verteilung der Erzählfunktion an mehrere Sprecher entspricht die Auffächerung der
Darstellung in verschiedene Perspektiven und Dimensionen.“26
In Bölls Roman Billard um halbzehn fehlt ein allwissender Erzähler. Mehrere Figuren
treten auf und kommen zu Wort. Innerhalb einer Rahmenhandlung muss man selbst aus
den Erinnerungen der Figuren eine vollständige und einheitliche Geschichte der
vergangenen 50 Jahre errichten. Die Rahmenhandlung bleibt nahezu chronologisch außer
dem Kapitel 13, mit dem ich mich später noch beschäftigen werde. Aber die Erinnerungen
der Figuren verzichten sowohl zeitlich als auch räumlich auf den linearen Verlauf. Die
erinnerten Ereignisse sind bruchstückhaft und werden als wichtige Stationen aus der
Vergangenheit gewählt.
„Gebrochen in der Erinnerung verschiedener Romanfiguren, werden so die
entscheidenden Stationen jener Familiengeschichte, vergegenwärtigt.“ 27 Im Roman
werden einige wichtige Angelegenheiten aus verschiedenen Perspektiven der Figuren
mehrmals dargestellt. Es vervollständigt die Geschichte von Fähmels Familie. Die
Erinnerungen an das gleiche Ereignis wirken wie ein Kaleidoskop. Aus unterschiedlichen
Sichten, sei es ausführlich oder lapidar dargestellt, wird ein Ereignis vollständig und
vielseitig.
24
Riedel, Ingrid: Johnsons Darstellungsmittel und der Kubismus. In: Über Uwe Johnson, Frankfurt am Main 1982,S.
60.
25 Vgl. Ebd., S. 61.
26 Ebd. S. 61.
27 Vogt, Jochen: Heinrich Böll, München 1978, S. 65.
11

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