1 fc union berlin aufnaeher

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1 fc union berlin aufnaeher
Victoria Schwenzer
Fußball als kulturelles Ereignis: Eine ethnologische Untersuchung am Beispiel des 1. FC
Union Berlin
1. Einleitung
1. FC Union Berlin : BFC Dynamo, Alte Försterei Berlin-Köpenick (Oberschöneweide)
8.5.1999
Die Stimmung ist angespannt. Der FC Berlin firmiert wieder unter seinem alten Namen BFC
Dynamo, und das Spiel gegen Union ist das erste Heimspiel nach der Rückbenennung.
Gleichzeitig ist es für Union das letzte Heimspiel der Saison 1998/99 . Nach einer stattlichen
Reihe von Niederlagen ist der Aufstieg in die zweite Bundesliga verspielt, die Fans sind
enttäuscht. Aber auch wenn der Gewinn dieses Spieles hinsichtlich des Aufstiegs nichts mehr
bedeutet, ist dieses letzte Heimspiel doch von außerordentlicher Wichtigkeit.
In den letzten Tagen hatten mich verschiedene Unionfans, die ich traf oder mit denen ich
telefonierte, auf die Umbenennung angesprochen und zeigten sich entrüstet. Auch wenn alle
Unioner, die ich kenne, stets vom BFC redeten und niemals vom FC Berlin, wird der
Namenswechsel in der Selbstbezeichnung zur Provokation.
Nach Tagen voller Sonnenschein regnet es ausgerechnet heute. Der Gästeblock ist zum ersten
Mal in dieser Saison weiträumig abgesperrt. Die Gäste haben die gesamte Front hinter dem
Tor mit ihren Transparenten markiert: Neben den Transparenten, die auch bei Heimspielen
des BFC zu sehen sind und an das Image des Clubs anknüpfen ("BFC - die Legende lebt")
haben die Gäste auch extra Transparente für das heutige Ereignis angefertigt: "Wer verdient
nur Spott und Hohn? Der erste FC Kölmillion"1 ist da zum Beispiel zu lesen.
Vor dem Anpfiff verteilen jugendliche Unionfans unbedruckte Kassenrollen. Zur Begrüßung
der Spieler bewegen sich so weiße Papierschlangen durch die Luft und über den Rasen. Im
Block hinter dem Tor werden außerdem noch Papierschnipsel in die Luft geworfen.
Doch die zelebrierte Festtagsstimmung hält nur kurze Zeit an. In den ersten zehn Minuten
fällt bereits das 0:1 für den BFC. Da der Mannschaft kaum ein Spielzug gelingt und sie noch
schlechter spielt als bei den vergangenen Begegnungen, macht sich Enttäuschung breit.
Trotzdem gibt im Block O niemand die Hoffnung auf - Tim hat schließlich geträumt, dass
Union 10:1 gewinnt. Er beruhigt die Umstehenden mit dem Hinweis, dass ja jetzt nur noch
die 10 weiteren Tore fehlen würden. Harry und sein Freund packen das ganze Repertoire an
BFC Sprüchen aus, das ihnen einfällt. Da Harry eine tragende Stimme hat, klinken sich die
anderen ein: "Ra, Ra, Rasputin, Scheiß Dynamo Ostberlin" ist im Chor zu hören. Dann wird
gemeinsam abwechselnd "Stasi-Zombies!" und "Ohne Mielke habt ihr keine Chance!"
gebrüllt.
Aufgrund des schlechten Spiels ist die Stimmung in der Halbzeitpause gedämpft. Auch die
zweite Halbzeit bringt keine Verbesserung. Die wenigen Schüsse auf das Tor werden mit
"Eisern Union"-Rufen unterstützt, die aber bald wieder verhallen. Harrys Freund regt sich
auf: "Mensch, das kann doch nicht wahr sein, dass die Stasischweine besser und mit mehr
Herz spielen als wir!" brüllt er.
Als das 0:2 fällt, bricht unbändiger Jubel im Gästeblock aus. Dort wird gefeiert, gebrüllt,
skandiert, gehüpft. Der Block hält geschlossen buntes Papier in die Höhe, bengalische Feuer
werden gezündet, die den Block kurzfristig in Nebel hüllen. "Dynamo, Dynamo" schreien die
BFCer, und die Unioner scheinen so fassungslos, dass die spärlichen Versuche, die Gäste zu
übertönen, nicht mehr gelingen.
Harry macht einen Witz, über den nicht mal er richtig lachen kann: "Mensch, regt euch doch
nicht so auf, war doch nur ein Spiel!". Daraufhin erntet er eine Mischung aus müdem
Lächeln und eiskalten Schweigen: Jedem war klar, dass es sich eben nicht einfach um ein
Spiel handelte, sondern dass viel mehr zur Disposition stand, und niemand konnte in diesem
Fall genug Selbstironie aufbringen, die nötig gewesen wäre, um über den Witz zu lachen.2
Nachtrag:
Inzwischen, im Frühsommer 2001, hat sich das Blatt gewendet - Union ist Tabellenführer der
Regionalliga Nord und hat damit den Aufstieg in die zweite Bundesliga geschafft. Außerdem
stand der Club nach einer erstaunlichen Siegesserie im Endspiel um den DFB-Pokal gegen
den FC Schalke 04 und hat sich als erster Drittligist in der Geschichte des DFB für den
UEFA-Cup qualifiziert. Der BFC dagegen spielt zur Zeit in der vierten Liga und hat mit
großen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen.
Mehr als ein Spiel: Fußball als kulturelles Bedeutungsfeld
In diesem Beitrag möchte ich Fußball als kulturelles Ereignis ins Blickfeld rücken.
Ausgangspunkt für diese ethnologische Herangehensweise an das Forschungsfeld Fußball ist
die Annahme, dass Fußball ein kulturelles Bedeutungsfeld ist, das über sich selbst
hinausweist - also mehr ist als nur ein Spiel.
„Die Welt ist zwar kein Fußball, aber im Fußball, das ist kein Geheimnis, findet sich eine
ganze Menge Welt“(Frei 1994: 153) schreibt der Autor Ror Wolf. Der Satz von der „ganzen
Menge Welt“ wird von ethnologisch oder kulturwissenschaftlich ausgerichteten
Fußballforschern und Fußballessayisten recht häufig zitiert, wenn es darum geht, die
kulturelle Signifikanz des Fußballs zu beschreiben. Denn die Beschäftigung mit Fußball
verspricht, Erkenntnisse über die soziale Welt (oder präziser gesagt: über soziale Welten) zu
ermöglichen, die über das Spiel an sich hinausgehen. Diesen mikroanalytischen Ansatz, bei
dem banale, populäre oder im Sinne einer hochkulturellen Werteskala als unbedeutend
geltende gesellschaftliche Phänomene das Untersuchungsfeld stellen, versteht Clifford Geertz
als einen genuin ethnologischen, wenn er schreibt, „dass sich der Ethnologe typischerweise
(...) umfassenden Interpretationen und abstrakteren Analysen von der sehr intensiven
Bekanntschaft mit äußerst kleinen Dingen her nähert.“ (Geertz 1994:30).
Fußball stellt ein "Forum symbolischer Auseinandersetzungen" (Lindner 1986: 254) dar:
Lokale und regionale Rivalitäten zweier Vereine, die im "Lokalderby" wie dem hier
beschriebenen kulminieren, sind Beispiele dafür, denn sie beruhen auf sozialen und
kulturellen Mythen, die zwar in der sozialen Wirklichkeit verankert sind, diese jedoch
überlagern und mitunter sogar quer zu ihr verlaufen. Der 1. FC Union, der in diesem Beitrag
im Mittelpunkt steht, bündelt eine Fülle von Bildern und symbolischen Bedeutungen - der
Underdog, der Arbeiterverein, der Oppositionsclub - , die sich über die Wende hinweg
tradiert haben und über die eine imaginäre Gemeinschaft konstruiert wird, die
identitätsstiftend wirkt. Diese Gemeinschaftskonstruktion definiert sich gerade auch in
Abgrenzung von dem lokalen Kontrahenten BFC, dessen Präsident Erich Mielke war, und der
zur Sportvereinigung Dynamo der "Schutz- und Sicherungsorgane" (Staatsicherheit,
Volkspolizei und Zoll) gehörte. Der staatlich bevorzugte Berliner Fußballclub Dynamo wurde
zu DDR-Zeiten zehnmal hintereinander Meister, während die "Fahrstuhlmannschaft" Union
oft gegen den Abstieg zu kämpfen hatte. 1990 war der BFC gemäß der politischen Stimmung
bemüht, sich von der eigenen Vergangenheit zu distanzieren: der Verein wurde in FC Berlin
umbenannt. Die Rückbenennung im Mai 1999 kurz vor dem hier geschilderten Lokalderby
hingegen knüpft wieder ungebrochen an die eigene Geschichte an und ist Ausdruck der
symbolischen Beschwörung des vergangenen Erfolgs, die sich auch im Stadion manifestiert,
wie das Transparent "BFC - die Legende lebt" zeigt.
Union kann als Metapher für eine Version ostdeutscher Geschichtserfahrung gelesen werden:
Für viele Union-Fans repräsentiert der Verein das zähe Kämpfen gegen einen übermächtigen
Staat, eine Art Trotzhaltung (Fan zu sein, obwohl man genau weiß, dass man verliert), das
Nicht-Aufgeben auch bei ständigen Niederlagen. Union galt bei den Fans als Symbol für
Widerständigkeit, der BFC dagegen als Inkarnation des DDR-Regimes.
Zur teilnehmenden Beobachtung in der Fußballforschung
In diesem Beitrag sollen jedoch weniger die hier kurz skizzierten kulturellen Mythen3 und
deren Auswirkungen auf die Fanidentität im Vordergrund stehen; ich möchte vielmehr auf der
Basis von ethnographischen Beobachtungen beim 1.FC Union das Fußballspiel als ein
Ereignis beschreiben, das einerseits eine kulturelle Eigengesetzlichkeit aufweist, andererseits
aber auch gesellschaftliche Normen (wie soziale Abstände und geschlechtsspezifische
Rollenmuster) reproduziert. Dieses Spannungsverhältnis, durch das sich das kulturelle
Ereignis Fußball charakterisieren läßt, steht im Mittelpunkt des Beitrags. Dabei sollen auch
die kulturellen Praktiken im Stadion genauer untersucht werden, die zum Teil an den
Vereinsmythos anknüpfen (wie z.B. die oben geschilderte Beschimpfung der BFCer als
"Stasi-Zombies").
Ein mikroanalytischer Ansatz im Geertzschen Sinne bedarf der Methode der teilnehmenden
Beobachtung: Das Ereignis aus der Perspektive der Teilnehmenden (from the „native´s point
of view“) kann nur derjenige untersuchen, der an dem Ereignis sowohl partizipiert als auch
analytischen Abstand wahrt. Ethnologische Fußballforschung verschiebt das für die
teilnehmende Beobachtung notwendige Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Distanz
jedoch zugunsten der Nähe, die - stärker als in weniger emotional besetzten Feldern - die
Voraussetzung für die Forschung darstellt. Aus der teilnehmenden Beobachterin wird leicht
die beobachtende Teilnehmerin - und die für die Forschung notwendige Balance zwischen
persönlicher Verwicklung und analytischer Abstandnahme muss immer wieder hergestellt
werden. Was prinzipiell für jede Feldforschung gilt und zu den biographischen Aspekten des
Feldforschers innerhalb der Ethnologie gehört - dass nämlich "in der ethnographischen
Forschung das wissenschaftliche Interesse in der Regel mit dem emotionalen Interesse des
Forschers einhergeht"(Lindner 1988:105) - potenziert sich in Forschungsfeldern, die - wie
Fußball - in besonderem Maße von Emotionen bestimmt werden: In einer Ethnologie der
Leidenschaften hat ein "kalter Blick"(Bromberger 1995:5) auf das Feld keinen Platz (allein
schon deswegen, weil er von den Informanten nicht geduldet wird).
Diesem Beitrag liegt eine längere teilnehmende Beobachtung zugrunde, die ich während der
Saison 1998/99 an der Alten Försterei, dem Stadion des 1.FC Union, durchführte. Die
Beobachtungen wurden in einem Feldforschungstagebuch festgehalten und durch qualitative
Interviews ergänzt.4 Dabei fließen auch Beobachtungen aus anderen Berliner Fußballstadien
in die Analyse mit ein.
Das Fußballstadion gehört zu den wenigen öffentlichen Orten, an denen die expressive
Darstellung extremer Emotionen möglich ist und kollektiv gefordert wird. Freude und Trauer,
Wut, Entsetzen, Ärger, Hoffnung und Glück liegen hier nahe beieinander. Das Stadion ist wie der kurze Ausschnitt aus dem Feldforschungstagebuch bereits gezeigt hat - nicht nur
Austragungsort eines auf dem Rasen stattfindenden Spektakels, sondern auch der Rahmen für
das expressive und emotionale Spektakel, das auf den Rängen stattfindet. Die Bedeutung des
Publikums wird im folgenden zweiten Kapitel näher beschrieben. Das dritte und vierte
Kapitel hebt vor allem die Eigengesetzlichkeit des Fußballereignisses hervor. Dabei werden
im dritten Kapitel die Inszenierungen des Publikums untersucht, die auf den Rängen
stattfinden. Das vierte Kapitel greift einen Aspekt der Inszenierungskultur heraus, die
Beschimpfungskultur, und interpretiert sie im Sinne der Eigengesetzlichkeit des
Fußballereignisses. Das fünfte und sechste Kapitel beschäftigt sich im Gegensatz zu den
vorherigen Kapiteln mit der Reproduktion gesellschaftlicher Normen. Im fünften Kapitel wird
diskutiert, welchen Ordnungsmustern die Aufteilung des Publikums im Raum folgt und wie
sich soziale Differenzen und Hierarchien im Stadion abbilden. Das sechste Kapitel schließlich
enthält Reflexionen über männliche und weibliche Rollenmuster im Stadion; dabei fließen
auch eigene Feldforschungserfahrungen in die Analyse ein.
2. Bedeutung des Publikums: Fußball als zweifaches Spektakel
Fußball kann - wie oben bereits erwähnt - als ein zweifaches Spektakel verstanden werden,
das sowohl auf dem Rasen selbst als auch auf den Rängen stattfindet. Das Publikum ist ein
konstituierender Bestandteil des Ereignisses – so werden die Fans auch oft als der „zwölfte
Mann“ bezeichnet. Die Handlungen der Fans, die Zuschauer und Darsteller zugleich sind,
sind zwar dem Geschehen auf dem Spielfeld untergeordnet und von ihm abhängig, sie können
jedoch durch ihre Inszenierungen und kulturellen Praktiken auf den Rängen das Spiel
beeinflussen. So haben Auswärtssiege eine andere Qualität als Heimsiege; und ein Publikum,
das durch Schreien, Klatschen und Singen euphorisch seine Mannschaft unterstützt, ist für
den Spielausgang nicht unerheblich - ebenso wie das Ausbuhen, Auspfeifen oder
Beschimpfen einer Mannschaft oder einzelner Spieler durch das eigene Publikum die Spieler
verunsichern oder frustrieren kann.
Auf der Homepage der Fans des 1.FC Union fand beispielsweise zu Beginn der Saison
1999/2000 eine mit Erbitterung und großer Ernsthaftigkeit geführte Diskussion zum Thema
"Unterstützung der Mannschaft" statt. Union hatte zu diesem Zeitpunkt zwar kein einziges
Spiel verloren, aber nur mit großer Mühe und minimalen Toren Spiele gewonnen bzw.
unentschieden gespielt. Die Stimmung auf den Rängen war - im Vergleich zum Beginn der
vergangenen Saison - auf einem Tiefstand. Eine Fraktion der Internet-Schreiber machte eben
diese schlechte Stimmung zu einem großen Teil mitverantwortlich für das langweilige und
wenig engagierte Spiel der Mannschaft, während die andere Fraktion die laue Atmosphäre als
Ergebnis des müden Gekickes auf dem Rasen interpretierte. Während die eine Gruppe die
Fans zur verstärkten, lautstarken Unterstützung der Mannschaft aufforderte, rechtfertigte die
andere Gruppe die Buh-Rufe und Beleidigungen gegen Spieler auf dem Rasen aufgrund des
mangelnden Engagements der Fußballer. "Wir sind Unioner und ihr nicht!" wurde aus einem
Block den Spielern auf dem Rasen öfter zugerufen - die "Höchststrafe", die ein Fan seiner
Mannschaft präsentieren kann, wie ein Internet-Schreiber treffend bemerkte. Diese
Diskussion macht deutlich, wie das Verhältnis zwischen Spielern auf dem Feld und den
Zuschauern auf den Rängen von den Fans selbst gedeutet wird: Es ist als ein interaktives
Verhältnis konzipiert. Beide Seiten stehen zueinander in Beziehung und beeinflussen
einander.
3. Die Inszenierungskultur im Stadion
Zur kulturellen Eigengesetzlichkeit des Fußballereignisses
In den folgenden beiden Kapiteln soll vor allem die Eigengesetzlichkeit des Fußballs
hervorgehoben werden, die das Stadion zu einem besonderen Ort werden läßt, für den eigene
Verhaltensregeln gelten und die dazu führen, dass gesellschaftliche Normen zeitweise außer
Kraft gesetzt werden.
Ein Fußballspiel bricht also auf bestimmte Art und Weise mit der Normalität des Alltags.
Dieser Bruch mit dem Alltag hat eine räumliche und zeitliche Ausprägung - das Stadion als
Ort und der Ablauf des Spiels markieren eine "Zone", in der zum Teil andere Regeln und
Praktiken gelten als außerhalb dieses Rahmens (Kipp 1998:15). Zu diesen Praktiken gehört
beispielsweise, dass man sich verkleidet (z.B. durch Vereinstrikot, Fanschal etc.) und in den
Vereinsfarben bemalt, um die eigene Fanidentität darzustellen und die Mannschaft
symbolisch zu unterstützen: Zu dem DFB-Pokalfinale im Mai 2001 ließen Union-Fans extra
leuchtend rote Perücken produzieren, die in der Weite des Berliner Olympiastadions
symbolisch das eigene Territorium markierten.
Auch die Qualität der Zeit verändert sich im Stadion, da das Spiel einer zeitlichen
Begrenzung unterliegt. Eine einzige Minute kann über Sieg und Niederlage entscheiden, das
Spielgeschehen kann durch einen einzigen kurzen Augenblick eine definitive Wendung
erfahren.5
Der raum-zeitliche Rahmen ist jedoch durchlässig; er kann auf andere Orte (S-Bahn-Fahrt
zum Stadion, Fankneipe, Stadionvorplatz...) ausgedehnt werden und die Zeitlichkeit des 90minütigen Spiels sprengen (z.B. durch frühzeitiges Erscheinen im Stadion zur individuellen
und kollektiven Spielvorbereitung, durch ausgedehnte Feiern nach gewonnenen Spielen...).
Besonders extensiv ist die Ausdehnung dieses raum-zeitlichen Rahmens bei Auswärtsspielen,
die morgens im Zug oder im Auto beginnen und erst abends enden.
Wenn ich hier allerdings von einem Bruch mit dem Alltag spreche - analog kann die Welt der
Fans als die einer "ver-rückten Ordnung" beschrieben werden (Becker und Pilz: 1988) -,
meine ich nicht, dass sich Fußball und Alltag widersprechen, ganz im Gegenteil: Fußball ist
Bestandteil unserer Alltagskultur, und in Fanbiographien ist Fußball in der Regel fest in das
eigene Alltagsleben integriert. Der Bruch bezieht sich eher auf den normativen Aspekt von
Verhaltensweisen in öffentlichen Situationen, die im Stadion u.a. durch die verstärkte
Theatralisierung von sozialen Beziehungen zwischen den Fans zweier gegnerischer
Mannschaften eine Veränderung erfahren.
Neben der oben kurz skizzierten raum-zeitlichen Rahmung unterstreicht auch die Tatsache,
dass Fußballspiele eine gewisse zeitliche und rhythmische Regelmäßigkeit aufweisen, die
Eigengesetzlichkeit des Ereignisses: Die Struktur des Fußballjahres mit Hin- und Rückrunde,
längerer Sommer- und kürzerer Winterpause und den Höhepunkten des Fußballjahres im
Frühling bleibt immer gleich und kehrt jedes Jahr wieder (Bromberger 1998: 296). Für
langjährige Fans wirkt das Fußballjahr strukturierend auf das eigene Leben. Die
Sommerpause wird von vielen Fans mit einer Mischung aus Erleichterung - "Jetzt kann man
sich endlich mal ein bisschen erholen", sagte mir ein Fan des FC Union zu Beginn der
Sommerpause 1998/99 - und Entbehrung erlebt - das Diskussionsforum der Union-Homepage
war während eben jener Sommerpause voll von Äußerungen, die den Beginn der Saison
herbeisehnten. Terminverschiebungen vom Wochenende auf Abendtermine innerhalb der
Woche werden von berufstätigen Union-Fans mit Murren registriert: Das liegt zum einen
daran, dass ein wochentäglicher Abendtermin bedeutet, nach der Arbeit ins Stadion zu hetzen.
Er bricht aber auch mit der Gewohnheit, einen Tag am Wochenende - am besten den Samstag
- im Stadion zu verbringen.6
Formen der Darstellung
Im folgenden möchte ich näher auf die geschilderte Eigengesetzlichkeit des Ereignisses
eingehen. Die Atmosphäre im Stadion wird durch die Darstellungen (performances) der Fans
geprägt, die das Stadion als einen besonderen Raum markieren, der eigene ritualisierte
Handlungen hervorgebracht hat. Performances sind nach Goffman dadurch definiert, dass sie
auf eine Wirkung zielen (Goffman 1991: 18) - sie wollen etwas verändern oder zumindest
einen Eindruck bei denen hinterlassen, die zuschauen. Fußball besteht in diesem Sinne aus
einer doppelt performativen Situation: Auf dem Spielfeld agieren die professionellen
Darsteller, die Fußballspieler; auf den Rängen inszenieren die Fans ihr Spektakel- wobei bei
den Zuschauern (und sicher auch bei den Spielern) die Distanz zur jeweiligen Rolle variiert.
Die Fußballspieler richten ihre Darstellung an die Zuschauer im Stadion und an den
Bildschirmen, um zu unterhalten, die Zuschauer von ihrer Leistung und der der Mannschaft
zu überzeugen und den Verein zum Sieg zu führen (denn an diesen ist der eigene soziale
Aufstieg, finanzielle Prämien und Prestige geknüpft). Die Fans richten ihre Darstellung
sowohl an sich selbst (gemeinsame Darstellung vermittelt ein Gefühl von Einheit) als auch an
die Spieler auf dem Feld, um das Spiel zu beeinflussen, wie auch an die Fans des
gegnerischen Vereins, um Macht zu demonstrieren. Diese Darstellungen werden von den Fans
selbst auch als „Choreographie“ bezeichnet, wobei hier vor allem Formen der geplanten
Inszenierung gemeint sind, wenn z.B. große farbige Fahnen über den Block gezogen werden,
farbiges Papier in die Höhe gehalten wird, bengalische Feuer gezündet werden oder Trommler
das rhythmische Klatschen, die Sprechchöre und Lieder des Fanblocks unterstützen.
Das Geschehen auf den Rängen - besonders das in den Fanblöcken - charakterisiert sich durch
solche geformten Handlungsabläufe einerseits und durch expressive Spontanität andererseits.
Für spontane Emotionen werden feste Formen des Ausdrucks gefunden, die während des
Spiels immer neu reproduziert und im Laufe der Zeit auch verändert, ergänzt und verworfen
werden: Fußballfans sind kreative Bedeutungsproduzenten. So ist beispielsweise der Jubel
nach einem Tor einerseits spontan und lässt individuelle Ausdrucksmöglichkeiten zu,
andererseits ist die Freude aber auch durch Gesten wie das gegenseitige "Abklatschen" an den
Händen oder standardisierte kollektive Anfeuerungsrufe an die Mannschaft hochgradig
formalisiert. Für diese geformten oder formalisierten Handlungsabläufe lässt sich auch der
Begriff der Ritualisierung verwenden. Ritualisierte Handlungen sind jedoch nicht als statische
oder unveränderliche Handlungen misszuverstehen, denn sie beinhalten immer auch die
Möglichkeit zur Adaption an den jeweiligen kulturellen Kontext.7
Ritualisierte Handlungen im Stadion können einen Gemeinschaftsraum konstituieren und
dazu dienen, die Gegenwärtigkeit der (temporären) Gemeinschaft immer wieder neu
herzustellen (Soeffner 1992). Dies wird besonders bei der Welle deutlich, bei der die Fans
nach dem Domino-Prinzip in den Blöcken aufstehen und beide Arme hochreißen. Sie kann als
Versuch interpretiert werden, trotz der Vielzahl an Differenzen eine Einheit herzustellen, was
nicht immer gelingt, da sich einzelne Blöcke dem Ritual entziehen und die "Welle"
unterbrechen. Während vor allem die engagierten Fans in den Fanblöcken eine solche
ritualisierte Handlung initiieren, verweigert sich das eher konsumorientierte
Sitzplatzpublikum oft dieser Inszenierung. Auch gemeinsames Anfeuern der Mannschaft
durch Klatschen und Schreien oder auch das Singen der Hymne hat die Funktion, über alle
Grenzen hinweg eine Einheit zu konstruieren.
Vor allem Standardsituationen (wie Elfmeter, Eckstöße, Freistöße, Tore...) erfordern
bestimmte ritualisierte Handlungen: ein ganzes Verhaltensrepertoire ist an bestimmte
Situationen geknüpft (Kipp 19988: 78-81). Zur Begrüßung ist es z.B. üblich, dass der
Stadionsprecher bei der Verkündung der Aufstellung die Vornamen vorgibt, während die
Fans aus vollem Hals die Nachnamen intonieren. Wird die Aufstellung der gegnerischen
Mannschaft vorgelesen, versuchen die Fans die Namen lauthals mit der Beschimpfung
„Arschloch“ zu übertönen – hier werden bewusst bürgerliche Umgangsformen ignoriert, die
ein höfliches Verhalten in der Öffentlichkeit gegenüber Unbekannten fordern. Die
Beleidigung trifft jedoch weniger den fremden Spieler als Person, er steht vielmehr
symbolisch für den gegnerischen Verein, der durch die Beschimpfung degradiert werden soll.
Die hier aufgeführten ritualisierten Handlungen sind überregional in allen größeren
Fußballstadien zu finden. Vor allem die jüngeren Union- Fans zwischen 15 und 25, die sich
bevorzugt im Block hinter dem Tor aufhalten, nehmen viele ritualisierte Handlungen auf, die
überregional bekannt oder zumindest nicht vereinsspezifisch sind - wie z.B. das Ausstrecken
der Arme und das Wackeln mit den Fingern zur Unterstützung der Spieler bei Eckstößen, das
mit einem Senken und Anheben der Stimme begleitet wird und so den Ball ins Tor tragen
soll. Einige der älteren Fans über 30, die den Verein zu DDR-Zeiten als Kinder und
Jugendliche erlebten, verweigern sich dieser Rituale ("So ein Bundesliga-Scheiß") und
reagieren vor allem dann empfindlich, wenn die jüngeren Fans Lieder singen, die auch beim
BFC, dem Traditionsgegner, üblich sind. Besonders wichtig für diese älteren Fans ist die
Konzeption von Union als einem Verein, der sich von anderen dadurch unterscheidet, dass er
eigene Rituale hervorgebracht hat, die die Besonderheit des Clubs unterstreichen - wie das
"Eisern Union!", das von der Mehrheit der männlichen Fans auf den Stehplätzen mit dem sich
rhythmisch bewegenden, schräg nach vorne ausgestrecktem rechten Arm (wahlweise mit
erhobener Faust oder ausgestrecktem Zeigefinger) zur Unterstützung der Mannschaft laut
brüllend skandiert wird. Das "Eisern Union!" gilt als Markenzeichen der Union-Fans, an das
auch bestimmte Herkunftsmythen geknüpft werden.9
Zur lokalen Inszenierungskultur bei Union gehört vor allem ein vielfältiges Liedrepertoire,
das ebenso der Unterstützung der Mannschaft wie der Stimmung im eigenen Block dient
(wobei auch hier Lieder anderer Vereine in das Standardrepertoire einfließen). Das
Fußballstadion gehört zu den wenigen öffentlichen Orten, an denen kollektiv gesungen wird –
auch dieser kollektive Gesang markiert diesen Ort als einen besonderen, der sich von der
Normalität des Alltags unterscheidet. Der Gesang muss - im Gegensatz zum Auftritt eines
öffentlichen Chors oder zum Ständchen für eine Hochzeitsgesellschaft – nicht schön oder
musikalisch richtig sein (auch Grölen ist erlaubt oder sogar erwünscht), er muss vor allem laut
und engagiert sein. Bekannte Lieder werden meist umgetextet und von Fußballgeneration zu generation weitergegeben und auch verändert; es werden Volkslieder, Schlager und FDJLieder auf diese Art und Weise verfremdet und flexibel eingesetzt. Als im DFB-Pokalfinale
das zweite Tor für Schalke fiel und ein Sieg immer unwahrscheinlicher wurde, wurde
kurzerhand das Lied vom gewonnenen DFB-Pokal umgetextet und (nicht ohne ironisches
Augenzwinkern) davon gesungen, wie Union den UEFA-Cup gewinnt, für den sich der
Verein als erster Drittligist in der Geschichte des DFB qualifiziert hatte.
Die Vereinshymne hat einen besonderen Stellenwert im "Liedgut" der Fans. Als offizielles
Produkt kann sie allerdings in Konkurrenz zu anderen, selbst produzierten Liedern der Fans
und spontanen Beifallsäußerungen stehen. Union-Fans beschwerten sich auf der FanHomepage über das laute Abspielen der seit der Saison 1998/99 geltenden, von Nina Hagen
gesungenen Hymne nach dem Spiel, weil diese ihrer Auffassung nach den eigenen Jubel
übertönte. Inzwischen gehört die Hymne zum allseits akzeptierten Repertoire, die wie bei
anderen Vereinen auch durch das Hochhalten der Fanschals begleitet wird, wenn sie vor und
nach dem Spiel abgespielt wird.
Neben dem Gesang können auch magische Handlungen Teil der Inszenierung sein. Der
Begriff Magie bezieht sich dabei "auf jedes rituelle Element, das auf ein Ziel hinführt"
(Grimes 1998: 129) - das heißt, magische Handlungen zielen auf ein Wirkung ab und haben
einen Transzendenzbezug. Transzendenz ist aber nicht ausschließlich im übernatürlichen
Sinne gemeint, sondern auch im fiktiv-theatralischen - wobei sich hier für mich die Frage
stellt, ob der Glaube an die Wirkung der Handlung ungebrochen sein muss oder auch eine
selbstironische Reflexivität beinhalten kann. Magische Handlungen im Stadion können
individuell oder kollektiv sein - sie sind aber meiner Erfahrung nach selten völlig distanzlos.
Olli beispielsweise geht ungern ohne seine Glocke an die Alte Försterei, die ihm seine
Großmutter geschenkt hat. Hat er die Glocke vergessen (was sehr selten geschieht) oder im
entscheidenden Moment nicht zum Bimmeln gebracht, macht er sich Vorwürfe - aber nicht
ohne über sich selbst zu schmunzeln.
Magische, ritualisierte Handlungen werden jedoch nicht nur innerhalb der Fankultur
praktiziert, sondern auch von den Spielern selbst. Der Torwart von Hertha, Gabor Kiraly, ist
für seine schlabbrigen Jogginghosen bekannt, mit denen er im Tor steht und die er sich extra
anfertigen lässt, weil sie ihm Glück bringen sollen. Bei einem Spiel gegen Freiburg im
Dezember 1999 entgegnete Kiraly den Spott-Gesängen der gegnerischen Fans ("Hässliche
Hose, du hast eine hässliche Hose") mit dem Geständnis: "Meine Hose ist wirklich hässlich,
aber da steckt auch viel Aberglauben drin!"(Berliner Zeitung 13.12.1999).
4. Die kulturelle Eigengesetzlichkeit des Spiels: Beispiel "Beschimpfungen"
Das Verhalten im Stadion ist durch eine ritualisierte, mündlich (skandierte Slogans und
Lieder) und schriftlich (Transparente) artikulierte Beschimpfungskultur gekennzeichnet.
Gegnerische Spieler werden so entpersonalisiert; sie werden zu Figuren, die den Gegner
repräsentieren. Diese Rhetorik der Fans läuft den herrschenden gesellschaftlichen
Vorstellungen des Anstandes und der Höflichkeit zuwider, weil sie das Recht auf körperliche
oder psychische Unversehrtheit negiert. In bestimmten politischen Kontexten können Stadien
zu einem Forum von Gegenöffentlichkeit werden (z.B. im franquistischen Spanien oder in der
DDR). Gleichzeitig werden aber auch patriarchale Normen, soziale Abstände und alltäglicher
Rassismus reproduziert. Die Fans artikulieren also sowohl sozial tabuisierte Werte (wie die
ungezügelte, amoralische Expressivität) als auch gesellschaftskonforme Normen (wie die
rhetorische Akzeptanz sozialer Hierarchien). Die Beschimpfungen drohen dem Gegner mit
physischer Gewalt, versuchen ihn sexuell oder sozial zu degradieren, ihn politisch zu
diffamieren oder aufgrund seiner ethnischen Herkunft zu beleidigen. Für diese fünf
Beschimpfungstypen, die einem derben Humor folgen und nicht nur der Beleidigung des
Gegners, sondern auch der Selbstunterhaltung dienen, möchte ich einige Beispiele nennen.
Verbale physische Angriffe auf Leib und Leben oder auf materielle Güter sind häufig. Die
Fans des 1.FC Barcelona lassen Madrid verbrennen, wenn Real gegen Barca verliert ("Se
quema Madrid, Madrid se quema"). Ein nach einem Foul am Boden liegender Spieler wird in
der Alten Försterei gerne mit spöttischen "Aua, Aua"-Rufen oder dem Slogan "Einbuddeln weiterspielen!" bedacht. Schiedsrichterbeschimpfungen in Form von "Hängt ihn auf, oh hängt
ihn auf, das schwarze Schwein!" sind nicht nur in Berlin-Köpenick populär. Fans suchen sich
oft die "Schwachstellen" einzelner Spieler heraus, die einen Angriff möglich machen: So
wurde Mitte der 90er Jahre beispielsweise ein kahlköpfiger Cottbuser Spieler namens
Konezke an der Alten Försterei als "Chemo-Konezke" verspottet.
Sexuelle Angriffe werfen dem Gegner entweder Homosexualität (BFC zu Union-Fans:
"Schwule von der Wuhle!"10) oder Onanie vor ("Der Riediger, der Riediger, der ist ein
Selbstbefriediger!"11). Sie beziehen sich damit auf einen von der heterosexuellen Norm
ausgehenden gesellschaftskonformen Männlichkeitsentwurf, in dem Homosexualität
Männlichkeit (und damit soziales Prestige) in Frage stellt bzw. die fehlende Partnerin die
mangelnde sexuelle Attraktivität und Männlichkeit des Gegners anzeigt.
Soziale Degradierungen schildern den Gegner z.B. als Obdachlosen - "Ihr seid Sachsen,
asoziale Sachsen, ihr schlaft unter Brücken oder in der Bahnhofsmission..."12. Als Union-Fans
in der Saison 1996/97 stolz ihren neugewonnenen Sponsor besangen ("Nike und Union"),
antworteten die BFC-Fans mit "Aldi und Union" und erinnerten die Unioner spöttisch an ihr
Finanzloch, das trotz Nike bestand. Gleichzeitig spielten die BFCer auf das
"Schmuddelimage" Unions an, das Image der "langhaarigen Penner"13 aus dem
Oberschöneweider Vorstadtproletariat.
Politische Diffamierungen machen nur in einem politisch aufgeladenen Kontext Sinn, bei der
die zwei gegnerischen Vereine zwei unterschiedliche politische Standpunkte repräsentieren.
Unioner haben BFCer zu DDR-Zeiten oft als "Stasi-Zombies", "Stasi-Schweine" oder
"Bullenschweine" beschimpft - Beleidigungen, die zwar heute ihre Repräsentationsgrundlage
verloren haben, aber immer noch angewendet werden (mit und ohne Ironie), denn sie sind
Teil des kollektiven Gedächtnisses des Vereins. Das gleiche gilt für den beliebten Slogan:
"Ohne Mielke habt ihr keine Chance!", der auf die staatliche Bevorzugung des BFC Dynamo
anspielt und der auch heute noch in rhythmischen Singsang auf den Rängen zu hören ist.
Während des Endspiels um den Paul-Rusch-Pokal im Frühjahr 1999, bei dem BFC Dynamo
gegen Türkspor antrat, hatten sich die BFC-Fans eine besonders feinsinnige Provokation
ausgedacht: Ihr Transparent verkündete: "Freiheit für Öcalan!" - zu einer Zeit, als der
Kurdenführer gerade verhaftet worden war und ihm trotz internationaler Proteste die
Todesstrafe drohte. Nun sind die BFC-Fans nicht gerade als Kritiker ethnischer
Diskriminierungen bekannt (eher ganz im Gegenteil: nach dem Spiel kam es zu
ausländerfeindlichen Beschimpfungen und Übergriffen auf türkische Fans). Man kann also
nicht davon ausgehen, dass sie sich tatsächlich für das Schicksal Öcalans interessierten, sie
griffen aber Fragmente eines aktuellen gesellschaftlichen Diskurses auf, um die türkischen
Fans zu provozieren.
Bromberger bringt für diese spielinterne Logik ein deutliches Beispiel: Wenn italienische
Fans (tifosi) einem verletzt am Boden liegenden Spieler zusingen "devi morire" ("du musst
sterben"), wollen sie nicht wirklich, dass er stirbt - "aber der Ton ihres Fluches ist nicht bar
jeder Bedeutung" (Bromberger 1998: 292). Die Rhetorik der Fans erschließt sich zum einen
aus der Logik des Spiels, zu der verbale Attacken dazu gehören, zum anderen aus
gesellschaftlichen Diskursen und Wertsystemen.
Auch rassistische Beschimpfungen - beispielsweise das affenähnliche Grunzen, sobald sich
ein schwarzer Spieler dem Tor nähert, das man in vielen Bundes- und Regionalligastadien
hört und die auch bei Union an der Tagesordnung waren – fügen sich in diese
Eigengesetzlichkeit des Spiels, zu der derbe Beschimpfungen dazugehören, ein. Der UnionFan Olli, der selbst mit einer Lateinamerikanerin verheiratet ist, findet diese Imitation von
Tierlauten, die Schwarze in die Nähe des Animalischen rückt, nicht problematisch. Man wolle
den Gegner doch immer in seinem schwächsten Punkt treffen, argumentiert er. Dass aber
gerade die Hautfarbe eines Spielers als wunder Punkt ausgelotet wird, ist nicht unabhängig
von subjektiven Einstellungen und gesellschaftlichen Diskursen zu erklären und zeugt damit
von rassistischen Denkstrukturen, die individuell und gesellschaftlich verankert sind.14 Es
sind eben gerade nicht nur diejenigen Anhänger, die sich selbst als „rechts“ bezeichnen, die
sich an solchen rassistischen Beschimpfungen beteiligen; Fans unterschiedlicher politischer
Orientierung greifen vielmehr auf ein gesellschaftlich vorhandenes Vorurteilsrepertoire
zurück und setzen es unkritisch für ihre Zwecke ein: für die symbolische Degradierung der
gegnerischen Fans durch die Beschimpfung eines Spielers.
Inzwischen hat hier allerdings ein Gegendiskurs eingesetzt, der diese Art der Beschimpfung
als nicht legitim einstuft - bei dem Spiel gegen Mönchengladbach wurden die aufkommenden
Rufe vom Stadionsprecher unterbunden; im Internet äußerten sich viele Fans positiv zu der
anti-rassistischen Intervention des Sprechers.
Wichtig ist mir hier zu betonen, dass das, was im Stadion passiert, einer kulturellen
Eigengesetzlichkeit folgt, die wiederum nicht unabhängig von gesellschaftlichen Diskursen zu
verstehen ist. Diese Eigengesetzlichkeit muss man aber erst mal als eine solche wahrnehmen.
Otto Schily beispielsweise hat dies offensichtlich nicht verstanden, denn er kritisierte nach
dem Europameisterschafts-Qualifikationsspiel zwischen Deutschland und der Türkei im
Oktober 1999 die türkischen Fans, die sich in der Überzahl befanden, wegen angeblich
"unfairen" Verhaltens: "Dass die türkischen Zuschauer gepfiffen haben, wenn die Deutschen
am Ball waren, finde ich nicht so gut. Sie sollten sich überlegen, ob das fair ist."(Berliner
Zeitung 11.10.1999). Die berichtende Zeitung äußert daraufhin den wohl berechtigten
Verdacht, dass Herr Schily noch nicht sehr viele Fußballspiele besucht hat.
Einerseits ist also die Beschimpfungskultur gerade ein Beispiel dafür, dass im Stadion andere
Normen gelten als außerhalb des Fußballkontextes, weil hier bürgerliche Umgangsformen
außer Kraft gesetzt werden, was die These von der Eigengesetzlichkeit des Spiels stützt: Die
Beschimpfungen haben einen ritualisierten Inszenierungscharakter, der dem Geschehen
Theatralität verleiht. Andererseits offenbaren sich in der Art der Beschimpfungen
Denkstrukturen, die auf die Verfasstheit der Gesellschaft verweisen, die das Fußballstadion
umgibt. Dazu gehören die Reproduktion von gesellschaftlichen Hierarchien genauso wie die
Verwendung von rassistischen und sexistischen Beschimpfungstypen.
5. Ordnung und Differenz: Hierarchien, die sich in den Raum einschreiben
Soziale Distinktion im Raum
Fußball wird als ein gesellschaftliches Feld beschrieben, in dem Hierarchien zeitweise außer
Kraft gesetzt werden - wenn sich z.B. Unbekannte ungeachtet ihrer unterschiedlichen sozialen
Position nach einem Tor in den Armen liegen (Bromberger 1998). Fußball konstruiert
einerseits eine Gemeinschaft, bei der soziale Differenzen zeitweilig keine Rolle spielen (so
wird Heiner Bertram, der Präsident von Union, in der Fankneipe von Fans geduzt) – ein
Aspekt, der die These von der Eigengesetzlichkeit des Spiels unterstützt. Andererseits werden
im Fußballstadion gesellschaftliche Abstände gerade auch sichtbar gemacht.
Nachdem in den vergangenen Kapiteln in erster Linie die Eigengesetzlichkeit des
Fußballspiels im Vordergrund stand, beschäftigen sich die folgenden zwei Kapitel vor allem
mit Aspekten des Spiels, die darauf verweisen, dass im Fußball bestimmte gesellschaftliche
Normen reproduziert werden. Zunächst werden die verschiedenen Hierarchien beschrieben,
die sich in den Raum einschreiben. Darauf folgt ein kleiner Exkurs zur Ausdifferenzierung
der Fanszene, deren Heterogenität im Gegensatz zu der Gemeinschaftskonstruktion steht, die
in ritualisierten Handlungen („Eisern Union!“) und dem Reden über den Verein („Wir
Unioner“) beschworen wird. Zum zweiten wird anhand eigener Forschungserfahrungen die
Reproduktion geschlechtsspezifischer Rollenmuster thematisiert, die im Stadion in der Regel
nicht hinterfragt werden.
Geertz hat in Bezug auf den Hahnenkampf von einer "fokussierten Versammlung" ("focused
gathering") gesprochen, um den Charakter des Publikums genauer zu beschreiben - ein
Begriff, den er bei Goffman entlehnt. Damit wird eine Anzahl von Personen beschrieben "die
durch den Verlauf einer gemeinsamen Aktivität völlig in Anspruch genommen werden und
die über diesen Verlauf miteinander in Beziehung stehen" (Geertz 1994: 218). Die
"fokussierte Versammlung" ist weder eine stabile, klar überschaubare soziale Gruppe noch
eine unstrukturierte, chaotische Masse. Oft wird der Massenbegriff verwendet, wenn es darum
geht, ein Fußballpublikum zu beschreiben. Auch wenn Fußball im Bezug auf seine
Popularität zweifelsfrei ein Massenphänomen ist, ist der Massenbegriff zur Beschreibung des
Publikums irreführend, denn damit wird man der Art der Versammlung im Fußballstadion
nicht gerecht (Kipp 1998: 16). Zum einen gibt es unter den Zuschauern vielfältige soziale
Beziehungen - an der Alten Försterei ist es beispielsweise sehr wichtig, im Stadion seinen
festen Platz zu haben, an dem man sich mit seinen langjährigen Freunden trifft. Zum anderen
findet im Stadion selbst auch soziale Distinktion statt, die in den Raum eingeschrieben ist:
Das ist in größeren Stadien besonders gut sichtbar, in denen Fanblock und Sitzplatzbereich
zwei völlig unterschiedliche soziale Räume markieren, die unterschiedliche Arten der
Teilnahme verlangen.
Der Sozialraum - Bourdieu definiert ihn als "eine Struktur des Nebeneinanders von sozialen
Positionen"(Bourdieu 1991: 26) - realisiert sich im physischen Raum: In einer hierarchisierten
Gesellschaft gibt es keine Räume, die nicht auch soziale Abstände ausdrücken.
Im Stadion bestimmen verschiedene Hierarchien die Raumordnung: die gesellschaftliche
Hierarchie, die Hierarchie der Fußballwelt und die faninterne Hierarchie (Bromberger 1998:
296). Diese Aspekte sollen im folgenden anhand von Beispielen näher erläutert werden.
Formen der Hierarchisierung und Differenzierung
Im Vergleich zur Alten Försterei, dem Stadion des 1. FC Union, weist das Berliner
Olympiastadion für die Saison 1999/2000 18 unterschiedliche Sitzplatzkategorien in acht
verschiedenen Preisklassen zwischen 12 DM (Fankurve) und 75 DM (Haupttribüne) auf. So
findet bereits je nach finanzieller Kapazität eine soziale Zuordnung statt. Außerdem
beherbergt die Ehrentribüne bei besonderen Anlässen Personen des öffentlichen Lebens (oft
Politiker) - eine Tatsache, die die Bedeutung der gesellschaftlichen Hierarchie im Stadion
noch unterstreicht.
Die Wahl des Sitzplatzes ist aber nicht allein von den finanziellen Möglichkeiten abhängig,
wie es die Spanne der Eintrittspreise suggerieren mag: Jeder Zuschauer sucht sich das Milieu
aus, das aufgrund von Alter, sozialer und lokaler Herkunft zu ihm passt. Der französische
Ethnologe Bromberger weist anhand von Beobachtungen bei Olympique Marseille nach, dass
ein langjähriger Fan oft innerhalb eines Stadions eine "Laufbahn" durchmacht (Bromberger
1991: 30-32). Seine eigenen biographischen Etappen spiegeln sich in der Platzwahl nieder; er
kann im Laufe seines Lebens von der Kurve zur Haupttribüne wechseln oder sogar das ganze
Stadion umrunden. In einer Umfrage, die Bromberger 1987 im Stadion bei OM durchführte,
stellte er fest, dass in den unterschiedlichen Sektoren jeweils andere Spieler besonders
populär sind. Die chaotische, lärmende Nordkurve, die hauptsächlich von einem jungen
Publikum der unteren Schichten, darunter viele Einwanderer, bevölkert wird, zog JosephAntoine Bell, den spaßigen, virtuosen und unkalkulierbaren Tormann aus Kamerun, dem
zweiten Helden der 87er Mannschaft , Alain Giresse, vor, welcher als guter Organisator eine
hohe Popularität auf der Haupttribüne genoss, wo ein älteres Publikum anzutreffen ist, das vor
allem aus Geschäftsleuten, Handwerkern und Unternehmern besteht. Die Spieler werden so
zu Trägern unterschiedlicher sozialer Identitäten und bieten den Zuschauern
Identifikationsmöglichkeiten an: Jede soziale Gruppe kann sich den "Helden" aussuchen, der
zu ihr passt, und ihn mit Bedeutungen versehen, die wiederum - im Sinne von Peter Burke eine Grundlage für Mythenbildung darstellen können.
Kleinere Stadien wie die Alte Försterei weisen in der Regel ein weniger heterogenes
Publikum auf als die großen Sportarenen. Bei Union gibt es bislang nur zwei verschiedene
Eintrittspreise (Stehplätze und Sitzplätze); und erst seit der Rückrunde der Saison 2000/01
wurden die Stehplätze in zwei Blöcke unterteilt, die ein Zaun voneinander trennt. Der Block
hinter dem Tor wird tendenziell eher von jüngeren Fans aus dem proletarischen Milieu
besucht, die durch ihr lautstarkes Engagement besonders auffallen, sich aber in Bezug auf ihre
soziale Herkunft nicht deutlich von dem Stehplatzpublikum auf der Geraden unterscheiden.
Die Sitzplatztribüne, in der kürzlich die alten Holzbänke gegen moderne Schalensitze
ausgetauscht wurden, beherbergt vor allem Sponsoren, Angehörige der Spieler, ältere Fans
und Familien - im Zuge des Aufstiegs in die zweite Bundesliga sind hier allerdings noch
stärkere soziale Ausdifferenzierungen zu erwarten.
Eine zweite Form der Hierarchisierung, die sich im Raum niederschlägt, ist die der
Fußballwelt. Die Funktionsträger eines Vereins, die Sponsoren, die Angehörigen, die
Vereinsangestellten haben ihre besonderen Plätze. In den meisten größeren Vereinen gibt es
einen VIP-Raum, der denen, die sich ausweisen können, zur Verfügung steht und sie vom
gemeinen Fan-Volk trennt. Hier vermischt sich die "normale" gesellschaftliche Hierarchie
und die der Fußballwelt. Bei Union können dort Sponsoren bei einem Glas Sekt oder Bier
nach dem Spiel mit dem Präsidenten oder mit einzelnen Spielern plaudern.
Die verstärkte Professionalisierung Unions im Sinne des bundesdeutschen Fußballbetriebes
führte zu weiterer sozialer Distinktion. So brachte der Wechsel von der Saison 1998/99 zur
darauffolgenden eine deutliche "Veredelung" des VIP-Zeltes mit sich: Hostessen,
Tischdecken, Blümchen, warmes Buffet und strenge Eingangskontrollen statt Holzbänke und
belegte Brötchen wie im Vorjahr. Während die alte Sitzplatztribüne, die vor allem aus
unbequemen Holzbänken bestand, nicht einmal Regenschutz bot, präsentiert sich die neue
Tribüne mit Überdachung und separaten Sitzen.
Die dritte Form der Hierarchisierung betrifft die Fan-interne Hierarchie. Aus der Sicht des
Stehplatzpublikums bewähren sich hier diejenigen, die die lautstärksten Anhänger stellen.15
Das Sitzplatzpublikum gilt als bequemes, langweiliges Konsumpublikum, während
"richtiges" Fansein auf den Stehplätzen stattfindet. Bei Union könne man "sich gehen lassen",
sagte mir ein Fan: "Sich-gehen-lassen" ist die Chiffre für eine andere Rolle, als diejenige, die
man in kontrollierten Alltagszusammenhängen spielt. "Sich-gehen-lassen" umfasst den
Einsatz des ganzen Körpers, der der kontrollierten Körperlichkeit des Alltags entzogen ist.
Auf den Stehplätzen ist es eng, die für alltägliches öffentliches Verhalten geltende Norm,
körperlichen Abstand zu wahren, ist hier außer Kraft gesetzt. Die Sitzplätze dagegen stellen
aus der Sicht des Stehplatzpublikum eher den verdienten Ausklang einer engagierten und
bewegten Fankarriere dar: "Wenn wir mal alt und grau sind und im Rollstuhl sitzen, dann
lassen wir uns dahin schieben, aber jetzt ist das doch viel zu langweilig!".
Nicht Sozialprestige aufgrund der gesellschaftlichen Stellung, sondern wirkungsvolle
Inszenierung und langjährige Anhängerschaft ist das Kriterium für die Anerkennung innerhalb
der Fanszene. Während man sich also bewusst vom eher bürgerlichen Sitzplatzpublikum
abgrenzt (dies ist vor allem in größeren Stadien der Fall, bei denen ein sozial heterogenes
Publikum anwesend ist, das sich habituell deutlich unterscheidet), spielen im Fanblock selbst
Differenzen aufgrund der sozialen Herkunft eine untergeordnete Rolle. Der Fanblock wird als
ein Territorium begriffen, auf das man als Gruppe physisch und symbolisch Anspruch erhebt
(die "Eisernen Kameraden" z.B. haben ihren festen Platz im Stadion, der deutlich sichtbar
durch ihre Fahne am Spielfeldrand markiert wird).
Kleiner Exkurs zur Ausdifferenzierung der Fanszene
Einzelne Gruppierungen unterscheiden sich durch die Art ihrer kulturellen Praktiken, durch
Stil, Alter, politische Einstellung und ihr Verhältnis zum Spiel. So wird in der Regel zwischen
Kuttenträgern und Hooligans ("Hools") differenziert - eine Unterscheidung, die die Fans
selber treffen und die in der Forschungsliteratur (Utz und Benke 1997: 102-115) aufgegriffen
wird, die aber meiner Ansicht nach längst nicht das ganze Fan-Spektrum abdeckt.
Kuttenträger sind nach ihrer "Kutte" - in der Regel eine Jeansjacke oder -weste mit einer Fülle
von Aufnähern - benannt, die sie meist als Teil eines spezifischen Fanclubs ausweisen. Diese
Form der Demonstration symbolischer Zugehörigkeit zum Verein und zu bestimmten
Fangruppen ist bei Union schon seit etlichen Jahren aus der Mode gekommen (seit Mitte der
80er Jahre, wie mir ein Union-Fan erklärte, haben die Kuttenträger abgenommen). Stattdessen
schmücken sich vor allem jugendliche Fans mit Vereinstrikots und Schals, während einige
ältere Fans eher auf offensive Symbolik verzichten und sich durch kleinere, subtilere
Zugehörigkeitsembleme auszeichnen (z.B. durch ein Basecap oder eine kleine Vereinsnadel).
Auch hier findet Distinktion statt: Das Prestige eines Fans misst sich unter anderem daran, ob
er "früher" schon dabei war. Mit "früher" ist die Zeit vor der Wende gemeint, in der Union als
"Fahrstuhlmannschaft" immer wieder in die Oberliga aufstieg, um bald darauf wieder
abzusteigen. Mit "früher" sind eine ganze Reihe von Vorstellungen und Erinnerungen
verbunden. Wenn man "früher" dabei war, gehört man zu den "echten Unionern" - ein
Privileg, das mir als westdeutscher Forscherin vorenthalten blieb. Oft hieß es: "Du warst ja
damals nicht dabei...", "Du kannst Dir nicht vorstellen, was früher hier los war!" etc.
Symbolisch drückt sich die langjährige Zugehörigkeit in sehr feinen Unterschieden aus. In
einer Diskussion über Anstecknadeln erfuhr ich, dass es für die Gruppe von langjährigen
Unionern, mit denen ich regelmäßig die Spiele besuchte, von äußerster Wichtigkeit ist, ob es
sich bei der Vereinsnadel, die man am Jackenrevers trägt, um eine alte oder eine neue Nadel
handelt. Erst bei genauem Hinsehen konnte ich den Unterschied erkennen: die neuen Nadeln
aus den 90er Jahren glänzen stärker und sind im Farbton etwas kräftiger. Tim, ein Fan aus der
Gruppe, hat extra 1000 Nadeln im "alten Stil" nachproduzieren lassen, die er an Freunde
vertreibt. Als ich Franz frage, warum denn die alte Nadel so wichtig ist, antwortet er grinsend:
"Weil das bedeutet, dass du, wenn du die trägst, ein alter Unioner bist, der schon so lange
dabei ist. Das war die Nadel, die eben in unserer Kindheit aufkam."
Ältere Fans wie Franz oder Tim (beide etwa Mitte 30), die schon seit über zwanzig Jahren
Union-Fans sind und regelmäßig ins Stadion gehen, übernehmen bei Jüngeren
Sozialisationsfunktionen - den Neulingen werden die Erinnerungen weitergegeben, die die
kollektive Identität des Vereins prägen; kulturelle Praktiken im Stadion werden ihnen
vermittelt, indem sie "vorgelebt" werden. Nach einem Auswärtsspiel in Spandau 1999 nahm
Tim einen etwa 13-jährigen Jungen unter seine Fittiche: In der Kneipe, in die man zur
Spielnachbereitung eingekehrt war, begann er mit den Worten "Pass mal auf, ich erzähle dir
mal, wie das früher alles war", dem Jungen von seinen eigenen Erlebnissen aus den 70er und
80er Jahren zu erzählen. Tim erhob implizit damit den Anspruch, Unions symbolische
Bedeutung dadurch erklären und weitervermitteln zu können.
Auch Altersdifferenzen schlagen sich im Raum nieder - jede Altersgruppe sucht sich den
Platz im Stadion, der am ehesten den eigenen Bedürfnissen entspricht. Während die
langjährigen Fans mitten im Block stehen, ist der Platz der Kinder am Zaun - von dort können
sie direkt auf das Spielfeld schauen, was im Block aufgrund ihrer Körpergröße gar nicht
möglich wäre. Außerdem ist hier Platz zum Toben und Umherrennen. Aus anderen Gründen
stehen hier auch ältere Fans über 50 Jahre, insofern sie nicht auf der Tribüne sitzen: Ein
Geländer ermöglicht ihnen, sich anzulehnen und in dieser bequemen Haltung das Spiel zu
beobachten und zu kommentieren.
Eine besonders auffällige Gruppierung innerhalb der Fanszene sind die Hooligans. Über sie
wurde und wird viel geschrieben, als "brutale Gewalttäter" stehen sie im Mittelpunkt
öffentlichen und medialen Interesses.16 Eine Diskussion über Hooligans muss deshalb auch
deren mediale und wissenschaftliche Repräsentation einschließen, was im Rahmen dieses
Aufsatzes zu weit führen würde. Sie sind hier vielmehr als Gruppierung mit eigenen
symbolischen Ausdrucksmustern (z.B. Markenkleidung, Turnschuhe, kurze Haare...) von
Interesse, die sich von anderen Gruppierungen durch ihren besonderen Stil abgrenzt. Bei
Union ist die relativ kleine Gruppe Hooligans schon etwas "in die Jahre" gekommen bezeichnender Weise arbeitet ein Teil von ihnen seit der Saison 1999/2000 als Ordner im
Stadion. Körperliche Auseinandersetzung finden im Unterschied zu den 80er Jahren nicht im
Stadion statt, sondern an eigens dafür ausgesuchten Orten, an denen man sich mit Hools der
gegnerischen Mannschaft per Handy verabredet.
Mit dem zunehmenden sportlichen Erfolg Unions ist in jüngster Zeit eine Gruppierung in
Aktion getreten, die sich nach dem Vorbild der italienischen Fans „Ultras“ nennt und die auch
in anderen Bundesligastadien anzutreffen ist. Ultras sind durch ein großes Engagement für die
eigene Mannschaft gekennzeichnet: Sie feuern ihren Verein mit vielen visuell-ästhetischen
Mitteln an wie bengalische Feuer und Kurven-Choreographien, die einen hohen
Organisationsaufwand erfordern. Die bereits erwähnte Fahne, die bei dem DFB-Halbfinale
2001 über den Fanblock gezogen wurde, ist auf Initiative der Ultras entstanden.
Auch politische Differenzen, die sich bei Union eher in unterschiedlichen Lebensstilen
ausdrücken als in politischen Meinungsverschiedenheiten (letztere existieren zwar, werden
aber eher selten artikuliert - in dieser Hinsicht gibt es eine Art "Nichtangriffspakt" zwischen
Rechten und Linken17), tragen zur sichtbaren Differenzierung der Fanszene bei. Kleinere
Provokationen werden an der Alten Försterei jedoch in der Regel mit einem nachsichtigen,
überlegenen Grinsen quittiert. Selten kommt es zu inhaltlichen Diskussionen, manchmal
werden Konflikte durch körperliche Auseinandersetzung gelöst.
Teile des Fanclubs der "Eisernen Kameraden", mit Bomber- und Baseballjacken bekleidete
Kurzhaarige, die zum rechten Fanspektrum zählen und bei einem Spiel um den Paul-RuschPokal auf dem Nebenplatz an der Alten Försterei in der Nähe der linksorientierten
"Schärfsten" standen, begannen während des Spiels, ein Liedchen anzustimmen: "Langhaarige
Drecksäue, wir singen: langhaarige Drecksäue!". "Die Schärfsten" - viele von ihnen in der Tat
langhaarig und mit schweren Lederjacken oder Parkas bekleidet - schleuderten ein paar wüste
Schimpfwörter und obszöne Gesten in die entsprechende Richtung. Damit war der Konflikt
vorerst beendet.
Die hier beschriebene Heterogenität der Fanszene steht im Gegensatz zur Konstruktion einer
Fangemeinschaft, die durch ritualisierte Handlungen (wie das kollektive „Eisern Union!“) und
durch das Reden über den Verein hergestellt und bekräftigt werden. Der Glaube an die
gemeinsame Fanidentität kann auch als Ressource dienen, um offensichtlich gewordene
Differenzen zu überbrücken oder zu nivellieren. Bei einer Prügelei in der Fankneipe
„Abseitsfalle“ zwischen einem linken und einem rechten Fußballfan im Winter 1998
versuchten die Umstehenden die Streitenden jeweils mit den Worten „Lass mal, der ist doch
auch Unioner“ zu beruhigen.
6. Fußball und Männlichkeit: geschlechtsspezifische Rollenmuster im Stadion
Fußball ist in Deutschland ein überwiegend männliches Spiel, in dem Frauen sowohl auf dem
Spielfeld als auch im Publikum eine marginale Rolle einnehmen.18 Die Präsenz der Frauen im
Publikum ist natürlich auch von der lokalen, regionalen und nationalen Fußballtradition
abhängig sowie von der Größe und der soziokulturellen Mischung des Vereins.
Dass eine Frau sich für Fußball interessiert, ist nicht nur an der Alten Försterei ein eher
ungewöhnliches Phänomen. Frauen stehen - anders als Männer - beim Thema Fußball unter
einem spezifischen Legitimationszwang - sie müssen ihre Kompetenz erst unter Beweis
stellen. Als ich mit ein paar Fans aus dem Ruhrgebiet zu einem Auswärtsspiel ihrer
Mannschaft unterwegs war, wurde ich beim Einsteigen ins Auto mit einem Grinsen gefragt,
ob ich denn wisse, was Abseits sei. Meiner Irritation ob der halb ernst, halb scherzhaft
gemeinten Frage wurde das scheinbar unschlagbare Argument entgegengehalten: "Du musst
uns das jetzt erklären, weil du eine Frau bist!".
Fußball ist in hohem Maße ein geschlechtsspezifisches Feld, das bestimmte Rollenmuster für
Mann und Frau bereitstellt; dabei werden diese Rollenmuster nicht nur durch die jeweilige
Fußballtradition bestimmt, sondern auch durch die dem Fußball zugeneigten sozialen Milieus.
Das Spiel selbst als körperbetontes Mannschaftsspiel und Massensport weist im Unterschied
zu bürgerlichen Sportarten wie Tennis oder Golf eine proletarische Markierung auf, auch
wenn inzwischen eine Verbürgerlichung der populären Vergnügung stattgefunden hat19:
Fußball ist Teil der "Eventkultur" geworden; große erfolgreiche Vereine ziehen verstärkt
Mittelschichten mit ihrem Wunsch nach Unterhaltung an. Diese stärkere soziale
Ausdifferenzierung im Stadion hat auch die Präsenz der Frauen auf den Rängen erhöht.
An der Alten Försterei jedoch herrschte zur Zeit meiner Feldforschung ein proletarisches
Publikum vor; die Zahl der Frauen war eher gering. Dies mag sich in durch die zu
erwartenden steigenden Zuschauerzahlen in der zweiten Liga verändern - zur Zeit meiner
Forschung kamen zwischen 3000 und 5000 Zuschauer in die Alte Försterei; zum Ende der
Saison 2000/2001 liegen die Zahlen schon deutlich höher.
Im folgenden möchte ich anhand eigener empirischer Erfahrungen Rollenmuster beschreiben,
die Männern und Frauen im Stadion zur Verfügung stehen. Sie stehen einerseits für real
existierende Zuschauertypen (insofern sind sie Beschreibungskategorien). Rollenmuster
stecken andererseits Handlungsspielräume ab, denn sie beinhalten Erwartungen an adäquates
männliches und weibliches Verhalten (insofern haben sie die Macht, den sozialen Raum zu
strukturieren).
Auf den Rängen der Alten Försterei begegneten mir drei solcher Muster als Facetten eines
männlichen Zuschauerhabitus (der Experte, der Held, der Enthusiast). Der Experte ist ein weit
verbreiteter Zuschauertypus: Er wird durch sein kaum zu überbietendes Fachwissen
charakterisiert, das unter anderem darin besteht, dass er das Spiel nicht nur kommentierend
begleitet (er ist sein eigener Reporter), sondern auch antizipiert, d.h. bestimmte Spielzüge
voraussieht oder auch einfordert ("Abspielen, Junge, der steht doch ganz frei!", "Bist du denn
blind? Außen!", "Menze, da musst du doch schneller hin!" etc.). Über das aktuelle
Spielgeschehen hinaus verfügt er über ein unglaubliches Detailwissen, was die Vergangenheit
seines Vereins (und zum Teil auch die anderer Vereine) betrifft: Er kann Spielergebnisse
vergangener Begegnungen herunterrattern, Spielaufstellungen nennen und besondere
Vorkommnisse einzelner Spiele eindrucksvoll beschreiben. Der Experte stellt mit seinem
Wissen über Gegenwart und Vergangenheit des Vereins auch Überlegungen für die Zukunft
an: Prognosen über zukünftige Begegnungen, das Abwägen von Aufstiegs- oder
Abstiegschancen, der mögliche Gewinn einer Meisterschaft etc. Experten messen sich oft
gegenseitig, indem sie Wetten über Detailfragen abschließen oder einander mit ihrem Wissen
übertrumpfen. Sie lieben Statistiken: Das jüngst erschiene Buch über den 1.FC Union (Luther
und Willmann: 2000) hat einen Anhang von 23 Seiten mit allgemeinen Daten, Platzierungen
und Tabellen.
Der Held beschreibt einen Zuschauertypus, der sich mir gegenüber vor allem in Erzählungen
über die Vergangenheit ausdrückte: in Geschichten von (meist) körperlichen
Auseinandersetzungen mit anderen Fans. Es sind Geschichten, in denen es um große
Gefahren, um Mut, aber mitunter auch um Angst geht. Eine typische Erzählung handelt von
der Konfrontation mit dem zahlenmäßig überlegenen Gegner (ein Unioner, der alleine am
Bahnsteig steht und unverhofft auf eine Gruppe Chemie Leipzig-Fans trifft, die auf ihn
losstürmen) und der heldenhaften Verteidigung des eigenen Vereins und der eigenen Haut. In
einer solchen Situation wird nicht nur die eigene Männlichkeit unter Beweis gestellt, sondern
auch die Treue zum Verein. In einer anderen Variante der Heldenerzählungen kommt weniger
körperliche Kraft zum Einsatz; der Gegner wird vielmehr durch geschicktes Verhalten
überlistet.
Der Enthusiast beschreibt den Zuschauertyp, der durch lautstarkes Engagement auf den
Rängen auffällt - er ist in das Geschehen leidenschaftlich involviert und bringt diese
Leidenschaft für alle erkennbar zum Ausdruck. Hier ist es von Vorteil, eine tragende, kräftige
Stimme zu haben, um sich Gehör zu verschaffen, Gesänge anzustimmen oder
Beschimpfungen zu skandieren, die wiederum von anderen Fans aufgegriffen werden. Der
Enthusiast benutzt seinen ganzen Körper, um seine Mannschaft zu unterstützen (das schon
beschriebene "Eisern Union!" ist das beste Beispiel dafür); Männlichkeit wird körperlich in
Szene gesetzt. Der Enthusiast ist der Zuschauertypus, der bereits in den vorigen Abschnitten
als charakteristisch für den Fußballfan schlechthin beschrieben wurde. Enthusiasten sind in
der Regel auch gleichzeitig Experten, der Held stellt darüber hinaus für die besonders
Wagemutigen eine Möglichkeit dar, das eigene Fansein zu stilisieren. Stärker als der Experte
sind Held und Enthusiast an ein proletarisches Milieu gebunden, wobei die expressive
Fußballbegeisterung des Enthusiasten inzwischen auch als Facette in den bürgerlichen
Habitus integriert wird. Der Held ist im Unterschied zu dem Experten und dem Enthusiasten
eine Rolle, die vor allem Jugendlichen zur Verfügung steht und denjenigen, für die die
zurückliegende Phase der Jugend eine Ressource für aktuelle Selbststilisierungen darstellt.
Auch Frauen können Expertinnen sein, sie müssen sich jedoch doppelt beweisen: Ihre
Kompetenz wird - anders als bei Männern - leicht in Zweifel gezogen und sie stehen
gleichzeitig unter dem Druck, sich von den Rollen abzugrenzen, die ihnen eigentlich
zugedacht sind.
An mich als Frau wurden im Stadion bestimmte Rollenerwartungen herangetragen (das
schwärmende Mädchen, die zu beschützende Frau, die Begleiterin an der Seite eines
Mannes), auf die hier näher eingegangen werden soll. Als teilnehmende Beobachterin bin ich
keine unbeteiligte Forscherin, die aus gleichsam objektiver Perspektive das Geschehen
beobachtet; ich gehe vielmehr davon aus, dass das Verhältnis von Forscherin und
Forschungsfeld ein interaktives ist, das beide Seiten gestalten. Insofern lassen sich gerade
Rollenzuschreibungen, Stilisierungen und Projektionen, die die eigene Person betreffen,
wieder an das Forschungsfeld zurückbinden.
Während Männer für Fußball schwärmen, schwärmen Frauen für Fußballspieler. In einer der
beiden Fankneipen wurde ich nach dem Spiel von einem Unioner auf Oskar Kosche, den
langjährigen Union-Torwart angesprochen: "Wie findest du Kosche eigentlich?". In der
Annahme, die Frage ziele auf seine fußballerischen Qualitäten, wollte ich gerade zu einer
Antwort ansetzen, als er grinsend und gleichzeitig lauernd - so als wolle er mich absichtsvoll
provozieren - hinzufügte: "Der hat schöne Beine, oder?". Er benutzte das stereotype Bild vom
schwärmenden Mädchen, um mich vor den anderen Fans zu diskreditieren; gleichzeitig hatte
er sich selbst zuvor in Insider-Erzählungen über Hooligan-Konfrontationen als Held
entworfen.
In der Figur des schwärmenden Mädchens verschmelzen männliche Projektionen und
weibliches Rollenverhalten. Die langjährige Unionerin Andrea erzählte mir in einem
Interview, wie sie Achtung und Akzeptanz der männlichen Fans dadurch erlangt hatte, dass
sie im Stadion ihre Kompetenz unter Beweis stellte (also die Expertenrolle einnahm). Sie
grenzte sich explizit von der Rolle des schwärmenden Mädchens ab, die ihr oft nahegelegt
wurde, erzählte aber gleichzeitig, dass während der Pubertät die Schwärmerei für bestimmte
Fußballspieler durchaus zu ihrem Fan-Sein dazugehörte.
Die zu beschützende Frau ist das Gegenstück zur Figur des Helden; darüber hinaus kann der
Held sie auch benutzen, um sein Heldentum unter Beweis zu stellen. Bei einem wichtigen
Auswärtsspiel in Leipzig kommentierte Mario meine Anwesenheit mit den Worten: "Ich finde
das ganz schön Scheiße, dass du mitgekommen bist!". Auf meine perplexe Nachfrage hin
antwortete er: "Weil wir jetzt auf dich aufpassen müssen, das kann hier gefährlich werden!".
Meine Antwort, ich könne gut auf mich selber aufpassen, ließ er nicht gelten. Auch wenn es
zu keinen körperlichen Auseinandersetzungen kam, war ich dann schließlich angesichts des
gigantischen Polizeiaufgebots, das nicht gerade zur Lockerung der ohnehin angespannten
Stimmung beitrug, froh, nicht alleine angereist zu sein. Ich fügte mich also trotz anfänglichen
Protestes in die mir zugedachte Rolle.
Später aktivierte meine Schwangerschaft diese Rolle auch bei Heimspielen. Ein Fan konnte
nicht verstehen, warum ich "in diesem Zustand" ohne männlichen Begleiter zum Fußball ging
- er wollte unbedingt diese Rolle übernehmen und bestand darauf, mich nach dem Spiel nach
Hause zu bringen.
Dies verweist schon auf den nächsten Zuschauertyp. In den ersten Monaten meiner
Feldforschung wurde ich immer wieder gefragt, mit wem ich denn da sei. Die Frage zielt auf
die Frau als Begleiterin eines männlichen Fans: Frauen haben demnach nur ein sekundäres
Interesse an Fußball - als Folge des Interesse des Mannes. Sie verweist zum einen auf eine
soziale Erfahrung, denn Frauen sind an der Alten Försterei eher rar und die meisten kommen
tatsächlich in Begleitung. Zum anderen wird damit auch die Schwierigkeit beschrieben, die
für Frauen darin besteht, sich als Fans zu etablieren, die sie nicht mit der gleichen
Selbstverständlichkeit wie Männer sind.
Auch weibliche Fans wählen sich die Rolle des Experten und des Enthusiasten, die sie jedoch
auf ihre Art und Weise ausgestalten. An der Alten Försterei verwenden Frauen meiner
Beobachtung nach das betont männliche "Eisern Union" nicht, um ihre Mannschaft zu
unterstützen, sie ziehen begeistertes Klatschen oder Jubeln vor. Derbe Beschimpfungen
gehören ebensowenig zu ihrem Unterstützungsrepertoire wie grölende Lieder. Die
Demonstration des Expertenwissens ist weniger ausgeprägt, erfolgt leiser und eher in Form
von gegenseitiger Unterhaltung als in Form von lauten und bestimmten Kommentaren in
Richtung Spielfeld.
Die weiblichen und männlichen Rollenmuster verweisen darauf, wie stark die
Geschlechterordnung das Verhalten rund um das Stadion bestimmt. Anders als Männer, die
auf ein bestimmtes Rollenrepertoire zurückgreifen können, müssen Frauen ihre Rolle im
Stadion aushandeln, wenn sie nicht auf die ihnen zugedachten Rollen zurückgreifen wollen.
In Bezug auf die geschlechtsspezifische Rollenverteilung findet im Stadion kein Bruch mit
dem Alltag statt; im Gegenteil: es werden konventionelle Rollenmuster reproduziert.
7. Schluss
Dieser Beitrag hat Fußball als ein kulturelles Ereignis beschrieben: als ein Spektakel, dass
nicht nur auf dem Rasen, sondern auch auf den Rängen selbst stattfindet. Dabei wurde
das Changieren zwischen der Eigengesetzlichkeit des Spiels, die sich in der
Inszenierungskultur und ihrer raum-zeitlichen Rahmung ausdrückt, und der Übernahme
gesellschaftlicher Ordnungsmuster herausgearbeitet. Wird zum einen durch bunte
Kostümierungen, derbe Beschimpfungen und ritualisierte Handlungen die Normalität des
Alltags durchbrochen, werden doch andererseits auch geschlechtsspezifische Rollenmuster,
gesellschaftliche Hierarchien und Ideologien reproduziert.
Fußball ist ein gesellschaftliches Feld, das eine ganz eigene Kultur hervorgebracht hat, die
gesellschaftliche Konventionen bewusst ignoriert und außer Kraft setzt. Eine rote Perücke bei
einem Spiel zu tragen, sein Gegenüber ungeachtet seines Alters und seiner sozialen Position
zu duzen und dem Spieler auf dem Feld Obszönitäten entgegenzuschleudern gehört zum
Fußballalltag im Fanblock. Im Stadion wird versucht, eine Gemeinschaft herzustellen und
durch ritualisierte Handlungen zu bekräftigen, die eine Vielzahl von Grenzen überwindet. Das
Beschwören der Gemeinsamkeit („Wir sind doch alle Unioner“) kann als Ressource dienen,
um Konflikte zu entschärfen und politische, soziale oder geschlechtsspezifische Differenzen
zu nivellieren. Auf der anderen Seite werden aber gerade auch diese Differenzen bekräftigt.
Dies geschieht bei Union durch die zunehmende Professionalisierung des Vereins, die zu
stärkerer Hierarchisierung im Stadion führt (Sitzplätze vs. Stehplätze, VIP-Zelt), aber auch
durch die Fans selbst, die sich voneinander abgrenzen, indem die verschiedenen
Gruppierungen im Stadion verschiedene Räume (Fanblock hinter dem Tor, Gerade,
Sitzplatztribüne) besetzen. Die Reproduktion von Hierarchien, die im Raum abzulesen sind,
findet ihre Entsprechung auch in der Reproduktion von hierarchischen Rollenmustern, die
Männern und Frauen im Stadion bestimmte Aufgaben zuweisen. Auch bei der
Beschimpfungskultur, die ja gerade die Besonderheit des Ereignisses charakterisiert und
durch die Theatralität der Darstellung fußballspezifische Atmosphäre schafft, wird deutlich,
dass hier aus einem gesellschaftlichen Vorurteilsrepertoire geschöpft wird, das oft unkritisch
übernommen wird. Während in Bezug auf rassistische Beschimpfungen langsam ein
Umbewertungsprozess in Gang kommt, werden sexistische Äußerungen, die vor allem
Homosexuelle diffamieren, noch weitgehend unreflektiert verwendet. Fußball ist also zwar
durch die Hervorbringung einer ganz eigenen und kreativen Kultur charakterisiert, zu der
auch die Beschimpfungen als Teil der Zuschauer-Performance dazugehören, aber eben auch
durch die Übernahme bestimmter gesellschaftlicher Denkstrukturen und Handlungsmuster,
die den Fußball weniger innovativ erscheinen lassen.
1
Dieses Transparent spielt auf den finanzkräftigen Hauptsponsor des 1. FC Union, Michael Kölmel, an.
Der Filmrechtehändler (Kinowelt Medien AG) war 1998 als Sponsor eingestiegen, als Union kurz vor
dem finanziellen (und damit auch sportlichen) Ruin stand. Kölmel geriet in die Schlagzeilen, weil er
sich bei einer ganzen Reihe von Vereinen, die zum Teil in der gleichen Liga spielen, die
Vermarktungsrechte sicherte.
2
Auszug aus dem Forschungstagebuch zum Spiel vom 8.5.1999. Alle Namen wurden geändert.
Weitere Zitate stammen - soweit nicht anders angegeben - aus dem Forschungstagebuch.
3
Wenn ich von einem Mythos spreche, möchte ich - im Sinne Peter Burkes - auf die
Verselbständigung der sozialen und kulturellen Grundlagen des Vereins und deren symbolische
Überhöhung (als der Arbeiterverein, der Oppositionsclub) hinweisen. Ein Mythos bezeichnet nach
Burke eine "Geschichte mit symbolischer Bedeutung, die von stereotypen Begebenheiten und
überlebensgroßen Figuren - Helden oder Schurken - Gebrauch macht."(Burke 1991: 295).
4
Ein erstes Ergebnis dieser Forschung ist die Magisterarbeit "Mehr als ein Spiel: wie sich Fußball
ethnologisch erforschen läßt"(2000), die von Prof. Rolf Lindner am Institut für Europäische Ethnologie
der Humboldt-Universität zu Berlin betreut wurde. Eine Promotion zum 1. FC Union und seinen Fans
ist geplant.
5
Aufgrund dieser raum-zeitlichen Rahmung sind Parallelisierungen zu Übergangsritualen möglich - ein
Aspekt, der aber hier nicht weiter ausgeführt werden soll. Das Konzept der Liminalität, wie es Victor
Turner entwickelt hat (Turner 1989), eignet sich zwar zur Beschreibung von Fußballereignissen,
erscheint mir aber für mein Vorhaben insgesamt zu schematisch.
6
Die Kommerzialisierung und Medialisierung des Fußballs hat hier zu einer verstärkten Verschiebung
der Wochenendtermine und Ausrichtung der Spielpläne auf die Interessen der Fernsehsender geführt.
Die bundesweite Initiative "Pro 15.30" protestiert gegen einen über immer mehr Tage verteilten
Spielplan, der oft zur Folge hat, dass sich Fans für Auswärtsspiele einen Tag Urlaub nehmen müssen.
Die Initiative fordert den gemeinsamen Anstoß am Samstag um 15.30 Uhr - ein Transparent im
Hamburger Volksparkstadion verkündete "Samstag 15.30 - auf Fernsehgelder scheiß ich".
7
Der Ritual-Begriff bezeichnet einen tradierten, geformten Handlungsablauf, einen "Brauch", enthält
aber auch die Bedeutung von "In-Gebrauch-Sein"(Kaschuba 1999: 184). In seiner modernen
Bedeutung wurde er auf vielfältige Handlungen und Handlungsabläufe ausgedehnt, die eine "gewisse
Zeichenhaftigkeit und Formenfestigkeit"(Kaschuba: 185) aufweisen. Ein wichtiges Merkmal der sich
Ende der siebziger Jahre in den USA langsam etablierenden ritual studies ist der Begriff der
Performance bzw. der Ritualisierung. Ritual wird hier weniger als ein sekundäres kulturelles
Phänomen verstanden, dessen Bedeutung außerhalb der Handlung liegt; vielmehr wird durch die
Begriffe Performance und Ritualisierung "die Aufmerksamkeit auf die sinnkonstitutiven Aspekte des
Handelns"(Belliger und Krieger 1998: 10) selbst und den Aspekt der Darstellung, des theatralisierten
Ausdrucks, gelenkt. Dies schließt auch mögliche Veränderungen mit ein.
8
Ich möchte mich an dieser Stelle bei Kathrin Kipp bedanken, deren innovative Arbeit viele
Anregungen zu meiner Forschung lieferte.
9
Über die Herkunft des "Schlachtrufs" kursiert folgende Geschichte unter den Fans: In einer
unbestimmbar fernen Vergangenheit habe ein Schmied bzw. ein Kutscher aus Oberschöneweide die
Köpenicker Fußballjungs mit den Worten: "Nicht weich werden, immer schön eisern bleiben!"
ermutigen wollen; dies sei fortan zum Unterstützungsmotto geworden, das Fans und Spieler aufgriffen.
10
Wuhle ist ein Bach in der unmittelbaren Umgebung des Stadions.
11
Hans-Jürgen Riediger spielte in den 70/80er Jahren beim BFC Dynamo und auch in der DDRNationalmannschaft.
12
Das Lied drückt über die soziale Degradierung hinaus auch eine regionale Arroganz aus. Es existiert
allerdings auch in anderen Stadien in anderen Varianten - bei Union allerdings nur in Bezug auf die
Sachsen.
13
Penner ist ein Synonym für Blueser oder Tramper und bezeichnet eine DDR-Jugend(sub)kultur der
70er und 80er Jahre, die sich u.a. durch ihre langen Haare auszeichnete. Langhaarige dominierten
das Union-Image zu DDR-Zeiten.
14
Bundesweite Fan-Netzwerke gegen Rassismus versuchen, diesen Denkstrukturen
entgegenzuwirken und Fußball in der Öffentlichkeit mit betont anti-rassistischen Konnotationen zu
versehen.
15
In meiner Feldforschung beschäftigte ich mich vor allem mit dem Stehplatzpublikum.
16
Einen fundierten ethnographischen Beitrag zum Thema Hooligans liefert Gary Armstrong
(Armstrong 1998).
17
Inzwischen hat sich eine "Faninitiative gegen Rechts" gebildet, die zur Zeit meiner Feldforschung
noch nicht in Erscheinung trat.
18
Das Frauenfußballverbot wurde erst 1970 vom DFB aufgehoben. Im Gegensatz zu den USA gibt es
in Deutschland keine Profiliga. Dass der Frauenfußball aber zunehmend an Popularität gewinnt, hat
die EM 2001, bei der die deutsche Mannschaft den Titel holte, gezeigt.
19
Wobei hier nicht unerwähnt bleiben soll, dass Fußball zunächst als bürgerliches Spiel in den
englischen Eliteschulen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand.