Der etwas andere Gottesdienst in Upen1 Wo warst du, Gott? Leid

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Der etwas andere Gottesdienst in Upen1 Wo warst du, Gott? Leid
Der etwas andere Gottesdienst in Upen1
Wo warst du, Gott? Leid
Willkommen heißen: Begrüßen an der Tür
Alle Gottesdienstteilnehmer bekommen ein kleines Blatt auf dem eine
Blüte des „Tränenden Herzen“ abgebildet ist. Stifte liegen in den
Bänken.
An einer „Hoffnungsleine“ hängen zahlreiche ausgeschnittene Hände mit Bibelworten (vgl. unten).
Einüben von Liedern und Abkündigungen
Orgelvorspiel
Begrüßung / Hinführung
Wir begrüßen Sie herzlich zu unserem etwas anderen Gottesdienst zum Thema Leid.
Schauen Sie einmal um sich, wer da so alles sitzt.
Vielleicht ist auch jemand, der – möglicherweise genau wie Sie –
schon schweres Leid erfahren hat.
Vielleicht geben Sie sich einen kleinen Gruß oder ein freundliches Zeichen.
Leid/Leiden! Das betrifft uns alle.
Wir haben keine Patentlösungen, anzubieten, geben nur Anregungen...
1
13.3.2004, 17.00 Uhr
Wir wagen uns an dieses Thema, weil wir den Gottesdienst unter
den Augen Gottes feiern können, in den Spuren Jesu Christi und
geleitet durch den Heiligen Geist, der gleichsam den Himmel
über uns öffnet.
Amen
Lied: Der Himmel geht (EG 588 = A 2) als Kanon
Wir schauen auf das Leid: Text und Fotos
Text: Erfahrungsbericht/Klage
Ich frage dich, Gott:
Wo warst du im September letzten Jahres, als 5 junge Menschen,
meine Enkelin und ihr Mann mit ihren Freunden, fröhlich von
einer Feier kamen? Wo innerhalb von Sekunden 2 kleine Kinder
keine Eltern mehr hatten und 2 ihre geliebte Mutti verloren? Wo
heute noch eine junge Frau fragt, warum konnte ich nicht sterben,
damit die Kinder wenigstens noch eine Mutti hätten? Um mich
weinen doch keine Kinder und auch kein Mann! Warum fragt
auch das junge Mädchen von gerade 18 Jahren: Warum habe ich
zu spät die Autobahnabfahrt gesehen und somit den Unfall verursacht? Wie soll ich mit all dem Schrecklichen weiterleben?
kurze Stille
Bilder
Es werden per PowerPoint Bilder (mit Kurzuntertext) zu den folgenden Bereichen gezeigt: Krieg, Hunger, materielle Not, Katastrophen,
Einsamkeit, Krankheit, Gebrechen.
-2-
Stille
Leid ausdrücken
Was lösen die Worte von.... und die Bilder bei Ihnen aus? Betroffenheit? Wut? Hilflosigkeit? Zorn? Und woran erinnern Sie
diese Bilder? Denken Sie an eigenes Leid, an Leid in Ihrer Familie, in ihrer engsten Umgebung?
Wir möchten Sie anregen, das, was Sie bewegt, was Sie niederdrückt, einfach auf das „Tränende Herz“ zu schreiben, das wir
Ihnen als ein Symbol der Trauer, aber auch als ein Symbol von
Gottes Schöpferkraft gegeben haben.
Schreiben Sie einfach ein Wort oder einen Satz über Ihr Leid
oder das in Ihrer Umgebung. Der Zettel ist nur für Sie selbst.
Sie können ihn später mit einem Hoffnungszeichen von unseren
Hoffnungsleinen hier verbinden.
Bild von Beamer weg
Zeit zum Schreiben lassen. Vielleicht hier ruhig eine „Schmerz lösende“ Musik von CD.
Kyrie und Gloria mit EG 597 = B 9
Klagen
Sprecher/in 1:
Wir bringen vor Gott, was uns auf der Seele liegt.
Wir bitten Sie, am Ende jedes Gebetsteils
unsere Klagen mit einem Vers aus dem Lied B 9
auszudrücken.
-3-
Sprecher/in 2
Gott, wir kennen dich als liebenden Gott.
Aber wie sollen wir verstehen,
warum so großes Leid viele Menschen trifft.
Wo warst du Gott, als der tödliche Unfall geschah,
als Kinder ihre Eltern verloren,
als Familien zerrissen wurden?
Wir bitten dich, hör unser Fragen und Klagen:
Alle: Aus der Tiefe rufe ich zu Dir (B9, V.1)
Sprecher/in 1:
Wir kennen dich als heilenden, gnädigen Gott.
Aber warum lässt du Krankheiten zu, die Leben zerstören,
die junge und alte Menschen
in ausweglose Situationen bringen?
Wir bitten dich, öffne deine Ohren unserer Hilflosigkeit:
Alle: Aus der Tiefe rufe ich zu Dir (B9, V.2)
Sprecher/in 2:
Wir kennen dich als gerechten Gott.
Aber warum können Menschen andere quälen,
misshandeln, Gewalt gegen sie ausüben,
als gäbe es dich nicht.
Warum schreitest du nicht ein gegen Armut und Hunger,
gegen die Begehrlichkeit in dieser globalisierten Welt.
Wir flehen dich an, zeig uns Hilfemöglichkeiten:
Alle: Aus der Tiefe rufe ich zu Dir (B9, V.3)
kleine Pause
-4-
Zuspruch
Sprecher/in 1:
Aus der Tiefe rufen wir zu dir.
Nur dir wollen wir vertrauen.
Auf dein Wort wollen wir bauen.2
Alle: Aus der Tiefe rufe ich zu Dir (B9, V.4)
Streitgespräch
Bistrotisch hinstellen. Die beiden kommen unmittelbar am Ende des
Liedes
Sprecherin 3:
Das ist ja ätzend!
Sprecher 4:
Was ist ätzend?
Sprecherin 3:
Wie schnell ihr euch hier mit dem Leid abfindet...
Sprecher 4:
Abfinden? Wie meinst du denn das?
Sprecherin 3:
Hast du die Bilder nicht gesehen?
Also, so elegant, wie ihr hier mit Euerm Lobgesang
zur Tagesordnung übergeht, kann ich mich nicht
mit dem schrecklichen Leid zufrieden geben.
2
In Anlehnung an Vers 4 von „Aus der Tiefe rufe ich zu dir“ (EG 597 = B 9)
-5-
Sprecher 4:
Also, hör mal,
zur Tagesordnung übergehen – das tue ich ja nun nicht.
Sprecherin 3:
Aber wie Gott das alles zulassen kann,
das fragst du dich auch nicht?!
Sprecher 4:
Nein, so schlicht frage ich mich das nicht
– jedenfalls nicht bei allem Leid dieser Welt.
Sprecherin 3:
Was soll denn das heißen: „Nicht bei allem Leid.“
Leid ist Leid. Punkt!
Wenn Gott wirklich so gütig und so allmächtig ist
– wie kann er das zulassen?
Sprecher 4:
Ja, aber ein bisschen differenzieren würde ich da schon.
Sprecherin 3:
Differenzieren, wenn andere leiden!
Das ist so typisch für euch... für euch...
Sprecher 4:
Nun mal langsam.
Meinst du nicht auch,
dass viele Menschen an ihrem Leid auch selbst schuld sind.
Sprecherin 3:
Aha, nun kommt eure alte christliche Masche:
„Leid ist die Strafe für Schuld“.
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Das willst du ja wohl sagen, oder?
Sprecher 4:
So will ich das doch gar nicht sagen. Ich will...
Sprecherin 3:
Na, das würde ich dir aber auch nicht geraten haben.
Jesus hat nämlich den Jüngern eindeutig gesagt:
Leid ist nicht die Strafe für Schuld...
Sprecher 4:
Weiß ich, weiß ich, sehe ich auch so...
Nicht immer...
Sprecherin 3:
Nicht immer, aber immer öfter, was?
Mann, bist du verbohrt...
Sprecher 4:
Nun hör doch zu!
Du hast ja zum Teil recht.
Im Alten Testament kann man das immer wieder lesen:
Gott will die Menschen durch Leiden erziehen.
Von heilsamer Züchtigung oder Läuterung ist da die Rede.
Aber Jesus...
Sprecherin 3:
Eben! Ich sage es doch.
Als damals viele Menschen von einem Turm erschlagen
worden waren, da hat er den Jüngern
– die auch so dahergeredet haben wie du –
denen hat er gesagt:
Meint ihr etwa, dass die achtzehn, die der Turm erschlug,
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schuldiger gewesen sind als alle andern Menschen?
Da warûn sie still, die Schlauberger.
Sprecher 4:
Und trotzdem...
Sprecherin 3:
Du gibst wohl nie auf, was?
Sprecher 4:
Nein.... trotzdem muss man schon etwas genauer hinschauen,
was es für Leid ist.
Ich will ja nicht unbedingt von Schuld sprechen.
Aber verantwortlich sind wir schon
für manches Leid auf dieser Welt.
Sprecherin 3:
Da bin ich aber seeehr gespannt!
Sprecher 4:
Wie ist es denn mit dem Hunger auf dieser Welt?
Sind wir daran nicht mitschuldig?
Sprecherin 3:
Äh, na ja, aber....
Sprecher 4:
Und wie ist es mit Aids?
Ist die moderne Zivilisation dafür nicht mitverantwortlich?
Sprecherin 3:
Schon! Aber du musst doch...
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Sprecher 4:
Und wie ist es mit Rauchen und den Folgen wie Lungenkrebs?
Und mit Hunderten von anderen Zivilisationskrankheiten?
Sprecherin 3:
Ja, aber Gott müsste doch...
Sprecher 4:
Gott müsste doch! Gott müsste doch!
Gott muss gar nichts.
Sprecherin 3:
Was regst du dich denn so auf?
Sprecher 4:
Da muss man sich aufregen.
Immer wollt ihr Gott vors Loch schieben,
auch wenn ihr selbst verantwortlich seid.
Immer fragt ihr erst einmal: „Wie kann Gott das zulassen?“
bevor ihr darüber nachgedacht habt:
Wo ist denn unser Anteil am Leid?
kurze Stille
Sprecherin 3:
Nur eines bedenkst du nicht...
Sprecher 4:
Was denn nun noch?
Sprecherin 3:
Du bedenkst nicht, dass bei manch einem Leid
die einen die Schuld haben und die anderen das Leid.
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Sprecher 4:
Wie? Verstehe ich nicht...
Sprecherin 3:
Für den Hunger in Afrika sind wir mitverantwortlich,
durch die Eroberung damals
und durch unsere Wirtschaftsmacht heute,
das gibst du ja wohl zu.
Aber leiden – leiden, verstehst du? –
leiden tun nicht wir, sondern allein die Kinder dort.
Und die trifft nun wirklich keine Schuld.
beide sind einen Moment still
Sprecherin 3:
Na, da hat es dir die Sprache verschlagen, was?
Es gibt Hunderte von solchen Beispielen,
wo die einen verantwortungslos oder verbrecherisch handeln,
und die anderen leiden.
Zum Beispiel auch in Auschwitz...
Muss man da nicht die Frage stellen:
Warum lässt Gott solches Leid zu?
Warum fällt er denen nicht in den Arm?
Sprecher 4:
Nun ja, aber...
Sprecherin 3:
Und warum lässt er es zu,
dass urplötzlich der Krebs über eine Familie hereinbricht?
Über kleine Kinder sogar!?
Wo ist da die Mitverantwortlichkeit der Beteiligten?
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Sprecher 4:
Also, ich...
Sprecherin 3:
Und warum lässt er es zu,
dass durch einen Glatteis-Unfall
eine ganze Familie ausgerottet wird?
kleine Pause
Sprecher 4:
Vielleicht...
Aber du regst dich ja gleich wieder auf...
Sprecherin 3:
Nein, red nur, ich bin ganz ruhig.
Sprecher 4:
Vielleicht... vielleicht ist das der Preis der Freiheit...
Sprecherin 3:
Was für ein Preis? Und was für eine Freiheit?
Sprecher 4:
Vielleicht ist dies Leiden auf der Welt
eine notwendige Folge unserer Freiheit?
Sprecherin 3:
Wie bitte?
Sprecher 4:
Indem Gott uns als verantwortlich handelnde Menschen
geschaffen hat, hat er sozusagen
das „Gesetz des Handelns“ zum Teil aus der Hand gegeben.
- 11 -
Sprecherin 3:
Unvorstellbar.
Allerdings...
Etwas Ähnliches habe ich schon mal gehört,
ich glaube im Zusammenhang mit dem Holocaust....
Sprecher 4:
Genau, besonders für jüdische Menschen ist es unbegreiflich,
wie ein gütiger und allmächtiger Gott sozusagen gleichgültig dem
Holocaust zusehen konnte.
Manche sagen deshalb,
Gott habe mit der Schöpfung des Menschen
seine eigene Macht sozusagen freiwillig beschränkt.
Sprecherin 3:
Das wäre ja ein ganz anderes Bild von Gott,
als wir es bisher hatten.
Sprecher 4:
Ja, das wäre es wohl.
Sprecherin 3:
Ich kann mich damit nicht zufrieden geben.
Wenn Gott uns
als so aggressive und infame Wesen geschaffen hat,
dann ist es doch letztlich er, der das Leid zulässt.
Für mich unbegreiflich!
Sprecher 4:
Ja, es ist unbegreiflich.
Wir wissen nicht, warum Gott es geschehen lässt!
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Sprecherin 3:
Was? Mehr hast du dazu nicht zu sagen
– mit deiner ganzen Frömmigkeit?
Sprecher 4:
Nein, habe ich nicht.
Gerade mein Glaube sagt mir:
Ich kann dazu nichts Endgültiges sagen.
Es ist ein Geheimnis. Gott hüllt sich in Schweigen.
Zwei Jahrtausende und länger
haben die Menschen darüber nachgedacht,
warum ein gütiger und allmächtiger Gott Leiden zulässt
oder warum er sich selbst so beschränkt.
Und sie haben keine Lösung gefunden.
Sprecherin 3:
Also was wollt ihr Christen den Leuten dann sagen,
wie das Leid erklären?
Sprecher 4:
Nun....
...man könnte ihnen immerhin sagen:
Lasst die Warum-Frage: Warum lässt Gott das zu?
Fragt lieber....
Sprecherin 3:
Aha, jetzt kommt es:
Fragt lieber Wozu? Wozu ist das Leid gut?
Ja, meinst du das?
Sprecher 4:
Ja, das meine ich: Wozu ist das Leid gut?
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Sprecherin 3:
Das kann ja wohl nicht wahr sein.
Dann landest du ja wieder
bei der Züchtigung und der Läuterung.
Leid als Erziehungsmittel Gottes.
Zynisch finde ich das,
besonders wenn ich an die KZ auf der ganzen Welt denke
oder an das Kind, das plötzlich Krebs kriegt:
Sollen etwa seine Eltern damit erzogen werden,
um reifer zu werden?
Sprecher 4:
Nein, so platt meine ich es nicht.
Aber ich weiß von Menschen,
die durch Leid verändert geworden sind,
die zu sich selbst gefunden haben.
Vielleicht dankbarer für das, was sie haben.
Ja, irgendwie reifer...
Sprecherin 3:
Reifer, reifer.
Und das willst du den Eltern des krebskranken Kindes sagen:
Ihr werdet nachher, wenn euer Kind tot ist, reifer sein?
Willst du das wirklich?
Sprecher 4:
Nein, so nicht.
Im Leiden wird man das niemandem sagen.
Aber rückblickend ist es vielleicht für sie selbst so.
Das kann ihnen überhaupt kein Außenstehender sagen.
Solche Erfahrung können die Leidende nur selbst machen.
- 14 -
Nur selbst, allein mit Gott.
Und das dauert sicher lange.
Sprecherin 3:
Mit dem Gott, der das Leiden duldet?!
Der es selbst in der Schöpfung mit angelegt hat?!
Sprecher 4:
Ja, aber der vielleicht im Leiden mit uns ist.
Sprecherin 3:
Im Leiden mit uns?
Was soll denn das heißen?
beiden schauen einen Moment fragend zu den Gottesdienstteilnehmern, gehen dann ab; nehmen den Tisch mit
Meditative Musik (ganz ruhig)
Textlesung3
Wir fragen wie in jedem Gottesdienst:
Was sagt die Bibel zu unserem Problem?
Hören Sie den folgenden Text
aus dem 5. Kapitel des Johannes-Evangeliums
einmal unter der Fragestellung:
Was tut Gott angesichts des Leides?
An einem der jüdischen Feiertage ging Jesus nach Jerusalem.
Dort liegt in der Nähe des Schaftors der Teich Bethesda,
wie er auf Hebräisch genannt wird.
3
Joh 5,1-9a (Hoffnung für alle)
- 15 -
Er ist von fünf Säulenhallen umgeben.
Viele Kranke, Blinde, Gelähmte und Gebrechliche
lagen in diesen Hallen und warteten darauf,
dass sich Wellen auf dem Wasser zeigten.
Von Zeit zu Zeit bewegte nämlich ein Engel Gottes das Wasser.
Wer dann als erster in den Teich kam, der wurde gesund;
ganz gleich, welches Leiden er hatte.
Einer von den Menschen, die dort lagen,
war schon seit achtunddreißig Jahren krank.
Als Jesus ihn sah und hörte,
dass er schon so lange an seiner Krankheit litt,
fragte er ihn: «Willst du gesund werden?»
«Ach Herr», entgegnete der Kranke,
«ich habe niemanden, der mir in den Teich hilft,
wenn sich das Wasser bewegt. Versuche ich es aber allein,
komme ich immer zu spät.»
Da forderte ihn Jesus auf:
«Steh auf, rolle deine Matte zusammen und geh!»
In demselben Augenblick war der Mann geheilt.
Er nahm seine Matte und ging glücklich seines Weges.
Lied: Wo ein Mensch (EG 604= G1, V.1-3)
Predigt
I.
Sie waren ja ganz schön hilflos, die beiden vorhin bei ihrem Gespräch.
Und hilflos sind auch wir angesichts des Leids.
- 16 -
Es scheint so, dass Leid und Schmerz zum Leben dazu gehören.
In der Natur sind sie allgegenwärtig, überfallen die Menschen
ohne jede Schuld.
Ebenso im menschlichen Leben: Schmerzen bei der Geburt und
beim Sterben. Und auch zwischen diesen beiden Polen immer
wieder: tiefe Krisen und Verletzungen, Abschied und Tod.
Und unsere Versuche, dem Leid einen Sinn abzugewinnen,
scheinen wenig erfolgreich.
Leiden als Gottes Strafe, die man nicht abwenden dürfe?
Das ist den meisten von uns völlig unannehmbar, ja zynisch.
Oder Leiden als Züchtigung Gottes, bei der man still halten
muss? Auch diese Vorstellung scheint den meisten von uns aus
einer anderen, weit zurückliegenden Welt zu stammen.
Auch die Vorstellungen, die sagen, Gott sei nur für das Gute zuständig; für das Leid aber sei ein Gegengott, ein Demiurg, der
Teufel verantwortlich – auch das überzeugt uns nicht, wenn wir
die Allmacht Gottes wirklich ernst nehmen.
Und selbst die erhabene Vorstellung, im Ewigen Leben würden
alle Tränen abgewischt, tröstet viele Menschen nicht. Sie fragen:
Wie soll das Ewige Lebe ungeschehen machen, dass ein Kind
hier gefoltert, dass eine Familie durch einen Unfall ausgerottet,
dass ein ganzes Volk im Genozid umgebracht worden ist?
Aber gerade an dieser Stelle stutze ich.
Es macht mich ein Satz sehr nachdenklich, den Oskar Wilde
(überraschend ernst für diesen Spötter) einmal gesagt hat:
Wo Leid ist, da ist geweihte Erde.
Eines Tages wird die Menschheit begreifen, was das heißt.
Vorher weiß sie nichts vom Leben.
Wo Leid ist, da ist geweihte Erde!?
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Wo Leid ist, da geschieht etwas, vielleicht sogar Entscheidendes
zwischen Gott und den Menschen. Wo Leid ist, da bleiben wir
nicht, wie wir waren. Da kommen wir vielleicht in eine neue Beziehung zu ihm.
So mag es durchaus sein, dass wir – rückblickend betrachtet –
durch das Leid innerlich gewachsen sind andere Gaben in uns
entfalten wurden, als es in einem Leben ohne Leid der Fall gewesen wäre.
Ein Rollstuhlfahrer, der sehr gern gesund gewesen wäre, sagte:
„Ich möchte nicht der Mensch sein, der ich geworden wäre,
wenn ich nicht im Rollstuhl sitzen würde.“
So mag es auch durchaus sein, dass wir uns im Leid selbst besser
kennen lernen. Es ist ja kein Zufall, dass alle Großen der Bibel
durch tiefes Leid gegangen sind. Und das gilt auch heute gerade
für die Menschen, die sich aufopferungsvoll für andere einsetzen.
Fast alle haben sie tiefgehende Leid-Erfahrungen.
So kann es – wenn es gut geht – auch geschehen, dass wir durch
Leiden näher zu unserem eigentlichen Lebenskern finden. Es
kann sein, dass wir erst im Leid zu unserer Aufgabe oder zu Gott
finden. Und man sollte das Wort „Not lehrt beten“ nicht mit so
abfälligem Ton zitieren: „Oh, jetzt, woûs ihm schlecht geht, fängt
er damit an“. Nein, freuen können wir uns, wenn das Leid – wenigstens – diese Wirkung hat.
Und so gibt es auch keinen Zweifel, dass wir Menschen einander
besser kennen lernen, wenn wir gemeinsam Leid durchleben, es
teilen (Geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt der Volksmund) dass
wir einander näher kommen, dass wir erkennen, dass Menschen
wichtiger sind als Materielles und dass sich in uns machtvoll der
Wunsch zu helfen meldet.
Aber:
- 18 -
Auch wenn wir– sehr zögernd und immer in der Angst, Leidende
damit zu verletzen – dem Leid etwas Sinn abgewinnen, so müssen wir doch vor manch einem Leid einfach verstummen
mit unseren Erklärungsversuchen, einfach still werden vor der
fast dämonischen Macht, mit der Leid in das Leben einzelner
Menschen oder ganzer Völker eingebrochen ist.
II.
Und Gott hat ihnen dieses Leid nicht erspart, er hat keine leidfreie Welt geschaffen, er hat nicht das Leid im Keim erstickt, er
hat nicht eingegriffen!?
Sondern er sieht zu?!
Sieht er wirklich zu? Unbeteiligt womöglich?
Wir kommen hier zu der die entscheidende Stelle.
Sieht Gott zu oder tut er etwas angesichts des unerklärbaren
Leid?
Die Geschichte von der Heilung am See Betesda weist uns hier
deutlich einen Weg, der viel tröstlicher ist als die Vorstellung,
dass Gott da oben im Himmel sitze und unbeteiligt zuschaue.
Denn:
Erstens: Gott leidet mit.
Zweitens: Er will auch uns, die Unbeteiligten, zum Anteilnehmen, zum Mitleiden und Heilen bewegen.
Das erste: Gott leidet mit.
Wir sehen es in unserem Text.
Jesus hat sich immer wieder den Leidenden zugewandt. Er ging
zu ihnen, war für sie da, richtete sie auf, öffnete ihnen die Ohren,
den Mund und das Herz, heilte sie. Auch am Teich Betesda tut er
das.
Das scheint uns sozusagen ganz normal.
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Aber dass dies eigentlich die Zuwendung Gottes zu uns bedeutet,
das müssen wir uns immer wieder klar machen. Wir nennen Jesus Gottes Sohn, weil er gleichsam Gottes Zuwendung zu uns,
sein Interesse an uns, seine Solidarität zu uns spiegelte.
Im letzten Gottesdienst zum Glaubensbekenntnis (Thema „Vater“) haben wir gesagt: In Jesus sehen wir Gott den Vater, er ist
das Bild des unsichtbaren Gottes, er ist das Fenster zum Vater,
noch deutlicher ausgedrückt: In ihm handelt der Vater.
So auch am Teich Betesda:
Anders als die anderen Menschen dort, die 38 Jahre zugesehen
hatten, wie der Gelähmte sich immer wieder vergeblich zum
Wasser schleppte und jedes Mal zu spät kam – zu spät für das
Leben –, anders als sie wendet sich Jesus ihm sofort zu, nimmt
ihn als leidenden Menschen für voll, nimmt seinen Wunsch nach
Gesundung ernst, gibt sich nicht mit einem scheinbar unabwendbaren Schicksal zufrieden, sondern heilt ihn.
Und das bedeutet, dass Gott selbst sich dieses Menschen angenommen hat, dass er auf der Seite der Leidenden steht, sich ihnen
zuwendet, mit ihnen solidarisch ist.
Am Kreuz Jesu ist dies besonders deutlich geworden.
Wir sprechen davon, dass Jesus hier das Leid und die Schuld der
Welt auf sich genommen hat. Auch hier müssen wir sagen: Gott
selbst ist es, der sie auf sich nehmen und uns abnehmen will.
Elie Wiesel, ein Überlebender des Holocaust, hat dies ergreifend
in einer Geschichte ausgedrückt, die er mit 15 Jahren selbst erlebt hat:
Er erzählt, wie er dabei war, als im KZ zwei Männer und ein
Junge gehängt wurden. Die Gefängnisinsassen mussten das mit
ansehen. Als die beiden schweren Männer schon längst tot waren, kämpfte der Junge mit seinem geringen Körpergewicht im- 20 -
mer noch den Todeskampf. Da fragte ein Mann Elie Wiesel:
„Wo ist Gott? Wo ist er?“ Und Elie Wiesel eine Stimme in sich:
„Dort – dort hängt er! Am Galgen!“
Warum Gott nicht den anderen Weg geht: eine leidfreie Welt zu
schaffen, das Leid gar nicht erst zuzulassen oder es im Keim zu
ersticken, warum er gleichsam seine Macht selbst beschränkt hat
– das wissen wir nicht.
Aber wir wissen nun:
Gott leidet die Schmerzen aller Geschöpfe mit. Er, der sie geschaffen hat, ist gleichsam in jedem Geschöpf, anwesend, nimmt
teil an seinem Geschick, an seinen Schmerzen, seinem Leiden.
Das ist die Botschaft des Kreuzes, und das ist auch die Botschaft
dieser Geschichte vom Teich Betesda.
Vielleicht können wir als Leidende dann das tun, was viele Menschen, die Leid erfahren haben, uns raten:
o das Leid sehen und es nicht verleugnen
o sich ihm stellen und es nicht verdrängen
o zu Gott klagen und um Erleichterung und Halt bitten
o das Leid es später sozusagen auf neue Erfahrungen „durchsuchen“
o mehr, besser lernen, aus dem Dank zu leben für alles, was ich
– trotz allen Leides – habe
Dies alles in dem Bewusstsein, dass Gott mit mir leidet.
III.
Wenn nun jemand sagt: „Das ist ja schön und gut. Aber ich hätte
es gern etwas handfester. Können denn wir Menschen nichts
tun?“ dann können wir ihm noch das Zweite sagen:
Gott will uns Mitmenschen bei sich haben bei seinem MitLeiden.
- 21 -
Auch das zeigt uns die Betesda-Geschichte, – wenn auch gleichsam nur als Negativ-Folie:
Wenn wir 38 Jahre oder auch nur 38 Stunden fremdem Leid zuschauen, verlängern, verschlimmern, vergrößern wir das Leid.
Wenn wir dagegen erkennen, dass Gottes Mit-Leiden, seine Solidarität zu den Leidenden auch in uns lebendig werden will,
dann können wir Leid hindern, mindern, lindern.
Ich glaube – wenn ich es einmal sehr menschlich ausdrücke –
dass Gott das Leiden in dieser Welt nur aushält, weil er auf die
andere Waagschale seine Liebe und sein Mitleiden werfen kann
– und unsere Liebe und unser Mitleiden.
Anders gesagt: Wenn wir heilend wirken, sind wir in „Gottes
Mainstream“, denken wir seine Gedanken, sind wir seine Hände
– oder welche Bilder auch immer wir dafür verwenden wollen.
o Wenn wir das Leid des Nachbarn nicht übersehen,
dann sind wir mit Gott unterwegs.
o Wenn wir einfach für den Leidenden da sind,
da sind wir in der Gegenwart Gottes
o Wenn wir das Leid nicht niederreden oder kleinreden,
sondern zuhören, dann sind wir mit dem Leidenden und Gott
im Gespräch
o Wenn wir den Leidenden ermutigen zu klagen, dann sind wir
in der besten Gesellschaft, nämlich der von Hiob und Jesus,
die Gott sehr nah waren
o Wenn wir ihn ermutigen, zu danken, sich an das Gute zu erinnern und dadurch Kraft zu gewinnen, dann sind wir gemeinsam in Gottes Kraftfeld.
o Und schließlich – um den Bogen ein wenig weiter in die Welt
hinein zu spannen: Wo immer wir uns gegen den Hunger in
der Welt einsetzen, gegen den Krieg, gegen Folter, gehen wir
- 22 -
in den Spuren Jesu. Und das heißt, wir beteiligen uns an Gottes Werk der Liebe.
Unendlich viele können wir tun. Wichtig ist: Wir sind dabei nicht
allein. Gott leidet mit. Und – wenn ich es einmal ganz menschlich ausdrücken darf – er freut sich darüber, dass wir sein Leiden
an dieser Welt mindern.
Amen
Stille
Glaubensbekenntnis4
Wir laden Sie ein, an Stelle des Apostolischen Glaubensbekenntnisses heute ein anderes zu sprechen.
Bitte schlagen Sie in dem Liederbuch W 5 auf.
Viele kennen und lieben dieses Bekenntnis, das Dietrich Bonhoeffer 1944 geschrieben hat, in tiefem Leid, in auswegloser Gefangenschaft, in hoffnungsloser Trennung von seiner Verlobten,
den Tod vor Augen.
Vielleicht lesen Sie es erst einmal still für sich.
kurze Pause
Wenn Sie sich dies Bekenntnis zu eigen machen können,
bitte ich Sie, nun mit mir zu sprechen.
Ich glaube,
Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Siebenstern-Taschenbuch, 2.Aufl.
1965, S. 18f
4
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daß Gott aus allem, auch dem Bösesten
Gutes entstehen lassen kann und will.
Dafür braucht er Menschen,
die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.
Ich glaube,
daß Gott in jeder Notlage
soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen.
Aber er gibt sie nicht im voraus,
damit wir uns nicht auf uns selbst,
sondern auf ihn verlassen.
In solchem Glauben müßte die Angst
vor der Zukunft überwunden sein.
Ich glaube,
daß auch unsere Fehler und Irrtümer
nicht vergeblich sind
und daß es Gott nicht schwerer ist,
mit ihnen fertig zu werden
als mit unseren vermeintlichen Guttaten.
Ich glaube,
daß Gott kein zeitloses Schicksal ist,
sondern daß er auf aufrichtige Gebete
und verantwortliche Taten wartet
und antwortet.
Amen
kurze Pause zum Nachklingen lassen
- 24 -
Siebald-Lied von CD „Nicht vergessen“ Nr. 8
Wir hören ein Lied von Manfred Siebald,
das ein paar unserer Gedanken weiter verfolgt.
Sie sehen den Text zum Mitlesen dort auf der Wand.
Text per PowerPoint auf der Wand
Hoffnung gewinnen und Segen erfahren
Im Altarraum hängen vier „Hoffnungsleinen“ mit ausgeschnittenen
Händen, auf denen biblische Texte stehen, nach locker geordnet
nach den Themen „Trost“, „Zuversicht“, „Das Leid anders sehen“,
„Helfen im Leid“.
Es erscheinen jetzt die auch die vier Gruppen grün/blau/orange/rose
über Beamer
Hoffnungsleine
Wir haben hier vorn vier Hoffnungsleinen.
Auf den Händen finden Sie
nach verschiedenen Farben geordnet:
 grün: Gottes tröstende Hände
vor allem mit biblischen Worten des Trostes
 blaue: Gottes haltende Hände
vor allem mit Zusagen Gottes, die ermutigen
 orange: Gottes leitende Hände
Worte, die uns vielleicht lehren können, andere Seiten des
Leides zu sehen
 rose: Gottes „irdische“ Hände; das sind wir
Aufforderungen an uns,
Leid zu hindern, zu mindern oder zu lindern
Davon gibt es ein paar mehr.
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Wir bitten Sie nun, mit ihrem „Tränenden Herz“ zu diesen Hoffnungsleinen zu gehen und zu schauen, ob Sie ein oder zwei Worte finden, je nach den Schwerpunkten, die Sie besonders ansprechen: Trost oder Zuversicht, eine andere Sicht auf das Leid oder
Aufforderung zur Hilfe.
Sie können diese Worte dann von der Leine nehmen und sie mit
der kleinen Klammer mit ihrem „Tränenden Herz„ verbinden.
Anschließend bitten wir Sie, nach vorn zu kommen und sich in
einen Kreis um den Altar zu stellen.
Wir anderen geben Hilfestellungen zum Abpflücken der Worte; dirigieren dann alle in einen großen Kreis.
Segenskreis
Wir beten gemeinsam mit den Worten,
die Jesus uns geschenkt hat:
Vater unser
Wir wollen nun Segen empfangen und einander weitergeben. 5
Wir bitten Sie, sich jeweils zu zweit einander zuzuwenden.
Wir wollen dann entsprechend dem Text, den wir gleich hören
werden, einander die Hände auflegen. Erst der eine dem anderen.
Dann hören wir den Text noch einmal, und dann legt der andere
seinem Gegenüber die Hände segnend auf.
kleine Pause
Gottes Kraft stärke deinen Rücken,
so dass du aufrecht stehen kannst, wo man dich beugen will.
Hand auf den Rücken legen; kleine Pause
Gottes Zärtlichkeit bewahre deinen Schultern,
5
Nach Claudia Mitscha-Eibl in Liederheft der Europäischen Frauensynode, 1996, S.46
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so dass die Lasten, die du trägst, dich nicht niederdrücken.
Hand auf die Schulter legen; kleine Pause
Gottes Weisheit bewege deinen Nacken,
so dass du ihn deinen Kopf frei heben kannst und ihn frei
dorthin neigen kannst, wo deine Zuneigung gebraucht wird.
Hand auf den Nacken legen; kleine Pause
Von Gott geschenkte Zuversicht erfülle deine Stimme,
so dass du sie erheben kannst laut und klar.
Hand an den Hals legen; kleine Pause
Gottes Sorgfalt behüte deine Hände,
so dass du berühren kannst sanft und bestimmt.
Hand auf eine Hand legen; kleine Pause
Gottes Segen sei mit dir.
Kreuzzeichen
Und nun bitten wir Sie, sich mit vertauschten Rollen
diesen Segen noch einmal zuzusprechen und zu empfangen.
Text von vorn wiederholen
am Ende fassen sich alle an:
Amen
alle setzen sich
Lied Von guten Mächten (F 3)
Knabbern und Plaudern
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