Ernst Köhler „Zweitklassige Krisenzone“ Über die Zukunft des Balkan
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Ernst Köhler „Zweitklassige Krisenzone“ Über die Zukunft des Balkan
Ernst Köhler „Zweitklassige Krisenzone“ Über die Zukunft des Balkan „Zweitklassige Krisenzone“ – die Formulierung stammt von Shkelzen Maliqi, einem auch bei uns bekannten Philosophen und Publizisten in Prishtina. Er hat sie vor zwei oder drei Jahren mir gegenüber einmal im Gespräch benutzt. Gemeint ist natürlich die Region heute, im Rückblick auf die 90er Jahre und im Vergleich mit anderen Krisengebieten in der Welt. Aber Nachdenken über den den Balkan heißt nicht nur Verzicht auf reißerische Töne und unangemessene Dramatisierung. Es verlangt auch einen Blick auf uns selbst. Bei diesem Thema sieht man sich unweigerlich gleich mit zwei Unsicherheiten konfrontiert. Die Entwicklung Bosnien-Herzegowinas, Serbiens, des Kosovo, um nur diese drei Länder zu nennen, ist ungesichert, aber das Verantwortungsbewußtsein der EU und des Westens dieser Region gegenüber ist es auch. Am 1. Oktober hat Bosnien-Herzegowina gewählt so wie Österreich. Über die Wahlen in Österreich ist in den ZDF- und ARD-Abendnachrichten ausführlich berichtet worden – die in Bosnien sahen sich hingegen mit keinem Wort erwähnt. Aber wir wollen nicht kleinlich sein. Ich gebe Ihnen hier einleitend zwei knochenharte Beispiele dafür, was für unsichere Kantonisten wir selber sind. Das erste stammt von Erich Rathfelder, einem ausgewiesenen Kenner der Region, dem alle billigen Übertreibungen fremd sind. In seinem neuen Buch über Bosnien-Herzegowina „Schnittpunkt Sarajevo“ (Berlin 2006) berichtet er von einem Kongreß in Sarajevo über den Völkermord in Srebrenica – 10 Jahre danach: „Die unendlich lange Liste der über drei Tage lang ihre Statements vortragenden internationalen Sozialwissenschaftler leuchtet alle Ereignisse in und um Srebenica aus. Man weiß jetzt fast alles über die Massaker. Auch die Verantwortlichkeiten scheinen klargestellt. Nicht zuletzt die Verhandlungen vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gegen die hohen serbischen Offiziere deckten die Mechanismen der serbischen Verbrechen auf...Doch seltsamerweise sprechen nur wenige Wissenschaftler von der internationalen Verantwortung an dem Massaker. Daß die Geheimdienste der Natostaaten über die Pläne der Serben informiert waren, daß Luftaufnahmen Tage zuvor sogar frisch ausgehobene Gruben zeigten, daran will offenbar niemand gerne erinnert werden. Erinnern will man auch nicht an die inzwischen gesicherten Erkenntnisse über die politisch und militärisch Verantwortlichen der Vereinten Nationen, den Stellvertreter des Generalsekretärs, Yakusi Akashi, und den Oberkommandierenden der UN-Truppen, General Bernard Janvier, die alle jene in den internationalen Apparaten blockierten, die der mörderischen Offensive der Serben auf die UN-Schutzzone mit einer Militäraktion entgegentreten wollten.“ Wer, welche Macht, welche Entscheidung, welches Interesse im Westen ist dafür verantwortlich, daß Ratko Mladic und Radovan Karadzic bis heute frei sind? Die Machthaber in Belgrad und Banja Luka müssen die ganzen Jahre über Komplizen im Westen gehabt haben.Was Karadzic betrifft, ist nach Auskunft von Carla del Ponte auch niemand mehr hinter ihm her. Das Gedenken an „Srebrenica“ als dem größten Mordverbrechen seit dem Zweiten Krieg mutet inzwischen wie gestanzt an. Die Formel unterschlägt, daß nach den Untersuchungen des von Mirsad Tokaca gegründeten unabhängigen Forschungs- und Dokumentationszentrums in Sarajevo zwei Drittel aller Toten des bosnischen Kriegs im Jahr 1992 registriert wurden, also im ersten Kriegsjahr. „Die Statistik ergibt eine signifikante Häufung in dem damals mehrheitlich von Bosnjaken besiedelten Ostbosnien unmittelbar nach Kriegsausbruch in den Monaten April bis Juni.“ (NZZ, 04.10.06) Haben wir hier etwa wieder eine öffentliche Stilisierung oder schuldabwehrende Sprachregelung vor uns, wie wir sie schon aus Deutschland kennen? Die politische Tragweite eines solchen Umgangs mit der jüngsten Vergangenheit mag dahingestellt sein. Die Maxime „Ihr müßt endlich nach vorne blicken“, die von vielen Internationalen in Bosnien-Herzegowina oder auch im Kosovo seit Jahren unentwegt zu hören ist, klingt in diesem Kontext jedenfalls falsch – verletzend falsch, wenn der seichte Pragmatismus zur „Versöhnung“ auffordert. Empörend falsch, wenn er autoritär, gebieterisch verlangt, sich ein für allemal mit der „Republika Srpska“ abzufinden. Aber ich greife vor. Das zweite Beispiel für ein Europa im Zwielicht, für ein Europa von ungewissem Verantwortungsbewußtsein, ist anders gelagert. Wir verdanken es der jüngsten Kosovo-Studie der European Stability Initiative (ESI), einem angesehenen Think Tank: „Cutting the lifeline“ (18.September 2006, Berlin und Istambul). Die Rettungsleine, die man hier kappt, ist die massenhafte Arbeitsemigration junger Männer aus dem ländlichen Kosovo nach Westen: nach Deutschland, in die Schweiz, nach Österreich. Sie hat über Jahrzehnte die Armut in diesen Dörfern gemildert. Seit dem Ende des Kosovo-Konfliktes 1999 sieht sie sich systematisch unterbunden – bis auf die Familienzusammenführung. Allein Deutschland hat seit 1999 100 000 Kosovo-Albaner abgeschoben. Die Transferleistungen von Generationen von albanischen Arbeitnehmern nach Hause haben den Lebensstandard sichern und erhöhen helfen. Aber sie haben keine neue und nachhaltige ökonomische Dynamik auf dem Land in Gang gesetzt. Und sie haben auch die patriarchalische Großfamilie nicht angerührt, in der die verheirateten Söhne im Haus bleiben und die wenigsten Frauen selber berufstätig sind – ein Sonderfall im ehemaligen Jugoslawien und auf dem Balkan, wo diese Lebensform sonst nirgends die Epoche des Sozialismus überdauert hat. Weder in der EU noch auch in Prishtina selbst scheint diese sich längst in aller Deutlichkeit abzeichnende Krisensitation bislang ein politisches Thema zu sein. Das Kosovo hat die höchste Geburtsrate Europas. Wo aber sollen die jedes Jahr in großer Zahl heranreifenden jungen Menschen arbeiten, wenn es im Kosovo selber keinen aufnahmefähigen Arbeitsmarkt gibt, in der ländlichen Provinz schon garnicht, und wenn Westeuropa sie nicht mehr hereinläßt? Und was geschieht, wenn sich unter diesem Druck, in diesem Stau von hoffnungslosen Menschen die traditionelle Form der Familie schnell und chaotisch zersetzt? Wir unterhalten die KFOR. Die EU steckt viel Geld in den Aufbau einer professionellen und integren Polzei im Kosovo. Aber welche Perspektiven bietet Europa der Jugend dort? Ich zitiere aus der Einleitung der Studie: „Die Außenministerien Europas ringen um eine dauerhafte politische Lösung für das Kosovo. Die europäischen Innenministerien sind vor allem damit befaßt, wie jede weitere Migration aus dem Balkan zu verhindern sei. Diese beiden Zielvorstellungen sind in fundamentaler Weise inkonsistent miteinander.“ 1. Eine doppelte Unsicherheit kennzeichnet die Balkanfrage von heute: politische Blockierung, politische Deformation, ökonomische Stagnation und Fehlentwicklung dort, darüber wird viel geredet – Unzuverlässigkeit, Indifferenz, Abwehr bei uns, darüber wird nicht soviel geredet. Ich möchte diese Doppeloptik hier im Blick nacheinander auf Bosnien-Herzegowina, das Kosovo und Serbien zu entfalten versuchen – im Blick auf die besondere Herausforderung, die jedes dieser drei Länder für Europa und die internationale Gemeinschaft insgesamt darstellt. Das macht schon den größten Teil dieses Vortrags aus. Zum Schluß möchte ich dann aber doch noch eine generellere Frage wenigstens ansprechen: Welche Chancen hat das friedliche interethnische Zusammenleben auf dem Balkan - nach den Kriegen der 90er Jahre, von denen zumindest die ersten beiden durch ein verheerendes Zurückweichen Europas, aber letzten Endes auch der USA vor den Aggressoren bestimmt waren? Die erste Überlegung: Ist Bosnien-Herzegowina reif für den Abbau des internationalen Semiprotektorats, für den Rückzug des OHR, wie er jetzt von der großen Staatengruppe des Peace Implementation Council (PIC) für Sommer 2007 beschlossen worden ist? Die Frage mutet rückwärtsgewandt an. Die deformierenden Folgen der übermächtigen Fremdbestimmung seit spätestens 1997, wie sie in der Amtsführung von Paddy Ashdown nur noch einmal besonders drastische Formen angenommen hat, scheinen unbestreitbar. Verantwortliches politisches Handeln, demokratische Risikobereitschaft, Mut zu unpopulären Reformen lassen sich nicht von außen erzwingen. Wer sie erzwingen will, etabliert nur die organisierte Verantwortungslosigkeit – eine informelle Arbeitsteilung, in der den internationalen Instanzen alles Harte und Undankbare, alles Konstruktive und Zukunftsweisende überlassen bleibt und die einheimischen Politiker sich dem Populismus, dem Machterhalt und der Selbstbedienung widmen können. Bis man sie eben absetzt – wieder von oben, von außen, nicht von unten. Das war freilich auch schon vor 10 Jahren richtig. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich man sich über diese Einsicht doch auch hinweggesetzt, warum jetzt aufeinmal nicht mehr? Hat sich denn etwas Wesentliches im Land getan? Ein Argument lautet in diesem Zusammenhang, in den ersten Jahren nach dem Krieg sei es noch um die schiere Bewahrung der in Dayton vereinbarten politischen Struktur gegangen – um ihre Sicherung und Verteidigung gegen die nationalistischen Eliten, die den Krieg geführt hatten. Sehr überzeugend ist das nicht. Schließlich hat man eben dieser ominösen Politikerkaste bereits 1996 gestattet, sich in tadellosen, international streng kontrollierten freien Wahlen demokratisch zu legitimieren. Danach reichte diesen Machtgruppen die Obstruktion – eher selten offen und konfrontativ, eine Strategie des Unterlaufens und Verschleppens. Ein bewaffneter Aufstand wäre viel zu riskant gewesen. Er war auch gar nicht mehr nötig. Gibt es also einen politischen Wandel im Land, der den jetzt angesteuerten Politikwechsel rechtfertigen könnte? Erlauben Sie mir, die Frage ein wenig aufzudröseln: Was bedeutet die späte offizielle Anerkennung des Verbrechens von Srebrenica durch die Regierung in Banja Luka? Ist es ein echter Durchbruch? Ist die ebenfalls erst auf massiven Druck hin erfolgte, zähneknirschende Zustimmung des Parlaments der Republika Srpska zur Polizeireform bereits ein Durchbruch? Wie bewertet man die Idee des „serbischen Sozialdemokraten“ Milorad Dodik, Regierungschef in Banja Luka, nach dem Referendum in Montenegro und im Vorfeld der Unabhängigkeit des Kosovo nun auch ein sezessionistisches Referendum in der Republika Srpska durchzuführen? War es nur ein propagandistisches Manöver, das nach dem überragenden Erfolg Dodiks und seiner Partei in den Wahlen vom 1.Oktober keine Rolle mehr spielen dürfte? Aber da ist nicht nur Banja Luka, sondern auch Mostar. Gibt es wenigstens in der herzegowinischen HDZ heute ein Umdenken, eine Bereitschaft, den Gesamtstaat Bosnien-Herzegowina anzuerkennen und auf eine „dritte Entität“ definitiv zu verzichten? Was ist mit den Strukturen von „Herceg-Bosna“, also jenes kroatischen Apartheidsystems, wie es aus dem „Krieg im Krieg“ 1993/94 zwischen bosnischen Kroaten und Bosnjaken hervorgegangen ist? Und welches Gesicht schließlich zeigt heute der bosnjakische Nationalismus, den es ja auch gibt? (Kritisch dazu: Kemal Kurspahic, ehemaliger Chefredakteur von „Oslobodjenje“ in: NZZ, 18.11.05) Zusammenfassend gefragt: Deuten die Zeichen in Bosnien-Herzegowina heute auf einen proeuropäischen Lernprozeß der politischen Eliten oder im Gegenteil und wie gehabt: auf anhaltenden Widerstand gegen alle Reformen, die den Staat demokratisieren und auf Kosten der Entitäten und Kantone stärken würden? Man wird die Politik der Koalition abwarten müssen, die sich nun erst einmal bilden muß. Daraus ließen sich weitere Fragen ableiten: Bei der Presse in Sarajevo war Paddy Ashdown nie populär. Aber wie hat die breitere Öffentlichkeit im Land auf seinen obrigkeitlichen Stil reagiert? Im ganzen positiv, meint die ICG in einem allerdings relativ frühen Report über „Paddy Ashdown and the Paradoxes of State Building“ (Juli 2003). Auch die Leistung von Wolfgang Petritsch scheint unvergessen. Er hat immerhin durchgesetzt, daß die Vertriebenen ihr Eigentum zurückerhalten haben. Wird Christian Schwarz-Schilling, der neue Hohe Repräsentant, seine erklärte Absicht durchhalten können, sich selbst zum Verschwinden zu bringen? Oder wird er demnächst vielleicht Milorad Dodik absetzen müssen – auf der Linie seines umstrittenen Vorgängers? Und wie denken die Bosnjaken, die Kroaten, die Serben in Bosnien-Herzegowina inzwischen über den Weg nach Europa – in ihrer jeweiligen Mehrheit oder doch in jeweils relevanten gesellschaftlichen Segmenten? Die alte Zwiespältigkeit zwischen der tiefen Sehnsucht nach europäischer Normalität und der angstbestimmten, Sicherheit suchenden Orientierung an der jeweiligen engeren ethnischen Gemeinschaft gibt es gewiß immer noch, doch erklärt sie kaum die verbreitete Abkehr von den Parteien und der Politik. Die Wahlbeteiligung am 1.Oktober betrug gerade einmal 54 % - die Deutsche Welle dazu „Viele Bosnier träumen immer noch von der alten jugoslawischen Zeit, in der es zwar nur eine Partei gab, dafür aber reichlich Arbeitsplätze...Für die demokratische Entwicklung des Landes bringt es natürlich nichts, wenn solche Nostalgiker zu Hause bleiben. Die Resignation, Enttäuschung und die daraus resultierende Wahlabstinenz sind noch immer am weitesten unter den gemäßigten Bevölkerungsgruppen verbreitet. Die extremistischen Parteien in Bosnien-Herzegowina können ihre Wähler fast immer hundertprozentig an die Wahlurnen bringen.“ Wie hat sich die Parteienlandschaft seit den Wahlen von 2002 mit ihrem erneuten Sieg der Nationalisten inzwischen entwickelt und ausdifferenziert? Ist die politische Pluralität auch im Fall der Republika Srpska authentisch? Was bedeutet die Übertrumpfung der SDS, der Partei Karadzics, durch die Unabhängigen Sozialdemokraten – das wohl wichtigste Ergebnis der Wahlen von Anfang Oktober? Bedeutet sie überhaupt etwas – bedeutet sie etwas anderes als die Ersetzung einer verbrauchten radikalnationalistischen Partei durch eine unverbrauchte? Und schließlich ist Haris Silajdzic auf die politische Bühne zurückgekehrt. Die Bosnjaken haben ihn jetzt als ihren Vertreter in das dreiköpfige Staatspräsidium gewählt - ist das eine Chance für das Land? Oder hat hat sich dieser unbeirrbare Politiker mit seiner Forderung nach einer Auflösung der Entitäten hoffnungslos ins Abseits manövriert, wie manche westliche Diplomaten in Sarajevo steif und fest - oder auch nur dreist - behaupten? Viele Fragen, offene Fragen, wie ich meine – vor denen die Entscheidung, das Land demnächst in die politische Selbstbestimmung zu entlassen, eigenartig unbegründet wirkt. Um nicht zu sagen: heuchlerisch. Der jetzt gewählte Zeitpunkt kommt unvermittelt – so als ob andere als die öffentlich angeführten Gründe ihn in Wahrheit bestimmt hätten. Werden denn überhaupt Gründe dafür angeführt? Gibt es denn überhaupt eine außenpolitische Debatte, die den Namen verdiente. Oder haben wir es in diesem Fall nicht eher mit einer Neuauflage von Kabinettspolitik zu tun? Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren,daß es sich hier um ein nur fadenscheinig rationalisiertes Disengagement handelt, um einen Rückzug, um eine Selbstentlastung der internationalen Gemeinschaft – ohne Rücksicht auf den realen Zustand des betroffenen Landes. Übermäßig kühn und spekulativ erscheint dieser Verdacht nach der Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden nicht gerade.Wenn es denn ein Dilemma gibt zwischen den Entfaltungsbedingungen von Demokratie, die eine Fortdauer des Protektorats möglicherweise nicht vertrügen, und den Durchsetzungbedingungen von Rechtsstaatlichkeit, die – wie die Entpolitisierung der bosnisch-serbischen Polizei - eine Verlängerung des Protektorats gerade fordern könnten, müßte es öffentlich benannt werden. Und nicht von der demonstrativ optimistischen Rhetorik der Diplomatie glattgebügelt. Lassen wir an dieser Stelle eine bosnische Stimme zu Worte kommen – die eines anderen jungen Filmemachers in Sarajevo: „Dayton hat die ethnische Trennung sanktioniert und die Aggressoren belohnt, indem es ihnen zugestand, was sie wollten. Die Republika Srpska? Die Hälfte des bosnischen Staatsgebiets. Sie wird nun genau von denen verwaltet, die gemordet, gefoltert, geplündert haben, die Hunderttausende ins Exil getrieben und Hunderte Kultstätten zerstört haben. Meiner Ansicht nach ist das nichts anderes als ein Teil Bosniens, den die serbischen Faschisten mit der offiziellen Billigung der UNO besetzt halten.“ (Anne Brunswic, Bosnien, noch unversöhnt, in: Lettre international 74, Herbst 2006) 2. Die zweite Überlegung: Ein ghettoisiertes, arbeitsloses, verzweifeltes Kosovo kann sehr wohl einmal ein Brennpunkt europäisch-amerikanischer Sicherheitspolitik werden. Gegenwärtig ist es keiner. Die heranrückende Status-Entscheidung hält das Land zugleich in Atem und beruhigt es, was sich auch in einer zunächst kaum zu erwartenden Zusammenarbeit der albanischen politischen Parteien bei den Verhandlungen in Wien ausgedrückt hat. Man denkt jetzt vielleicht unbehaglich an die schweren Ausschreitungen vom Frühjahr 2004. Aber damals rückte die Status-Entscheidung nicht heran. Unmik und die unmittelbar relevanten Staaten der Kontaktgruppe schienen sie vielmehr unbegrenzt vertagen zu wollen. Pointiert gesagt, bedurfte es erst massiver Menschenrechtsverletzungen gegen die Serben im Kosovo, gegen die Reste der Roma-Gemeinschaften im Lande, ehe die jahrelang betriebene Politik „Standards vor Status“ – und das hieß nicht zuletzt: gesicherte Minderheitenrechte vor Unabhängigkeitsverhandlungen - sich zu hinterfragen bereit war. Es bedurfte eines gewalttätigen, rechtlosen, ungehindert agierenden Mobs, um die political correctness, den unerleuchteten Legalismus der Staatengemeinschaft – mit Deutschland vorneweg – aus dem Konzept zu bringen. Das scheint das Schicksal des kleinen und randständigen Landes zu sein. In einer früheren Phase hatte es der totalen Desavouierung des unendlich geduldigen zivilen Widerstands unter Ibrahim Rugova in Dayton bedurft und der Formierung einer militanten, tötungsbereiten Guerilla, ehe die Welt sich bewegte und das Kosovo wahrzunehmen bereit war. Die Meinungen über die Gewaltexzesse von 2004 gehen naturgemäß weit auseinander. Aber man wird sie kaum begreifen, wenn man sie auf ethnischen Haß zurückführt. Oder auch auf eine brisante Mischung von Haß gegen die Serben vor Ort und von Angst vor einer Rückkehr des serbischen Staates. Diese Gefühle und Leidenschaften hatten, wie der Besucher in seinen Kontakten überall spüren konnte, zu diesem Zeitpunkt ihre Macht über die Herzen und Köpfe bereits weitgehend eingebüßt. Es war klar, daß die kosovarischen Serben die Verlierer der Zeitgeschichte waren. Und es war schon damals schwer zu übersehen, daß Belgrad mit seinem sturen territorialen Anspruch auf das Kosovo international ins Hintertreffen geraten war – Premierminister Zoran Djindjic hat es unmittelbar vor seiner Ermordung messerscharf diagostiziert. Dieser Prozeß der Ernüchterung ist übrigens kein schlechtes Beispiel dafür, daß auch der berüchtigte Ethno-Nationalismus Südosteuropas nichts Starres, Zeitenthobenes ist, sondern seine Konjunkturen und Verfallszeiten hat. Ungeachtet der unmittelbaren Anlässe für den Aufruhr, die wieder auf die Serben verwiesen oder zu verweisen schienen, stammte die Wut von 2004 aus ganz anderen Quellen. Sie richtete sich gegen eine Unmik, die aus albanischer Sicht ihre elementarsten politischen Hausaufgaben nicht gemacht hatte und die das Land wirtschaftlich völlig herunterkommen ließ: keine Kontrolle über Nord-Mitrovica; kein klarer Zeitrahmen für die Beendigung des halbstaatlichen Schwebezustandes; Abschreckung der so dringend benötigten Investoren; Ausschluß des Landes aus allen lebenswichtigen internationalen Klubs; offiziell ausgestellte Papiere, die an der Grenze nicht anerkannt wurden; Respektierung des zweifelhaften serbischen Staatseigentums an Bodenschätzen, Minen, Kraftwerken, Industrieanlagen mit allen Folgen des Zerfalls; entnervende Unterversorgung mit Elektrizität bei enormen Braunkohlevorkommen; eine Massenarbeitslosigkeit von einem Niveau, die heute keine europäische Gesellschaft mehr lammfromm erträgt – jedenfalls keine Gesellschaft, die Mittel- und Westeuropa so intim kennt, wie die kosovo-albanische. Und in diesen allgegenwärtigen, unentrinnbaren, aber gerade nicht als schicksalhaft erfahrenen Kontext von Ruin, Not und Ohnmacht hinein plazierten die gleichen Internationalen ihren Diskurs über Minderheitenrechte – mit besonderem Eifer und moralischem Nachdruck. Jetzt steht dieses Regime zwischen Mission und Mißwirtschaft wenigstens vor dem Aus. Die Mißwirtschaft hat die Mission diskreditiert - rückwirkend für die gesamte Dauer des Protektorats inzwischen. Und die Mission hat sich selber diskreditiert – etwa indem die Unmik das vorgefundene Wahlsystem beibehalten hat (nur ein einziger Wahlkreis im ganzen Kosovo, damit verbunden die diktatorische Kontrolle der Kandidatenlisten durch die jeweilige Parteiführung). Aus Opportunitätsgründen: Die autoritär auf eine übermächtige Führerfigur ausgerichteten Parteien waren eben leichter zu kontrollieren als eine offene, lebendige Parteiendemokratie. Man kann heute im Kosovo Menschen treffen – besonnene, liberal eingestellte, weltoffene Leute – die sich allen Ernstes fragen, warum UNO und KFOR nach der Befreiung des Landes von der serbischen Herrschaft und nach der Bewältigung der ersten Gesetzlosigkeit unmittelbar nach dem Krieg überhaupt im Land geblieben sind. Warum nicht direkt von der Befreiung in die Verantwortung, in die Selbstbestimmung? Mit Rat und Unterstützung der Staatengemeinschaft, aber nicht unter ihrer Herrschaft und Kontrolle? Hoffentlich weiß die internationale Diplomatie um diese respektlose Nachdenklichkeit, die ein ganzes Konzept der Staatsbildung im Nachhinein zu verwerfen geneigt ist. In dem entscheidenden Kosovo-Bericht des UN-Sonderbeauftragten Kai Eide vom August 2004, der in mancher Hinsicht ein Meisterstück diplomatischer Beweglichkeit ist und immerhin die Tür zu den Status-Verhandlungen geöffnet hat, findet sich wenig von einer solchen Sensibilität. Wenn der darin formulierte Vorschlag sich durchsetzen sollte, im Kosovo der abziehenden UN so etwas einen EU-Gouverneur einzusetzen - nach bosnischem Vorbild mit „Bonn power“ zumindest im Bereich der interethnischen Beziehungen, steht es nicht allzu gut um den störungsfreien Start des neuen Nationalstaats. Es bleibt übrigens auch nicht immer nur bei Nachdenklichkeit. Es gibt im Kosovo eine außerparlamentarische Bewegung von heute mindestens 5000 aktiven, hochmotivierten Mitgliedern - jüngeren Menschen meist, die das Protektorat als antidemokratische und sogar „kolonialistische“ Veranstaltung frontal angreifen und in phantasievoller Gewaltlosigkeit gegen die laufenden Verhandlungen protestieren. „Jo Negociata – Vetevendosje!“ („Keine Verhandlungen – Selbstbestimmung!“ lautet die Parole, die man überall im Land an den Mauern findet. Es handelt sich nicht um eine Massenbewegung, aber doch um eine Bürgerinitiative neuartigen, westlichen Stils, die sich großer Sympathien in der breiteren Bevölkerung zu erfreuen scheint. Sollten diese Zeichen einer demokratischen Tiefenströmung in der kosovo-albanischen Mehrheitsgesellschaft unbeachtet bleiben und sollte die jetzt anvisierte „bedingte Unabhängigkeit“ etwa allzu bedingt, allzu eingeschränkt ausfallen – aus welchen Gründen oder Rücksichten auch immer, könnten schon sehr bald wieder neue Verhandlungen notwendig werden. Eine kurze Zwischenbemerkung: Es befremdet Sie vielleicht, daß ich hier ganz ungeniert mit zweierlei Maß messe. Für Bosnien tendiere ich zur vorläufigen Beibehaltung des Protektorats, für das Kosovo hingegen plädiere ich für den möglichst raschen und vollständigen Abbruch des Protektorats. Wo bleibt da die Logik, die Konsistenz? Es sind zwei Länder, mit denen wir uns hier befassen - zwei ganz verschiedene politische Situationen. Man kann sie nicht über einen Leisten schlagen – Balkan hin oder her. Auch nicht über einen demokratie-theoretischen Leisten. Aber letztlich liegt meiner Argumentation ein politisches Urteil zugrunde: Die Albaner im Kosovo verdienen nach meinem Verständnis der Zeitgeschichte Vertrauen ungeachtet aller Fehlentwicklungen in dieser Gesellschaft; ungeachtet aller Brutalisierung gegenüber den noch Schwächeren; ungeachtet des phobischen, sogar rassistischen Nationalismus, den es auch hier gibt. Die Serben der bosnischen Republika Srpska hingegen müßten sich dieses Vertrauen erst noch verdienen. 3. Serbien schließlich scheint ein Fall sui generis. In Bosnien, das sie in seiner bizarren, funktionsunfähigen Form doch selber geschaffen und selber zu verantworten hat, scheint die internationale Gemeinschaft sich bereits verausgabt zu haben. Das Kosovo scheint man andererseits nur widerstrebend loslassen zu wollen. Es ist, als löse man sich nur ungern von der phantastischen Vorstellung, aus dem geschundenen kleinen Land ein Laboratorium nachholender Zivilisierung zu machen. „Wir müssen mindestens 50 Jahre hier bleiben“, hat mir ein deutscher Jurist in Prishtina einmal gesagt. Serbien gegenüber nimmt man sich solche Freiheiten nicht heraus. Dafür ist Serbien zu wichtig. Es ist die starke Säule westlicher Sicherheitspolitik in Südosteuropa. Deshalb saß Slobodan Milosevic in Dayton am Tisch – nach der Vernichtung von Vukovar, nach der Belagerung von Sarajevo, nach der Hinrichtung von 8000 wehrlosen Menschen in Srebrenica. Für Richard Holbrooke war bei diesen Verhandlungen Alija Izetbegovic das Problem, der Führer Bosniens, nicht Milosevic. Das kann man in seinem Buch „Meine Mission. Vom Krieg zum Frieden in Bosnien“ (1998) nachlesen. Es lohnt sich, das Werk ist ein gut geschriebenes Dokument zynischer Realpolitik. Dann kam der nächste Krieg, den auch Holbrook nicht verhindern konnte. Dann kam der Glücksfall Zoran Djindjic, den Europa sogar noch zu wenig unterstützt hat. Man erinnere sich nur an den bitterbösen Protest Djindjics gegen die miesen Tricks der Brüsseler Finanzbürokratie. Die Auslieferung Milosevics an das Tribunal in Den Haag war eine ganz außerordentliche politische Leistung - aber man mußte schon nach Belgrad fahren, um sie angemessen gewürdigt zu sehen: in den kleinen Kreisen unbeugsamer Liberaler. In unseren Medien hieß es fast immer nur, es war ein Deal, es war ein Geschäft - der Premierminister hat den Ex-Präsidenten verkauft. Heute scheinen die Dinge wieder im Lot. Vojislav Kostunica kann sich über mangelnde Unterstützung seitens der EU und der NATO kaum beklagen. Daß er ein unverbesserlicher großserbischer Chauvinist ist – nicht nur dem Kosovo, sondern auch Bosnien gegenüber, spielt dabei offenbar keine Rolle. Auch nicht, daß dieser Politiker wesentlich mitverantwortlich ist für die Fortdauer der bewaffneten Machtapparate, der alten Netzwerke von Armeekreisen, Sonderpolizei und organisierter Kriminalität aus der Zeit Milosevics über die Wende vom Oktober 2000 hinweg, über den Mord an Zoran Djindjic hinweg. Das jahrelange Laissez faire oder Wegsehen könnte sich einmal rächen – etwa wenn diese zivil unkontrollierte, unreformierte, ungesäuberte Armee auf den Gedanken verfiele, in den Norden eines vom UN-Sicherheitsrat in die Unabhängigkeit entlassenen Kosovo einzumarschieren. Bis auf weiteres kann die serbische Führung auf einen nahezu grenzenlosen Langmut seitens des demokratischen Westens zählen. Die vielbeschworene „Konditionalität“ der Annäherung an Europa wird in diesem Fall mehr als großzügig gehandhandhabt – die Stabilisierungs- und Assoziierungsverhandlungen der EU mit Serbien sind bekanntlich erst ausgesetzt worden, als Brüssel sich vollends lächerlich zu machen drohte. Nirgends sieht man diesen Primat der Sicherheitspolitik wohl klarer als in Belgrad selbst – die Beschränktheit, die Eindimensionalität, die Wahllosigkeit dieser Politik. „Kostunica reicht ihnen - sie sind zufrieden damit, was er ihnen bietet“, hat uns einmal ein Oppositioneller dort gesagt. Vielleicht sollte ich besser „Dissident“ sagen; denn man fühlt sich in der Tat an die ostmitteleuropäischen Dissidenten der 80er Jahre des 20.Jahrhunderts erinnert, die sich ja auch oft genug von der „Entspannungspolitik“ des Westens übergangen sahen. Die Nationalisten bewahren das Land vor den Nationalisten, die gemäßigten Kräfte um Vojislav Kostunica und Boris Tadic sind die allerletzte Bastion gegen die Radikalen um Vojislav Seselj – das ist das vorherrschende Bild, im Ausland wie übrigens auch in Serbien selbst. In einem soeben veröffentlichten Papier nimmt Sonja Biserko vom Belgrader Helsinki-Komitee es regelrecht auseinander: die Radikalen sind nur so stark, weil die vermeintlich Gemäßigten sie so stark machen und mit ihnen immer wieder paktieren – wie jetzt auch wieder beim Durchpeitschen der neuen Verfassung. (What is political alternative in Serbia, Belgrad October 2006) In Serbien setzt der Westen kühl kalkulierend auf die etwas Besseren. Nur sind es gerade die etwas Besseren, denen die Schlimmeren ihren Machtzuwachs verdanken. Aber auch die Kosovofrage könnte diese fragwürdige Logik des „kleineren Übels“ erheblich belasten – etwa wenn man mit Blick auf die kommenden serbischen Wahlen und den drohenden Sieg der Radikalen die Status-Entscheidung im UN-Sicherheitsrat noch einmal bis 2007 verschöbe, wie es einige europäische Staaten offenbar wünschen. (Vgl. Morton Abramowitz, James Lyon, Another Balkan High Noon, The Guardian, 24 October 2006) Es ist gar nicht mal so wenig, was da bislang unter den Tisch der Großen Politik fällt. Zoran Djindjic war nicht bloß eine Episode, wie einige Superschlaue bei uns oder auch Verzweifelte im Land selbst behauptet haben. Zoran Djindjic ist in Serbien nicht vergessen. Es gibt eine politische Kraft, die seine Reformpolitik wiederaufnehmen will. Es ist die letztes Jahr gegründete Liberaldemokratische Partei unter dem jungen Cedomir Jovanovic - eine Abspaltung von der Demokratischen Partei, der Partei Djindjic’s, die unter ihrer jetzigen Führung die klare Orientierung nach Westen verloren hat. Wer mit diesem Mann spricht, spürt, daß er es ernstmeint. Er ist der einzige Politiker von landesweiter Bedeutung, der öffentlich für die Unabhängigkeit des Kosovo eintritt. Und noch wichtiger, noch schwerer: der öffentlich über die serbischen Verbrechen in Kroatien, in Bosnien, im Kosovo spricht. Die Partei steht noch am Anfang. Aber sie kämpft. Sie ist dabei, im ganzen Land Ortsgruppen aufzubauen. Es bleibt ihr wenig Zeit. Die Minderheitsregierung Kostunicas ist am Ende, noch in diesem Jahr dürften Wahlen stattfinden. Es wird sich zeigen, wieviele Menschen die neue Partei, die neue Aufrichtigkeit, die neue schonungslose Auseinandersetzung Serbiens mit sich selbst bereits erreicht. 4. Ich komme zum Schluß. Das Spektrum oder Teilspektrum internationaler Balkanpolitik, das ich hier zu skizzieren versucht habe, ist nicht besonders eindrucksvoll. Das wäre ein Ergebnis. Es fehlt an Respekt vor den Bürgern dieser Länder. Wenn der Respekt einmal herausgestrichen wird – wie gegenwärtig Bosnien gegenüber, so klingt es unecht und nur vorgeschoben. Aber ich habe möglicherweise das Thema verfehlt. Ich sollte über die Zukunft des Balkan sprechen, nicht über den Westen der Gegenwart. Und wenn die Gegenwart, der Geist des Westens und die Zukunft des Balkans untrennbar miteinander verbunden wären? Auch das ein Ergebnis. Wieviel Zukunft also hat die friedliche Koexistenz der Nationen, Nationalitäten, Ethnien auf dem Balkan? Hier zunächst eine Diagnose aus der Region selbst: „Auf dem gegenwärtigen Niveau kultureller und zivilgesellschaftlicher Entwickung auf dem Balkan, wo eine deintegrative (exclusionary) Art des Denkens dominiert, sehe ich keine Möglichkeit jenen internen Zusammenhalt zu erreichen, wie er für einen funktionsfähigen Staat unabdingbar ist. In diesem Kontext sind es nur ethnisch homogene Staaten wie etwa Slowenien mit seinem verschwindenden Prozentsatz an Minderheiten, die funktionieren. Es wäre ein Irrtum, von einem multiethnischen Bosnien, Kosovo oder Mazedonien sprechen zu wollen. Bosnien ähnelt eher einem Zoo, in dem unterschiedliche Arten - in Käfigen voneinander separiert - ohne natürlichen Austausch miteinander existieren. Im Kosovo sehen sich die Serben in Enklaven eingeschlossen, in denen die kosovarischen Gesetze durch serbische ersetzt sind – auch hier kein natürliches und produktives multiethnisches Zusammenwirken. Und in Mazedonien schließlich leben die beiden großen ethnischen Gemeinschaften getrennt voneinander – in Parallelwelten wie Reisende in einem Bus, die nur der Zufall zusammengeworfen hat und die ganz verschiedene Reiseziele haben.“ Die Sätze stammen immerhin von Arben Xhaferi, dem Präsidenten der Albanischen Demokratischen Partei von Mazedonien. (Zitiert nach: Migjen Kelmendi, Arlinda Desku, Hrsg., Who is Kosovar? Kosovar Identity, Prishtina 2005) Aber er ist m.W. der einzige führende Politiker im gesamten Westbalkan, der sich öffentlich in dieser Weise äußert. Und gerade vor dem Hintergrund der unbezweifelbaren, wenn auch noch nicht irreversiblen Entschärfung der zwischenethnischen Spannungen in Mazedonien seit dem Ohrid-Abkommen von 2001 wirkt das Plädoyer für den „ethnischen Staat“, speziell für das „ethnische Albanien“ abwegig, um nicht zusagen: verrückt. Eine ähnliche Entspannung läßt jedenfalls für den Moment auch für die mehrheitlich von Albanern bewohnten Gebiete in Südserbien (Presevo-Tal) feststellen. (Vgl. International Crisis Group, Southern Serbia: In Kosovo’s Shadow, 27 June 2006) Beide Erfahrungen zeigen die entscheidende Bedeutung einer klugen, zähen Politik des Interessenausgleichs. Nirgends in den albanischen Siedlungsräumen gibt es eine politisch relevante Bewegung für ein Großalbanien – nicht in Westmazedonien, nicht in Südserbien, nicht im Kosovo, nicht in Albanien. Es kennzeichnet das albanische Nationalbewußtsein gerade, daß es mit der territorialen und staatlichen Aufspaltung der Nation zu leben weiß – ohne darüber doch seinen raumübergreifenden Zusammenhalt aufzugeben. Auch in Bosnien und im Kosovo stehen und standen sich nicht Ethnien gegenüber, die nicht miteinander leben können. Das Unheil hatte nichts Uraltes. Es kam von einer Politik, die sich der ethnizistischen Karte zu bedienen wußte. Diese unsägliche Verwechslung oder Vertauschung hat jahrelang auch die Berichterstattung unserer eigenen Medien über die jüngsten Balkankriege beherrscht. Ethnien waren und sind auch auf dem Balkan keine politischen Akteure. Aber hinter ihnen können sich politische Unternehmer verschanzen, die unter bestimmten Umständen und für eine gewisse Zeit mit ihnen machen können, was sie wollen. Das ist die Lektion, die wir gelernt haben. In Mazedonien hat es sich ausgezahlt, daß wir sie gelernt haben. Aber warum dann unbedingt ein ethnisch strukturiertes Kosovo? Könnte das internationale Entgegenkommen den Kosovo-Serben gegenüber nicht ein Stück der alten Appeasementpolitik aus den 90er Jahren mit sich weiterschleppen? Der alten Vermengung von Ethnien und mißbrauchten Ethnien, von Ethnien als historischen Erscheinungen der Identitätsbildung und Ethnien als dem totalitären Aufgebot des Verdrängungskampfes und des Krieges? Gilt die Rücksicht der serbischen Minderheit vor Ort oder zielt sie über diese hinweg in Wahrheit auf die Beschwichtigung Belgrads? Die KosovoSerben haben sich kürzlich geweigert, in Wien über Minderheitenrechte auch nur zu verhandeln – mit der Begründung, sie seien gar keine Minderheit, sondern eines der beiden „konstituierenden Völker“ im Kosovo. Es wird freilich keine Republika Srpska im Kosovo geben. Eine Republika Srpska läßt sich nun einmal nur mit Massenvertreibung und Massenmord durchsetzen, nicht mit Trotzreaktionen. Aber der Vorfall gibt dennoch zu denken. Angesichts der hier demonstrierten Maßlosigkeit kann man sich fragen, ob die Staatengemeinschaft nicht besser von vornherein konsequent für ein Kosovo der Bürger, der gleichberechtigen Staatsbürger eingetreten wäre. In einem kosovarischen „citizenship state“ könnten die Ethnien des Landes möglicherweise besser miteinander auskommen als in einem Gemeinwesen, das einer von ihnen weitgehende Privilegien einzuräumen hätte. Nur weil sie einmal die Herrenschicht des Landes war. Nur weil sie einen anderen Staat hinter sich hat – nicht ganz unähnlich der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakischen Republik der 30er Jahre des 20.Jahrhunderts. International so gut wie unbeachtet, gibt es diesen kosovarischen Bürger serbischer Nationalität sogar bereits – im Osten des Landes, in der Region um Gjilan, wo die serbische Landbevölkerung nicht in Enklaven lebt, sondern in die allgemeine Verwaltung integriert ist. (Vgl. ESI, The Lausanne Principle. Multiethnicity, Territoy and the Future of Kosovo’s Serbs, Berlin/ Pristina 7 June 2004) Auch sie hat dann zwar die letzten Wahlen zum Parlament in Prishtina boykottiert und ist damit dem Druck aus Belgrad noch einmal unterlegen. Das war zweifellos ein Rückschlag. Dennoch stellt die routinemäßige interethnische Zusammenarbeit dieser Gebiete, die sich polar vom Antagonismus in Mitrovica oder auch in Gracanica unterscheidet, eine Option des unabhängigen Kosovo dar.