Begleitmaterial - Theater an der Parkaue

Transcrição

Begleitmaterial - Theater an der Parkaue
MORITZ IN DER
LITFASSSÄULE
8+
von Christa Kożik
in einer Fassung von Anja Schneider
BEGLEITMATERIAL ZUM STÜCK
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
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Es spielen:
Moritz
Vater
Mutter, Lehrerin
Straßenfeger, Zirkusdirektor
Schwester Suse, Kitty
Katze
Regie
Bühne + Kostüme
Liedtexte + Komposition
Puppenbau
Dramaturgie
Theaterpädagogik
Technischer Direktor
Bühnenmeister
Licht
Ton
Regieassistenz
Inspizienz
Soufflage
Maske
Requisite
Ankleiderei
Ausstattungsassistenz:
Jonas Lauenstein
Stefan Kowalski
Elisabeth Heckel
Denis Pöpping
Katherina Sattler
Susi Claus
Anja Schneider
Annette Riedel
Hans-Eckardt Wenzel
Atif Hussein
Karola Marsch
Sarah Kramer
Eddi Damer
Marc Lautner
Theo Reisener
Max Berthold , Jörg Wartenberg
Anja Spengler
Anne-Sophie Attinost
Franziska Fischer
Karla Steudel
Jens Blau
Ute Seyer, Birgit Wilde
Charlotte Spichalsky
Herstellung der Dekoration unter der Leitung von Jörg Heinemann in den Werkstätten der Stiftung Oper
in Berlin – Bühnenservice / Herstellung Lichteffekte: Christian Rösler Herstellung der Kostüme durch die
Firma Gewänder / Maren Fink-Wegner
Die Aufführungsrechte liegen Christa Kożik.
Foto- und Videoaufnahmen während der Vorstellung sind nicht gestattet.
Premiere: 31. Oktober 2015
Prater
ca. 100 Minuten mit Pause
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
INHALT
Vorab 4
Das Inszenierungsteam 5
Die Regisseurin 5
Die Bühnen- und Kostümbildnerin 5
Der Komponist 5
Die Autorin Christa Kożik 5
Zeitgefühl 7
„Wie lange noch“ 7
Kinder leben in der Gegenwart­ 9
Jugend in der Leistungsgesellschaft 10
„In der Langeweile erleben wir die nackte Zeit.“ 12
Wenn Kinder weg sind 15
Die Litfaßsäule 17
Unterrichtsprojekt 19
Anregungen für Ihren Unterricht 20
Die Zeitmaschine 20
Zeit erfinden 21
Zeit zum Ausreißen 21
Einfach mal langsam machen 21
Zeit festhalten 21
Zeit zum Philosophieren 22
Hinweise für den Theaterbesuch 23
Impressum 24
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MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
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VORAB
Liebe Lehrerinnen und Lehrer,
einigen von Ihnen wird die Geschichte „Moritz
in der Litfaßsäule“ bekannt sein. Wir haben diese
wunderbare Parabel auf das unterschiedliche Zeiterleben von Kindern und Erwachsenen ausgegraben
und die Entdeckung gemacht, dass sie eine hochgradig zeitgenössische und moderne Erzählung ist. Sie
handelt davon, dass Moritz nicht den Erwartungen
seiner durchstrukturierten, termin- und leistungsorientierten Umwelt entspricht. Denn er ist ein Kind.
Und als solches erlebt er das Leben als eine Welt
voller Überraschungen, Entdeckungen und spannender Eindrücke, die es gilt, frei zu legen, zu erfahren
und sich anzueignen. Damit eckt und stößt er ständig
an. Die Augenfarbe von Schmetterlingen? Vögel
auf einer Sommerwiese in Hüten und Kleidern auf
dem Bild gemalt? Nur die Hälfte der Matheaufgaben
geschafft, weil es immer gründlich bei ihm zugehen muss? Die Erwachsenenwelt steht Kopf und
auch seine Schwester nennt ihn Schnecke, Trantute,
Träumer. „Moritz, beeil dich. Du kommst wieder zu
spät. Machs einmal wie dein Name: Zack, Zack.“
Aber Moritz Zack möchte nur alles langsam und
in Ruhe machen. Als sich sein Vater, der Sparkassendirektor, mit der Lehrerin verbündet, damit der
Junge endlich lernt, sich anzupassen, fasst Moritz
einen Entschluss. Er hinterlässt auf dem Küchentisch
einen Zettel: „Ich bin gegangen. Es hat mir nicht
mehr gefallen.“ Moritz zieht in eine Litfaßsäule.
Doch hier lebt schon jemand: die Katze Kicky. Sie
ist eigensinnig, großmaulig und hat schon viel erlebt,
was sie Moritz ständig mitteilt. Aber – sie kann auch
zuhören und interessiert sich für Moritz. Und dann
begegnet der Junge noch einem außergewöhnlichen
Menschen: dem Straßenfeger. Gemeinsam mit ihm
kann er über die schönen und schwierigen Seiten des
Lebens nachdenken und allmählich zu sich finden.
Das Stück ist eine Hommage, sich der Geschwindigkeit der Zeit zu entziehen, eine Pause einzulegen und
völlig neu auf die Welt und das Leben zu sehen.
Wir laden Sie und Ihre Schüler ein, unsere Inszenierung zu besuchen und dieses Begleitmaterial für eine
Beschäftigung vor oder nach dem Vorstellungsbesuch zu nutzen.
Für Anregungen, Kommentare und Fragen können
Sie uns gerne kontaktieren.
Ich wünsche Ihnen einen anregenden Theaterbesuch,
Karola Marsch
Leitende Dramaturgin / Theaterpädagogin
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
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DAS INSZENIERUNGSTEAM
Die Regisseurin
Der Komponist
Die Regisseurin Anja Schneider arbeitete zum ersten
Mal am THEATER AN DER PARKAUE. In ihr haben
wir eine Regisseurin gefunden, die sich für die
kindliche Figur des Moritz interessiert und seinen
Haltungen und Überlegungen zum Leben um ihn herum nachspürt. Sie verknüpft komische mit traurigen
Momenten. Die Musik von Hans-Eckardt Wenzel
trägt dabei durch die menschlichen Höhen und Tiefen, gibt Raum und Zeit für einen stimmungsvollen
Nachklang und sorgt für einen warmen Teppich.
Anja Schneider ist Absolventin der Schauspielschule
„Ernst Busch“ in Berlin. Sie spielte an zahlreichen
Theatern u.a. am Schauspiel Leipzig, am MaximGorki-Theater Berlin und am Staatsschauspiel Stuttgart bei namhaften Regisseuren. 2012 machte sie ihr
Debüt als Regisseurin mit „Nachtgeschwister“ im
Theater unterm Dach in Berlin.
Hans-Eckardt Wenzel hat als Musiker, Sänger,
Komponist, Autor und Clown seit 1976 die Liedund Kulturszene Deutschlands mit geprägt. Er
wurde 1955 in Kropstädt, Kreis Wittenberg geboren. Nach dem Abitur studierte er von 1976 – 1981
Kulturwissenschaften/Ästhetik an der HumboldtUniversität zu Berlin. Danach entschied er sich, als
freischaffender Künstler zu leben; zu Anfang in der
Liedtheatergruppe „Karls Enkel“, von 1978 bis 1999
gemeinsam mit Steffen Mensching als KabarettClowns-Duo Wenzel & Mensching. 1982 erschien
der erste Gedichtband „Lied vom wilden Mohn“.
1987 folgte „Antrag auf Verlängerung des Monats
August“. Für die Schallplatte „Stirb mit mir ein
Stück“ erhielt Wenzel die „Goldene Amiga“. Seit
dieser Zeit entstanden diverse Bühnenproduktionen
und parallel dazu viele unterschiedliche musikalische Projekte. In den Jahren 1988 und 1989 hielt
sich Wenzel jeweils ein viertel Jahr in Nicaragua auf
und arbeitete dort als Regisseur. Tourneen führten
Wenzel unter anderem nach Österreich, Frankreich,
Italien, Belgien, in die Schweiz, durch Deutschland
und in die USA.
Für „Moritz in der Litfaßsäule“ hat er klassische
Liedermacherrhythymen verwendet, die das Unterwegsein in verschiedenen Welten und Räumen
thematisieren.
Die Bühnen- und Kostümbildnerin
Annette Riedel studierte von 1988 – 1993 Bühnenund Kostümbild an der Staatlichen Kunstakademie
Düsseldorf bei Prof. Karl Kneidl. Von 1991 – 1993
assistierte sie bei Peter Palitzsch und Karl Kneidl
hauptsächlich am Berliner Ensemble. Ab 1995 wurde
sie als Ausstattungsleiterin am Theater Nordhausen/
Loh-Orchester Sondershausen und anschließend bis
2004 am Staatstheater Kassel engagiert. Seit 1992 ist
sie auch als freie Bühnen- und Kostümbildnerin tätig
u. a. am Schauspiel Frankfurt, am Deutschen Theater
Berlin, am Residenztheater München, am Staatstheater Braunschweig, Nationaltheater Mannheim und
Schauspiel Leipzig, hauptsächlich in Zusammenarbeit
mit Armin Petras. Seit 2006 ist Annette Riedel mit
einer zweijährigen Pause engagiert als Ausstattungsleiterin am Maxim Gorki Theater Berlin.
Ihr Bühnen- und Kostümbild hat sie in „Moritz in
der Litfaßsäule“ in eine zeitlose Vergangenheit zurückversetzt, die den immerwährenden Kreislauf von
äußerlichen Einwirkungen und dem widersprechenden inneren Wünschen von Menschen erzählt.
Die Autorin Christa Kożik
Christa Kożik wurde 1941 in Liegnitz (Polen) geboren und siedelte 1945 nach Thüringen um. Nach
einer Lehre als kartographische Zeichnerin wurde
sie ab 1969 Assistentin im DEFA-Dokfilmstudio und
studierte anschließend von 1970 – 1976 Dramaturgie
an der Hochschule für Film und Fernsehen Babelsberg sowie von 1977 – 1978 am Literaturinstitut
Leipzig.
Sie schreibt überwiegend Bücher, Spielfilme, Gedichte und Geschichten für Kinder, bearbeitete aber
auch Stoffe für Erwachsene, wie z.B. das Filmszena-
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
rium „Hälfte des Lebens“ über Friedrich Hölderlin.
Für ihre Arbeit erhielt sie zahlreiche Preise, z.B. den
Nationalpreis für Literatur, den Kinderbuchpreis der
Akademie der Künste Berlin und den Hauptpreis für
Kinofilm beim Kinderfilmfestival „Goldener Spatz“
in Gera.
Christa Kożik lebt in Potsdam-Babelsberg.
Szenenfoto mit Susi Claus und Jonas Lauenstein
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Werke (Auswahl):
1977: Ein Schneemann für Afrika (Buch und Film)
1978: Sieben Sommersprossen (Film)
1983: Moritz in der Litfaßsäule (Film und Buch)
1983: Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart
(Buch)
1985: Hälfte des Lebens (Film)
1985: Gritta von Rattenzuhausbeiuns (Film und
Buch)
1989: Grüne Hochzeit (Film)
1997: Der verzauberte Einbrecher (Film)
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
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„WIE LANGE NOCH?“
Warum Kinder ein anderes Zeitgefühl
haben
„Wann sind wir endlich da?“, schallt es alle zehn
Minuten von der Autorückbank. Welche Eltern
kennen diese Frage nicht? Kinder haben ein anderes
Zeitgefühl. Zeitangaben wie „bald”, „in einer Stunde” und „übermorgen” haben noch keine Bedeutung
für sie. Ab wann Kinder ein Zeitgefühl entwickeln
und was Eltern davon lernen können, hat uns Zeitforscher und Psychologe Dr. Marc Wittmann erklärt.
Zeitgefühl
Wir leben länger und denken kürzer
Das moderne Leben wird immer schneller. Die
Folgen: Maschinen rauben uns Aufmerksamkeit, wir
haben Angst, jede Minute etwas zu verpassen, wir
planen nicht mehr langfristig. Internet-Pionierin Esther Dyson fragt sich, wie man aus dieser Tretmühle
herauskommt.
Wir leben länger und denken kürzer.
Es geht immer um Zeit.
Frankfurter Börse: Jeder weiß um die großen Probleme, bleibt aber ganz dem Hier und Jetzt verhaftet
Das moderne Leben hat unser Zeitgefühl auf grundlegende und paradoxe Weise verändert, so dass wir
kürzer zu denken scheinen, obwohl wir länger leben.
Liegt es daran, dass wir mehr in jede Stunde packen
oder dass die anderen mehr in jede Stunde zu packen
scheinen? Aus einer Vielzahl von Gründen geht alles
viel schneller und passiert mehr. Alles verändert sich
ständig.
Früher automatisierten Maschinen die Arbeit, so
dass wir mehr Zeit für andere Sachen hatten, heute
jedoch automatisieren Maschinen die Produktion
von Aufmerksamkeit beanspruchender Information,
was uns Zeit raubt. Sendet beispielsweise jemand
eine E-Mail an zehn Adressen, so nimmt sie (theoretisch) die Aufmerksamkeit von zehn Personen in
Anspruch, was noch ein harmloses Beispiel ist.
Seit die Belastungen des Alltags verschwunden
sind – der Zeitaufwand für Isaac Newton, mit der
Kutsche von London nach Cambridge zu fahren, die
langen Wege zur Arbeit (ohne iPod), die lesefeindliche Finsternis –, kommt uns jede nicht produktiv
genutzte Minute als verpasste Gelegenheit vor.
Und schließlich können wir mehr, in immer kleineren Zeiteinheiten messen. Von Flugmeilen bis zu
Kalorien (Kohlenhydraten und Fettgrammen), von
Freunden über StayFriends bis zu den Schritten auf
einem Laufband, von Börsenkursen bis zu Millionen
verzehrten Burgern, zählen wir Dinge nach Minuten
und Sekunden. Leider überträgt sich das auch auf
unser Denken und Planen: Unternehmen orientieren
sich an kurzfristigen Erfolgen, Politiker an Wahlen,
Schulen an Testergebnissen, die meisten von uns am
Wetter, statt am Klima. Jeder weiß um die großen
Probleme, bleibt aber ganz dem Hier und Jetzt verhaftet.
In seinem ganzen Ausmaß habe ich das Phänomen
in den Vereinigten Staaten erstmals direkt nach dem
11. 9. 2001 bemerkt, als man keine Verabredungen
mehr treffen und niemanden mehr für irgendetwas
gewinnen konnte. Mich erinnerte das an Russland,
wo ich mich seit 1989 häufig aufhielt. Dort hatten
die Menschen es vermieden, längerfristig zu planen,
weil gewöhnlich der Aufwand nicht lohnte. Jetzt
plötzlich verhielten sich Amerikaner ganz ähnlich:
Unternehmen investierten nicht mehr, Privatleute
machten keine Berufs-, Heirats- oder Hausbaupläne mehr… alles kam zum Erliegen. Man hörte nur
noch: „Ich will es mir überlegen“ oder „Ich will es
versuchen“, aber nicht „Ich will“.
Obwohl die akute Krise inzwischen längst überwunden ist, prägt nach wie vor ein Gefühl des Unwägbaren unser Denken. Am besten sich auf das laufende
Quartal konzentrieren, denn wer weiß, welchen Job
man nächstes Jahr hat. Am besten, jetzt bloß diese
Prüfung bestehen, denn was ich heute lerne, wird in
zehn Jahren ohnehin nicht mehr viel wert sein.
Wie können wir diesen Trend umkehren? Zwar ist
dies ein gesellschaftliches Problem, dürfte aber auch
ein geistiges ankündigen – eine Art mentale Diabetes. Die meisten von uns sind damit aufgewachsen,
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
Bücher zu lesen (ab und zu jedenfalls) und mit
nichtinteraktivem Spielzeug zu spielen, zu dem wir
selbst Geschichten, Dialoge und Verhaltensweisen
erfinden mussten. Heutige Kinder leben dagegen in
einem mit Offerten überfluteten, zeitlich verdichteten Umfeld, das ihre Phantasie oft eher zu ersticken
als anzuregen scheint.
Die Überfütterung mit vorgefertigten Informationen
(Video, Audio, Fotos, Flackerbildschirme, sprechende Puppen, animierte Kampfspiele) ähnelt derjenigen mit zuckerreichen Fertiggerichten und könnte
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dem geistigen Stoffwechsel der Kinder – das heißt
ihrer Fähigkeit, Informationen selbst zu verarbeiten
– ernsthaft schaden. Werden sie in der Lage sein,
Ursache und Wirkung zu unterscheiden, einem roten
Faden zu folgen, wissenschaftlich zu denken, ein
ganzes Buch zu lesen und nicht nur kleine Essays?
Ich kenne die Antworten nicht, aber langfristig lohnt
es, über diese Fragen nachzudenken.
Quelle: http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/zeitgefuehlwir-leben-laenger-und-denken-kuerzer-a-577159.html
Szenenfoto mit Stefan Kowalski, Jonas Lauenstein und Katherina Sattler
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
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KINDER LEBEN IN DER GEGENWART
Kinder sind gegenwartsorientiert. „Sie leben im Hier
und Jetzt und denken weder an die Zukunft noch an
die Vergangenheit‟, erklärt uns Psychologe und Humanbiologe Dr. Marc Wittmann im Gespräch. Das
ist biologisch bedingt, denn das gesamte Gehirn ist
mit dem Lernen beschäftigt. Kinder beobachten ihre
Umgebung und saugen alles wie ein Schwamm auf.
Da bleibt kein Platz für zeitliche Dimensionen. Das
Leben spielt sich in der Gegenwart ab. Babys und
Kleinkinder verbinden die vergehende Zeit deswegen immer mit Handlungen. Es gibt Spiel-, Essensund Schlafphasen, die den Tag unterteilen. Kinder
zählen deswegen die Tage gerne mit „Noch zweimal
schlafen und dann kommt Oma‟.
Zwischen drei und sechs Jahren beginnen Kinder zu
erahnen, dass es so etwas wie Zeit gibt. Sie messen
diese allerdings an dem, was sie sehen. Ein großer
Hund ist demnach älter als ein kleiner und bei zwei
Spielzeugautos, die beide in der gleichen Zeit unterschiedliche Strecken zurücklegen, ist das Auto, das
weiter gefahren ist, auch länger unterwegs gewesen.
Zeitgefühl basiert auf Erfahrungsschatz
Erst wenn Kinder die Uhr lernen, beginnen sie ein
Gefühl für Zeit zu entwickeln. Doch selbst wenn
sie die Uhr lesen können, heißt das noch nicht, dass
sie das Konzept „Zeit” verstehen. Das kommt erst
mit der Erfahrung. Denn Zeit und Zeitdauer wurden
von der Gesellschaft geschaffen und von der Kultur
geprägt, sie sind nichts Natürliches. Bevor es die
Uhr gab, richteten sich die Menschen nach dem Sonnenaufgang und -untergang. Minuten und Stunden
hatten keine Bedeutung. Erst mit der Uhr wurde die
Zeiteinheit gemessen und der Zeit einen Wert gegeben. Also müssen Kinder erst lernen, wie sich eine
bestimmte Zeit anfühlt, bevor sie ein Verständnis für
die Dauer einer Zeit bekommen.
Kann man Zeitgefühl trainieren?
Zeitgefühl lässt sich nicht trainieren, meint Wittmann. Die Uhr kann man lernen, das Zeitgefühl da-
gegen sei sehr subjektiv. Die Einschätzung von einer
Zeitdauer komme mit der Lebenserfahrung von ganz
alleine. Irgendwann wissen Grundschulkinder, wie
lange eine Schulstunde dauert. Ob die 45 Minuten
gefühlt dann schnell oder langsam vergehen, empfindet jedes Kind anders ‒ je nach Interesse am Fach,
der persönlichen Tagesform und anderen Faktoren.
Forscher finden es auch fraglich, ob man seinem
Kind unbedingt diese magische Zeitlosigkeit nehmen muss, wenn Kinder noch nicht an die Zukunft
denken, wenn sie noch nicht vom Kindergarten zum
Musikunterricht und anschließend in die Turnstunde
hetzen. Pünktlichkeit sollte nicht überwertet werden,
schreibt die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Simone
Wissing in ihrer Studie „Das Zeitbewusstsein des
Kindes‟. Denn dieser Zeitdruck führt zu „Pedantrie,
mechanisch-fremdgesteuerter Lebensführung und
innerer Unfreiheit”.
Dennoch kann man seinem Kleinkind die Dauer
einer bestimmten Zeit verständlich machen. Wenn
es auf der Autofahrt fragt, wie lange es noch dauere,
„holt man sein Kind am besten in die Jetzt-Zeit und
schafft Vergleiche”, rät der Psychologe Wittmann.
Die Autofahrt dauert, z. B., noch zweimal so lang
wie die Lieblingssendung oder man macht eine CD
an und sagt: „Danach sind wir da”.
Zeitparadox auch für Erwachsene: Wie
lang ist eine Stunde?
Wie lang oder kurz sich Zeit anfühlt, hängt von inneren und äußeren Impulsen ab. Wenn wir nichts tun,
z. B. im Zug sitzen, vergeht die Zeit langsam, wir
hören unser inneres Ticken laut und deutlich, schauen alle fünf Minuten auf die Uhr. Doch im Rückblick kommt uns diese eine Stunde des Zugfahrens
kurz vor. Denn es ist nichts passiert, das in unserem
Gehirn Eindrücke oder Spuren hinterlassen konnte.
Bei einem Spieleabend dagegen sind die äußeren
Impulse stark. Wir entdecken Neues, lernen, lachen,
quatschen und hören nicht auf unsere innere Uhr. Im
Rückblick ist in dieser einen Stunde am Spieleabend
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
viel passiert, sodass uns unser Gehirn auf einen langen Zeitraum rückschließen lässt.
Was können Erwachsene vom Zeitgefühl
der Kinder lernen?
Für Kinder ist das Leben wie ein Dauer-Spieleabend.
Es prasseln ständig neue Impulse auf sie ein, sie
erleben und lernen täglich etwas Neues. Kein Tag
ist wie der andere. Deswegen vergeht die Zeit für
sie schnell, im Rückblick aber dauerte ihre Kindheit
eine gefühlte Ewigkeit. Bei Erwachsenen ist meist
das Gegenteil der Fall. Im Alltag schleicht sich
Routine ein, es passiert wenig Neues oder Aufregendes, deswegen hat man im Rückblick das Gefühl,
dass die Jahre und Jahrzehnte nur so dahinfliegen.
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Doch je emotionaler gefärbt und abwechslungsreicher ein Leben ist, desto länger scheint es subjektiv
betrachtet zu dauern. Also sollte man öfter mal die
Routine brechen, ein neues Hobby anfangen oder
ein Instrument lernen. Außerdem sind Erwachsene
sehr zukunftsorientiert. Der Alltag ist durchgetaktet,
wir rennen von einem Termin zum nächsten, sind
im Kopf immer ein Schritt voraus. Selbst unsere
Freizeit ist durchgeplant. „Wir haben verlernt, in die
Zeit zu leben”, meint Wittmann. Deswegen sollte
man öfter wieder wie ein Kind bewusst im Hier und
Jetzt sein.
Quelle: http://magazin.sofatutor.com/eltern/2014/10/31/wielange-noch-warum-kinder-ein-anderes-zeitgefuehl-haben/
JUGEND IN DER
LEISTUNGSGESELLSCHAFT
von Katharina Ludwig
Eine Studie kritisiert: Eltern fordern und fördern zu
viel. Für freies Spielen haben Kinder kaum noch
Zeit. 84 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben
oft das Gefühl, für Dinge, die Spaß machen, keine
Zeit zu haben
Auch Arbeitslosigkeit und Schulden der
Eltern stressen Kinder
Soziale Faktoren entscheiden, wie sehr Kinder von
Stress betroffen sind und was ihren Stress ausmacht:
Kinder mit alleinerziehenden Eltern und Familien
mit Migrationshintergrund sind besonders gefährdet.
Auch Arbeitslosigkeit, finanzielle Probleme und
Schulden der Eltern stressen die Kinder. 82 Prozent
der Kinder mit hohem Stresslevel fühlen sich von
Aufgaben im Haushalt belastet.
Kinder leiden aber auch an „Förderstress“ und den
Erwartungshaltungen der Eltern: 39 Prozent aller
12- bis 16-Jährigen haben an drei oder mehr Tagen
pro Woche nach der Schule noch mindestens einen
festen Termin. Wobei die Termindichte alleine, für
Ziegler überraschend, noch nichts über den Stresslevel des Kindes sagt. Entscheidend sei, ob die
Aktivitäten von den Kindern gewollt sind und somit
als „ihre Zeit“ empfunden werden. 85,6 Prozent der
gestressten Kinder dürfen in der Freizeit nicht selbst
entscheiden. 60,2 Prozent werden nur manchmal bis
nie nach ihrer Meinung gefragt. „Freizeit ist Freizeit“, egal was das Kind macht, dieser Satz findet
nur bei 15 Prozent der Eltern von gestressten Kindern Zustimmung.
Die Kinder fühlen sich als Versager, ziehen
sich zurück oder werden aggressiv
Die Folgen von Stress äußern sich – wie bei Erwachsenen – psychisch sowie körperlich: Kinder
und Jugendliche fühlen sich unwohl und haben
häufig eine negative Selbstwahrnehmung. 67 Prozent sind oft wütend, zornig oder – selbst in der
Fülle des fremdbestimmten Angebots – gelangweilt,
was auch zu höherer Aggressionsbereitschaft führt.
65 Prozent können schlechter einschlafen, haben
häufiger Kopf- und Bauchschmerzen oder leiden
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
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Szenenfoto mit Jonas Lauenstein
häufiger unter Müdigkeit als ihre weniger gestressten Altersgenossen. Das sind wichtige Warnsignale.
„Magst du dein Leben, so wie es ist?“ Diese Frage
beantworten 29,9 Prozent mit „manchmal/gar nicht“.
Die Kinder fühlen sich als Versager, die Lust an der
Schule schwindet, sie schämen sich und ziehen sich
zurück. Elf Prozent der Jugendlichen mit hohem
Stresslevel sind depressiv verstimmt. Ziegler hätte
auch positive Stress-Folgen wie mehr Leistungsbereitschaft erwartet, belegbar seien aber nur negative
Folgen. Die Kinder und Jugendlichen fühlen sich
nicht mehr in der Lage, ihre Probleme zu meistern.
Knapp die Hälfte fürchtet, die Eltern zu enttäuschen.
Das Sensorium der Kinder für die in sie gesteckten
Erwartungen ist gut.
Eltern glauben oft, die Kinder seien eher
unterfordert
Die Eltern umgekehrt nehmen die Belastung ihrer
Kinder häufig nicht wahr: 87,3 Prozent der Eltern
von stark gestressten Kindern glauben nicht, ihr
Kind zu überfordern. 40 Prozent fürchten im Gegenteil, ihre Kinder noch nicht genügend zu fördern.
Nur etwa 25 Prozent haben Sorgen, zu überfordern.
Dabei schaden sich die Eltern mit ihrem „Stressförderregime“ häufig selbst, so Ziegler. Während
Väter und Mütter ihre Kinder treiben, empfindet
etwa ein Drittel derer mit stark gestressten Kindern
die Elternschaft selbst als stressig – finanziell und
stärker noch zeitlich. „Möglicherweise ist Stress
eine zentrale Problemlage des Aufwachsens im 21.
Jahrhundert“, sagt Ziegler.
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/wissen/jugend-in-derleistungsgesellschaft-auch-arbeitslosigkeit-und-schulden-dereltern-stressen-kinder/11970606-2.html
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
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„IN DER LANGEWEILE ERLEBEN WIR
DIE NACKTE ZEIT.“
Der Philosoph Rüdiger Safranski beschäftigt sich
in seinem neuen Buch „Zeit“ mit der Erfahrung des
Vergehens. Das Weltgeschehen mitzuerleben, sei
großartig – und anstrengend.
Herr Safranski, Sie nehmen sich Zeit für ein Interview. Was heißt das?
Das bedeutet, dass man sich aus der Agenda mit
all den Abmachungen und Plänen ein Stück herausschneidet und diesen Zeitabschnitt zur Verfügung stellt. Schon hier merken wir, dass man
sich, wenn es um die Zeit geht, immer schon mit
der Gesellschaft beschäftigt. Denn man bewirtschaftet die Zeit ja nicht nur selbst, sie wird auch
von der Gesellschaft bewirtschaftet. Deswegen
findet hier die Begegnung mit der reinen Zeit,
mit der Zeit an sich, gar nicht statt.
Dies geschieht, wie Sie in Ihrem Buch über die Zeit
schreiben, in der Langeweile.
Ich überlegte mir, welches die Momente sind,
bei denen man nicht in einem planerischen Sinne
mit der Zeit umgeht, wozu uns das Leben in der
Arbeits- und Leistungsgesellschaft nötigt – Momente, in denen man sie direkter erlebt. Was mit
dem Menschen los ist, erkennt man dann besonders gut, wenn sonst nichts los ist. Langeweile
kennt ja jeder.
Was zeichnet diese Zeit aus?
Während ereignisarmer Zeiten merkt man das
Vergehen der Zeit selbst. Um dies bildlich zu
veranschaulichen: Der Ereignisteppich lässt uns
die Zeit nie richtig wahrnehmen. Nur da, wo
dieser Ereignisteppich fadenscheinig wird, wo
die Ereignisse dünn oder spärlich werden, ist der
Durchblick auf das reine Zeitvergehen möglich.
Ein nicht nur angenehmer Anblick.
Es ist eine prekäre Erfahrung, weshalb sie auch
als Folterinstrument eingesetzt werden kann:
Hört jemand in einer Zelle nur ein regelmäßiges
Tropfen, kann dies ihn in den Wahnsinn treiben.
Der Tropfen ist dieses spärliche Ereignis, sonst
gibt es nur Leere; aber eben nicht nichts, sondern
das Verstreichen von Zeit. Wenn man die Zeit
gewissermaßen nackt erleben will, kommt man
um die Langeweile nicht herum.
Ändert sich das Interesse an der Langeweile mit der
Zeit?
Langeweile gibts, seit es Menschen gibt. Aber es
gibt Epochen, die sich stärker für sie interessiert
haben. Dass die Romantik einen besonderen
Blick auf die Langeweile hatte, hängt mit dem
Talent der Romantiker zusammen, Gefühle ins
Auge zu fassen, die etwas Abgründiges haben.
Deswegen existieren in der romantischen Literatur wunderbare Beschreibungen der Langeweile.
Aber all unsere Unternehmungen zielen doch darauf
ab, Langeweile gar nicht aufkommen zu lassen.
Ja, das ist ein zentraler Aspekt: Um Langeweile
zu vermeiden, haben wir den Furor des Tuns
entwickelt. Zum Nutzen der Arbeit gehört auch,
dass sie uns vor der Langeweile schützt. Die
Angst vor ihr macht uns süchtig nach Unterhaltungen und Ablenkungen. Man kann so weit
gehen zu sagen: Alles, was wir machen, ist eine
einzige große Anstrengung, die Erfahrung der
Langeweile und damit des Nichts zu meiden.
Der französische Philosoph Pascal hat dies bereits im 17. Jahrhundert gesehen, als er in seinen
„Pensées“ menschliches Tun als eine einzige
Flucht vor der Langeweile beschrieben hat.
Man sagt: Es langweilt einen. Was oder wer ist
dieses Es?
Das Es ist wie ein Schatten, der sich über alles
legt; es hat etwas Anonymes. Wenn einen ein
bestimmtes Gegenüber langweilt, hat man einen
guten Grund: Der ist langweilig; der verbreitet
Langeweile! Nun stellt sich aber auch der Verdacht ein, dass die Langeweile aus einem selbst
aufsteigt, dass man sich mit sich selbst langweilt,
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
dass man das Gefühl hat, man ist mit sich selbst
nicht in guter Gesellschaft, wenn man allein ist.
Also: Dass man selber der Langweiler ist. Dann
hält man natürlich lieber an dem fest, was einen
von sich selbst als langweiliges Etwas befreit.
Kann man eigentlich Zeit haben im Sinne von besitzen?
Eigentlich nicht. Was besitzt man denn, wenn
man glaubt, die Zeit zu besitzen? Der Moment,
den man eben gepackt hat, ist ja schon wieder
vorbei. Die Zeit ist immer etwas, was einem
entgleitet. Das gehört zu ihrem Definitionsmerkmal. Ohne Aufnahmegerät wäre dieser Moment
unseres Gedankenaustausches endgültig vorbei.
Dank der Technik haben wir nun aber ein Zeugnis
davon.
Nur: Wir halten die Laute, die Stimmen fest –
also äußere physische Zeichen. Oder Zeichen,
die Schrift zum Beispiel, oder Bilder. Der begleitende innere Zustand aber, der bei jedem von uns
jetzt als Befindlichkeit dieses Momentes da ist,
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der ist unwiderruflich vorbei. Und den können
wir auch nie reproduzieren. Auch Messungen
unserer Gehirnströme, ebenfalls äußere Zeichen, helfen nicht weiter. Der begleitende innere
Zustand ist nicht mehr da, und wenn wir doch
den Eindruck haben, er ist wieder da, so können
wir doch nicht gewiss sein, denn das Original,
woran wir messen könnten, ist unwiderruflich
vergangen. Das ist der Grund, weshalb wir die
Zeit nicht besitzen können. Es ist umgekehrt:
Die Zeit besitzt uns.
Es ist ja auch nicht schlecht, wenn etwas vergeht.
Die Unumkehrbarkeit des Zeitpfeils kann einen
melancholisch stimmen, sie hat aber auch etwas
Entlastendes und Befreiendes. Borges hat sich
einmal eine Figur ausgedacht, die nichts vergessen kann. Das ist unvorstellbar! Da merkt man
dann, was für ein Segen das Verschwinden ist.
Das ist ja auch das Problematische an der Psychoanalyse und dem dauernden Aufarbeiten dessen, was
in der Kindheit geschehen ist.
Szenenfoto mit
Katherina Sattler,
Stefan Kowalski,
Denis Pöpping und
Elisbeth Heckel
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
Die oft zu hörende Behauptung, dass man ein
übles Ereignis nur überwinden kann, indem
es noch mal durchagiert, trifft nicht immer zu.
Manchmal kann es gut sein, manchmal aber auch
gerade nicht. Vergessen können und nicht mehr
an all das vergangene Schlechte rühren – dies
sind feste Bestandteile unserer Lebensbewältigung.
Liegt der Sinn des Seins letztlich also im Vergehen?
Martin Heidegger schreibt, dass der Sinn von
Sein die Zeit ist, das heißt auch, dass der Sinn
im Vergehen liegt – und nicht im Festhalten der
Zeit. Gegen diese skandalöse Erfahrung des
Vergehens versuchen wir Beständigkeiten zu
schaffen mit unserem Tun. Diese Bestandssicherung und dieses Wachstum ist eine Vorsorge gegen das andauernde Vergehen. Auch die Kultur
ist eine Maßnahme zur Sicherung des Bestandes.
Wenn sich keiner mehr an eine bestimmte Vergangenheit erinnert, ist es so, als gäbe es sie gar
nicht mehr. Das kann befreiend sein, aber auch
ein ungeheurer Verlust.
Ich bin also auch im Vergessen.
Dass man seine Zeit hat beziehungsweise in seiner Zeit ist, bedeutet ja auch eine große Chance:
Auch ich erfahre die Zeit, auch durch mich geht
sie hindurch! Zeit kann eine Rückkehr zu sich
selbst bedeuten in seiner Unverwechselbarkeit
und Unvertretbarkeit. Man erobert ein Terrain,
das man sowieso bewohnt. Ich bin ich – bleibe
erhalten, trotz des Zeitvergehens.
Ist das dann die Eigenzeit?
Eigenzeit bedeutet mehreres: Wir haben eine
Eigenzeit in unserem Körper, ein inneres Zeitprogramm; jeder kennt diese körpereigenen
Zeitvorgänge. Und es gibt den gesellschaftlich
aufgenötigten Zeitablauf. Hier muss man sich Inseln der Souveränität einrichten, auf denen man
die Zeit selbst bestimmt. Selbstbestimmung –
das wird oft vergessen – schließt den Bereich der
zeitlichen Struktur mit ein. In der Gesellschaft
bestehen ja verschiedene Geschwindigkeiten:
vom hohen Tempo der Finanzmärkte bis hin zum
langsamen Funktionieren der Demokratie. Die
verschiedenen Lebensbereiche haben ihre Ei-
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genzeiten. Heute ist ein Kampf darum entbrannt,
welche Geschwindigkeit die dominierende sein
soll. Die Frage, wer sich nach wem richten muss,
ist sehr politisch.
Das Internet erhöht das Tempo zusätzlich.
Einerseits geht es um Geschwindigkeit, andererseits um Gleichzeitigkeit – um ein Phänomen,
das es früher nicht gab. Wir sind Zeugen einer
ungeheuren Zäsur: Raumentfernte Punkte hatten
vor 1890 nie eine Gleichzeitigkeit erfahren.
Jeder Ort lebte einzig in seiner Eigenzeit. Alle
Informationen, die eintrafen, bezogen sich auf
Ereignisse, die schon vorbei waren. Die Erfahrung, in Echtzeit an allem teilnehmen zu können,
ist ganz neu. Die Ferne belästigt uns mit trügerischer Nähe, und das Gleichzeitige, vor dem wir
durch Raumdistanzen geschützt waren, dringt in
unsere Eigenzeit ein. Das ist großartig, aber auch
anstrengend.
Bedroht dies auch die Eigenzeit?
Da man regelrecht überschwemmt wird mit
Informationen, ist sie zumindest gefährdet. Jeder
lebt in den Grenzen seiner Eigenzeit, aber in der
Neuzeit sind diese Grenzen weit geöffnet. Man
wird überspült von einer globalen Gleichzeitigkeit: Potenziell kann ich alles erfahren und alle
Informationen mir zu eigen machen. Nur stellt
sich die Frage: Benötigen wir nicht eine Art
Immunschutz? Wie hoch ist eigentlich unsere
Reizverarbeitungskompetenz, ohne dass wir
Schaden nehmen?
Funktioniert unser Reiz-Reaktions-Schema auch bei
Informationen?
Wir nehmen Reize auf und wollen darauf angemessen reagieren, handelnd antworten. Wie soll
das gehen, wenn Unmengen von Reizen in uns
eindringen? Die enorme Reichweite der aufgenommenen Reize durch Wahrnehmungsprothesen wie das Fernsehen oder das Internet führt
dazu, dass wir auf der Handlungsseite ein Problem haben: Wir können nicht mehr angemessen
darauf reagieren. Daraus entsteht ein fundamentales inneres Ungleichgewicht mit latenter Panik
und Hysterie aufgrund nicht abgeführter Energie.
Diese Unruhe wird in medialen Sensationen und
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
Skandalen abgefackelt wie die überschüssigen
Gase auf den Ölfeldern.
Aber der Mensch ist ein anpassungsfähiges Wesen.
Der Mensch ist wahnsinnig flexibel. Es scheint,
als ob er mit allem fertig würde. Er ist ein
autoplastisches Wesen, und es lohnt sich nicht,
eine feste Definition seines Wesens zu geben. Er
ist das „nicht festgestellte Tier“, wie Friedrich
Nietzsche einmal geschrieben hat. Daher bringt
Kulturpessimismus nichts. Aber man muss doch
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festhalten, dass sich heute Ungeheures tut. Es
handelt sich um einen gigantischen mentalen
Umbruch. Früher gab es nur ein Wesen, das
Gleichzeitigkeit erfahren konnte: Gott, der mit
seinem Superbewusstsein überall und jederzeit
anwesend war.
Quelle: http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/in-der-langeweile-erleben-wir-die-nackte zeit/story/23358624
WENN KINDER WEG SIND
von Katharina Müller
Auf einmal sind sie weg, haben ihre Sachen gepackt,
suchen draußen an Bahnhöfen, auf öffentlichen
Plätzen oder in verlassenen Gebäuden das, was die
Familie ihnen nicht bieten konnte. Trebegang nennen Fachleute das Phänomen. Mit Dr. Rainer Dieffenbach, Leiter der Abteilung für Psychotherapie
und Psychiatrie im Kindes- und Jugendlichenalter
der Kinderklinik Datteln sprach WAZ-Mitarbeiterin
Katharina Müller. Welche Kinder und Jugendlichen
laufen weg?
Kinder brauchen starke Strukturen: Dr. Rainer
Dieffenbach
Dr. Dieffenbach: Da gibt es verschiedene Gruppierungen und es ist wichtig, das differenziert zu
betrachten. Gerade bei jüngeren Kindern kommt
es vor, dass sie mit Sack und Pack losmarschieren und sich hinter dem nächsten Busch verstecken, um zu schauen, was alles getan wird, um
sie wieder zu finden. Das ist zunächst einmal
etwas höchst Normales. Als echte Trebegänger
bezeichnen wir vor allem Jugendliche zwischen
12 und 16 Jahren, die von zuhause abhauen und
sich bestimmten Gruppen anschließen, etwa
am Bahnhof rumhängen. Schwierig wird es
dann, wenn diese neue Gruppe attraktiver ist,
einen höheren Stellenwert hat, als das, was den
Kindern zuhause geboten wird. Wie treibt die
Trebegänger auf die Straße? Die Ursachen sind
vielfältig. Ein Aspekt ist sicher, dass die Bindungsfähigkeit in den Familien generell nachgelassen hat. Die Kinder sind nicht mehr richtig
in ein System eingebunden. Hinzu kommt, dass
viele soziale Modelle, die Kindern und Jugendlichen heute zur Verfügung gestellt werden, nicht
mehr wirklich prickelnd sind. Ein schwacher
sozialer Hintergrund kann dazu führen, dass
Kinder in ihrer Persönlichkeit nicht so angesprochen werden, dass es reizvoll wäre zu bleiben.
Auf der anderen Seite gibt es die sogenannten
Wohlstandsverwahrlosten, also Kinder, denen
materiell zwar alles zur Verfügung steht, um die
sich aber niemand wirklich kümmert.
Sind Eltern schuld, wenn Kinder gehen?
Schuld ist zu leicht gesagt. Familien heute
bestehen zunehmend aus einem alleinerziehenden Elternteil und den Kindern. Das macht es
natürlich immer schwieriger zu schauen, welche
unterschiedlichen Bedürfnisse die einzelnen Familienmitglieder haben. Hinzu kommt, dass wir
verstärkt Schwierigkeiten mit einer Verbindlichkeit gegenüber anderen Menschen haben. Kinder
brauchen aber vor allem starke Strukturen. Was
können Eltern tun, um zu verhindern, dass ihr
Kind abhaut? Der Trebegang selbst ist die Endstrecke des Problems. Wenn die Kinder einmal
den Ruck zur Straße haben, ist es sehr schwierig,
das wieder rückgängig zu machen. Eltern sollten
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
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Szenenfoto mit Jonas Lauenstein und Katherina Sattler
frühzeitig gucken, wieviel Zeit sie ihrem Kind
eigentlich widmen und wie diese Zeit verbracht
wird. Außerdem ist es wichtig zu schauen, dass
das Kind auch außerhalb der Familie eingebunden ist. Etwa in einen Freundeskreis, in den
Sportverein oder die Pfadfindergruppe. Wann
wird es richtig brenzlig? Wenn der Ton ruppiger
wird, die Musikrichtung sich deutlich wandelt,
wenn Eltern und Kinder nach einem Streit den
Bezug zueinander nicht mehr finden, wenn
offensichtlich Drogen im Spiel sind und Eltern
das Gefühl haben, die Kinder sind nicht mehr
die eigenen. An dieser Stelle kann ein ehrliches
Gespräch auf Augenhöhe helfen. Statt Forderungen zu stellen oder laut zu werden, ist es wichtig,
dem Kind zu vermitteln: Hier ist jemand, der
über die eigenen Schwächen und Schwierigkeiten zu reden weiß und eine gemeinsame Basis
herstellen will.
Quelle: http://www.derwesten.de/staedte/unser-vest/wenn-kinder-weg-sind-id333245.html
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
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DIE LITFASSSÄULE
Die Litfaßsäule ist aus dem städtischen Raum
nicht wegzudenken. Im Jahr 1855 bildete sie den
Ausgangspunkt für die Straßenraumgestaltung in
Deutschland. Der Unternehmer Ernst Litfaß (1816 –
1874) etablierte sie mit Unterstützung des Berliner
Polizeipräsidenten Karl Ludwig von Hinckeldey in
Berlin, um dem wilden Plakatieren Einhalt zu gebieten und zentrale Informationspunkte zu schaffen.
Zusätzlich war sie ein probates Mittel der Zensur
und der behördlichen Kontrolle von Informationen.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts bildeten sich unter
dem Einfluss der vorherrschenden wirtschaftlichen
Entwicklungen zunehmend städtische Ballungszentren heraus, die es in dieser Dichte zuvor nicht
gegeben hatte. In Berlin siedelten sich in den fünfziger Jahren zahlreiche neue Industrieunternehmen
(Siemens & Halske, Borsig, Julius Freund, Franz
Engells, L. Schwartzkopff) an, was einen starken
Zuwachs an Arbeitskräften erforderlich machte.
Zwischen 1817 und 1871 vervierfachte sich die Bevölkerungsanzahl von 198.000 auf 826.000 Einwohner. Die politische und soziale Lage änderten sich
dadurch einschneidend. Staatliche und städtische
Institutionen sahen sich vor die Aufgabe gestellt,
das Zusammenleben dieser Vielzahl an Menschen,
die sich zudem in ihren sozialen Voraussetzungen
stark unterschieden, zu organisieren und effizienter
zu gestalten. Neue alltagspraktische Strukturen, zu
denen auch die Konzentration und Steuerung des
öffentlichen Meinungsaustauschs gehörten, mussten
gefunden werden. Zu ihnen gehörte auch die Einführung des neuen öffentlichen Mediums Litfaßsäule,
das Informationen bündelte und zentralisierte und so
dem Wildwuchs Einhalt gebot.
Vorbilder für seine Säule fand Litfaß in London und
Paris. Die nach ihrem Erfinder George Samuel Harris benannte Harrissäule wurde 1824 in London zum
Patent angemeldet. Es handelte sich um eine aus
Metall und Holz gefertigte Plakatsäule, die mehrere
Reihen mit Fächern hatte, in die man Plakate hinein
stecken konnte. Sie wurde auf einem Wagen befestigt und durch die Straßen gefahren. Seit 1842 gab es
auch in Paris Plakatsäulen. Diese wurden gemauert
und entsprachen eher dem Typus, den Litfaß später
in Berlin einführte.
Die erste Litfaßsäule wurde am 1. Juli 1855 an der
Ecke Münzstr. 23 / Grenadierstraße der Berliner
Öffentlichkeit übergeben und stieß überwiegend auf
positive Resonanz, wenn es auch in einigen Zeitungen spöttische Äußerungen gab. Schon bald entstanden zahlreiche Gassenhauer über die Litfaßsäule und
Litfaß selbst erhielt im Volksmund den Spitznamen
„Säulenheiliger“. Ebenfalls am 1. Juli 1855 gab
Litfaß die Gründung eines „Institutes der Anschlagsäulen“, mit dem er seinen Kunden die pünktliche
und ordnungsgemäße Ausführung ihrer Plakatierungsaufträge zusicherte. Durch die Einführung der
Litfaßsäulen in Paris entstand der neue Berufsstand
der Anschlagspediteure, die an einer eigens angefertigten Uniform (graue Bluse mit roten Biesen,
schwarzer Hut und Messingschild) zu erkennen waren. Insgesamt wurden in Berlin 130 Anschlagsäulen
aufgestellt.
Von da an trat die Litfaßsäule unaufhaltsam ihren
Siegeszug an und verbreitete sich nach und nach in
verschiedenen Städten. Nach Hannover, Hamburg
und Stuttgart folgten Bremen, Wien Magdeburg u.a.
Auch in Berlin wuchs ihre Anzahl stetig. Als die
Firma BEREK im Jahr 1921 die Bewirtschaftung
übernahm, waren es schon über 1500. Durch die
Bombardierungen Berlins im 2. Weltkrieg ging ein
Großteil der Anschlagsäulen verloren, nur einige
hundert blieben übrig und dienten nun vor allem
als Medium für Tauschangebote und zur Suche von
vermissten Angehörigen. Später stieg die Zahl der
Säulen in beiden Teilen der Stadt wieder stark an.
2004/05 wurden in ganz Berlin ca. 4000 von ihnen
vermerkt, im Bundesgebiet waren es um die 17 000.
Die Inhalte der Mitteilungen, die an die Litfaßsäulen
angeschlagen wurden, spiegelten auch immer die in
Deutschland jeweils herrschende Regierungsform
und deren Einfluss auf wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen wider. Herrschten in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts im Kaiserreich noch
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
Aufrufe und Kriegsdepeschen vor, so überwogen in
der Weimarer Republik die Wahlplakate. Zu Beginn
des 1. Weltkrieges wurden mit Plakaten auf den Litfaßsäulen Freiwillige geworben und in den Goldenen
Zwanzigern wurden sie mit Werbung für Markenartikel überschwemmt. In dieser Zeit wurden auch zusätzliche Säulen aufgestellt, die häufig nur großformatigen Plakaten eines einzigen Kunden vorbehalten
blieben. Die meisten Litfaßsäulen (3000) gab es in
Berlin unter der Herrschaft der Nationalsozialisten.
Politische Propaganda und Hetzaufrufe fanden ihren
Platz neben Werbeplakaten für Massenvergnügungen. In der Nachkriegszeit wurden die ersten bunten
Filmplakate neben Veranstaltungsinformationen der
sich schnell erholenden Theater- und Konzertbranche geklebt.
Ende der 60er Jahre erlebte die Litfaßsäule einen
Einbruch, als die Werbeagenturen dazu übergingen,
Riesenplakate an allen möglichen Orten wie Häusermauern, Bahnunterführungen, U-Bahnhöfen usw.
anzubringen. Später entschlossen sich viele Firmen,
auf beiden Medien zu werben, unter anderem auch
deshalb, weil der Platz für großformatige Plakate
ausging. Im Vergleich zu früher dient die Litfaßsäule heute meist als Werbemedium, während Plakate
mit öffentlichen Bekanntmachungen eher selten zu
finden sind.
Wie die Litfaßsäule beschaffen ist
Ob sich Ernst Litfaß den Entwurf der ersten Berliner
Litfaßsäule selbst ausgedacht hat oder sich Hilfe von
einem Fachmann suchte, ist heute nicht mehr nachzuvollziehen. Jedenfalls bediente er sich eines zu
dieser Zeit völlig neuartigen Materials für den zylindrischen Schaft der Säule, nämlich des Eisenblechs,
welches das herkömmliche Gusseisen ersetzte, denn
Eisenblech war billiger zu produzieren und wesentlich leichter als Gusseisen. Daher war es das perfekte Material für die Litfaßsäulen. Diese bestanden aus
einem gewickelten Schaft, der englischgrün angestrichen wurde, und in ein 70 cm tiefes Betonfundament
mit einem 15 cm über das Pflaster hinausragenden
roten Klinkerkranz eingemauert wurde. Oben auf
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den Schaft wurde das Kranzgesims mit Entlüftungsschlitzen aufgesetzt und mit einem Palmettenfries
aus Gusseisen verziert. Die ersten Säulen hatten eine
Höhe von 3,28 m und einen Umfang von 2,80 m und
waren damit kleiner als die nachfolgenden Modelle.
Im Laufe der Zeit erhielten die Litfaßsäulen noch
eine Nebenfunktion. 1884 wurden die Berliner Elektrizitätswerke (die spätere Bewag-AG) gegründet
und man stellte fest, dass sich der hohle Innenraum
der Säulen bestens zur Installation von Transformatoren eignete. Allerdings musste man dafür den
Durchmesser erweitern und im verstärkten eisernen
Schaft drei übereinanderliegende Türen anbringen, damit die Elektriker jederzeit Zugang zu allen
Teilen der Transformatoren hatten. Außerdem wurde
zwischen Schaft und Sockel eine Achse eingebaut,
dank derer sich die Säule drehen ließ. Diese BewagSäulen sind heute infolge technischer Neuerungen
nicht mehr in Betrieb.
Einige Anschlagsäulen wurden in Berlin auch als
Telefonvermittlung genutzt.
Seit 1920 und besonders nach dem 2. Weltkrieg
verbreitete sich neben der Eisensäule die Betonsäule,
deren glatter Schaft durch ein kegelförmiges Blechdach ergänzt wurde. Sie waren besonders wetterfest,
ebenso wie die seit den 70er Jahren verwendeten
Modelle aus Eternit, die zudem sehr leicht sind.
Ebenfalls seit den 70er Jahren gab es sogenannte
Verkehrsleitsäulen, die von innen beleuchtet und so
auch bei Dunkelheit nicht mehr zu übersehen waren.
Auch der heute verwendete Typ ist von innen beleuchtet. Die Säulen bestehen aus Plexiglas und die
Plakate befinden sich unter Glas, sodass das Kleistern überflüssig geworden ist. Sie sind etwa vier
Meter hoch und drehen sich um sich selbst.
Seit 2011 gibt es am Hackeschen Markt den Litfaßplatz, auf dem eine Litfaßsäule aus Beton und einer
goldenen Krone steht. In der Münzstraße befindet
sich das Litfaß-Denkmal, das ebenfalls aus einer
Anschlagsäule besteht, die mit Bildern und Schriftstücken verziert ist und an ihren Erfinder und seine
Druckerei erinnert.
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
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UNTERRICHTSPROJEKT
Entwerfen Sie mit den Kindern ein Plakat. Das
Thema können Sie auf das Stück und seine Themen
beziehen oder jedes andere Thema nehmen wir z.B.
Berlin als europäische Metropole etc. Ein Plakat
zum Thema Zeit würde sich auf das Stück beziehen:
Wie schnell oder wie langsam vergeht sie; wann ist
eine Zeit gut, wann nicht; welche Zeiten und wofür
braucht ein Kind an einem Tag? Ein anderes Thema
ist die Familie: Wie gehen Familien miteinander um,
was wäre eine Traumfamilie für die Kinder, in welchem Verhältnis stehen dort die Familienmitglieder
zueinander?
Szenenfoto mit
Katherina Sattler und
Jonas Lauenstein
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
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ANREGUNGEN FÜR IHREN
UNTERRICHT
Manchmal, wenn Moritz die Welt um sich herum zu
viel wird, verschwindet er in einer Litfaßsäule und
beobachtet durch ein Guckloch die hektisch herumtreibenden Menschen. In seinem Versteck fühlt er
sich sicher und nimmt sich alle Zeit der Welt – Zeit
zum Ankommen und Spielen, Zeit zum Fabulieren
und Phantasieren und Zeit für die Langweile. So wie
Moritz sich von seiner Außenwelt abschirmt, sind
auch die folgenden Ideen als Rahmensetzung zu
verstehen, die innerhalb eines begrenzten Zeitraums
neue Denk- und Handlungsräume kreieren und somit
im Sinne der Geschichte eine eigene „Litfaßsäule“ bilden. Innerhalb dieses Vakuums besteht die
Möglichkeit, anzuhalten und Fragen an den Inhalt
und die Form des Theaterstückes zu stellen, immer
wieder neu zu denken, zu formulieren und zu ...
plakatieren.
Die Zeitmaschine
Geben Sie Ihren Schülerinnen und Schülern als
erstes die Aufgabe, eine Zeitmaschine zu malen und
mit vielen verrückten Elementen auszustatten. Was
soll die Zeitmaschine können und wo soll sie hinführen? Als Vorbereitung könnte die Zeitmaschine die
Kinder auf eine Zeitreise in die Zukunft mitnehmen:
Welche Erwartungen haben sie an den Theaterbesuch, welche an die Inszenierung? Wie wird die
Inszenierung sein? Wie glauben sie, dass die Geschichte erzählt wird? Wie könnten die Kostüme und
die Bühne aussehen? Als Nachbereitung wird die
Zeitmaschine in die Vergangenheit oder Zukunft der
Geschichte von Moritz führen: Was waren spannende Momente? Wie könnte die Geschichte nach dem
Ende weitergehen?
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
Zeit erfinden
a. Fragen Sie in der Klasse nach besonderen Zeiten:
Welche Zeiten gibt es bereits? Welche Zeiten spielen
in eurem Alltag eine wichtige Rolle? (Aufstehzeit,
Schulzeit, Freizeit, Sommerzeit usw.)
Laden Sie die Schülerinnen und Schüler in der
Vorbereitung ein, zu ihren Ideen ein passendes
Figuren-Ensemble zu erfinden z.B. die Aufstehfigur,
die Ferienfigur, der Keine-Zeit-Haber. Dafür werden alte Zeitungen und Zeitschriften zerschnitten
und die Figuren in Form einer Collage aus Bild und
Textschnipseln erstellt. In der Nachbereitung bietet
es sich an, die Figuren der Inszenierung aufzugreifen
und mit der Technik der Collage herauszuarbeiten.
Welchen Umgang haben diese mit ihrer eigenen
Zeit? Wie unterscheiden sich die Figuren der Geschichte voneinander? Welche unterschiedlichen
Facetten zeigen sich bei jeder einzelnen Figur? (Dies
ließe sich auch fächerübergreifend denken und könnte im Kunstunterricht stattfinden.)
b. Erklären Sie sich und die Kinder zu Zeiterfindern.
Welche Zeiten gilt es noch zu erfinden? Lassen Sie
Ihre Schülerinnen und Schüler die erfundenen Zeiten
möglichst detailliert und wissenschaftlich der Klasse
erklären. Was für Tipps können sie den Anderen
als Experten ihrer Zeit mitgeben? (Eine mögliche
Antwort wäre z.B.: „Meine erfundene Zeit ist die
Erdbeer-Rhabarber-Kompott-Zeit. Mein Tipp ist: Ein
Besuch bei meiner Tante.“)
Zeit zum Ausreißen
a. In der Geschichte fasst Moritz einen Entschluss.
Er verlässt sein Zuhause und hinterlässt einen Zettel:
„Ich bin gegangen. Es hat mir nicht mehr gefallen.“
Was können Gründe sein, von seinem Zuhause
wegzugehen? Was ist Ausreißerzeit? Wann ist sie gut
und wann nicht?
b. Für Moritz steht die Erwachsenenwelt Kopf,
seine Schwester nennt ihn Schnecke, Trantute und
Träumer. Sein Vater, der Sparkassendirektor, zählt
das Geld in Minuten und verbündet sich, damit der
Junge endlich lernt, sich anzupassen, mit Moritz‘
Lehrerin. In einem sind sich alle einig: Moritz ist zu
langsam.
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Hierzu wählt sich jedes Kind eine Gangart aus,
welche Moritz entsprechen könnte z.B. schlurfen,
schleichen oder langsam gehen. Anschließend wählt
sich jedes Kind eine gegenteilige Figur aus dem
Stück aus und bewegt sich in einem deutlich schnelleren Tempo durch den Raum und in der entsprechenden Körperhaltung, dabei kann zusätzlich mit
Sprache gearbeitet werden: „Beeil dich, mach mal
schneller, Zack Zack, wir haben einen Termin, Zeit
ist Geld.“ Anschließend wird die Klasse in zwei
Gruppen geteilt. Dabei bewegt sich die eine Gruppe
im „Moritz-Tempo“ und die andere im „Erwachsenen-Tempo“ durch den Raum. Danach wechseln die
Gruppen.
Fragen Sie Ihre Schüler und Schülerinnen im Anschluss an die Übung, wie sie die jeweils andere
Gruppe wahrgenommen haben: Kommt euch die
Situation bekannt vor? Gehen Erwachsene schneller als Kinder, weil sie längere Beine haben? Oder
wollen sie Zeit sparen? Glaubt ihr, dass Erwachsene
grundsätzlich mehr Zeit haben als Kinder, weil sie
sich immer beeilen? Kinder haben angeblich nie Zeit
für ihre Eltern, weil sie immer spielen müssen und
an jeder Ecke stehen bleiben um Hunde zu streicheln. Was denkt ihr darüber?
Einfach mal langsam machen
Das Pausen Experiment – Teilen Sie Ihre Schülerinnen und Schüler in 3 Gruppen ein. Sie bekommen
die Aufgabe, sich die komplette Pause in Zeitlupe zu
bewegen, frühstücken in Zeitlupe, spielen in Zeitlupe, sprechen in Zeitlupe usw. Dabei bekommen sie
den Auftrag zu beobachten, wie die anderen Kinder
auf ihre Langsamkeit reagieren und im Anschluss an
die Pause von ihren Erfahrungen zu berichten.
Zeit festhalten
Schicken Sie Ihre Schülerinnen und Schüler für ca.
10 min. auf den Schulhof mit dem Auftrag etwas zu
suchen, was ihrer Meinung nach Zeit dokumentiert.
Das könnte zum Beispiel ein Herbstblatt, eine Plastikflasche oder ein rostiger Nagel sein.
Anschließend sollen die gefundenen Gegenstände
vorgestellt werden. Fragen Sie danach, welche Ge-
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
schichte der Gegenstand haben könnte. Wo kommt
er her, wem gehörte er einmal? In welchem Bezug
stehen Zeit und Geschichte zueinander?
Schließen Sie die Frage an, welche Dokumente der
Zeit im Theaterstück zu sehen waren und in welcher
Form (Kostüme, Sprache, Bühnenbild …).
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Zeit zum Philosophieren
Bestimmen sie einen Zeitraum, in dem Sie mit Ihren
Schülerinnen und Schülern philosophieren und in
dem neue Gedanken entstehen. Ausgangsfragen:
Kann man eigentlich Zeit haben im Sinne von besitzen? Was würdet ihr euch mit Zeit kaufen, wenn ihr
Zeit kaufen könntet?
Szenenfoto mit Jonas Lauenstein
MORITZ IN DER LITFASSSÄULE
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HINWEISE FÜR DEN THEATERBESUCH
Liebe Lehrerin, lieber Lehrer,
viele Kinder und Jugendliche besuchen zum ersten
Mal ein Theater oder haben wenig Erfahrung damit.
Wir bitten Sie, im Vorfeld eines Besuches sich mit
Ihrer Klasse die besondere Situation zu vergegenwärtigen und die nachfolgenden Regeln zu besprechen. Damit eine Vorstellung gelingt, müssen sich
Darsteller und Zuschauer konzentrieren können.
Dafür braucht es Aufmerksamkeit. Alle Beteiligten
müssen dafür Sorge tragen. Wer die Regeln nicht
einhält, beraubt sich selbst dessen, wofür er Eintritt
gezahlt hat – und natürlich auch alle anderen Besucher.
Folgende Regeln tragen zum Gelingen eines
Theaterbesuchs bei:
1. Wir bitten, rechtzeitig im Theater einzutreffen, so
dass jeder in Ruhe den Mantel und seine Tasche
an der Garderobe abgeben und ohne Eile seinen
Platz aufsuchen kann. Unsere Garderobe wird
beaufsichtigt und ist im Eintrittspreis enthalten.
2. Während der Vorstellung auf die Toilette zu
gehen, stört sowohl die Darsteller als auch die
übrigen Zuschauer. Wir bitten darum, sich entsprechend zu organisieren. In unseren Programmzetteln lässt sich auch nachlesen, ob es eine Pause in
der Vorstellung gibt.
3. Es ist nicht gestattet, während der Vorstellung zu
essen und zu trinken, Musik zu hören und Gespräche zu führen. Mobilfunktelefone und mp3-Player
müssen vollständig ausgeschaltet sein. Während
der Vorstellung darf weder telefoniert noch gesimst oder fotografiert werden.
4. Der Applaus am Ende einer Vorstellung bezeugt
den Respekt vor der Arbeit der Schauspieler und
des gesamten Teams unabhängig vom Urteil über
die Inszenierung. Wem es gut gefallen hat, der gibt
mehr Beifall – wem nicht, entsprechend weniger.
Wichtig ist, erst nach dem Ende des Applauses
den Saal zu verlassen.
Unser Einlasspersonal, die ARTIS GmbH, steht den
Zuschauern als organisatorischer Ansprechpartner
am Tag der Vorstellung zur Verfügung.
Wir sind an den Erfahrungen des Publikums mit den
Inszenierungen interessiert. Für Gespräche stehen
wir zur Verfügung. Bitte wenden Sie sich direkt an
die stückbetreuende Dramaturgin / Theaterpädagogin, an den stückbetreuenden Dramaturgen / Theaterpädagogen.
Wir freuen uns auf Ihren Besuch.
Ihr THEATER AN DER PARKAUE
IMPRESSUM
Spielzeit 2015/2016
THEATER AN DER PARKAUE
Junges Staatstheater Berlin
Parkaue 29
10367 Berlin
Tel. 030 – 55 77 52 -0
www.parkaue.de
Intendant: Kay Wuschek
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Redaktion: Karola Marsch, Michèle
Fischer, Sarah Kramer, Gina Jeske
Gestaltung: pp030 –
Produktionsbüro Heike Praetor
Fotos: Christian Brachwitz
Titelfoto mit Denis Pöpping, Susi Claus
und Jonas Lauenstein
Abschlussfoto mit Denis Pöpping
Kontakt Theaterpädagogik:
Sarah Kramer
030 – 55 77 52 -60
[email protected]
Mit freundlicher Unterstützung von

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