Zielsetzung und Fragestellung diagnostischer Interviews

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Zielsetzung und Fragestellung diagnostischer Interviews
8. Vorlesung:
Diagnostische Interviewformen
Meine Damen und Herren!
Gespräche bzw. Interviews sind in allen Anwendungsfeldern der Psychodiagnostik ein unverzichtbarer Bestandteil der Psychodiagnostik, sei es zur Ergänzung testdiagnostischer Befunde
oder als hauptsächliche oder sogar einzige Methode der psychologischen Datenerhebung.
Entwickelt wurden die heute gebräuchlichen diagnostischen Interviewformen im vorigen
Jahrhundert insbesondere in Medizin und Psychiatrie. Hier spricht man von der Exploration
(Erhebung der aktuellen Beschwerden) und der Anamnese (Erhebung der Lebensgeschichte).
Exploration und Anamnese sind trotz moderner Labor- und Apparatediagnostik für den Arzt
immer noch die wichtigsten Informationsquellen, die eine erste Verdachtsdiagnose erlauben
und das weitere diagnostische Vorgehen bestimmen (sollten).
Der Psychiater Emil Kraepelin führte in seinen Lehrbüchern (1883) die systematische Anlage
der Krankengeschichte mit Einbettung in den Lebenslauf als Instrument der psychiatrischen
Diagnose und Forschung ein. In der Psychiatrie wurde in der Folgezeit eine zunehmend verfeinerte Technik der psychischen Befunderhebung in Kombination mit biografischer und sozialer Anamnese entwickelt.
Daneben liefert die Psychoanalyse bis heute die theoretische Grundlage für zahlreiche Interviewformen. Sigmund Freud nutzte die Erkundung der Lebensgeschichte als wichtigen Zugang zum Verständnis der Symptomatik seiner Patienten. Fast entschuldigend schreibt er
1895 in den "Studien über Hysterie" (Gesammelte Werke Bd. 1, S. 227):
"... es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren.
Ich muß mich damit trösten, daß für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Lokaldiagnostik und elektrische Reaktionen kommen
bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch eine Art Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen. Solche Krankengeschichten wollen beurteilt werden wie psychiatrische, haben aber vor letzteren
eines voraus, nämlich die innige Beziehung zwischen Leidensgeschichte und Krankheitssymptomen,
nach welchen wir in den Biographien anderer Psychosen noch vergebens suchen."
Neben psychiatrischen und psychodynamischen Interviewformen entwickelten sich in der
Verhaltenstherapie verschiedene Interviewformen zur Verhaltensanalyse.
In der Arbeits- und Organisationspsychologie haben sich verschiedene Interviewformen im
Rahmen der Eignungsdiagnostik als Alternative zum einfachen Einstellungsgespräch entwikkelt. Wichtige weitere Anwendungsbereiche sind Mitarbeiter- und Experteninterviews zur
Analyse von Arbeitstätigkeiten und Arbeitsplätzen und zur Institutionsdiagnostik im Rahmen
der Organisationsentwicklung.
In der 8. Vorlesung wird zunächst die Bedeutung von Zielsetzung und Fragestellung diagnostischer Interviews diskutiert. Daran anschließend wird auf psychiatrische, psychodynamische, verhaltens- und eignungsdiagnostische Interviewformen eingegangen, wobei ich mich
auf die beispielhafte Darstellung einzelner typischer Interviewformen beschränke.
Heiner Legewie
Diagnostische Interviewformen
2
Gliederung
1
Zielsetzung und Fragestellung diagnostischer Interviews
2
Klassifikation psychischer Störungen
2.1 Was heißt Klassifikation?
2.2 Geschichtlicher Exkurs
2.3 DSM IV und ICD 10
2.4 Das psychiatrische Interview
3
Verhaltenstherapeutische Diagnostik
4
Psychodynamische Diagnostik
4.1 Szenisches Interview
4.2 Operationalisierte psychodynamische Diagnostik (OPD)
5
Das Interview in der Eignungsdiagnostik
6
Fragen und Anregungen für die Diskussion
Literatur
1 Zielsetzung und Fragestellung diagnostischer Interviews
Zum Verständnis der unterschiedlichen Interviewformen ist es als erstes erforderlich, sich die
unterschiedlichen Zielsetzungen diagnostischer Interviewformen klar zu machen.
Diagnostische Interviews dienen z.B. einem oder mehreren der folgenden Ziele:
• Verstehen der Biografie, Lebensumstände und aktuellen Problematik des Interviewten
• Erhebung ergänzender Hintergrundinformationen zur Interpretation von Testergebnissen
• Eignungsdiagnostik
• Entscheidungsgrundlage für die Indikation in Beratung und Therapie
• Prozessbegleitende Diagnostik bei psychologisch-therapeutischen Interventionen
• Persönlichkeitsdiagnostik
• Diagnostik bzw. Klassifikation psychischer Störungen
• Gutachtenerstellung
• Erfolgskontrolle bzw. Evaluation psychologischer Interventionen
• Datenerhebung in der sozialökologischen Diagnostik (Thema der 10. Vorlesung).
Die Vielzahl dieser Zielsetzungen verweist auf die Wichtigkeit des ersten Schritts bei der
Vorbereitung eines diagnostischen Interviews: Für jeden Anwendungsfall muss vorab eine
möglichst präzise diagnostische Zielsetzung und Fragestellung formuliert werden. Erst die
Kenntnis der Zielsetzung (Welchem Zweck dient das Interview?) und der Fragestellung (Was
soll im einzelnen geklärt werden?) ermöglichen es dem Diagnostiker, das Interview nach seiner Form und dem Inhalt der Leitfragen bzw. Erzählanstöße zu planen. Die folgende Tabelle
enthält eine grobe Einteilung:
Anwendungsbereich
Zielsetzung
Eingangs- und Pro- Verstehen von psyzessdiagnostik
chisch relevanten Zu(Beratung/Therapie) sammenhängen
Eignungsdiagnostik
Diagnostik zur Indikationsstellung
Auswahl geeigneter
Bewerber
Auswahl geeigneter
Intervention
Fragestellung
Biografie von A?
Lebenssituation?
Aktuelle Problematik?
Ressourcen?
Ist A für Tätigkeit x
geeignet?
Welche Intervention ist
für A angemessen?
Ergebnis
Fallinterpretation
("Gesamtdiagnose"),
Grundlage für Einzelentscheidungen
Selektion: Person A
geeignet oder nicht?
Indikation:
Intervention I oder J?
Heiner Legewie
Diagnostische Interviewformen
Diagnostik psychischer Störungen
Einordnung in ein
Klassifikationssystem
Besitzt A die Merkmale y oder z?
Gutachtertätigkeit
Fachliche Beratung bei
Entscheidungsfindung
Erfolgsbeurteilung
einer Intervention
Trifft p bei A zu oder
nicht?
Welche und wie große
Veränderungen bei A?
Evaluation
3
Klassifikation: Person A ► Merkmal
x?
Gutachterliche Stellungnahme
Erfolgskriterium
erreicht oder nicht?
Das diagnostische Interview dient entsprechend dieser Übersicht zwei verschiedenen Zielen,
die oft – zu Unrecht – als gegensätzlich und unvereinbar angesehen werden:
• Diagnostik als Verstehen von Lebenszusammenhängen eines Individuums
• Diagnostik als Klassifikation eines Individuums, d.h. Zuordnung des Individuums zu einer
Diagnoseklasse, wozu auch Klassifizierungen zur Entscheidungsfindung gehören ("geeignet – ungeeignet")
Unabhängig vom jeweiligen Anwendungsbereich (Beratung, Psychotherapie, Begutachtung,
Eignungsdiagnostik) werden bei der Durchführung diagnostischer Interviews diese Zielsetzungen entweder alternativ oder gemeinsam angestrebt. Sie schließen einander nicht aus, aber
sie stehen in einem Spannungsverhältnis: Diagnostik als Verstehen betont eher die Besonderheiten des Einzelfalls, Diagnostik als Klassifikation betont die Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Klassen von Fällen.
2 Klassifikation psychischer Störungen
2.1
Was heißt Klassifikation?
Klassen- oder Typenbildung ist ein kognitiver Akt, der unserem Denken, Sprechen und Handeln zugrunde liegt. Jede sprachliche Bezeichnung eines Gegenstandes oder Phänomens ist
mit einem Akt der Klassifikation verbunden (s. Semiotisches Dreieck, 4. Vorlesung). Auch
das "ganzheitliche" und intuitive Verstehen im Alltag beruht notwendigerweise auf vielfältigen Akten des Klassifizierens (Einordnen von Phänomenen in die "Schemata der Erfahrung",
s. 3. Vorlesung).
Unter Klassifikation im engeren Sinn wird zweierlei verstanden:
1. Bildung eines in Klassen gegliederten Ordnungssystems für eine Gruppe von Phänomenen
oder "Fällen", wobei sich die einzelnen Klassen durch verschiedene Merkmale unterscheiden (Beispiele: Linnésches System der Pflanzen, System der primären Emotionen,
System der psychischen Störungen nach ICD 10 Kapitel V). Dies ist Aufgabe der Forschung und Theoriebildung in der Diagnostik.
2. Zuordnen eines Phänomens oder "Falls" zu einer Klassen in einem bestehenden Klassifikationssystem aufgrund einer für diese Klasse charakteristischen Merkmalsausprägung.(Beispiele: Identifizierung von Pilzen anhand der Merkmalsbeschreibungen in einem
Pilzbestimmungsbuch, Diagnostik einer psychischen Störung bei einem Klienten anhand
der Merkmalsbeschreibungen im Diagnostik-Manual für ICD 10/V). Dies ist eine Aufgabe von Diagnostik in der praktischen Anwendung.
Diese Überlegungen gelten unabhängig davon, ob zur Klassifikation qualitative oder quantitative Merkmale oder eine Kombination von beiden herangezogen werden (Beispiele: Intelligenzdiagnostik, Diagnostik psychischer Störungen).
Die Logik der Selektionsstrategie ist aus der Eignungsdiagnostik geläufig. Die Logik der Interventionsstrategie lässt sich am Beispiel der medizinischen Diagnostik erläutern (s. 4. Vor-
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Diagnostische Interviewformen
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lesung): Anhand einzelner charakteristischer Symptome (Zeichen) stellt der Arzt beim Patienten die Diagnose Masern. Die Diagnose erlaubt aufgrund des Wissens über weitere mit dieser Krankheit verbundener Merkmale auf Ursachen, Behandlung und Verlauf zu schließen.
Diagnostische Klassifikation ist danach kein Selbstzweck, ihre Nützlichkeit misst sich an den
Schlüssen, die aus einer Diagnose gezogen werden können, d.h. aus dem theoretischen Wissen, das mit einem Klassifikationssystem verbunden ist.
Im Alltag und ebenso in der ganzheitlich-intuitiven Diagnostik nehmen wir Klassifikation
durch den Vergleich mit "typischen Fällen" vor. Für jede diagnostische Klasse erinnern wir
uns an ein oder mehrere besonders charakteristische Exemplare (z.B. der "typische Zwangsneurotiker"), sogenannte Prototypen (von protos = erster und typos = Gestalt). So sind etwa
Adler und Strauß beides Vögel, der Adler kommt aber dem Prototyp des Vogels näher als der
Strauß. Die Klassenzugehörigkeit eines neuen Falls wird aufgrund seiner Familienähnlichkeit
mit dem Prototyp beurteilt, wobei die Familienähnlichkeit sich nicht additiv aus der Ähnlichkeit von Einzelmerkmalen ergibt, sondern eine ganzheitliche Gestaltqualität darstellt (s. Legewie & Ehlers 2000, S. 268 f.).
Die Klassifikation anhand von Prototypen ist zwar für eine schnelle intuitiv-ganzheitliche
Diagnostik unverzichtbar, ist aber mit dem Nachteil verbunden, schlecht überprüfbar zu sein
und weist gewöhnlich eine nur geringe Beurteilerübereinstimmung auf. Um diese relativen
Mängel in der Praxis und vor allem der Forschung auszugleichen, werden heute Klassifikationssysteme bevorzugt, die anstelle von Prototypen auf möglichst eindeutig definierten, d.h.
operationalisierten Definitionsregeln beruhen sollten (operationalisierte Diagnostik). An die
Stelle des Vergleichs mit einem Prototypen tritt hierbei die Überprüfung des Zutreffens einer
vorher festgelegten Kombination von Einzelkriterien.
Beispiel aus ICD 10: F 42 Zwangsstörungen: "Für eine eindeutige Diagnose sollen wenigstens
zwei Wochen lang an den meisten Tagen Zwangsgedanken oder -handlungen oder beides
nachweisbar sein; sie müssen quälend sein oder die normalen Aktivitäten stören. Die Zwangssymptome müssen folgende Merkmale aufweisen: (es folgen 4 Spezifikationen). (Dilling et
al. 1991, S. 152). Das Beispiel macht deutlich, dass durch die Operationalisierung die für unser Denken grundlegende Klassifikation aufgrund von Prototypen und Familienähnlichkeit
keineswegs ausgeschaltet, sondern lediglich in kleineren, regelgeleiteten Schritten geleistet
wird.
Wichtig ist weiterhin die Unterscheidung zwischen kategorialen und dimensionalen Klassifikationssystemen bzw. kategorialer und dimensionaler Diagnostik. Bei kategorialen Klassen
muss eine eindeutige Zuordnung vorgenommen werden ("vorhanden – nicht vorhanden" –
eine Schwangerschaft liegt vor oder nicht, "ein bisschen schwanger" zu sein ist nicht möglich). Bei dimensionalen Klassen dagegen wird das Ausmaß des Vorhandenseins eines
Merkmals zahlenmäßig erfasst (Beispiel: Ausmaß des Neurotizismus entsprechend dem erreichten Wert auf einer Neurotizismus-Skala). Bei der Klassifikation psychischer Störungen
haben wir es häufig mit fließenden Übergängen zu tun, wobei es auf die Ausprägung von
Merkmalen ankommt. Die gängigen Klassifikationssysteme bestehen jedoch aus kategorialen
Klassen ("gesund – krank" oder "leicht – mittel – schwer krank"). Deshalb werden oft willkürlich Grenzwerte ("cutting points") vereinbart (z.B. "IQ unter 90" = "Minderbegabung").
2.2
Geschichtlicher Exkurs
Im Gegensatz zur recht zuverlässigen und oft lebensrettenden Diagnostik von Infektionskrankheiten haben wir bei der Diagnostik psychischer Störungen mit sehr viel größeren Problemen zu kämpfen:
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• Psychische Phänomene sind ganz allgemein sehr viel komplexer und "unberechenbarer"
als der Verlauf einer Maserninfektion!
• Psychische Störungen sind nicht einfach vorgefundene objektive Tatsachen, sondern geschichtlich mitbedingte soziale Konstruktionen
• Die entsprechenden geschichtlich entwickelten psychodiagnostischen Klassifikationssysteme sind bis heute umstritten
• Die Zuordnung der Fälle bzw. die Anwendung der Zuordnungsregeln ist mit großer Unsicherheit behaftet
• Das mit der Klassifikation verbundene theoretische Wissen ist oft dürftig.
Eines der frühen Klassifikationssysteme von Krankheiten unter Einschluss psychischer Störungen stammt von Carl von Linné, der auch das heute noch gebräuchliche Klassifikationssystem der Pflanzen aufgestellt hat. Eine wichtige Annahme war dabei die Existenz von abgrenzbaren "Krankheitseinheiten" (Entitäten), von denen angenommen wurde, dass sie sich
nach Ursache, Auswirkungen und Symptomen und (causa, effectus, signa) abgrenzen ließen.
Auf diesem Gedanken aufbauend stellte der Psychiater Emil Kraepelin (1865 - 1926) eine bis
heute gebräuchliche Dreiteilung psychischer Krankheiten auf:
1. Psychosen (organisch, endogen, reaktiv)
2. Neurosen und Persönlichkeitsstörungen (Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Süchte,
Psychosomatosen)
3. Oligophrenien (leicht, mittelschwer, schwer)
Freud lieferte in der Folgezeit durch seine Neurosenlehre die Grundlage für eine theoretisch
begründete Klassifikation neurotischer Störungen. Anhand ihrer Leitsymptome wurden die
Symptomneurosen benannt: Angst-, Zwangs- und Konversionsneurose/Hysterie. Diesen als
"Übertragungsneurosen" zusammengefassten Neuroseformen stellte Freud die "narzisstischen
Neurosen" Paranoia, Melancholie, Dementia Praecox) gegenüber (heute eher als "frühe Störungen" zusammengefasst).
Abb.: Dreiteilung psychischer Krankheiten
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Während die gebräuchlichen Klassifikationssysteme der Medizin und besonders der Psychiatrie große nationale und schulenspezifische Unterschiede aufwiesen, reichen Bestrebungen bis
zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurück, eine verbindliche internationale Klassifikation von
Krankheiten einzuführen, in die 1939 auch psychisch Erkrankungen aufgenommen wurden.
1948 legte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstmals eine umfassende International
Classification of Deseases (ICD) vor. Etwas später entwickelte die American Psychiatric Association das ebenfalls einflussreiche Diagnostische und Statistische Manual Psychischer
Störungen (DSM). ICD und DSM wurden seitdem mehrfach überarbeitet, wobei Neuerungen
schrittweise von beiden Systemen übernommen wurden.
Anfang der 70er Jahre einigten sich die Mitgliedsländer der Weltgesundheitsorganisation
(WHO), die inzwischen 8. Revision des ICD (ICD 8) einzuführen, die in ihrem V. Kapitel
eine im wesentlichen an Kraepelin und Freud orientierte Einteilung psychischer Krankheiten
enthielt. Die Einführung von ICD 8 (und der in den 80er Jahren folgenden Revision ICD 9)
fällt allerdings zusammen mit massiver Kritik an der psychiatrischen Diagnostik, die aus unterschiedlichen Lagern und Positionen formuliert wurde:
Vertreter der Antipsychiatrie (Ronald Laing, Thomas Szasz) und des Labeling-Approachs
(Thomas Scheff) stellten die Existenz psychiatrischer Krankheitsbilder radikal in Frage bzw.
behaupteten deren Zustandekommen durch gesellschaftliche Stigmatisierung.
D. Rosenhan (On being sane in insane places, 1973) lieferte durch Selbstversuche mit der
Einweisung "normaler Probanden" in psychiatrische Kliniken einen offensichtlichen Beweis
für die Fragwürdigkeit psychiatrischer Diagnosen und die Thesen der Antipsychiatrie.
Von verhaltensorientierten Psychologen wurde in umfangreichen Erhebungen die Irrelevanz
der klassischen psychiatrischen Diagnostik für die nachfolgenden therapeutischen Maßnahmen herausgestellt.
Epidemiologische Untersuchungen erbrachten extreme Unterschiede in der Diagnosehäufigkeit verschiedener Kliniken und Länder.
In der modernen Pharmakotherapie wurde die Forderung einer differentiellen Indikationsstellung aufgrund statistisch reliabler und valider diagnostischer Klassifikation erhoben.
2.3
DSM IV und ICD 10
Gegenwärtig sind im deutschen Sprachraum Neufassungen beider Klassifikationssysteme
psychischer Störungen im Gebrauch (wobei schon mit großem internationalem Aufwand an
den nächsten Revisionen gearbeitet wird): DSM IV und ICD 10 (s dazu Davison & Neal
1976, S. 64-79). Beide Systeme haben sich im Vergleich zu früheren Versionen weitgehend
angenähert, sie basieren auf operational definierten Kriterien und Entscheidungsregeln und
verzichten – mit Ausnahme organisch bedingter psychischer Störungen – auf ätiologische
oder nosologische Modelle.
Das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen der American Psychiatric
Association (DSM IV, deutsche Fassung ) arbeitet mit 5 verschiedenen Dimensionen oder
"Achsen", nach denen jeder Patient klassifiziert werden soll:
I Psychische Störungen
II Persönlichkeits- und Entwicklungsstörungen
III Begleitende körperliche Störungen
IV Schwere der psychosozialen Belastungsfaktoren
V Beurteilung der beruflichen und sozialen Anpassung (Funktionsniveau).
Die eigentliche Klassifikation psychischer Störungen erfolgt auf den Achsen I und II, während die Achsen III-IV zusätzlich relevante Informationen liefern.
Die Internationale Klassifikation psychischer Störungen der Weltgesundheitsorganisation
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(ICD 10, Kapitel V, deutsche Fassung, s. Dilling et al. 1991) sieht eine Beurteilung auf mehreren Achsen nicht ausdrücklich vor, enthält aber im Anhang ebenfalls Kategorien zur Beurteilung körperlicher Begleitstörungen und psychosozialer Belastungen.
Die Kriterien für eine große Zahl von Störungen stimmen weitgehend überein, so dass die
entsprechenden Diagnosen vergleichbar sind.
2.4
Das psychiatrische Interview
Das psychiatrische Interview dient der Diagnose- und Indikationsstellung und der Behandlungsplanung. Es geht dabei sowohl um die psychiatrische Diagnostik, d.h. eine Klassifikation des Patienten (z.B. nach ICD 10), als auch um ein für die Therapieplanung unerlässliches
Verständnis für seine Lebenszusammenhänge. Das Interview besteht aus der Exploration (gegenwärtige Beschwerden und ihre Vorgeschichte) und der Anamnese (Krankengeschichte und
Biografie) wobei die Übergänge fließend sind. Das psychiatrische Interview ist jedoch nicht
alleinige Datenquelle für die psychiatrische Diagnostik, sondern es wird ergänzt durch die
körperlichen Untersuchung und durch Labor- und Testdiagnostik. Allerdings beruht die Diagnosestellung trotz der immer aufwendigeren technischen Verfahren immer noch zu mehr als
90% auf der Befragung des Patienten (sogenannte Eigenanamnese) und seiner Angehörigen/Bezugspersonen (Fremdanamnese).
Die wichtigsten Elemente eines psychiatrischen Interviews (nach Faust 1995, S. 57 ff.):
• Angaben zur Person
Alter, Personenstand, Beruf; Daten zur Ein- bzw. Überweisung
• Erster Eindruck
Äußere Erscheinung, Mimik, Gestik, Verhalten
• Aktuelle Anamnese ("Exploration")
Grund der Untersuchung, Beschwerden und Symptome, Beginn, mutmaßliche Auslöser
und Entwicklung der Symptomatik, persönliche Wertung und Bewältigungsversuche, vorausgegangene Therapien (Eigen- und Fremdanamnese)
• Familienanamnese
Vater, Mutter, Großeltern und Verwandte, Geschwister, Kinder des Patienten
• Körperliche Anamnese
Schwangerschaft der Mutter und Geburt, körperliche Entwicklung, Kinderkrankheiten und
spätere Erkrankungen und körperliche Beschwerden/Auffälligkeiten
• Psychosoziale Anamnese
Familiäre Situation und Atmosphäre bei Geburt und in der Kindheit, Erziehungsstil, wirtschaftliche Situation, Sozialisation, psychosoziale Besonderheiten
• Soziale Anamnese
Ausbildung, Beruf, sozialer und wirtschaftlicher Status, Wohnverhältnisse, Hobbys, besondere Belastungen
• Partnerschaft/Ehe
Frühere Partnerschaften, Entwicklung und Besonderheiten der jetzigen Partnerschaft
• Sexuelle (und gynäkologische) Anamnese
Aufklärung und erste sexuelle Phantasien, erste sexuelle Erfahrungen, frühere sexuelle Beziehungen, Zufriedenheit und Besonderheiten, homoerotische Neigungen, traumatische sexuelle Erfahrungen
• Gynäkologische Anamnese
Menarche und Menstruation, Schwangerschaften, Abbrüche und Fehlgeburten, gynäkologische Erkrankungen, klimakterische Beschwerden, Menopause
• Alkohol und Drogen
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Alkohol, Nikotin, Coffein, Arzneimittel, Rauschmittel – Gebrauch, Abhängigkeit, Sucht;
auch nicht-substanzgebundene Süchte
• Verhalten im Verlauf der Untersuchung
• Psychischer Befund und Diagnose:
- Bewusstseinszustand, Denkvermögen, Affektivität und Antrieb
- Klinische (Verdachts-)Diagnose bzw. ICD 10-Diagnose
In der heute dominierenden biologischen Psychiatrie geht es um eine möglichst exakte Erfassung der Symptomatik und Diagnose des Patienten (ICD 10 bzw. DSM-III). Hierzu werden
bevorzugt standardisierte psychiatrische Interviewschemata und Checklisten eingesetzt, die
nach psychometrischen Gesichtspunkten konstruiert sind (s.u.).
Beispielhaft sei das SKID (Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-III-R) genannt, ein
am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München entwickeltes psychiatrisches Interview (s.
Stieglitz 1994). Das Instrument ermöglicht dem klinisch erfahrenen Diagnostiker nach relativ
kurzem Training (1 - 2 Tage) die Bestimmung von 43 wesentlichen Hauptklassen der Achse 1
des DSM-III-R (ca. 50 Minuten) sowie in einem zusätzlichen Untersuchungsteil von 30 Minuten die Erfassung der DSM-lll-R-Persönlichkeitsstörungen. Das SKID beginnt mit einem
kurzen, halbstrukturierten Interview anhand eines Explorationsleitfadens, das dem Untersucher einen groben Überblick über die Lebenssituation und die selbstgeschilderte Problematik
des Patienten geben soll. Daran schließt sich eine nach Ende des Interviews auszufüllende
Gesamtbeurteilung mit den Kodierungsoptionen aller abgefragten Diagnosebereiche. Kodiert
wird die klinische Beurteilung des Diagnostikers, ob das jeweilige Kriterium erfüllt ist (? =
unsicher, 1 = nicht vorhanden, 2 = vorhanden, untypisch, 3 sicher vorhanden). In verschiedenen Untersuchungen eines internationalen Kooperationsprojektes konnten befriedigende bis
hohe Werte der Untersucherübereinstimmung für die verschiedenen Diagnosen ermittelt werden.
Da jedoch in der modernen Psychiatrie zunehmend auch psychotherapeutische Methoden eingesetzt werden, finden sich beim psychiatrischen Interview teilweise fließende Übergänge
bzw. Ergänzungen durch psychodynamische oder verhaltensdiagnostische Ansätze.
3 Verhaltenstherapeutische Diagnostik
In radikal verhaltenstherapeutischer Sicht sollten die psychiatrischen Diagnosekategorien
überflüssig werden durch eine "theoriefreie" Beschreibungen störender Verhaltensweisen
bzw. Reaktionen und ihrer auslösenden und verstärkenden Bedingungen (behavioristisches
Black-Box- bzw. Reiz-Reaktions-Verstärker-Modell). Die Therapie psychischer Störungen
(= Verhaltensreaktionen) sollte ausschließlich durch Manipulation der auslösenden bzw. der
verstärkenden Reize des problematischen Verhaltens erfolgen. Skinner hat in seinem ScienceFiction-Roman 'Walden Two' die Utopie einer verhaltenstherapeutisch gesteuerten "vollkommenen" Gesellschaft entworfen, Kubrick hat in dem Film 'Clockwork Orange' die verhaltenstherapeutische Behandlung eines aggressiven Jugendlichen vorgeführt.
Eine eigenständige verhaltenstherapeutische Diagnostik hat sich seit den 60er Jahren u.a. in
Abhebung von der psychiatrischen Diagnostik und der Eigenschaftsdiagnostik in der quantitativ orientierten Persönlichkeitsdiagnostik entwickelt. Der psychiatrischen Diagnostik wurde
vorgeworfen, die Klassifikation psychischer Krankheiten sei für die Therapie irrelevant. Das
Eigenschaftsmodell der Persönlichkeitspsychologie wurde kritisiert wegen seines fehlenden
Bezugs zu beobachtbarem Verhalten und wegen seiner Unbrauchbarkeit für Verhaltensänderungen, z.B. durch Lernprozesse. Verhaltenstherapeutische Diagnostik in Form der Verhaltensanalyse sollte im Gegensatz dazu konsequent für die Therapieplanung und therapiebegleitende Diagnostik eingesetzt werden können.
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In ihrer konsequenten Zielorientierung liegt zweifellos der Anregungswert und Beitrag der
verhaltenstherapeutischen Vorgehensweisen für die Weiterentwicklung der Diagnostik allgemein. Eine gute Übersicht über Geschichte und neue Entwicklungen der Diagnostik in der
Verhaltenstherapie findet sich bei Willutzki (2000).
Grundlegend für die klassische Verhaltensanalyse ist die vom behavioristischen ReizReaktions-Verstärker-Modell abgeleitete Verhaltensformel S-O-R-K-C. Die Formel diente
sowohl zur Strukturierung des Vorgehens bei der Informationsgewinnung im verhaltensdiagnostischen Interview als auch zum Aufstellen eines Bedingungsmodells und zur Basis der
Therapieplanung.
Im Interview wird der Patient zunächst aufgefordert, das problematische bzw. symptomatische Verhalten R (z.B. eine Angstreaktion) möglichst detailliert und anhand konkreter Beispiele zu beschreiben. Anschließend werden die Auftretenshäufigkeit, die auslösenden Reizbedingungen S, die Variablen der körperlichen Verfassung O (z.B. Müdigkeit, Drogeneinflüsse), die möglicherweise verstärkend wirkenden Konsequenzen C (= Belohnung oder Strafe)
und das Kontingenzverhältnis K ("Verstärkungsplan") erfragt.
K
S
O
R
C
(S) Reiz (Stimulus)
(O) Organismusvariablen
(R) Reaktion, Verhalten
(K) Kontingenz-Verhältnis, Verstärkungsplan
(C) Konsequenz
(Schulte 1974)
Abb.: Verhaltensformel
Das dem menschlichen Handeln wenig angemessene Reiz-Reaktions-Verstärker-Modell wurde entsprechend der "kognitiven Wende" der Verhaltenstherapie schrittweise um sogenannte
kognitive Faktoren erweitert:
• Zunächst wurde versucht, "innere Prozesse" (Motive, Einstellungen, Gedanken) in einem
"hybriden" Black-Box-Modell als intervenierende Organismus-Variablen O in die Verhaltensformel rein additiv aufzunehmen.
• Mit der sogenannten vertikalen Verhaltensanalyse oder später der Plananalyse (Grawe)
sollten auch Motive, Ziele, Pläne in die Verhaltensanalyse einbezogen werden.
• Zunehmend rückt damit auch die Art und Weise, wie der Klient seine sozialen Beziehungen, z.B. auch zum Therapeuten gestaltet, in das Blickfeld der Verhaltensanalyse.
• Unter handlungstheoretischer Perspektive wird schließlich Verhalten als zielgerichtetes
Handeln im Sinn übergeordneter Ziele, Normen und Werte der Person analysiert.
• In der von Grawe vorgeschlagenen allgemeinen Psychotherapie haben schließlich auch
unbewusste Motive und Übertragungsphänomene ihren Platz, wobei allerdings eine der
kognitivistische Terminologie bevorzugt wird.
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Abb.: Überblick über den diagnostisch-therapeutischen Prozess
Wie das Schema zur Problemstrukturierung zeigt (nach Willutzki 2000, S. 111), steht dabei
aber immer noch das Modell der Bedingungsanalyse problematischer Verhaltensweisen Pate
– es wird lediglich die wissenschaftlich unhaltbare Verhaltensformel durch den jeweils aktuellen Erklärungsansatz ersetzt. Für das verhaltensanalytische Interview ergeben sich entsprechend je nach Erklärungsansatz unterschiedliche Themenschwerpunkte.
4 Psychodynamische Diagnostik
Im Gegensatz zur psychiatrischen und verhaltenstherapeutischen Diagnostik geht es bei der
psychodynamischen Diagnostik schwerpunktmäßig um die Herstellung einer tragfähigen Beziehung und um Aspekte der Übertragung/Gegenübertragung. Diagnostische Zielsetzungen
sind die Beziehungsdiagnostik, Diagnostik der Abwehrformen, der inneren Konflikte und der
Strukturdefizite entsprechend der psychoanalytischen Krankheitslehre. Durch Fokussieren der
Beziehungsdynamik im Interview hat die psychodynamische Diagnostik zugleich einen
wichtigen allgemeinen Beitrag zur Theorie und Praxis des Interviews geleistet.
Freud hat keine eigenständige diagnostische Interviewtechnik vor Beginn einer Psychotherapie vorgeschlagen, sondern eine Probebehandlung von 20 Stunden, in der auch die Erhebung
der Lebensgeschichte erfolgen sollte, um die "Eignung" des Patienten für die psychoanalytische Behandlung festzustellen.
In Abgrenzung zum psychiatrischen Interview wurden erst seit Anfang der 50er Jahre eigenständige psychodynamische Interviewformen vorgeschlagen. Bei ihrer Entwicklung lassen
sich drei "Generationen" von psychodynamischen Interviewformen unterscheiden (Literatur s.
Janssen & Schneider 1994):
Am Anfang der Entwicklung stehen Interviewformen, die sich insbesondere auf die Interaktion zwischen Therapeut und Patient beziehen. In den USA wurde das "Dynamische Interview"
(Gill, Newman und Redlich 1954) und das "Psychiatrische Interview" (Sullivan 1954) entwikkelt. In England entwickelten M. und E. Balint (1962) mit dem "Diagnostischen Interview"
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ein interaktionelles Interviewschema, in dem das Ineinandergreifen von Übertragung und Gegenübertragung im Vordergrund steht. In Deutschland legte Argelander (1970) das "Szenische Interview" vor, Dührssen (1981) die "biografische Anamnese unter tiefenpsychologischem Aspekt".
Kennzeichnend für die zweite Generation ist das "Strukturelle Interview" von Kernberg
(1981), das zum Ziel hat, psychotische Erkrankungen, Borderline-Störungen und Neurosen
von einander abzugrenzen. Hier werden psychiatrische Diagnostik und Diagnostik von Abwehr und Übertragung systematisch miteinander verknüpft.
Die dritte Generation von Interviews zeichnet sich gegenüber den früheren Interviewformen
durch eine Verbindung von halbstrukturierter Gesprächsführung und formalisierter Auswertung zur psychodynamischen Diagnostik aus. Ein aktuelles Beispiel ist die "Operationalisierte
Psychodynamische Diagnostik" (OPD, s.u.).
4.1
Szenisches Interview
Stichworte Szenisches Interview
Interviewgestaltung:
• "außergewöhnliche Situation"
• Klient gestaltet die "Szene"
• Diagnostiker: gleichschwebende Aufmerksamkeit
• Probatorische Deutungen
Datenarten:
• Objektive Daten
• Subjektive Daten
• Szenische Daten
Wegen seiner Bedeutung für die Theorie des Interviews gehe ich auf das "Erstinterview in der
Psychotherapie" bzw. das "Szenische Interview" (Argelander 1970) ausführlicher ein. Als
konkretes Ziel des Erstinterviews nennt der Autor die Indikationsstellung und Abschätzung
der Prognose für eine (analytische) Psychotherapie, wozu die folgenden Teilziele bedeutsam
sind:
• Einblick in den Sinnzusammenhang des Symptoms mit dem hinter ihm verborgenen Konflikt,
• Einblick in die zugrunde liegende Persönlichkeitsstruktur,
• Abschätzung der Introspektionsfähigkeit des Patienten.
Argelander geht davon aus, dass das Erstinterview eine "ungewöhnliche Gesprächssituation"
darstellt, in das der Patient mehr oder weniger unbewusst seine jeweilige psychische Problematik hineinträgt. Durch eine möglichst offene Gesprächssituation einschließlich der Eingangsfrage erhält der Patient den erforderlichen Gestaltungsraum, diese Problematik verbal
und vor allem nonverbal zu "inszenieren".
Die Haltung des Diagnostikers entspricht der von Freud geforderten gleichschwebenden
Aufmerksamkeit, d.h. einem nicht-zielgerichteten, eher meditativen Auf-sichEinwirkenlassen, wobei insbesondere auch die eigenen Gefühle und Irritationen im Sinne
einer Sensibilität für Gegenübertragungsreaktionen genutzt werden. Aus dieser Haltung heraus versucht der Diagnostiker durch einzelne probatorische Deutungen die Introspektionsfähigkeit des Patienten zu erkunden.
Argelander unterscheidet – in Übereinstimmung mit den von Habermas benannten drei Weltbezügen – drei Arten von Daten im Interview:
• Objektive Daten sind die im Interview mitgeteilten, prinzipiell nachprüfbaren Fakten zur
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Biografie und Lebenssituation des Patienten.
• Subjektive Daten sind die geäußerten Meinungen, Wünsche und Phantasien des Patienten.
• Szenische Daten beziehen sich auf Mimik, Gestik, Haltung, Kleidung, Gesprächsatmosphäre, Handlungen, kurz auf die gesamte "Inszenierung", wie sie der Patient (im vorgegebenen Rahmen des Erstinterviews und als Reaktion auf das Gesprächs- und Rollenangebot
des Diagnostikers) durch sein Tun und Unterlassen gestaltet.
Der Diagnostiker integriert die Informationen aus diesen drei Datenquellen zu einem diagnostischen Gesamteindruck. Alle drei Datenquellen geben sowohl Hinweise auf bewusste und
bewusstseinsfähige als auch auf unbewusste psychische Zusammenhänge. Argelander sieht
die intuitive Evidenz des erfahrenen Diagnostikers/Analytikers als Kriterium für das Zutreffen
des diagnostischen Urteils an.
4.2
Operationalisierte psychodynamische Diagnostik (OPD)
Aufgrund ihrer Unzufriedenheit mit der Diagnostik nach ICD 10 haben sich 1992 etwa 30
deutschsprachige Psychoanalytiker in einem Arbeitskreis "Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik" (OPD) zusammengeschlossen, um ergänzend zu ICD 10 ein Diagnostikinstrument zu schaffen, das
• der psychoanalytischen Vorgehensweise und Krankheitslehre angemessen sein sollte und
• gleichzeitig den Erfordernissen psychometrischer Gütekriterien (Objektivität, Reliabilität,
Validität) genügen sollte.
Diese doppelte Zielsetzung stellt den Versuch einer "Quadratur des Kreises" dar, wie die Initiatoren einleitend schreiben (Arbeitskreis OPD 1996):
"Operationalisierung heißt genau genommen die Definition diagnostischer Klassen anhand
von beobachtbaren und überprüfbaren Beschreibungen. Unbewusste Prozesse, die für das
psychoanalytische Verständnis eine entscheidende Rolle spielen, operational definieren zu
wollen, stellt eine nicht auflösbare Paradoxie dar. Es galt also eine Auswahl von psychodynamischen Elementen zu treffen, die für das von der Psychoanalyse abgeleitete Verständnis
des Patienten relevant und auf der anderen Seite noch ausreichend operational fassbar sind,
um nachprüfbar zu bleiben."
Das OPD-System versucht also, einen Kompromiss zwischen psychodynamischem Verständnis des Patienten und neopositivistischem Wissenschaftsverständnis herzustellen. Der in meinen Augen wichtigste Beitrag der Arbeitsgruppe besteht in der begrifflichen Klärung einer
Reihe von psychodynamischen Konzepten.
Die durch das OPD-Instrument angestrebte Klassifizierung erfolgt anhand von 5 Achsen:
Achse
I
II
III
IV
V
Bezeichnung
Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen
(18 Dimensionen, psychologische Konzepte)
Beziehungen
(30 deskriptive Adjektive, psychodynamisch)
Konflikt
(10 Dimensionen, psychodynamisch)
Struktur
(7 Dimensionen, psychodynamisch)
Psychische und psychosomatische Störungen
(ICD 10-Klassifikation)
Zur Informationsgewinnung als Grundlage der Klassifizierung dient das OPD-Interview nach
Heiner Legewie
Diagnostische Interviewformen
einem halbstrukturierten Leitfaden:
• Eröffnungsphase:
I: Rahmen erläutern
P: Schildern der Beschwerden
• Beziehungsepisoden:
I: Frage nach wichtigen Beziehungen
P: Beziehungsgeschichten erzählen
• Selbsterleben und relevante Lebensbereiche:
I: Wie sehen Sie sich selber?
P: Selbstbild in verschiedenen Bereichen
• Objekterleben und Lebensgestaltung:
I: Fragen nach Familie, Beruf, Hobbys etc.
P: Einstellungen zu diesen Bereichen
• Psychotherapiemotivation, Einsichtsfähigkeit etc.
I: Probedeutung von Problematik und Änderungswünschen – weiteres Vorgehen
P: Aufgreifen der Probedeutung?
Abb.: Das interpersonelle Kreismodell mit den Itemzuordnungen
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Heiner Legewie
Diagnostische Interviewformen
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Exemplarisch möchte ich auf die Beziehungsachse eingehen. Als theoretische Grundlage für
die angestrebte Klassifikation dienen das Zirkumplexmodell von Timothy Leary und der interpersonelle Zirkel von Horowitz (s. Kommunikationsstile, 6. Vorlesung), wobei zwischen
einem aktiven und einem passiven Modus der Beziehungsgestaltung unterschieden wird. Als
Informationsquellen dienen einerseits die Äußerungen des Patienten im Interview zu seinen
sozialen Beziehungen und andererseits die Wahrnehmung und das Erleben des Diagnostikers
über die Art der Beziehungsgestaltung in der Interviewsituation (szenische Informationen). In
der Beurteilung wird weiterhin unterschieden zwischen der Art und Weise, wie der Patient
sich in sozialen Beziehungen typischerweise erlebt und wie er seine Interaktionspartner wahrnimmt (bzw. wie der Diagnostiker einerseits den Patienten wahrnimmt und andererseits, wie
er seine eigene Reaktion auf den Patienten erlebt (Reflexion der Gegenübertragung). Zur Benennung dieser Beziehungsaspekte dienen zwei Checklisten mit je 30 Items, die den 2 x 16
Beziehungsdimensionen zugeordnet sind. Zur Beurteilung der typischen Beziehungsgestaltung wählt der Diagnostiker/Therapeut für jede der 4 Aspekte die zwei wesentlichsten Items
aus (Erleben des Patienten/des Diagnostikers zur Beziehungsgestaltung des Patienten/seiner
Partner). Das Ergebnis kann auch in einer allgemeinverständlichen sprachlichen Kurzformel
dargestellt werden.
Das Vorgehen macht die Problematik dieser Art der Beziehungsdiagnostik deutlich:
• Die Items charakterisieren überwiegend negative Aspekte der Beziehungsgestaltung und
erlauben damit nicht, positive soziale Kompetenzen zu erfassen. (Die Autoren beabsichtigen, diese Einseitigkeit in der in Kürze geplanten Revision auszugleichen.)
• Die Beurteilung unterstellt, dass beim Patienten eine typische Art der Beziehungsgestaltung unabhängig vom Interaktionspartner und von der Situation im Vordergrund steht. Die
therapeutische Erfahrung lehrt jedoch, dass sich Menschen zu unterschiedlichen Bezugspersonen oft gegensätzlich verhalten (z.B. zu Intimpartnern, Autoritätspersonen, "Untergebenen").
• Obwohl für die spätere statistische Auswertung eine (scheinbar) einfache und eindeutige
Klassifizierung erfolgt, die der Komplexität der Beziehungsgestaltung in wesentlichen
Punkten nicht gerecht wird, sind die Maße für die Beurteilerübereinstimmung eher niedrig.
5 Das Interview in der Eignungsdiagnostik
In der Eignungsdiagnostik sind in neuerer Zeit spezifische Interviewformen entwickelt worden, die bei hoher Aufgabenbezogenheit und Strukturiertheit Gütekriterien aufweisen, wie sie
auch von guten Tests erreicht werden. Ein Beispiel ist das multimodale Interview (s. Schuler
& Moser 1995) das als Alternative zum Assessment-Center-Verfahren empfohlen wird.
Multimodales Interview
Zielsetzung:
Prognostisch valides Instrument zur Einstellungsdiagnostik
Konstruktion:
• strukturiert
• anforderungsbezogen
• psychometrisch fundiert
Aufbau:
• Gesprächsbeginn
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•
•
•
•
•
•
Diagnostische Interviewformen
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Selbstvorstellung (psychometrische Bewertung)
freier Gesprächsteil
biografiebezogene Fragen (psychometrische Bewertung)
realistische Tätigkeitsinformation
situative Fragen (psychometrische Bewertung)
Gesprächsabschluss
Eine Dresdener Arbeitsgruppe (Kici & Westhoff 2000) hat auf dieser Grundlage das Konzept
der "Entscheidungsorientierten Gesprächsführung (EOG)" entwickelt. Ein Interview nach den
Regeln der EOG dient "zur Vorbereitung von möglichst zufriedenstellenden Entscheidungen,
(wobei) nach den Kriterien der psychologischen Wissenschaft geplant, durchgeführt und ausgewertet wird" (S. 428).
Interessant ist an diesem Ansatz, dass die Autoren Qualitätsstandards für diagnostische Interviews formulieren, die sich auf alle Phasen von der Planung über die Durchführung bis zur
Auswertung beziehen. Die folgende Übersicht enthält einige allgemein zu beachtende Prinzipien:
• Gespräch entsprechend Planung durchführen
• Zielorientiert vorgehen
• Auf hohen Redeanteil des Probanden achten
• Leitfaden als Gedächtnisstütze nutzen
• Relevante Inhalte verstärken
• Bei irrelevanten Inhalten zum Thema zurückführen
• Aufzeichnung auf Kassette oder Video.
Die folgenden Folien zeigen Einzelkriterien für die Interviewplanung und -durchführung nach
den Regeln der EOG, ergänzt um die Ergebnisse einer Expertenbefragung.
Selbstverständlich lassen sich die EOG-Regeln nur teilweise auf weniger strukturierte Interviewformen übertragen – wichtig ist jedoch der gewählte Ansatz, detaillierte Qualitätskriterien für die verschiedenen Interviewphasen zu formulieren. Die Qualitätssicherung qualitativer
Diagnostik und Forschung wird Gegenstand der 11. Vorlesung sein.
6 Fragen und Anregungen für die Diskussion
♦ Diskutieren Sie die unterschiedlichen Zielsetzungen beim diagnostischen Interview. Gehen
Sie insbesondere auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Verstehen von Lebenszusammenhängen und der Klassifikation ein.
♦ Definieren Sie den Begriff der Klassifikation und erläutern Sie die Abgrenzung zwischen
prototypischer und operationalisierter Diagnostik an einem Beispiel.
♦ Welches sind die wichtigsten Schritte der geschichtlichen Entwicklung bei der Klassifikation psychischer Störungen?
♦ Erläutern Sie die Besonderheiten von ICD 10 gegenüber früheren Fassungen des ICDKlassifikationssystems.
♦ Welche Themenbereiche werden im psychiatrischen Interview erfragt?
♦ Beschreiben Sie ein Beispiel für ein standardisiertes psychiatrisches Interview.
♦ Stellen Sie das Vorgehen beim verhaltensdiagnostischen Interview nach der S-O-R-K-CFormel dar und diskutieren Sie die Kritik und Modifikation durch die kognitive Verhaltenstherapie.
♦ Beschreiben Sie Beispiele für drei "Generationen" des psychodynamischen Interviews.
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♦ Diskutieren Sie den Ansatz des szenischen Interviews nach Argelander.
♦ In welcher Weise wird in der OPD-Diagnostik versucht, psychodynamische Konzepte zu
operationalisieren? Kritik?
♦ Erläutern Sie das Vorgehen bei der Beziehungsdiagnostik in der OPD.
Literatur
Arbeitskreis OPD (1996): Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik. Grundlagen und
Manual. Bern: Huber.
Argelander, H. (1970): Das Erstinterview in der Psychotherapie. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft.
Davison, G.C. & Neal, J.M. (1976): Klinische Psychologie. Weinheim: Psychologie Verlags
Union.
Dilling, H. et al. (1991): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. Bern: Huber.
Faust, V. (Hg.) (1995): Psychiatrie. Jena: Fischer.
Janssen, P.L. & Schneider, W. (Hg.) (1994): Diagnostik in Psychotherapie und Psychosomatik. Stuttgart: Fischer.
Kici, G. & Westhoff, K.(2000): Anforderungen an psychologisch-diagnostische Interviews in
der Praxis. Report Psychologie 7, 428-436.
Legewie, H. & Ehlers, W. (2000): Handbuch moderne Psychologie. Stuttgart: Bechtermünz.
Schneider, W. & Freyberger, H.J. (Hg.) (2000): Was leistet die OPD? Bern: Huber.
Schuler, H. & Moser, K. (1995): Die Validität des Multimodalen Interviews. Zeitschrift für
Arbeits- und Organisationspsychologie, 39, 2-12.
Stieglitz, R.-D. (1994): Selbst- und Fremdbeurteilungen in der psychologisch-psychiatrischen
Diagnostik und Therapieforschung. In: P.L. Janssen & W. Schneider (Hg.), Diagnostik in
Psychotherapie und Psychosomatik. Stuttgart: Fischer.
Willutzki, U. (2000): Modelle und Strategien der Diagnostik in der Verhaltenstherapie. In: A.R. Laireiter (Hg.), Diagnostik in der Psychotherapie. Wien: Springer.

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