Fabrikzeitung 256 – Kopie/Original
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Fabrikzeitung 256 – Kopie/Original
WELCOME TO THE REAL : WORLD Kopie / Original AUSGABE P.P./Journal CH - 8038 Zürich kopie / original Kopie / Original it is happening again EDITORIAL Es ist nichts neues: Medien verändern sich in Relation zu den Menschen, die sie benutzen. Permanent werden Affekte und Gefühle, Informationen und Ideologien in Form gepresst und zu Geschichten verarbeitet.1 Und irgendwie ist man zufrieden, dass alles so ist, wie man es sich vorstellt. 2 Es besteht die Möglichkeit, nicht nur zunehmend mehr Bilder zu tauschen oder zu sehen, sondern auch in ihnen zu erscheinen.1 Umberto Eco meinte einmal, dass wir mit dem Publikum über die Botschaft im Moment ihrer Ankunft diskutieren müssen, «denn gerade zu einer Zeit, da die Systeme der Massenkommunikation eine einzige Botschaft voraussetzen, die ausgehend von einer einzigen industrialisierten Quelle ein weltweites Publikum erreicht, müssen wir f ähig sein, Systeme einer ergänzenden Kommunikation zu ersinnen: einer Kommunikation, die uns erlaubt, jede einzelne Menschengruppe, jedes einzelne Mitglied dieses weltweiten Publikums zu erreichen, um mit ihm über die Botschaft im Augenblick ihrer Ankunft zu diskutieren, im Licht einer Konfrontation der Empf ängercodes mit denen des Senders.» Ich denke, dass wir auch über den Moment des Entstehens der Botschaft diskutieren müssen. Der Moment des Herausschreitens aus den gesetzten Handlungsspielräumen ermöglicht den Blick von aussen und ist damit Grundlage, um diese Form von ergänzender Kommunikation überhaupt erst zu denken zu können. 3 Für die wenig verbliebenen Feuilletonisten, die noch für Rezensionen bezahlt werden, ist dieser geschwätzige Meinungs-Pool natürlich der blanke Horror. Aber reagieren sie darauf, indem sie die qualitativen Ansprüche an ihre eigene Arbeit umso höher setzen? Im Gegenteil, das klassische Feuilleton hat längst resigniert. Rezensionen sind in den letzen Jahren immer mehr von Artikeln verdrängt worden, die sich wie der verlängerte Arm des Politikteils lesen. Damit ist die Anwendung von fremden literarischen Genres auf den eigenen Text gemeint 5, dass das, was einmal unmittelbare Präsenz vorgab, zum Teil der Geschichte geworden ist.6 Wer hat sich noch nicht einmal gewünscht, er könnte einen Film, einen Roman, einen Comic selbst umschreiben, seinen Serienhelden endlich mit seiner Angebeteten zusammenzubringen, zum Beispiel, oder dem listigen Bösewicht, der immer wieder ungeschoren davonkommt, endlich einmal die Abreibung zu verpassen, die er verdient hat? 7 Walter Benjamin *1892 †1940, deutscher Philosoph, Gesellschaftstheoretiker, Literaturkritiker und Übersetzer Balzacs, Baudelaires, Marcel Prousts u. a. schrieb dazu: «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit», dessen Titel zu einer Art geflügeltem Wort geworden ist. Die unbegrenzte Vervielf ältigung von Musik, Malerei, ja aller bildenden Künste führt nach Benjamin zum Verlust ihrer Aura. Damit ist auch der veränderte Rezeptionszusammenhang gemeint: Mussten sich die Kunstliebhaber früher in ein Konzert oder in eine Galerie begeben, um ihrer Leidenschaft nachzugehen, so kam es durch die technischen Reproduktionen, seien es Schallplatten-, Radioaufnahmen oder Kunstdrucke, zu einer «Entwertung des Originals». Wertet Benjamin diese Entwicklung vor allem positiv, so greift Adorno die These auf und kehrt dialektisch vor allem die Regression und den Fetischcharakter der Massenkunst heraus.8 Gesehen ist gesehen – Auch heutzutage unterscheiden wir zwischen Barack Obama, die Finanzkrise oder die Papstreise in den Nahen Osten werden im Feuilleton abermals durchgekaut, nun allerdings unter allgemein gesellschaftlichen und kulturellen Gesichtspunkten, während Rezensionen immer mehr zu einer Art Leserservice schrumpfen.4 Der Autor nennt das dann Guerilla-Journalismus. Funktionieren tut es so: «Guerilla mixt Gefühle, Recherche, Vorurteile, Fakten, Historisches und Fiction. Wahr ist nur das, was schillert. Der Beweis der Echtheit ist: Irritation.»5 Während viele neue Möglichkeiten des individuellen Ausdrucks geschaffen werden, werden diese Systeme vor allem auch zur Spiegelung und Reproduktion bereits vorgekauter Inhalte und Werte genutzt. Den Spielformen neoliberaler Strategien und Taktiken sind dabei kaum Grenzen gesetzt. 2 Liebstes Gestaltungsprinzip ist allerdings die Stilimitation («Durch dieses Prinzip unterscheide ich mich am stärksten von den Kollegen»). unterschiedlichen medialen Ausformungen, denen allen eine Inszinierung zu Grunde liegt. So konsumieren wir tagtäglich [...] Darstellungen in Nachrichten, deren Bilder jedoch schon vor der Ausstrahlung geschnitten, bearbeitet und in einer bestimmten Anordnung aneinandergereiht werden. Die Bilder, die wir also als «authentisch» empfinden, da sie ja die Realität dokumentarisch abbilden möchten, sind zum einen für das Format und zum anderen für den Zuschauer präpariert. 22 Genauer gesagt: Wahrnehmen ist eine Entscheidung. Und es ist diese Entscheidung, die uns die Ready-Mades von Duchamp in ihrem Ursprung enthüllen. Das jedoch war uns in gewisser Weise schon klar, weil das langsame Entstehen des Alphabets, das heisst der Übergang von willkürlichen Zeichen der Piktogramme zur Schrift uns ganz klar gezeigt hat, dass jedes Bild alles repräsentieren kann, vorausgesetzt, dass wir entschieden haben, dass dies so sei. 24 Spätestens hier wird wieder deutlich, dass es sich um eine Inszinierung handelt. 22 This must be where pies go when they die everybody cool, this is a robbery Der Homocopiens copiens copiens Die Wertidee der Individualisierung ist untrennbar mit den Massenmedien verbunden; der Mensch begegnet uns vor allem als [...] medial vermitteltes Individuum. Die neusten Entwicklungen im massenmedialen Universum basieren auf sozialen, grunddemokratischen Organisationen und Darstellungsformen, und fördern den freien Austausch von Wissen und Gefühlen. Das entspricht den Prinzipien der Auf klärung. Man glaubte an den Nutzen der individuellen Selbstdarstellung für die Perfektionierung des Menschen. Das Wissen um die Tugenden und Laster des Individuums galt als Basis für eine gezielte moralische und gesellschaftliche Vervollkommnung. Heute, rund 250 Jahre später, haben wir eine schiere Fülle an intimen und präzisen Selbstzeugnissen sowie einen unfassbaren Berg an Wissen zur Verfügung. Die Darstellung seiner selbst ist für das Selbstverständnis des modernen Menschen unabdingbar, weil er sich in der Gesellschaft ohne festgelegte Bindungen nur über seine Individualität behaupten kann. 23 Der Körper als Prothese Die Aufrechterhaltung eines Körperbegriffes, der am Natürlichen festhält, hat eine lange Geschichte von Rassismus und Sexismus hinter sich. Die Queer-Theoretikerin Beatriz Preciado hat eine Theorie zum «Körper als Prothese» entwickelt, und erklärt die ideologische Dimension des Antagonismus zwischen Original und Fälschung so: «Von Derrida habe ich gelernt, dass Dominanz einfach die Macht ist, deinen Code als den originären zu bezeichnen und alle anderen als Fake oder ungenügende Imitation.» Den Angriff, nicht das «Original» des weissen, männlichen, heterosexuellen Körpers zu besitzen, kennen Frauen und Queers, Migranten und Krüppel. So ist es auch kein Wunder, dass sich gerade der neue Feminismus und die Queer-Bewegung in den letzten Jahren darum bemüht haben, aus der Idee der «falschen» Prothesen eine Befreiung aus den ideologischen Grenzen des «Normalen» und «Natürlichen» zu erdenken. Auch «Der Modefetischismus gehört deshalb zur postmodernen Kondition, weil er nicht mehr einen integralen Zeitstil kreiert, sondern ein flottierendes Gewebe aus Selbstreferenzen und Zitaten.»12 Es scheint jedoch gerade so, als ob der Mensch gar nicht mehr Mensch sein wollte, sondern ein Ausbund an perfekter Künstlichkeit.11 Das Frauenmagazin «Bolero» fragte unlängst nach, was Männer jetzt eigentlich besser finden; Silikonbrüste oder natürliche. Die Antwort fiel differenziert aus: Naturbusen wird bevorzugt – vorausgesetzt, er sieht aus wie Silikon. Auch sonst wurde so einiges salonf ähig: Während bis vor kurzem vor allem auf die Risiken des Nervengiftes Botox in der Bekämpfung von Gesichtsfalten hingewiesen wurde, preisen heute viele Hefte Botox-Parties als tolle Abwechslung in der Mittagspause, Brust- und Nasen-OP’s werden als persönliche Befreiungsschläge von gepeinigten Seelen zelebriert. Die Cyberfeministin Donna Haraway hat in ihrem Cyborg-Manifest den Nagel auf den Kopf getroffen, als sie aus der Perspektive der Frauen polemisch ausruft: «Lieber Cyborg als Göttin!» Denn selbst die Frau wurde immer wieder das Opfer eines Dualismus von Natur und Kultur, der ihr gegenüber vom Mann dargestellt wurde.9 Menschen kann man nicht in der Natur finden. Diese «Spritzlinge» kommen von der Stange und sind noch unbemalt, und ganz billig. Sie werden in Deutschland hergestellt, zum Bemalen nach China oder Makao gebracht und dann wieder hierher importiert. Ich bemale meine Menschen lieber selbst. Warum soll ich mich nicht auch mal als Chinesin fühlen?10 Natürlichkeit durch Technische Reproduktion Folgt man Marx´ Vorstellung, dass die technischen Produktionsmittel den Kommunismus ermöglichen könnten, sollte man die Prothesen des Körpers nicht als das Unnatürliche Andere aussen vor lassen. Den Körper in seiner performativen und technischen Reproduzierbarkeitzu begreifen, könnte nicht nur den Weg zum elitären Egoboosting freimachen – sondern auch zu seinem Gegenteil: Einer Sphäre, in der kein Mensch dem anderen aufgrund körperlicher Vorteile angeblich überlegen scheint.9 Topmodels beteuern, dass sie in Wirklichkeit nicht so aussehen wie auf dem Bild und lassen sich zur Abwechslung gut ausgeleuchtet ungeschmickt ablichten – siehe Nadine Strittmatter auf der aktuellen «Annabelle». Der «Nude-Look» (nude = nackt) ist in – doch in Anbetracht der grossen Produktpalette, mit der man sich auf natürlich schminken kann, zeigt, dass die Natürlichkeit gefaked ist. Weiblichkeit eine Kopie ohne Original. Während jedoch die feministische Theorie Weiblichkeit schon lange als Konstruktion und Maskierung, Aufführung und Inszenierung analysiert hat, ist Männlichkeit als angeblich «authentischer» Machtcode diskursiv fast unberührt geblieben. Die französische Schriftstellerin Virginie Despentes, die auch den proletarisch-feministischen Punk-Porno «Baise Moi» gemacht hat, brachte in einem Interview, das ich mal mit ihr geführt habe, auf den Punkt: «Bis heute gibt es von Männern kaum Kritik an Männlichkeit. Es sieht so aus, als wäre das Gef ängnis der Männlichkeit außerordentlich stabil gebaut. Männlichkeit ist ein stabiler Fake an Übermacht. Sie beginnt mit einer stark regulierten und kontrollierten Amputation der Gefühle und der Sinnlichkeit, verbindet sich mit hohen Anforderungen an eine souveräne Körperlichkeit, Sexualität und Lebensform.»14 Kopie vs. Original Das Streben nach dem unheimlich präsenten und schier unglaublich normierten Idealbild ist grenzenlos geworden.11 Es ist so, als ob der Körper sich nicht mehr mit einer äußeren Welt konfrontierte, sondern versuchte, den äußeren Raum in seine eigene Erscheinung hineinzustopfen.13 So sind z.B. echte Blondinen im Gegensatz zu den Wannabes auch echt cool, stylish und begabt, siehe Uma Thurman, Kirsten Dunst oder Ingrid Bergmann. Die Reihe der echten ist natürlich nicht ganz so lang, denn blondes Haar ist rar. Dass die Blondinen in 200 Jahren gar ausgestorben sein werden, wie der Boulevard vor einiger Zeit geschockt meldete, erwies sich aber glücklicherweise als Ente.11 Umso komplizierter die Umstände des männlichen Körpers, um so einfacher seine Narrationen: Er leistet. Deswegen gehen auch andere Männer gerne ins Stadion: Weil Fußball die gesellschaftliche Komplexität gerade in den Geschlechter-Rollen vergessen lässt. Und weil ein letztes Mal der Mythos von Potenz, Maskulinität und Nation mit den Sauf- und Sing-Kumpels zelebriert werden kann. Männlichkeit ist wie Und die «Migrosmodels», «echte Menschen», mit denen der Grossverteiler wirbt, sind zwar keine Magermodels – allzu weit weg vom Ideal sind sie dann aber auch nicht. Was geboten wird, ist eine Reality Show und eben nicht die Realität.11 2 My husband was a logging man... he met the devil 3 Kopie / Original Kopie / Original i never try anything unser täglich brot aus dem gefrierfach Man muss sich das mal vorstellen: Hatte vor wenigen Jahrzehnten eine italienische Mamma vor, für ihre Kinder eine richtige Lasagne zu kochen, stand sie dafür einen halben Tag in der Küche – natürlich, die Liebe der Kinder war ihr damit auf Ewigkeiten sicher, was vielleicht die etwas bizarre Beziehung italienischer Männer zu ihren Mammas erklärt. Macht sich allerdings heute noch eine Mamma diese Mühe, kann sie von Glück reden, wenn sie dafür noch ein müdes Lächeln erntet. Wahrscheinlicher ist da schon, dass ihr mit viel Liebe und noch viel mehr wertvoller Zeit angerichtetes Mal einfach verschmäht wird. Denn Kinder wissen genau: Echte Lasagne kommt von Findus. Das darf uns auch nicht weiter erstaunen, denn das perfide ist ja, die verdammte Tief kühllasagne schmeckt tatsächlich besser. Ist ja auch kein Wunder, immerhin stecken in dem Ding genügend Es drin, um einen ganzen Duden zwischen D und F damit zu füllen. Aber darum geht es nicht – Kids sind heute wie damals ja auch keine Feinschmecker. Viel wichtiger ist das Produkt, und das Image, das sie damit konsumieren. Und Findus, soweit ist klar, ist Standard. Mammas Lasagne kann gar nicht so gut sein, sonst würde es die ja im Supermarkt zu kaufen geben.15 Mit der Einführung der Tief kühltruhen konnte die Lebensmittelindustrie ihren Umsatz enorm steigern, doch dieses Wachstumspotential ist nun schon seit Jahren ausgereizt. Bei den Lebensmitteln in den Industrieländern gibt es nichts mehr zu verbessern, also muss der Absatz durch Imitate gesteigert werden.15 Die Menschen wissen dadurch längst nicht mehr, was sie essen. Das zumindest ist das Fazit aus dem in diesem Sommer entfachten Skandal um so genanntes Fake Food. Die Rede ist von Nahrungsmitteln, bei denen die Firmen vorgeben, es handle sich um Schinken, Käse oder Garnelen, während diese Bestandteile in Wirklichkeit gar nicht oder nur in geringer Dosierung im Produkt vorhanden sind. Analogkäse kommt zum Beispiel völlig ohne Milch aus und ist in der Gastronomie längst gängig, weil billiger. Formschinken oder Schinken-Imitat, ebenfalls ein beliebter PizzaBelag, enthält zwar Fleischreste, diese werden aber grösstenteils von Bindegewebe und Dickungsmittel zusammengehalten. Martin Rücker, Pressesprecher der Verbraucherschutzorganisation «Foodwatch» spricht von «arglistiger Täuschung», da diese Imitate nicht von echtem Käse oder Schinken zu unterscheiden sind, weder im Aussehen noch im Geschmack. «Als Gastronomie-Kunde kann sich der Verbraucher gar nicht schützen», erklärt Rücker, «hierzu müsste man die Pizza ins Labor einschicken. Der Schuss in den Ofen Analogkäse lässt sich als solcher nicht erkennen, er zieht sich wie richtiger Käse, bräunt auf der Pizza wie richtiger Käse und schmeckt wie richtiger Käse. Das Problem ist, dass die Behörden solche Fälschungen nicht öffentlich machen, zumal die Fälschungen nur dann verboten sind, wenn sie sich ‹Käse› oder ‹Schinken› nennen. Es genügt allerdings, im Supermarkt geriebenen Analogkäse als ‹Pizza Mix› anzubieten, also das Wort Käse zu umgehen, schon ist die Sache legal.» Die Fälschungen betreffen nicht nur billige Produkte, auch ver-meintlich hochwertige, teuer angebotene Nahrungsmittel können sich als Fake herausstellen, zum Beispiel gestrecktes Pesto, bei dem Olivenöl fast zur Gänze durch Sonnenblumenöl ersetzt wurde. «Foodwatch» deckte beispielsweise auf, dass «Bertolli Pesto Verde» zwar mit «feinem Bertolli Olivenöl» beworben wird, aber nur einen Fingerhut voll davon enthält. Dass nicht nur diejenigen getäuscht werden, die sich hochwertige Nahrung nicht leisten können, macht ein Beispiel des «Nordsee» Konzerns klar: Das aus billigem Fisch-eiweiss gepresste Surimi findet sich dort im Meeresfrüchtesalat mit dem wohlklingenden Namen «Cocktail Marseille» – das mit Abstand teuerste Produkt, das «Nordsee» an seiner Salattheke anbietet. «Es ist irrig, zu glauben, all das hätte etwas mit Lebensmittelverknappung zu tun», erläutert Rücker, «in den Industrieländern werden wir nach wie vor weder auf Milch, Käse noch Garnelen verzichten müssen, im Gegenteil, bei Milch kommt es ja beispielsweise zu gigantischen Überproduktionen. Der Grund für solche Fälschungen ist ein ganz anderer: Die Konzerne wollen neue Märkte schaffen. Mit der Einführung der Tief kühltruhen konnte die Lebensmittelin- dustrie ihren Umsatz enorm steigern, doch dieses Wachstumspotential ist nun schon seit Jahren ausgereizt. Bei den Lebensmitteln in den Industrieländern gibt es nichts mehr zu verbessern, also muss der Absatz durch Imitate gesteigert werden. Oder aber durch ‹Functional Food›, eine weitere Form der Täuschung: Essen, von dem vorgegeben wird, dass es besonders gesund sei, ohne dass dies stimmt oder nachweisbar wäre. In solche Produkte wird ein massiver Werbeaufwand gesteckt, um sie teurer verkaufen zu können, ohne dass sie in irgendeiner Form gesünder wären als vergleichbare, billigere Lebensmittel. Kampagnen wie ‹Actimel stärkt Abwehrkräfte geben etwas vor, was die Produkte meistens gar nicht leisten können. Ein solcher Spruch könnte ebenso gut auf einem billigen Joghurt stehen, der dasselbe erfüllt oder eben nicht erfüllt – ‹Actimel› ist nämlich nicht nur vier Mal so teuer wie ein herkömmlicher Joghurt, sondern enthält auch noch mehr Zucker.» Gegenüber dem «Spiegel» fand «Foodwatch»-Begründer Thilo Bode deutliche Worte: «Auf dem Lebensmittelmarkt sind rechtstaatliche Prinzipien ausser Kraft gesetzt. Es ist, als würde die Polizei bekannt geben, dass massenweise Falschgeld im Umlauf ist – es aber nicht aus dem Verkehr ziehen, sondern den Bürgern erklären, wie sie die Blüten erkennen können.» An dieser Stelle nun eine Entwarnung: Im Gegensatz zu «Functional Food», von der «Kinder-Milchschnitte» bis zur «Yogurette», die als gesund angepriesen werden, aber letztlich Unmengen Zucker enthalten, sind Analogkäse, Formschinken und andere Formen von Fake Food nicht gesundheitsschädlich. Wer eine Laktoseintoleranz hat oder sich vegan ernährt, erhält mit dem Analogkäse sogar einen preiswerteren Ersatz als all die Tofu-Schnitzel, -Schinken oder -Steaks, die von einem ökologischen Publikum innig geliebt werden, obwohl es sich dabei im Grunde um den Ursprung allen Fake Foods handelt. Wenn auch um solches, das offen zugibt, Fleisch nur vorzugeben. So viel steht fest: Philosophisch betrachtet ist auch unsere Nahrung in der Postmoderne angekommen. In den Kultur-wissenschaften ist das Authentische längst als Schimäre entlarvt worden, Jean Baudrillard hat seine Simulakren-Theorie bereits in den 1970ern auf nahezu alles von den Medien bis zur Architektur angewendet, in den «gender» und «queer studies» wurde Geschlecht als soziales Konstrukt enttarnt, ja der Begriff «queer» selbst ist im Englischen ein Synonym für Falschgeld, mit dem Bode das Fake Food verglichen hat. Warum sollte es so schlimm sein, wenn nun auch unsere Nahrung nicht mehr authentisch ist? Was spricht gegen einen Mix aus Eiweiss-Imitiat, Geschmacksverstärkern und Vitaminen, solange er nahrhaft ist und schmeckt? Könnte Fake Food nicht sogar die Massentierhaltung mitsamt ihren ökologischen Folgen eindämmen? Und ist Fake Food denn letztlich nichts anderes als die industrielle Variante der sündhaft teuren Molekularküche eines Ferran Adriá, bei der es letztlich auch nur darum geht, mit Lebensmitteln zu experimentieren? Gegen die Täuschung: Ich habe solche Fragen Martin Rücker von «Foodwatch» nicht gestellt, wahrscheinlich hätte er mich ausgelacht oder gar nicht verstanden. Aber auch er schränkt ein: «Nichts gegen Produkte wie Analogkäse an sich, sondern nur gegen die Täuschung. Die Hersteller könnten ja sogar damit werben, dass ihr Nicht-Käse gut für Kunden mit Laktoseintoleranz ist, aber das machen sie nicht, weil sie ja wollen, dass die Kunden ihr Produkt für Käse halten. ‹Foodwatch› ist also nicht gegen solche Lebensmittel, sondern für eine transparente Kennzeichnung. Margarine wird zum Beispiel auch als Butter-ersatz verkauft, aber jedem ist klar, dass es sich um etwas anderes als Butter handelt. So etwas geht völlig in Ordnung.» Entwarnung gab vergangenen Juli auch ein Artikel der deutschen Tageszeitung «Die Welt»: «Einige der gescholtenen ‹künstlichen› Lebensmittel sind durchaus sinnvolle Versuche, gute, aber ästhetisch mangelhafte Reststoffe zu verwerten. So verbergen sich hinter dem Fantasienamen ‹Surimi› geformte Fetzen von Fischen und Krabben, die nicht minderwertig sind, sondern in ihrer ungepressten Version nur unansehnlich. Was ist falsch daran, diesen Rohstoff zu nutzen?» Im Gegensatz zum Gammelfleisch gibt die Debatte um Fake Food also nur wenig für einen ernsthaften Skandal her. Sie zeigt nur, dass die meisten Menschen beim Essen kon-servativ geblieben sind. Um den Preis, dass die Herkunft von «richtigem» Schinken oft besser ebenfalls im Dunklen bleibt.16 Tons of doughnuts. It is a Twin Peaks staple after all. August 16, 2002 BILDSERIE was lost forever. The attendance number swelled to an overwhelming 250, with approximately 90% being brand-new to the festival experience (in comparison, normal years see about 67% new attendees). The main events were moved to Snoqualmie Valley and the farewell party switched to the Llama Rose Farm near Poulsbo. Im August 1992 wurde Twin Peaks: Fire Walk With Me zum ersten mal in North Bend WA aufgeführt. Seitdem kommen jedes Jahr Anhänger aus aller Welt um die Originalschauplätze der Kult-Serie zu besuchen und festzuhalten. Die Bilderserie auf den Seiten 3, 5 und 6 stammt von ebendiesen Anhängern der Serie die damit einen endlosen Loop der Neu-Inszinierung generieren. Auf der Website des Festivals www. twinpeaksfest.com steht dazu: Thankfully, Eric did continue the festival in 2001, largely with the help of Susan and David Eisenstadt, whose son Josh (fondly known to fans as The Twin Peaks Brain) had been dragging them to the festival since 1994. Afterwards, Eric turned the festival over to Susan, who picked up where Eric had left off and worked to encompass the entire festival in Snoqualmie Valley. The film night was moved to the North Bend Theater, where Twin Peaks: Fire Walk With Me had premiered ten years prior, and the farewell party relocated to Olallie State Park where several scenes from FWWM had been filmed, including the Deer Meadow Sheriff’s Station and the spot in the woods where Laura and Bobby meet Deputy Cliff. Julee Cruise happened to be in the Seattle area promoting her new disc that summer, and as a treat Susan invited her to perform for fans. As a precaution to the number of fans becoming too unmanageable, only 200 tickets were available for sale that year. Every single ticket sold out. Two fans in particular, Don and Pat Shook of Romeo, MI, realized that this would be a great thing to have every year... a gathering of the fans with some celebrity guests, all together in Washington to celebrate Twin Peaks.bThe following August, the very first Twin Peaks Festival took place. It wasn’t nearly as large as the film premiere the year before... only about 200 fans were in attendance... but the size isn’t what mattered. The big draws for the fans were the celebrity guests and filming sites. Most of the festival events were held at the Holiday Inn in Issaquah that year, with a salmon luncheon at the Kiana Lodge off Bainbridge Island and a Lynch film night at the Seattle Art Museum as side trips. Fans were given filming site maps for self-guided tours, and were given the option to purchase tickets for each individual event during the festival (dinners, lunches, contests, etc). The success of that first festival prompted the Shooks to continue the festival the following year, and soon it became an annual event. Average attendance each year ranged from 100200 fans and three to four celebrity guests, including such folks as Jack Nance, Frank Silva, Michael J. Anderson, and Catherine Coulson. Eventually the Shooks decided to step down as festival organizers and hand the event over to a new person, Eric Thomas from Southern California. Eric took over the festival in 1998 and revamped the format. He moved the main festivities to the Kiana Lodge, added a bus tour of the filming sites in Snoqualmie Valley, and eliminated the individual event tickets, creating one comprehensive festival ticket package. The farewell cherry pie party was held at the Timberline Tavern in Seattle, famous to fans as the interior of the Roadhouse. In 2000, Eric renamed it the Twin Peaks Lynch Fest and put heavy emphasis on David Lynch in general. After announcing that it would probably be the last festival ever, many new fans bought tickets in a panic to get their festival experience in before the opportunity After two great years, Susan decided to hand the festival over to yet another organizer... or in this case, a group of organizers. 2004 saw the arrival of Jared Lyon, Amanda Hicks, and Jordan and Kelly Chambers as the festival organizers. They picked up where Susan left off, though they were forced to move the film night back to the Seattle Art Museum due to lack of support from the owners of the North Bend Theater (new owners have since taken over). In 2005, they changed the long-running format of the festival due to a scheduling conflict with the museum. The film night, which had always been a Saturday-night staple, was switched to Friday night and the celebrity dinner switched to Saturday night in its place. Thankfully this turned out to be a successful move and has remained in place since. Hyde gets Catherine to recite a few lines while someone videotapes them. August 1, 2004 4 5 Kopie / Original Kopie / Original Restaging the real Right here, Right now In der Beziehung zwischen Original und Kopie herrscht noch immer die Idee vor, dass eine Kopie eine Art Ersatz für das Original ist. Dies ist nicht der Fall, spricht man beispielsweise von einer Erscheinungsform von Buddha oder von einer der drei Personen der heiligen Dreifaltigkeit, von denen keine in irgendeiner Weise der anderen unterlegen ist, weil jede von ihnen die heilige Dreifaltigkeit als Ganzes, bzw. Buddha selbst ist. In alle Himmelsrichtungen des weltweiten Kommunikationsnetzes dargeboten, garantiert das digitale Kunstwerk nun eine totale Allgegenwart. Möglicherweise ist es überall und das mit einer Präsenz, die stärker ist als je zuvor. Wenn sie eines von ihren Bildern in ihr bevorzugtes Bildbearbeitungsprogramm herunterladen, werden sie in der Lage sein, seine Innereien nach Belieben zu erforschen. Schlimmer noch: sie können es nach Ihrem Geschmack korrigieren und sogar zerstören - dies bis ins letzte seiner pulsierenden Pixel. again and again In the Black Lodge The CBS/Paramount filming crew interviewing for the Twin Peaks Festival. July 29, 2006 There‘s a sort of evil out there, strange in the woods - a darkness, a presence Das Original ist die kopie Ja. Wenn sie wollen, können sie das besitzen, was von der Stofflichkeit dieser Bilder übriggeblieben ist, und zwar in einer Tiefgründigkeit, die niemals zuvor erreicht wurde. Und trotzdem wird Ihnen weder von der Magie, noch vom Geheimnis der Bilder etwas weg genommen. Und sie werden jetzt verstehen, was diese alte Geschichte von Original und Kopie an Trug und Ungenauigkeit beinhaltet. Indem sie die Betonung auf die Stofflichkeit des Werkes gelegt haben, waren sie in dem Glauben, dass das Magische im Original liegt und dass seine Macht in der Kopie nur geringer werden konnte. Tatsächlich aber ist dieses Magische in Ihnen selbst und seine Essenz ist die Essenz eines Zusammentreffens. Es besteht sozusagen aus jenem Teil Ihrer selbst, der einzigartig ist und daraus, was einzigartig an diesem Moment ist, in dem sie das Werk zum ersten Mal sehen. Mit anderen Worten handelt es sich hier um etwas, von dem man in keiner Weise erhoffen kann, es zu kopieren. Sobald der Künstler auf hört, mit den traditionellen Mitteln zu arbeiten und ein vollkommen digitales Werk schafft, kann dieses Werk in sovielen Erscheinungsformen dupliziert werden, wie man will. Und diese Erscheinungsformen sind wirklich auf vollkommene und exakte Art gleich, genau so wie man sie haben will. Jede einzelne von ihnen ist das Werk selbst. Und diese Multiplikation ohne Qualitätsverlust kann dank des weltweiten Kommunikationsnetzes überall realisiert werden. Man gewöhnt sich ziemlich schnell daran - und zwar mit einer erstaunlichen Leichtigkeit - was alte Werke betrifft, aber wenn es sich um neuere handelt. Man braucht nur einmal zu beobachten, was mit verschiedenen Rottönen in Van Goghs Werk passiert, um eine Idee davon zu bekommen, inwieweit Originalpigmente den Maler im Stich lassen können. Die Zeit vergeht und mit ihr vergehen die Farben sowie die Emotion beim ersten Betrachten. Es gibt kein Beispiel, wo man es geschafft hätte, diese Dinge in einen Tresor zu sperren. Das Original in der Musik Von diesem Moment an löst sich der erstaunliche Archaismus eines Geistes, eines Manna, das mit dem Original verbunden bliebe und das sich in der Kopie verlieren würde, auf. Und dies, obwohl dieser Archaismus die Wurzel des wichtigen und mysteriösen Kunstmarkts ist. Dies ist jedoch nicht sonderlich überraschend. In der Musik hat es noch nie solche Dinge wie Original und Kopie gegeben. Und es hat auch noch nie einen Sinn gemacht, in der Literatur über Originale und Kopien zu sprechen, denn spätestens seit Gutenberg ist den Qualen der Kopisten ein Ende bereitet worden. Natürlich werden sie noch hie und da einige Leute finden, die stolz darauf sind, das Manuskript eines bestimmten Buches oder eines Musikstückes zu besitzen, aber selbst diese Abirrungen werden in dem Maße verschwinden, in dem Autoren und Musiker den blanken Schrecken vor einer jungfräulichen, weissen Seite und vor dem Duft der Tinte verlieren werden. Die Aufregung war schon gross, als die Photographie über uns hereingebrochen ist. Aber alles in allem hat die Photographie nur das Prestige des Originals betont, als etwas, das eine bestimmte Art von Seele enthält, welche die Photographie nicht erfassen konnte. Es ist auch wahr, dass einige technische Probleme zu lösen waren. Die Originaltreue (High Fidelity) existiert in der Musik, oder sie misst sich zumindest daran, aber man wird in der Malerei vergeblich nach einem Äquivalent suchen. Egal, welche Vorsichtsmaßnahmen sie auch treffen mögen, der Punkt hier ist nicht nur, dass Reproduktionen gemalter Bilder für gewöhnlich enttäuschend sind, sondern schlimmer noch, dass Originale sich selbst kaum treu sind. Sterbliche Gemälde Und das ist genau das, was Marcel Duchamp darüber gedacht hat: «Ich bin überzeugt davon, dass die Malerei im Sterben liegt. Jedes Gemälde stirbt nach vierzig oder fünfzig Jahren, weil es dann seine Frische eingebüßt hat. Und der Plastik geht es nicht anders. Das ist meine ureigene Ansicht, so ein privater Spleen, der von niemandem sonst geteilt wird - aber das ist mir gleich. Meiner Meinung nach stirbt jedes Gemälde nach einigen Jahren, genauso wie sein Urheber. Und danach spricht man dann von Kunstgeschichte. Es besteht z.B. ein riesiger Unterschied zwischen einem Monet heute, der ganz dunkel geworden ist und einem Monet vor sechzig oder achzig Jahren, als er noch leuchtend und neu war. Jetzt gehört er der Geschichte an und ist allgemein anerkannt, und das ist auch gut so, denn ändern tut sich ja doch nichts. Die Menschen sind sterblich und die Gemälde sind es auch.» Genauer gesagt, wahrnehmen ist eine Entscheidung. Und es ist diese Entscheidung, die uns die Ready-Mades von Duchamp in ihrem Ursprung enthüllen. Das jedoch war uns in gewisser Weise schon klar, weil das langsame Entstehen des Alphabets, das heisst der Übergang von willkürlichen Zeichen der Piktogramme zur Schrift uns ganz klar gezeigt hat, dass jedes Bild alles repräsentieren kann, vorausgesetzt, dass wir entschieden haben, dass dies so sei. Trotzdem, obwohl nichts uns die radikale Neuheit eines etwas «nie gesehenen» zurückgeben kann, wenn sie einmal vorbei ist, gibt es einige Gründe zu denken, dass die digitale Kunst uns treuer bleiben wird, als die Ölmalerei. Weil die digitale Kunst nicht die Farbe selbst speichert, sondern eher in Form von Zahlen das speichert, was notwendig ist, um die Reproduktion zu sichern, also sozusagen ihre Gene. Und wir sollten darüber nicht traurig sein, weil wir bezüglich der Erinnerung viel eher den Genen trauen können, als Marmor oder Bronze. In der Tat gibt es jede Menge Beispiele von lebenden Organismen, die es geschafft haben bis heute vollkommen intakt zu bleiben, obwohl sie, über Millionen von Jahren ihrer Geschichte das Entstehen und Untergehen von ganzen Gebirgen bezeugen können. Aber, wird man sagen, handelt es sich dabei noch um Malerei? Kann sein, kann aber auch nicht sein. Aber auf jeden Fall, wie es auch Duchamp lange bevor es digitale Kunst gab, gesagt hat: «Malen, das bedeutet gar nichts. Das bedeutet nur ‹Etwas machen›. Es gibt die Ölmalerei seit achthundert Jahren, aber es wird die Ölmalerei nicht mehr geben: Es wird Keramiken geben, farbiges Licht oder alles, was sie wollen. In der Musik wissen sie, was passiert ist. Jedesmal, wenn ein neues Instrument erfunden wurde, hat es eine neue Musik gegeben, geschaffen durch das neue Instrument. Das war trotz allem eine andere Facette derselben Sache, vom metaphysischen Gesichtspunkt aus betrachtet. Also wird es dieselbe Sache sein. Selbst wenn man die Ölmalerei vollkommen abschafft, wird sie durch etwas anderes ersetzt werden, aber es wird immer der Ausdruck eines Individuums oder einer Gruppe von Individuen bleiben, die ihr Unterbewußtes sprechen lassen.» Das Verschwinden selbst des Konzepts des Originals gibt dem Kunstwerk eine Vielseitigkeit und eine Flexibilität zurück, die früher nur das Leben selbst hatte. Trotz allem, was ich gesagt habe, und trotz des unzweifelhaft Wahren darin zumindest hie und da - weiss ich sehr gut, dass Sie nicht auf hören werden, sich wieder und wieder die Frage nach dem Original zu stellen. 24 the path of the righteous men Mural on back of diner. In 1999 or 2000 the kitchen of the diner caught on fire and destroyed the old mural that was here. I liked that one better because it was more of an exact match of the scene it depicts Die Rückkehr des Politischen Der FaZ-Reporter versprach sich von seinem Trip auf das Rütli Action, Spass, Spektakel und Stimulation – oder zumindest einen politischen Durchbruch. Doch dann tauchte der Schwarze Block nicht auf, der Sprengstoff explodierte zu spät und die Faust des Autors blieb auch im Sack. Ronettes Bridge in Snoqualmie A shot from above me hanging by my feet Als vor über zwanzig Jahren in der Schweiz ein Magazin namens «Magma» und in Deutschland «Tempo» für Aufregung sorgten, da war es erklärtes Ziel von uns Jungschreibern, den angestaubten politischen Journalismus von Spiegel, Stern oder NZZ kurz und klein zu hacken. Natürlich ging es dabei – ganz postmodernistisch – mehr um Form als um politische Inhalte. Es war ein publizistischer Kunstgriff: Wir schrieben über Gummibärchen oder das Sexleben von Tauben genauso wie über Helmut Kohl, Kalaschnikows und verschmutzte Meere. Pop und Politik, Fakten und Fiktionen sollten elegant vermischt werden. Die investigative Spassgesellschaft im Sinne von Hunter S. Thompson wurde gegründet. Wer ernsthaft politisierte, galt als tragischer Langweiler. Simulation war angesagt. Obwohl der Feind auch damals im rechten Lager zu finden war, verschoben sich bei diesem Kunstgriff die politischen Grenzen. Die Dinge wurden komplizierter. Das hatte ganz einfach damit zu tun, dass die subversive journalistische Strategie, wie sie zum Beispiel Tempo erfinderisch präsentierte, immer mehr von Werbung und Populärgeschmack übernommen wurden (was dann in den 90er Jahren Auswüchse wie das Guerilla-Marketing oder den ZeitgeistRelaunch der Weltwoche meines Förderers Roger Köppel ermöglichte). Das «Politische» – Represent! Represent! – blieb dabei natürlich auf der Strecke, politische Haltung wurde zum lustig aufgeblasenen Nichts, das bloss wirkungsvoll und provokativ inszeniert werden musste. Politik des schönen Scheins The Sheriff‘s Departement Probably the coolest location: the Twin Peaks Sheriff’s Station! It’s directly across from what remains of the Sawmill. August 23, 2009 6 Die Medien hatten sich also die vom Schein beherrschte Welt der postmodernen Politiker selbst eingebrockt, deren bestimmendes Element die Show ist. In der Show gibt es keine Wahrheit, sondern Effekte. Weswegen also stellen wir uns 2007 plötzlich wieder die Frage: «Gibt es eine Rückkehr zum Politischen (ohne sich dabei zu Tode zu lachen)?» Macht uns Hollywood mal wieder alles vor? Fotomodelle, Regisseure, Schauspieler, das ganze Personal der Unterhaltungsindustrie Kaliforniens, versucht seit Jahren echt politisch-korrektes Bewusstsein zu beweisen. Man schliesst sich Bewegungen von Bono oder Al Gore an, adoptiert Kinder, besucht PLO-Lager, durchquert Afrika mit Motorrädern im Rahmen einer Unicef-Aktion. Brad, George und Johnny beteiligen sich an G7 Protestmärschen, Sofia, Jude, Gwyneth und Chris besuchen Symbolevents wie die 1. Mai-Demo in Berlin oder den Christopher Street Day in San Francisco. Irgendwann wirft die Schauspielerin Naomi Watts sogar einen Stein gegen einen Bullenwagen und postet es auf YouTube. Micheline sieht man am 1. August 2007 die Fälschung absolut nicht an. Alles echt. Aber ich muss daran denken, wäre sie zwanzig Jahre jünger, dann hätte uns bei Tempo irgendein Lifestyle-Redakteur längst zu erklären versucht, dass die Schweizer Bundespräsidentin eigentlich ein bisschen nach Heroin-Chic aussähe. Und jetzt bewegen sich diese Lippen sogar noch intensiver, sie tragen eine grandiose 1.August Rede vor, natürlich mit einem der Kernsätze gleich als Startschuss: «Es geht nicht an, dass eine Minderheit die Nationalfeier auf dem Rütli für sich allein beansprucht und den anderen den Zugang und das Wort verbietet.» Applaus. Klar geht das nicht. Trotzdem stecke ich jetzt die Faust in meine Hosentasche, wie man das halt so macht, gelangweilt und ein bisschen wütend, schlucke heimlich einen Kräuter mit dazu gemischten Pakula-Pillen runter und blicke Richtung Brunnen, Kanton Schwyz. Wo ist der verdamme «Schwarze Block», wenn man ihn braucht? So friedlich kann sich doch ein Staatsoberhaupt nicht in der Woge der Sympathie sonnen. Das geht doch nicht! Hat doch nichts mit Demokratie zu tun! Und der Star des Tages sagt dann ganz locker: «Heute sind es vor allem die Muslims in unserem Land, die zum Gegenstand eines neuen Kulturkampfs gemacht werden.» Und dann, irgendwann, noch korrekter: «Wir grenzen nicht aus. Wir schliessen ein.» Applaus. Logischer Sieg. Die VIP-Party am Höhepunkt. Trotzdem hoffe ich jetzt auf einen grossen Knall. (Zu dem Zeitpunkt weiss natürlich noch keiner, dass 100 Gramm Feuerwerk unter dem Boden vergraben liegen.) So sieht also die Politik des perfekten Sonnenscheins aus. Edel-Steine als Waffe Und in der Schweiz? Da ermöglicht ein Uhrenmillionär – beseelt von uneigennütziger Citoyenneté und Bürgertugend – die Rütlifeier. Alles Teil der globalen Rückkehr des Politischen. Oder perfekte Schein- und Symbolpolitik? Nun, es wurde August 2007, und dieses symbolische Revival des Polititschen hatte auch mich angesteckt. Aus Los Angeles angereist, besteige ich in Luzern das Extraschiff «Europa» Richtung Rütli. Ich bin auf Recherche für eine politische Zeitung, von der ich noch nie gehört hatte, die aber einen ausgezeichneten Namen trägt und sich auf eine handvoll leidenschaftlicher Leser verlassen kann: Die FaZ. Das Rütli verfügt über höchsten Symbol- und Simulationswert, fast wie ein Filmset von Peter Jackson. War das auszuhalten? Oder würde ich die mythologisierte Landschaft bloss an Locationscouts in Burbank weitermelden? Ich war noch nie dort. Bloss auf der anderen Seite des Sees, im Muotathal, wo mich mal einige lokale Freaks ins Höllloch verschleppten. Jetzt ist alles anders. Nach einer märchenhaften Fahrt über den Vierwaldstätter-See sitzt der «gef ährlichste Journalist der Schweiz» (Blick) plötzlich in der Rütli-Gaststätte bei Wiener Schnitzel statt Bratwurst, eingekreist von zwei Woz-Kolumnisten, angeblich als Nazis getarnt. Das politische Spiel um falsche Symbole kann beginnen. «Der Marketing-Krieg hat alles erfasst,» erklärt mir später ein ehemaliger Kollege, der heute bei der ZEIT arbeitet: Rechts gegen Links, Micheline versus Blocher, Gut gegen Böse, Gucci gegen Rutschi. Diesmal gewinnt am remystifizierten Rütli LINKS, nächstes Jahr wird es womöglich wieder RECHTS sein. Hin und her geht das, bis es einem schlecht wird, wie bei Rollerball, anno 1974 mit James Caan. Das Rütli sollte an diesem Tag eine Implosion des Realen produzieren. Und so trifft es sich gut, dass unsere Bundespräsidentin nur gerade zwei Schritte entfernt von mir in Begleitung von Trachtenträgern und Bodyguards einmarschiert. Sie lächelt mir sogar zu, ich kann mich ganz kurz mit ihrem breiten Mund beschäftigen, dieses Lachen, so schön, dieser Hals, oh Micheline, da und dort könnte man natürlich chirurgisch noch ein bisschen nachhelfen, denke ich mir ganz hollywoodmässig. Wie wahrhaftig sie erscheint, so echt. Bewundernswert. Natürlich wird diese Sorte Echtheit – wie immer – von der Richtigkeit der Lüge bestimmt, die sich an ihrer Funktionalität misst. Niemand weiss dies besser als politische Profis – oder Hollywoodstars. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Showdown zurück zum Glauben Es ist ja bestimmt nicht erst seit dieser seltsamen Verunglimpfung von Bundesrat Samuel Schmid bekannt, dass solche politischen Events vom Code der Medien bestimmt werden, und also das Gesetz der asymmetrischen Kriegsführung gilt, wie das in den USA schon seit Beginn des Fernsehzeitalters so läuft: Das Spiel mit der Symbolik, der Illusionismus, die Pseudo-Betroffenheit, die moralisierende Ironie, das Pop-Element. Wann 7 hört das auf ? Und dann: Der Knall! Ein Päng! Das Comeback des Glaubens. Klingt rückblickend alles wie eine Explosion auf einem Filmset. Wir haben uns von der heiligen Wiese bereits entfernt, gehen runter zum See, dieser wahnsinnig blaue See, der an jenem glitzernden Schweizer Tag die totale Blendung bedeutet. Päng! Einfach so hat es von unter der Erde geknallt. Wie ein Abschied von den Eltern mit 100 Gramm Sprengstoff. Der Blick-Reporter meint später, das hätte auch Menschen töten können. Mögliche Schlagzeilen: «....aus den Höhlen gerissene Augen, abgetrennte Leiber in Nidwaldner Traditionstracht....» «Diese Weide – wie jede Wiese mit Symbolkraft, ob vor dem Weissen Haus in Washington, in Moskau, Paris oder New Dehli – ist die virtuelle Gegenwart des Volkes im Zentrum der politischen Macht», sagt abschliessend ein Uni-Professor aus Zürich, der nichts vom Knall mitbekommen hat, aber diesen grossen Tag für die Frauen und die SP einfach geniessen möchte. Wie ein Patriot für 15 Minuten halt. Er sitzt neben mir auf dem Schiff und fragt: Wie geht es Ihnen eigentlich, Herr Kummer? Was kommt als nächstes? Vielleicht die Rückkehr des Politischen, sage ich ein bisschen benebelt. Obwohl selbst mir nicht klar ist, was das bedeutet. Das RütliSpektakel, der Suspense im Vorfeld, machte im Kleinen deutlich, was auch der amerikanische Wahlkampf 2007 wieder bestätigt: So wenig es möglich ist, eine absolute Ebene des Realen mehr auszumachen, ist es möglich, Illusionen zu inszenieren. Vielleicht war das Rütli-Bömbchen also ein Attentat auf das Realitätsprinzip selbst, denke ich jetzt im Fahrtwind Richtung Luzern. Denn es lässt über ihr Objekt hinaus die Annahme zu, die Ordnung, das Gesetz und die Politik selbst könnten ebensogut nur Simulation sein. Jetzt mal ganz ehrlich: Wie kann Sprengstoff in unmittelbarer Nähe zur höchsten Schweizerin unter einem heiligen Rasen unbemerkt deponiert werden? Wahnsinn! Und wenn man also dem guten toten Jean Baudrillard doch noch glauben will, dann ist eben eine Macht eben nicht in der Lage, die Herausforderung der Simulation anzunehmen. Die Simulation siegt immer. Das macht Hoffnung auf unblutiges, grosses, politisches Spektakel für die Zukunft. Und jetzt marschiert, Schwarze Blöcke. Simuliert.17 Kopie / Original Did you say Over? Nothing is over until we decide it is Der Mono-Mix im zeichen der authentiztät 1. 2. Woher kommt gerade in Subkulturen, und dabei ist es egal ob Hardcore, Antifolk oder Hip-Hop, diese Begeisterung für das Greif bare, für den «echten» Tonträger? Als Beweis, dass das Kunstwerk in seiner organisierten Dauer bestehen kann, dass es nur in seiner Reproduktion wahrhaftig wird und gegen das Verschwinden in der digitalen Welt besteht? Als Beweis dafür, dass man einen «besseren» Geschmack hat als Britney-Spears-Fans? Was können deren Fans denn dafür, dass es die Alben zuerst als MP3Download gibt und nie als nummeriertes buntes Vinyl mit mundgehäkeltem Cover? Zumal ein Britney-Spears-Album häufig interessanter ist als so mancher marginale Tape-Realease von einem Konzertmitschnitt.18 All die Jahre haben sie mit ihren Nebenprojekten Schallplatten in handgemachten Siebdruckcovern veröffentlicht, haben die DIY-Fahne hochgehalten und befreundete Labels unterstützt, doch nun müssen sie feststellen, dass da eine Generation nachgewachsen ist, der Tonträger gar nichts mehr bedeuten. Der Tonträger hält also materiell bestenfalls etwas von der Flüchtigkeit des Moments fest, konserviert ein historisch unwiederbringliches Ereignis und gibt dem Sammler das Gefühl, diese in der Musik zum Ausdruck kommende Dringlichkeit jederzeit abrufen zu können. Wer sammelt – am besten Erstauflagen und noch lieber limitierte Tonträger–, gibt sich dem trügerischen Glauben hin, er könne die Vitalität des Augenblicks mit der Sammlung für immer bewahren wie eine Fliege in Bernstein. Natürlich ist das ein Paradox: Sammler sammeln aus Angst vor dem Verschwinden, doch das, was sie auf Flohmärkten oder eBay ergattern, ist nichts weiter als der Nachhall von etwas Verschwundenem. Warum hat Jean Baudrillard, der große Theoretiker des Verschwindens, eigentlich nie über Plattensammler geschrieben? Auf nichts trifft seine Simulakren-Theorie so gut zu wie auf jene, die glauben, mittels Schallplatten das «echte», «reine», «nackte» Leben erheischen zu können, um am Ende doch nur dessen geisterhaften Schatten in ihren Händen zu halten. Ihr Auftreten hat so gar nichts von der Vitalität und Präsenz jener Objekte der Begierde, denen sie nachjagen. Es handelt sich um tragische Gestalten, die ihr Leben ständig vertagen, ganz so wie die Fehlfarben einmal gesungen haben: «Ich kenne das Leben, ich bin im Kino gewesen.» 6 Ganz andere Strategien, um das Echtheits- und Authentizitätsversprechen von Pop zu unterlaufen hatte Antifolk entwickelt. Quasi als Antwort auf die Verheissung des möglichst Puren und Reduzierten, war der Aufnahmeprozess selbst zur Schau gestellt worden. Auf verrauschten Homrerecording-Alben erzeugt die Anwesenheit von Verkehrsgeräuschen, Telefonklingeln, Räuspern und Verspielern für den Hörer den Eindruck grösstmöglicher Nähe. Gleichzeitig scheint in dieser performativen Unfertigkeit und Fehlerhaftigkeit aber auch die Kritik an den klaren und sauberen Produktionen durch. Für einen kurzen Moment kommen Markus Acher Selbstzweifel: Vielleicht ist es ja unfair, die iPod-Kids einfach nur als stumpfe Konsumenten abzutun. Ist es nicht ebenso konsumorientiert, am Fetisch Schallplatte festzuhalten? «Wir denken ja noch in Kategorien wie B-Seiten, völlig anachronistisch», sagt Acher und lacht.6 Von wegen iPodKids und digitale Distribution: Im Online-Archiv der «New York Times» findet sich die älteste Meldung zum Thema Musikpiraterie. Sie stammt vom 13. Juni 1897, aus der Gründerzeit der Phonoindustrie. «Kanadische Piraten» verschickten Raubpressungen von Schallplatten über die Grenze und verkauften sie zu einem Zehntel des Originalpreises. Zeitungen druckten Listen der verfügbaren Stücke – eine Art frühe Pirate Bay. 50 Prozent Umsatzeinbussen beklagte die Industrie und forderte, dass die Post die Sendungen filtere. Eine vergleichsweise milde Massnahme, gemessen am Internet-Ausschluss, den sich heute die Tonträgerindustrie für Filesharer wünscht. Die Politik reagiere nicht hart genug auf Internetpiraterie, begründete Dieter Gorny, Geschäftsführer des Bundesverbands der Musikindustrie, die Absage der Branchenmesse Popkomm in Berlin und sorgte allseits für Kopfschütteln.19 Zugleich erschien dieser Tage eine gross angekündigte Beatles-Box, im Stereo- und Mono-Mix. Der Stereo-Mix, angeblich den neuen Hörgewohneiten angepasst (was natürlich sofort zum Vorwurf des Lautheitswahns führte) kann hier vernachläsigt werden, da er, anders als der Mono-Mix, nicht verspricht authentisch zu sein. Dagegen käme der Monomix den Originalaufnahmen angeblich am nächsten, und noch dazu ist der limitiert! Der Mono-Mix ist echt! Wie früher! Auratisch! Limitiert! Wenn das mal kein Argument ist. Das führt gleich zur leidigen Tonträgerdebatte. Denn anders als auf der HighEnd-Anlage ist es bei MP3s nun fast schon egal, ob sie in Stereo oder Mono sind.18 Die Fehlerhaftigkeit als Beweis, dass auf Overdubs etc. verzichtet wurde, tritt programmatisch in den Vordergrund: Fehler is King, Fragilität zeugt von Authentizität. In der scheinbaren Nähe, die zu den Zuhörenden aufgebaut wird, und die in den Wohnzimmerkonzerte noch einmal potenziert wird, steckt aber nicht immer nur die Kritik an den der unmöglichen Echheit, manchmal dominiert auch das banale Bedürfnis nach dieser Illusion von Nähe.18 3. Natürlich ist es völlig legitim und musikalisch oft auch gewinnbringend, wenn sich westliche Pop-, Rock- und Jazzmusik so genannte Folklore aneignet. Doch das, was in Weltmusik-Regalen angeboten wird, hat weniger mit Bereicherung als mit Angleichung zu tun. Es ist eine falsch verstandene, nämlich kulturindustriell lancierte Form der Assimilierung und damit oft Ausdruck eines latenten Rassismus und Exotismus, der die Klischees vom heissen «latin lover» oder primitivistischen Afro-Trommler fortschreibt. Dem gegenüber ist die Archivierung von traditioneller Musik erst einmal wertneutral. Das stellt die von Radio France herausgegebene «Ocora»-Reihe wie kein anderes Label auf hohem Niveau unter Beweis. Ganz gleich, ob Musik aus Indien, Marokko, Spanien, Armenien, Chile oder Nigeria: Die Aufnahmen von «Ocora» sind um grösstmögliche Authentizität bemüht, ein Begriff, der in diesem Fall ausnahmsweise einmal Sinn macht. Das bedeutet: Keine CD aus dieser Reihe schmeichelt westlichen Ohren. Im Gegenteil, selbst und gerade Aufnahmen aus Europa, zum Beispiel «Danemark – Chanteurs et ménétriers» oder «Belgique – Ballades, danses et chansons de Flandre et de Wallonie» klingen dermassen sperrig und stellenweise sogar atonal, dass man sich wundert, welch eigentümliche Musik sich sogar in unseren Breitengraden entdecken lässt. 20 Um Vernetzung war es auch einmal Kimya Dawson gegangen, der zentralen Songwriterin bei den Moldy Peaches. Sie warb für die Antifolk-Szene, weil deren Grassroots-Ansatz keinerlei Ausschlusskriterien kannte, auch nicht in Geschlechterfragen. Doch dann musste sie miterleben, welch enormen Erfolg ihr ehemaliger Kollege Adam Green als Solokünstler hatte, während ihre weiterhin auf LoFi-Ästhetik basierenden Nummern gerade mal von einem kleinen Kreis treuer Fans wahrgenommen wurden. Adam Green kam auf die Titelblätter, Kimyas Platten schafften es in den hinteren Rezensionsteil der Musikmagazine. An Adam Greens Erfolg nach der Trennung der Moldy Peaches manifestierte sich, dass es Männer im «Indie-Land» nach wie vor leichter haben, erfolgreich zu werden – zumindest, wenn sie sich gängigen Rollen unterwerfen. Als der smarte, gutaussehende Indie-Schluffi Green damit begann, Blödeltexte an Broadway-Melodien zu koppeln, konnte er zum Brecher vieler Frauen- und wahrscheinlich auch so mancher Männerherzen werden, denn diese Musik stellte nichts mehr in Frage, am wenigsten den eigenen Status als Indie-Boy. 21 4. Hier zeigt sich die Kehrseite einer von traditionellen Elementen durchdrungenen Musikkultur: Das Fehlen des Traditionellen wird sofort als Identitätsverlust kritisiert. Für europäische Ohren klingen solche Argumente ziemlich absurd, ganz so, als ob man eine deutsche Band ablehnen müsste, sobald sie keine Jodler in ihre Songs einbaut oder die schottischen Belle & Sebastian nicht hören dürfte, weil in ihrer Musik kein Dudelsack vorkommt. Vielleicht müsste man dem entgegen halten, dass Pop- und Rockmusik in Europa längst zu neuen Formen von Folklore geworden sind, was nichts mit Verlust, sondern lediglich mit Identitäts-Verschiebung zu tun hat. 20 Dass beispielsweise eine explizit politisch emanzipatorische Band wie die Lezzies den Neonazi Vikerness zitiert, eine Schlüsselfigur der rechten Black-Metal-Szene, mag auf den ersten Blick irritieren. Doch auch hier geht es darum, Kontexte im Sinne einer Selbstermächtigung zu verdrehen (das, was auch die Rechten erfolgreich betreiben) und für die eigene Intention nutzbar zu machen. Zitat und Spiel mit Zeichen sind allemal zentrale Elemente dieser herzerfrischend überdrehten Band, die permanent den Mythos von Authentizität dekonstruiert und die gängige Gleichsetzung «authentisch = natürlich resp. Echt» nicht zuletzt aus gendertechnischen Überlegungen über Bord wirft. Denn genauso wie Heterosexualität von vielen immer noch als «natürlich» angesehen wird, herrscht in vielen Rock-Köpfen das Klischee vor, dass nur «erdige», «eigenständige», nicht auf Zitaten auf bauende Musik «echt» im Sinne von «natürlich» sein kann. Doch bei den Lezzies ist so ziemlich alles anti-essentialistisch und optimistisch zugleich. So zitieren sie feministische Songs der «Womyns Music» aus den 1970er-Jahren, haben diese jedoch musikalisch auf die Bedürfnisse einer neuen Generation umgeschrieben, deren Ansatz sich vielleicht am besten, wenngleich verkürzt, als offensive DIY-Punk-Geste bezeichnen lässt. Selbstaneignung, Vernetzung und Spass bilden ein Dreigespann, dem sich keine und keiner entziehen kann, ganz gleich, welche sexuellen Vorlieben sie oder er nun auch haben mag. 21 Womöglich liegt es daran, dass traditionelle Musik in den meisten europäischen Ländern nicht mehr in einem aktiven Austausch mit anderen Musikspielarten steht und aus dem Alltag nahezu völlig verschwunden ist. Selbst das Wissen um sie ist von Schlager, Chanson oder volkstümlicher Musik absorbiert worden. In einem Land wie der Türkei dagegen gibt es keinerlei Musikspielart von HipHop bis Heavy Metal, von Punk bis Dancefloor, die nicht von der traditionellen Musik des eigenen Landes durchdrungen wäre. Dies hat erst einmal nichts mit Chauvinismus zu tun, sondern mit Eigenständigkeit. Eine türkische Metal-Band weiss, dass niemand sie bräuchte, wenn sie nur wie eine Kopie westlicher Vorbilder klingen würde. Fatih Akins Dokumentarfilm «Crossing The Bridge – The Sound Of Istanbul» (2005), in dem Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten den unterschiedlichsten Musikern in der türkischen Metropole nachspürt, macht deutlich, dass dort jegliche Musik traditionelle Elemente enthält. Selbst die Gangsta Rapper sind stolz auf ihren arabesken Sound, der nicht einfach nur die amerikanischen Ghetto-Sounds nachahmt. 20 GLOSSAR Textnoten 1 Tim Stüttgen: «Arbeit und Leben im Zeitbild verschmelzend», Fabrikzeitung 241 (Fiction / Nonfiction) 18 Chris Wilpert: «Mainstream der Nebensächlichkeiten», Fabrikzeitung 255 (Pop am Ende?) 2 Gregor Huber: «Editorial», Fabrikzeitung 241 (Fiction / Nonfiction) 19 Kolja Reichert: «Die gute Tat der Piraten», Fabrikzeitung 255 (Pop am Ende?) 3 Katja Gretzinger: «Zur Autonomie des Designs», Fabrikzeitung 234 (Politik) 20 Martin Büsser: «Die Vielfalt der Traditionen», Fabrikzeitung 244 (Die Orient Ausgabe) 4 Martin Büsser: «Der unbekannte Rezensent», Fabrikzeitung 252 (Comment) 21 Martin Büsser: «Indie boys are neurotic», Fabrikzeitung 230 (The F-Word) 5 Marc Brupacher: «Das Ungeziefer vom Tages-Anzeiger», Fabrikzeitung 241 (Fiction / Nonfiction) 22 Christian Stiegler: «Ästhetische Darstellungen von Gewalt», Fabrikzeitung 248 (Gewalt & Medien) 6 Martin Büsser: «Plattensammler, eine aussterbende Gattung», Fabrikzeitung 242 (Hobbytopia) 23 Marco Giaquinto: «Der Moderne Mensch als Fiktion», Fabrikzeitung 241 (Fiction / Nonfiction) 7 Etrit Hasler: «So tun als ob», Fabrikzeitung 242 (Hobbytopia) 24 Evi Möchel: «Das Original ist die Kopie», Fabrikzeitung 256 (Kopie / Original) 8 Walter Benjamin, in: Fabrikzeitung 246 (Wissen & Bedenken) 9 Tim Stüttgen: «Körper als Prothese», Fabrikzeitung 242 (Hobbytopia) titelverzeichnis 10 Anna K. Becker: «Modelleisenbahnbau: Skalierte Realität», Fabrikzeitung 242 (Hobbytopia) : The Matrix (USA 1999). Morpheus: «Welcome to the real world.» 11 Yvonne Kunz: «Der Homosapiens Sapiens Sapiens», Fabrikzeitung 242 (Hobbytopia) f DJ Shadow - What Does Your Soul Look Like Part 1 (1994). «It is happening again» 12 Hartmut Böhme, aus: «Fetischismus und Kultur», Fabrikzeitung 242 (Hobbytopia) z Fun Lovin' Criminals - Scooby Snacks (1996): «Everybody cool, this is a robbery» 13 Jean Baudrillard, aus: «Das Dicke», Fabrikzeitung 242 (Hobbytopia) l White Zombie - Thunder Kiss 65 (1992): «I never try anything, I just do it! … Wanna try me?» 14 Tim Stüttgen: «Nur harte Hunde?», Fabrikzeitung 245 (Die Macker-Nummer) y Struggling with mediated authenticity restaging leads to how images can be made to lie usefully 15 Etrit Hasler: «Essen als Marke», Fabrikzeitung 253 (Nahrung) d Fatboy Slim - Right Here, Right Now (1999): «Right Here, Right Now» 16 Martin Büsser: «Unser postmodernes Essen», Fabrikzeitung 253 (Nahrung) Y Cypress Hill - Make A Move (1995): «The path of the righteous men» 17 Tom Kummer: «Die Rückkehr des Politischen», Fabrikzeitung 234 (Politik) Kool Savas ft. FTS - Ihr müsst noch üben (2000): «Over? Did you say over? Nothing is over until we decide it is!» 8