Fabrikzeitung 256 – Kopie/Original

Transcrição

Fabrikzeitung 256 – Kopie/Original
WELCOME
TO THE
REAL
:
WORLD
Kopie / Original
AUSGABE
P.P./Journal CH - 8038 Zürich
kopie / original
Kopie / Original
it is
happening
again
EDITORIAL
Es ist nichts neues: Medien verändern sich in
Relation zu den Menschen, die sie benutzen.
Permanent werden Affekte und Gefühle,
Informationen und Ideologien in Form gepresst
und zu Geschichten verarbeitet.1 Und irgendwie
ist man zufrieden, dass alles so ist, wie man es
sich vorstellt. 2 Es besteht die Möglichkeit, nicht
nur zunehmend mehr Bilder zu tauschen oder
zu sehen, sondern auch in ihnen zu erscheinen.1
Umberto Eco meinte einmal, dass wir mit dem
Publikum über die Botschaft im Moment ihrer
Ankunft diskutieren müssen, «denn gerade zu
einer Zeit, da die Systeme der Massenkommunikation eine einzige Botschaft voraussetzen, die
ausgehend von einer einzigen industrialisierten
Quelle ein weltweites Publikum erreicht, müssen
wir f ähig sein, Systeme einer ergänzenden Kommunikation zu ersinnen: einer Kommunikation,
die uns erlaubt, jede einzelne Menschengruppe,
jedes einzelne Mitglied dieses weltweiten Publikums zu erreichen, um mit ihm über die Botschaft
im Augenblick ihrer Ankunft zu diskutieren, im
Licht einer Konfrontation der Empf ängercodes
mit denen des Senders.» Ich denke, dass wir auch
über den Moment des Entstehens der Botschaft
diskutieren müssen.
Der Moment des Herausschreitens aus den
gesetzten Handlungsspielräumen ermöglicht den
Blick von aussen und ist damit Grundlage, um
diese Form von ergänzender Kommunikation
überhaupt erst zu denken zu können. 3 Für die
wenig verbliebenen Feuilletonisten, die noch
für Rezensionen bezahlt werden, ist dieser
geschwätzige Meinungs-Pool natürlich der blanke
Horror. Aber reagieren sie darauf, indem sie die
qualitativen Ansprüche an ihre eigene Arbeit
umso höher setzen? Im Gegenteil, das klassische
Feuilleton hat längst resigniert. Rezensionen sind
in den letzen Jahren immer mehr von Artikeln
verdrängt worden, die sich wie der verlängerte
Arm des Politikteils lesen.
Damit ist die Anwendung von fremden literarischen Genres auf den eigenen Text gemeint 5,
dass das, was einmal unmittelbare Präsenz vorgab,
zum Teil der Geschichte geworden ist.6 Wer hat
sich noch nicht einmal gewünscht, er könnte
einen Film, einen Roman, einen Comic selbst
umschreiben, seinen Serienhelden endlich mit
seiner Angebeteten zusammenzubringen, zum
Beispiel, oder dem listigen Bösewicht, der immer
wieder ungeschoren davonkommt, endlich einmal
die Abreibung zu verpassen, die er verdient hat? 7
Walter Benjamin *1892 †1940, deutscher Philosoph, Gesellschaftstheoretiker, Literaturkritiker
und Übersetzer Balzacs, Baudelaires, Marcel
Prousts u. a. schrieb dazu: «Das Kunstwerk im
Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit»,
dessen Titel zu einer Art geflügeltem Wort geworden ist. Die unbegrenzte Vervielf ältigung von
Musik, Malerei, ja aller bildenden Künste führt
nach Benjamin zum Verlust ihrer Aura. Damit ist
auch der veränderte Rezeptionszusammenhang
gemeint: Mussten sich die Kunstliebhaber früher
in ein Konzert oder in eine Galerie begeben, um
ihrer Leidenschaft nachzugehen, so kam es durch
die technischen Reproduktionen, seien es Schallplatten-, Radioaufnahmen oder Kunstdrucke,
zu einer «Entwertung des Originals». Wertet
Benjamin diese Entwicklung vor allem positiv, so
greift Adorno die These auf und kehrt dialektisch
vor allem die Regression und den Fetischcharakter
der Massenkunst heraus.8 Gesehen ist gesehen
– Auch heutzutage unterscheiden wir zwischen
Barack Obama, die Finanzkrise oder die Papstreise in den Nahen Osten werden im Feuilleton
abermals durchgekaut, nun allerdings unter
allgemein gesellschaftlichen und kulturellen
Gesichtspunkten, während Rezensionen immer
mehr zu einer Art Leserservice schrumpfen.4 Der
Autor nennt das dann Guerilla-Journalismus.
Funktionieren tut es so: «Guerilla mixt Gefühle,
Recherche, Vorurteile, Fakten, Historisches
und Fiction. Wahr ist nur das, was schillert. Der
Beweis der Echtheit ist: Irritation.»5 Während viele
neue Möglichkeiten des individuellen Ausdrucks
geschaffen werden, werden diese Systeme vor
allem auch zur Spiegelung und Reproduktion
bereits vorgekauter Inhalte und Werte genutzt.
Den Spielformen neoliberaler Strategien und
Taktiken sind dabei kaum Grenzen gesetzt. 2
Liebstes Gestaltungsprinzip ist allerdings die
Stilimitation («Durch dieses Prinzip unterscheide
ich mich am stärksten von den Kollegen»).
unterschiedlichen medialen Ausformungen,
denen allen eine Inszinierung zu Grunde liegt.
So konsumieren wir tagtäglich [...] Darstellungen
in Nachrichten, deren Bilder jedoch schon vor
der Ausstrahlung geschnitten, bearbeitet und in
einer bestimmten Anordnung aneinandergereiht
werden. Die Bilder, die wir also als «authentisch»
empfinden, da sie ja die Realität dokumentarisch
abbilden möchten, sind zum einen für das Format
und zum anderen für den Zuschauer präpariert. 22
Genauer gesagt: Wahrnehmen ist eine Entscheidung. Und es ist diese Entscheidung, die uns die
Ready-Mades von Duchamp in ihrem Ursprung
enthüllen. Das jedoch war uns in gewisser Weise
schon klar, weil das langsame Entstehen des
Alphabets, das heisst der Übergang von willkürlichen Zeichen der Piktogramme zur Schrift uns
ganz klar gezeigt hat, dass jedes Bild alles repräsentieren kann, vorausgesetzt, dass wir entschieden haben, dass dies so sei. 24 Spätestens hier wird
wieder deutlich, dass es sich um eine Inszinierung
handelt. 22
This must be where pies go when they die
everybody cool,
this is a robbery
Der Homocopiens copiens copiens
Die Wertidee der Individualisierung ist untrennbar mit den Massenmedien verbunden; der
Mensch begegnet uns vor allem als [...] medial
vermitteltes Individuum. Die neusten Entwicklungen im massenmedialen Universum basieren
auf sozialen, grunddemokratischen Organisationen und Darstellungsformen, und fördern
den freien Austausch von Wissen und Gefühlen.
Das entspricht den Prinzipien der Auf klärung.
Man glaubte an den Nutzen der individuellen
Selbstdarstellung für die Perfektionierung des
Menschen. Das Wissen um die Tugenden und
Laster des Individuums galt als Basis für eine
gezielte moralische und gesellschaftliche Vervollkommnung. Heute, rund 250 Jahre später, haben
wir eine schiere Fülle an intimen und präzisen
Selbstzeugnissen sowie einen unfassbaren Berg
an Wissen zur Verfügung. Die Darstellung seiner
selbst ist für das Selbstverständnis des modernen
Menschen unabdingbar, weil er sich in der Gesellschaft ohne festgelegte Bindungen nur über seine
Individualität behaupten kann. 23
Der Körper als Prothese
Die Aufrechterhaltung eines Körperbegriffes, der
am Natürlichen festhält, hat eine lange Geschichte
von Rassismus und Sexismus hinter sich. Die
Queer-Theoretikerin Beatriz Preciado hat eine
Theorie zum «Körper als Prothese» entwickelt,
und erklärt die ideologische Dimension des
Antagonismus zwischen Original und Fälschung
so: «Von Derrida habe ich gelernt, dass Dominanz
einfach die Macht ist, deinen Code als den originären zu bezeichnen und alle anderen als Fake
oder ungenügende Imitation.»
Den Angriff, nicht das «Original» des weissen,
männlichen, heterosexuellen Körpers zu besitzen,
kennen Frauen und Queers, Migranten und Krüppel. So ist es auch kein Wunder, dass sich gerade
der neue Feminismus und die Queer-Bewegung
in den letzten Jahren darum bemüht haben, aus
der Idee der «falschen» Prothesen eine Befreiung
aus den ideologischen Grenzen des «Normalen»
und «Natürlichen» zu erdenken.
Auch «Der Modefetischismus gehört deshalb zur
postmodernen Kondition, weil er nicht mehr
einen integralen Zeitstil kreiert, sondern ein
flottierendes Gewebe aus Selbstreferenzen und
Zitaten.»12 Es scheint jedoch gerade so, als ob
der Mensch gar nicht mehr Mensch sein wollte,
sondern ein Ausbund an perfekter Künstlichkeit.11
Das Frauenmagazin «Bolero» fragte unlängst
nach, was Männer jetzt eigentlich besser finden;
Silikonbrüste oder natürliche. Die Antwort fiel
differenziert aus: Naturbusen wird bevorzugt
– vorausgesetzt, er sieht aus wie Silikon. Auch
sonst wurde so einiges salonf ähig: Während
bis vor kurzem vor allem auf die Risiken des
Nervengiftes Botox in der Bekämpfung von
Gesichtsfalten hingewiesen wurde, preisen heute
viele Hefte Botox-Parties als tolle Abwechslung in
der Mittagspause, Brust- und Nasen-OP’s werden
als persönliche Befreiungsschläge von gepeinigten
Seelen zelebriert.
Die Cyberfeministin Donna Haraway hat in
ihrem Cyborg-Manifest den Nagel auf den Kopf
getroffen, als sie aus der Perspektive der Frauen
polemisch ausruft: «Lieber Cyborg als Göttin!»
Denn selbst die Frau wurde immer wieder das
Opfer eines Dualismus von Natur und Kultur,
der ihr gegenüber vom Mann dargestellt wurde.9
Menschen kann man nicht in der Natur finden.
Diese «Spritzlinge» kommen von der Stange und
sind noch unbemalt, und ganz billig. Sie werden
in Deutschland hergestellt, zum Bemalen nach
China oder Makao gebracht und dann wieder
hierher importiert. Ich bemale meine Menschen
lieber selbst. Warum soll ich mich nicht auch mal
als Chinesin fühlen?10
Natürlichkeit durch
Technische Reproduktion
Folgt man Marx´ Vorstellung, dass die technischen Produktionsmittel den Kommunismus ermöglichen könnten, sollte man die Prothesen des
Körpers nicht als das Unnatürliche Andere aussen
vor lassen. Den Körper in seiner performativen
und technischen Reproduzierbarkeitzu begreifen,
könnte nicht nur den Weg zum elitären Egoboosting freimachen – sondern auch zu seinem
Gegenteil: Einer Sphäre, in der kein Mensch dem
anderen aufgrund körperlicher Vorteile angeblich
überlegen scheint.9 Topmodels beteuern, dass
sie in Wirklichkeit nicht so aussehen wie auf
dem Bild und lassen sich zur Abwechslung gut
ausgeleuchtet ungeschmickt ablichten – siehe
Nadine Strittmatter auf der aktuellen «Annabelle».
Der «Nude-Look» (nude = nackt) ist in – doch in
Anbetracht der grossen Produktpalette, mit der
man sich auf natürlich schminken kann, zeigt,
dass die Natürlichkeit gefaked ist.
Weiblichkeit eine Kopie ohne Original. Während
jedoch die feministische Theorie Weiblichkeit
schon lange als Konstruktion und Maskierung,
Aufführung und Inszenierung analysiert hat,
ist Männlichkeit als angeblich «authentischer»
Machtcode diskursiv fast unberührt geblieben.
Die französische Schriftstellerin Virginie Despentes, die auch den proletarisch-feministischen
Punk-Porno «Baise Moi» gemacht hat, brachte
in einem Interview, das ich mal mit ihr geführt
habe, auf den Punkt: «Bis heute gibt es von
Männern kaum Kritik an Männlichkeit. Es sieht
so aus, als wäre das Gef ängnis der Männlichkeit
außerordentlich stabil gebaut. Männlichkeit ist ein
stabiler Fake an Übermacht. Sie beginnt mit einer
stark regulierten und kontrollierten Amputation
der Gefühle und der Sinnlichkeit, verbindet sich
mit hohen Anforderungen an eine souveräne
Körperlichkeit, Sexualität und Lebensform.»14
Kopie vs. Original
Das Streben nach dem unheimlich präsenten und
schier unglaublich normierten Idealbild ist grenzenlos geworden.11 Es ist so, als ob der Körper sich
nicht mehr mit einer äußeren Welt konfrontierte,
sondern versuchte, den äußeren Raum in seine
eigene Erscheinung hineinzustopfen.13 So sind z.B.
echte Blondinen im Gegensatz zu den Wannabes
auch echt cool, stylish und begabt, siehe Uma
Thurman, Kirsten Dunst oder Ingrid Bergmann.
Die Reihe der echten ist natürlich nicht ganz so
lang, denn blondes Haar ist rar. Dass die Blondinen
in 200 Jahren gar ausgestorben sein werden, wie
der Boulevard vor einiger Zeit geschockt meldete,
erwies sich aber glücklicherweise als Ente.11
Umso komplizierter die Umstände des
männlichen Körpers, um so einfacher seine
Narrationen: Er leistet. Deswegen gehen auch
andere Männer gerne ins Stadion: Weil Fußball
die gesellschaftliche Komplexität gerade in den
Geschlechter-Rollen vergessen lässt. Und weil ein
letztes Mal der Mythos von Potenz, Maskulinität
und Nation mit den Sauf- und Sing-Kumpels
zelebriert werden kann. Männlichkeit ist wie
Und die «Migrosmodels», «echte Menschen», mit
denen der Grossverteiler wirbt, sind zwar keine
Magermodels – allzu weit weg vom Ideal sind sie
dann aber auch nicht. Was geboten wird, ist eine
Reality Show und eben nicht die Realität.11
2
My husband was a logging man... he met the devil
3
Kopie / Original
Kopie / Original
i never try anything
unser täglich brot aus
dem gefrierfach
Man muss sich das mal vorstellen: Hatte vor
wenigen Jahrzehnten eine italienische Mamma
vor, für ihre Kinder eine richtige Lasagne zu
kochen, stand sie dafür einen halben Tag in der
Küche – natürlich, die Liebe der Kinder war ihr
damit auf Ewigkeiten sicher, was vielleicht die
etwas bizarre Beziehung italienischer Männer
zu ihren Mammas erklärt. Macht sich allerdings
heute noch eine Mamma diese Mühe, kann sie
von Glück reden, wenn sie dafür noch ein müdes
Lächeln erntet. Wahrscheinlicher ist da schon,
dass ihr mit viel Liebe und noch viel mehr wertvoller Zeit angerichtetes Mal einfach verschmäht
wird. Denn Kinder wissen genau: Echte Lasagne
kommt von Findus. Das darf uns auch nicht weiter
erstaunen, denn das perfide ist ja, die verdammte
Tief kühllasagne schmeckt tatsächlich besser. Ist
ja auch kein Wunder, immerhin stecken in dem
Ding genügend Es drin, um einen ganzen Duden
zwischen D und F damit zu füllen. Aber darum
geht es nicht – Kids sind heute wie damals ja auch
keine Feinschmecker. Viel wichtiger ist das Produkt, und das Image, das sie damit konsumieren.
Und Findus, soweit ist klar, ist Standard. Mammas
Lasagne kann gar nicht so gut sein, sonst würde es
die ja im Supermarkt zu kaufen geben.15
Mit der Einführung der Tief kühltruhen konnte
die Lebensmittelindustrie ihren Umsatz enorm
steigern, doch dieses Wachstumspotential ist nun
schon seit Jahren ausgereizt. Bei den Lebensmitteln in den Industrieländern gibt es nichts mehr
zu verbessern, also muss der Absatz durch Imitate
gesteigert werden.15 Die Menschen wissen dadurch
längst nicht mehr, was sie essen. Das zumindest ist
das Fazit aus dem in diesem Sommer entfachten
Skandal um so genanntes Fake Food. Die Rede ist
von Nahrungsmitteln, bei denen die Firmen vorgeben, es handle sich um Schinken, Käse oder Garnelen, während diese Bestandteile in Wirklichkeit gar
nicht oder nur in geringer Dosierung im Produkt
vorhanden sind. Analogkäse kommt zum Beispiel
völlig ohne Milch aus und ist in der Gastronomie
längst gängig, weil billiger. Formschinken oder
Schinken-Imitat, ebenfalls ein beliebter PizzaBelag, enthält zwar Fleischreste, diese werden aber
grösstenteils von Bindegewebe und Dickungsmittel zusammengehalten.
Martin Rücker, Pressesprecher der Verbraucherschutzorganisation «Foodwatch» spricht von
«arglistiger Täuschung», da diese Imitate nicht
von echtem Käse oder Schinken zu unterscheiden
sind, weder im Aussehen noch im Geschmack.
«Als Gastronomie-Kunde kann sich der Verbraucher gar nicht schützen», erklärt Rücker, «hierzu
müsste man die Pizza ins Labor einschicken.
Der Schuss in den Ofen
Analogkäse lässt sich als solcher nicht erkennen, er
zieht sich wie richtiger Käse, bräunt auf der Pizza
wie richtiger Käse und schmeckt wie richtiger
Käse. Das Problem ist, dass die Behörden solche
Fälschungen nicht öffentlich machen, zumal die
Fälschungen nur dann verboten sind, wenn sie
sich ‹Käse› oder ‹Schinken› nennen. Es genügt
allerdings, im Supermarkt geriebenen Analogkäse als ‹Pizza Mix› anzubieten, also das Wort
Käse zu umgehen, schon ist die Sache legal.» Die
Fälschungen betreffen nicht nur billige Produkte,
auch ver-meintlich hochwertige, teuer angebotene
Nahrungsmittel können sich als Fake herausstellen, zum Beispiel gestrecktes Pesto, bei dem
Olivenöl fast zur Gänze durch Sonnenblumenöl
ersetzt wurde. «Foodwatch» deckte beispielsweise
auf, dass «Bertolli Pesto Verde» zwar mit «feinem
Bertolli Olivenöl» beworben wird, aber nur einen
Fingerhut voll davon enthält. Dass nicht nur
diejenigen getäuscht werden, die sich hochwertige
Nahrung nicht leisten können, macht ein Beispiel
des «Nordsee» Konzerns klar: Das aus billigem
Fisch-eiweiss gepresste Surimi findet sich dort
im Meeresfrüchtesalat mit dem wohlklingenden
Namen «Cocktail Marseille» – das mit Abstand
teuerste Produkt, das «Nordsee» an seiner Salattheke anbietet.
«Es ist irrig, zu glauben, all das hätte etwas
mit Lebensmittelverknappung zu tun», erläutert Rücker, «in den Industrieländern werden
wir nach wie vor weder auf Milch, Käse noch
Garnelen verzichten müssen, im Gegenteil, bei
Milch kommt es ja beispielsweise zu gigantischen Überproduktionen. Der Grund für solche
Fälschungen ist ein ganz anderer: Die Konzerne
wollen neue Märkte schaffen. Mit der Einführung
der Tief kühltruhen konnte die Lebensmittelin-
dustrie ihren Umsatz enorm steigern, doch dieses
Wachstumspotential ist nun schon seit Jahren
ausgereizt. Bei den Lebensmitteln in den Industrieländern gibt es nichts mehr zu verbessern, also
muss der Absatz durch Imitate gesteigert werden.
Oder aber durch ‹Functional Food›, eine weitere
Form der Täuschung: Essen, von dem vorgegeben wird, dass es besonders gesund sei, ohne dass
dies stimmt oder nachweisbar wäre. In solche Produkte wird ein massiver Werbeaufwand gesteckt,
um sie teurer verkaufen zu können, ohne dass sie
in irgendeiner Form gesünder wären als vergleichbare, billigere Lebensmittel. Kampagnen wie ‹Actimel stärkt Abwehrkräfte geben etwas vor, was
die Produkte meistens gar nicht leisten können.
Ein solcher Spruch könnte ebenso gut auf einem
billigen Joghurt stehen, der dasselbe erfüllt oder
eben nicht erfüllt – ‹Actimel› ist nämlich nicht
nur vier Mal so teuer wie ein herkömmlicher
Joghurt, sondern enthält auch noch mehr Zucker.»
Gegenüber dem «Spiegel» fand «Foodwatch»-Begründer Thilo Bode deutliche Worte: «Auf dem
Lebensmittelmarkt sind rechtstaatliche Prinzipien
ausser Kraft gesetzt. Es ist, als würde die Polizei
bekannt geben, dass massenweise Falschgeld
im Umlauf ist – es aber nicht aus dem Verkehr
ziehen, sondern den Bürgern erklären, wie sie die
Blüten erkennen können.» An dieser Stelle nun
eine Entwarnung: Im Gegensatz zu «Functional
Food», von der «Kinder-Milchschnitte» bis zur
«Yogurette», die als gesund angepriesen werden,
aber letztlich Unmengen Zucker enthalten, sind
Analogkäse, Formschinken und andere Formen von Fake Food nicht gesundheitsschädlich.
Wer eine Laktoseintoleranz hat oder sich vegan
ernährt, erhält mit dem Analogkäse sogar einen
preiswerteren Ersatz als all die Tofu-Schnitzel,
-Schinken oder -Steaks, die von einem ökologischen Publikum innig geliebt werden, obwohl
es sich dabei im Grunde um den Ursprung allen
Fake Foods handelt. Wenn auch um solches, das
offen zugibt, Fleisch nur vorzugeben. So viel
steht fest: Philosophisch betrachtet ist auch unsere
Nahrung in der Postmoderne angekommen.
In den Kultur-wissenschaften ist das Authentische längst als Schimäre entlarvt worden, Jean
Baudrillard hat seine Simulakren-Theorie bereits
in den 1970ern auf nahezu alles von den Medien
bis zur Architektur angewendet, in den «gender»
und «queer studies» wurde Geschlecht als soziales
Konstrukt enttarnt, ja der Begriff «queer» selbst
ist im Englischen ein Synonym für Falschgeld,
mit dem Bode das Fake Food verglichen hat.
Warum sollte es so schlimm sein, wenn nun auch
unsere Nahrung nicht mehr authentisch ist? Was
spricht gegen einen Mix aus Eiweiss-Imitiat,
Geschmacksverstärkern und Vitaminen, solange
er nahrhaft ist und schmeckt? Könnte Fake Food
nicht sogar die Massentierhaltung mitsamt ihren
ökologischen Folgen eindämmen? Und ist Fake
Food denn letztlich nichts anderes als die industrielle Variante der sündhaft teuren Molekularküche
eines Ferran Adriá, bei der es letztlich auch nur
darum geht, mit Lebensmitteln zu experimentieren? Gegen die Täuschung: Ich habe solche
Fragen Martin Rücker von «Foodwatch» nicht
gestellt, wahrscheinlich hätte er mich ausgelacht
oder gar nicht verstanden. Aber auch er schränkt
ein: «Nichts gegen Produkte wie Analogkäse
an sich, sondern nur gegen die Täuschung. Die
Hersteller könnten ja sogar damit werben, dass ihr
Nicht-Käse gut für Kunden mit Laktoseintoleranz
ist, aber das machen sie nicht, weil sie ja wollen,
dass die Kunden ihr Produkt für Käse halten.
‹Foodwatch› ist also nicht gegen solche Lebensmittel, sondern für eine transparente Kennzeichnung. Margarine wird zum Beispiel auch als
Butter-ersatz verkauft, aber jedem ist klar, dass
es sich um etwas anderes als Butter handelt. So
etwas geht völlig in Ordnung.» Entwarnung gab
vergangenen Juli auch ein Artikel der deutschen
Tageszeitung «Die Welt»: «Einige der gescholtenen ‹künstlichen› Lebensmittel sind durchaus
sinnvolle Versuche, gute, aber ästhetisch mangelhafte Reststoffe zu verwerten. So verbergen sich
hinter dem Fantasienamen ‹Surimi› geformte
Fetzen von Fischen und Krabben, die nicht
minderwertig sind, sondern in ihrer ungepressten
Version nur unansehnlich. Was ist falsch daran,
diesen Rohstoff zu nutzen?» Im Gegensatz zum
Gammelfleisch gibt die Debatte um Fake Food
also nur wenig für einen ernsthaften Skandal her.
Sie zeigt nur, dass die meisten Menschen beim
Essen kon-servativ geblieben sind. Um den Preis,
dass die Herkunft von «richtigem» Schinken oft
besser ebenfalls im Dunklen bleibt.16
Tons of doughnuts. It is a Twin Peaks staple after all. August 16, 2002
BILDSERIE
was lost forever. The attendance number swelled to an overwhelming 250, with approximately 90% being brand-new to the festival experience (in comparison, normal years see
about 67% new attendees). The main events were moved to Snoqualmie Valley and the
farewell party switched to the Llama Rose Farm near Poulsbo.
Im August 1992 wurde Twin Peaks: Fire Walk With Me zum ersten mal in North Bend WA aufgeführt.
Seitdem kommen jedes Jahr Anhänger aus aller Welt um die Originalschauplätze der Kult-Serie zu besuchen
und festzuhalten. Die Bilderserie auf den Seiten 3, 5 und 6 stammt von ebendiesen Anhängern der Serie
die damit einen endlosen Loop der Neu-Inszinierung generieren. Auf der Website des Festivals www.
twinpeaksfest.com steht dazu:
Thankfully, Eric did continue the festival in 2001, largely with the help of Susan and
David Eisenstadt, whose son Josh (fondly known to fans as The Twin Peaks Brain) had
been dragging them to the festival since 1994. Afterwards, Eric turned the festival over
to Susan, who picked up where Eric had left off and worked to encompass the entire
festival in Snoqualmie Valley. The film night was moved to the North Bend Theater,
where Twin Peaks: Fire Walk With Me had premiered ten years prior, and the farewell
party relocated to Olallie State Park where several scenes from FWWM had been filmed,
including the Deer Meadow Sheriff’s Station and the spot in the woods where Laura and
Bobby meet Deputy Cliff. Julee Cruise happened to be in the Seattle area promoting her
new disc that summer, and as a treat Susan invited her to perform for fans. As a precaution to the number of fans becoming too unmanageable, only 200 tickets were available
for sale that year. Every single ticket sold out.
Two fans in particular, Don and Pat Shook of Romeo, MI, realized that this would be a great thing to have every year... a gathering of the fans with some celebrity guests, all together
in Washington to celebrate Twin Peaks.bThe following August, the very first Twin Peaks
Festival took place. It wasn’t nearly as large as the film premiere the year before... only
about 200 fans were in attendance... but the size isn’t what mattered. The big draws for the
fans were the celebrity guests and filming sites. Most of the festival events were held at the
Holiday Inn in Issaquah that year, with a salmon luncheon at the Kiana Lodge off Bainbridge Island and a Lynch film night at the Seattle Art Museum as side trips. Fans were
given filming site maps for self-guided tours, and were given the option to purchase tickets
for each individual event during the festival (dinners, lunches, contests, etc).
The success of that first festival prompted the Shooks to continue the festival the following
year, and soon it became an annual event. Average attendance each year ranged from 100200 fans and three to four celebrity guests, including such folks as Jack Nance, Frank Silva,
Michael J. Anderson, and Catherine Coulson. Eventually the Shooks decided to step down
as festival organizers and hand the event over to a new person, Eric Thomas from Southern
California. Eric took over the festival in 1998 and revamped the format. He moved the
main festivities to the Kiana Lodge, added a bus tour of the filming sites in Snoqualmie
Valley, and eliminated the individual event tickets, creating one comprehensive festival
ticket package. The farewell cherry pie party was held at the Timberline Tavern in Seattle,
famous to fans as the interior of the Roadhouse.
In 2000, Eric renamed it the Twin Peaks Lynch Fest and put heavy emphasis on David
Lynch in general. After announcing that it would probably be the last festival ever, many
new fans bought tickets in a panic to get their festival experience in before the opportunity
After two great years, Susan decided to hand the festival over to yet another organizer...
or in this case, a group of organizers. 2004 saw the arrival of Jared Lyon, Amanda
Hicks, and Jordan and Kelly Chambers as the festival organizers. They picked up
where Susan left off, though they were forced to move the film night back to the
Seattle Art Museum due to lack of support from the owners of the North Bend
Theater (new owners have since taken over). In 2005, they changed the long-running
format of the festival due to a scheduling conflict with the museum. The film night,
which had always been a Saturday-night staple, was switched to Friday night and the
celebrity dinner switched to Saturday night in its place. Thankfully this turned out to
be a successful move and has remained in place since.
Hyde gets Catherine to recite a few lines while someone videotapes them. August 1, 2004
4
5
Kopie / Original
Kopie / Original
Restaging the
real
Right here, Right now
In der Beziehung zwischen Original und Kopie
herrscht noch immer die Idee vor, dass eine Kopie
eine Art Ersatz für das Original ist. Dies ist nicht
der Fall, spricht man beispielsweise von einer
Erscheinungsform von Buddha oder von einer
der drei Personen der heiligen Dreifaltigkeit, von
denen keine in irgendeiner Weise der anderen
unterlegen ist, weil jede von ihnen die heilige
Dreifaltigkeit als Ganzes, bzw. Buddha selbst
ist. In alle Himmelsrichtungen des weltweiten
Kommunikationsnetzes dargeboten, garantiert das
digitale Kunstwerk nun eine totale Allgegenwart.
Möglicherweise ist es überall und das mit einer
Präsenz, die stärker ist als je zuvor. Wenn sie eines
von ihren Bildern in ihr bevorzugtes Bildbearbeitungsprogramm herunterladen, werden sie in der
Lage sein, seine Innereien nach Belieben zu erforschen. Schlimmer noch: sie können es nach Ihrem
Geschmack korrigieren und sogar zerstören - dies
bis ins letzte seiner pulsierenden Pixel.
again and again
In the Black Lodge
The CBS/Paramount filming crew interviewing for the
Twin Peaks Festival. July 29, 2006
There‘s a sort of evil out there, strange in the woods - a darkness, a presence
Das Original ist die kopie
Ja. Wenn sie wollen, können sie das besitzen, was
von der Stofflichkeit dieser Bilder übriggeblieben
ist, und zwar in einer Tiefgründigkeit, die niemals
zuvor erreicht wurde. Und trotzdem wird Ihnen
weder von der Magie, noch vom Geheimnis der
Bilder etwas weg genommen. Und sie werden
jetzt verstehen, was diese alte Geschichte von
Original und Kopie an Trug und Ungenauigkeit beinhaltet. Indem sie die Betonung auf die
Stofflichkeit des Werkes gelegt haben, waren sie
in dem Glauben, dass das Magische im Original
liegt und dass seine Macht in der Kopie nur geringer werden konnte. Tatsächlich aber ist dieses
Magische in Ihnen selbst und seine Essenz ist die
Essenz eines Zusammentreffens. Es besteht sozusagen aus jenem Teil Ihrer selbst, der einzigartig
ist und daraus, was einzigartig an diesem Moment
ist, in dem sie das Werk zum ersten Mal sehen.
Mit anderen Worten handelt es sich hier um etwas, von dem man in keiner Weise erhoffen kann,
es zu kopieren. Sobald der Künstler auf hört, mit
den traditionellen Mitteln zu arbeiten und ein vollkommen digitales Werk schafft, kann dieses Werk
in sovielen Erscheinungsformen dupliziert werden,
wie man will. Und diese Erscheinungsformen sind
wirklich auf vollkommene und exakte Art gleich,
genau so wie man sie haben will. Jede einzelne von
ihnen ist das Werk selbst. Und diese Multiplikation
ohne Qualitätsverlust kann dank des weltweiten
Kommunikationsnetzes überall realisiert werden.
Man gewöhnt sich ziemlich schnell daran - und
zwar mit einer erstaunlichen Leichtigkeit - was alte
Werke betrifft, aber wenn es sich um neuere handelt. Man braucht nur einmal zu beobachten, was
mit verschiedenen Rottönen in Van Goghs Werk
passiert, um eine Idee davon zu bekommen, inwieweit Originalpigmente den Maler im Stich lassen
können. Die Zeit vergeht und mit ihr vergehen die
Farben sowie die Emotion beim ersten Betrachten.
Es gibt kein Beispiel, wo man es geschafft hätte,
diese Dinge in einen Tresor zu sperren.
Das Original in der Musik
Von diesem Moment an löst sich der erstaunliche
Archaismus eines Geistes, eines Manna, das mit
dem Original verbunden bliebe und das sich in
der Kopie verlieren würde, auf. Und dies, obwohl
dieser Archaismus die Wurzel des wichtigen und
mysteriösen Kunstmarkts ist. Dies ist jedoch nicht
sonderlich überraschend. In der Musik hat es
noch nie solche Dinge wie Original und Kopie
gegeben. Und es hat auch noch nie einen Sinn gemacht, in der Literatur über Originale und Kopien
zu sprechen, denn spätestens seit Gutenberg ist
den Qualen der Kopisten ein Ende bereitet worden. Natürlich werden sie noch hie und da einige
Leute finden, die stolz darauf sind, das Manuskript
eines bestimmten Buches oder eines Musikstückes
zu besitzen, aber selbst diese Abirrungen werden
in dem Maße verschwinden, in dem Autoren und
Musiker den blanken Schrecken vor einer jungfräulichen, weissen Seite und vor dem Duft der
Tinte verlieren werden. Die Aufregung war schon
gross, als die Photographie über uns hereingebrochen ist. Aber alles in allem hat die Photographie
nur das Prestige des Originals betont, als etwas,
das eine bestimmte Art von Seele enthält, welche
die Photographie nicht erfassen konnte. Es ist auch
wahr, dass einige technische Probleme zu lösen
waren. Die Originaltreue (High Fidelity) existiert
in der Musik, oder sie misst sich zumindest daran,
aber man wird in der Malerei vergeblich nach
einem Äquivalent suchen. Egal, welche Vorsichtsmaßnahmen sie auch treffen mögen, der Punkt hier
ist nicht nur, dass Reproduktionen gemalter Bilder
für gewöhnlich enttäuschend sind, sondern schlimmer noch, dass Originale sich selbst kaum treu sind.
Sterbliche Gemälde
Und das ist genau das, was Marcel Duchamp
darüber gedacht hat: «Ich bin überzeugt davon,
dass die Malerei im Sterben liegt. Jedes Gemälde
stirbt nach vierzig oder fünfzig Jahren, weil es
dann seine Frische eingebüßt hat. Und der Plastik
geht es nicht anders. Das ist meine ureigene Ansicht, so ein privater Spleen, der von niemandem
sonst geteilt wird - aber das ist mir gleich. Meiner
Meinung nach stirbt jedes Gemälde nach einigen
Jahren, genauso wie sein Urheber. Und danach
spricht man dann von Kunstgeschichte. Es besteht
z.B. ein riesiger Unterschied zwischen einem
Monet heute, der ganz dunkel geworden ist und
einem Monet vor sechzig oder achzig Jahren, als
er noch leuchtend und neu war. Jetzt gehört er der
Geschichte an und ist allgemein anerkannt, und
das ist auch gut so, denn ändern tut sich ja doch
nichts. Die Menschen sind sterblich und die Gemälde sind es auch.» Genauer gesagt, wahrnehmen
ist eine Entscheidung. Und es ist diese Entscheidung, die uns die Ready-Mades von Duchamp in
ihrem Ursprung enthüllen. Das jedoch war uns
in gewisser Weise schon klar, weil das langsame
Entstehen des Alphabets, das heisst der Übergang
von willkürlichen Zeichen der Piktogramme zur
Schrift uns ganz klar gezeigt hat, dass jedes Bild
alles repräsentieren kann, vorausgesetzt, dass wir
entschieden haben, dass dies so sei. Trotzdem,
obwohl nichts uns die radikale Neuheit eines etwas
«nie gesehenen» zurückgeben kann, wenn sie
einmal vorbei ist, gibt es einige Gründe zu denken,
dass die digitale Kunst uns treuer bleiben wird,
als die Ölmalerei. Weil die digitale Kunst nicht
die Farbe selbst speichert, sondern eher in Form
von Zahlen das speichert, was notwendig ist, um
die Reproduktion zu sichern, also sozusagen ihre
Gene. Und wir sollten darüber nicht traurig sein,
weil wir bezüglich der Erinnerung viel eher den
Genen trauen können, als Marmor oder Bronze.
In der Tat gibt es jede Menge Beispiele von
lebenden Organismen, die es geschafft haben bis
heute vollkommen intakt zu bleiben, obwohl sie,
über Millionen von Jahren ihrer Geschichte das
Entstehen und Untergehen von ganzen Gebirgen
bezeugen können. Aber, wird man sagen, handelt
es sich dabei noch um Malerei? Kann sein, kann
aber auch nicht sein. Aber auf jeden Fall, wie es
auch Duchamp lange bevor es digitale Kunst gab,
gesagt hat: «Malen, das bedeutet gar nichts. Das
bedeutet nur ‹Etwas machen›. Es gibt die Ölmalerei seit achthundert Jahren, aber es wird die
Ölmalerei nicht mehr geben: Es wird Keramiken
geben, farbiges Licht oder alles, was sie wollen. In
der Musik wissen sie, was passiert ist. Jedesmal,
wenn ein neues Instrument erfunden wurde, hat
es eine neue Musik gegeben, geschaffen durch das
neue Instrument. Das war trotz allem eine andere
Facette derselben Sache, vom metaphysischen Gesichtspunkt aus betrachtet. Also wird es dieselbe
Sache sein. Selbst wenn man die Ölmalerei vollkommen abschafft, wird sie durch etwas anderes
ersetzt werden, aber es wird immer der Ausdruck
eines Individuums oder einer Gruppe von Individuen bleiben, die ihr Unterbewußtes sprechen
lassen.» Das Verschwinden selbst des Konzepts des
Originals gibt dem Kunstwerk eine Vielseitigkeit
und eine Flexibilität zurück, die früher nur das
Leben selbst hatte. Trotz allem, was ich gesagt
habe, und trotz des unzweifelhaft Wahren darin zumindest hie und da - weiss ich sehr gut, dass Sie
nicht auf hören werden, sich wieder und wieder
die Frage nach dem Original zu stellen. 24
the path of the
righteous men
Mural on back of diner. In 1999 or 2000 the kitchen of the diner caught on fire and
destroyed the old mural that was here. I liked that one better because it was more of an
exact match of the scene it depicts
Die Rückkehr des Politischen
Der FaZ-Reporter versprach sich von seinem Trip auf
das Rütli Action, Spass, Spektakel und Stimulation
– oder zumindest einen politischen Durchbruch.
Doch dann tauchte der Schwarze Block nicht auf, der
Sprengstoff explodierte zu spät und die Faust des Autors
blieb auch im Sack.
Ronettes Bridge in Snoqualmie
A shot from above me hanging by my feet
Als vor über zwanzig Jahren in der Schweiz ein
Magazin namens «Magma» und in Deutschland
«Tempo» für Aufregung sorgten, da war es
erklärtes Ziel von uns Jungschreibern,
den angestaubten politischen Journalismus von
Spiegel, Stern oder NZZ kurz und klein zu
hacken. Natürlich ging es dabei – ganz postmodernistisch – mehr um Form als um politische
Inhalte. Es war ein publizistischer Kunstgriff: Wir
schrieben über Gummibärchen oder
das Sexleben von Tauben genauso wie über
Helmut Kohl, Kalaschnikows und verschmutzte
Meere. Pop und Politik, Fakten und Fiktionen
sollten elegant vermischt werden. Die investigative Spassgesellschaft im Sinne von Hunter
S. Thompson wurde gegründet. Wer ernsthaft
politisierte, galt als tragischer Langweiler. Simulation war angesagt. Obwohl der Feind auch damals
im rechten Lager zu finden war, verschoben sich
bei diesem Kunstgriff die politischen Grenzen.
Die Dinge wurden komplizierter. Das hatte
ganz einfach damit zu tun, dass die subversive
journalistische Strategie, wie sie zum Beispiel
Tempo erfinderisch präsentierte, immer mehr von
Werbung und Populärgeschmack übernommen
wurden (was dann in den 90er Jahren Auswüchse
wie das Guerilla-Marketing oder den ZeitgeistRelaunch der Weltwoche meines Förderers
Roger Köppel ermöglichte). Das «Politische» –
Represent! Represent! – blieb dabei natürlich auf
der Strecke, politische Haltung wurde zum lustig
aufgeblasenen Nichts, das bloss wirkungsvoll und
provokativ inszeniert werden musste.
Politik des schönen Scheins
The Sheriff‘s Departement
Probably the coolest location: the Twin Peaks Sheriff’s Station! It’s directly
across from what remains of the Sawmill. August 23, 2009
6
Die Medien hatten sich also die vom Schein
beherrschte Welt der postmodernen Politiker
selbst eingebrockt, deren bestimmendes Element
die Show ist. In der Show gibt es keine Wahrheit,
sondern Effekte. Weswegen also stellen wir uns
2007 plötzlich wieder die Frage: «Gibt es eine
Rückkehr zum Politischen (ohne sich dabei zu
Tode zu lachen)?» Macht uns Hollywood mal
wieder alles vor? Fotomodelle, Regisseure,
Schauspieler, das ganze Personal der Unterhaltungsindustrie Kaliforniens, versucht seit Jahren
echt politisch-korrektes Bewusstsein zu beweisen.
Man schliesst sich Bewegungen von Bono oder Al
Gore an, adoptiert Kinder, besucht PLO-Lager,
durchquert Afrika mit Motorrädern im Rahmen
einer Unicef-Aktion. Brad, George und Johnny
beteiligen sich an G7 Protestmärschen, Sofia, Jude,
Gwyneth und Chris besuchen Symbolevents wie die
1. Mai-Demo in Berlin oder den Christopher Street
Day in San Francisco. Irgendwann wirft die Schauspielerin Naomi Watts sogar einen Stein gegen
einen Bullenwagen und postet es auf YouTube.
Micheline sieht man am 1. August 2007 die
Fälschung absolut nicht an. Alles echt. Aber
ich muss daran denken, wäre sie zwanzig Jahre
jünger, dann hätte uns bei Tempo irgendein
Lifestyle-Redakteur längst zu erklären versucht,
dass die Schweizer Bundespräsidentin eigentlich
ein bisschen nach Heroin-Chic aussähe. Und jetzt
bewegen sich diese Lippen sogar noch intensiver,
sie tragen eine grandiose 1.August Rede vor,
natürlich mit einem der Kernsätze gleich als
Startschuss: «Es geht nicht an, dass eine Minderheit die Nationalfeier auf dem Rütli für sich allein
beansprucht und den anderen den Zugang und
das Wort verbietet.» Applaus. Klar geht das nicht.
Trotzdem stecke ich jetzt die Faust in meine Hosentasche, wie man das halt so macht, gelangweilt
und ein bisschen wütend, schlucke heimlich einen
Kräuter mit dazu gemischten Pakula-Pillen runter
und blicke Richtung Brunnen, Kanton Schwyz.
Wo ist der verdamme «Schwarze Block», wenn
man ihn braucht? So friedlich kann sich doch ein
Staatsoberhaupt nicht in der Woge der Sympathie
sonnen. Das geht doch nicht! Hat doch nichts mit
Demokratie zu tun! Und der Star des Tages sagt
dann ganz locker: «Heute sind es vor allem die
Muslims in unserem Land, die zum Gegenstand
eines neuen Kulturkampfs gemacht werden.» Und
dann, irgendwann, noch korrekter: «Wir grenzen
nicht aus. Wir schliessen ein.» Applaus. Logischer
Sieg. Die VIP-Party am Höhepunkt. Trotzdem
hoffe ich jetzt auf einen grossen Knall. (Zu dem
Zeitpunkt weiss natürlich noch keiner, dass 100
Gramm Feuerwerk unter dem Boden vergraben
liegen.) So sieht also die Politik des perfekten
Sonnenscheins aus.
Edel-Steine als Waffe
Und in der Schweiz? Da ermöglicht ein
Uhrenmillionär – beseelt von uneigennütziger
Citoyenneté und Bürgertugend – die Rütlifeier.
Alles Teil der globalen Rückkehr des Politischen.
Oder perfekte Schein- und Symbolpolitik? Nun,
es wurde August 2007, und dieses symbolische
Revival des Polititschen hatte auch mich angesteckt. Aus Los Angeles angereist, besteige ich in
Luzern das Extraschiff «Europa» Richtung Rütli.
Ich bin auf Recherche für eine politische Zeitung,
von der ich noch nie gehört hatte, die aber
einen ausgezeichneten Namen trägt und sich auf
eine handvoll leidenschaftlicher Leser verlassen
kann: Die FaZ. Das Rütli verfügt über höchsten
Symbol- und Simulationswert, fast wie ein Filmset von Peter Jackson. War das auszuhalten?
Oder würde ich die mythologisierte Landschaft
bloss an Locationscouts in Burbank weitermelden?
Ich war noch nie dort. Bloss auf der anderen Seite
des Sees, im Muotathal, wo mich mal einige
lokale Freaks ins Höllloch verschleppten. Jetzt ist
alles anders. Nach einer märchenhaften Fahrt über
den Vierwaldstätter-See sitzt der «gef ährlichste
Journalist der Schweiz» (Blick) plötzlich in der
Rütli-Gaststätte bei Wiener Schnitzel statt Bratwurst, eingekreist von zwei Woz-Kolumnisten,
angeblich als Nazis getarnt. Das politische Spiel
um falsche Symbole kann beginnen.
«Der Marketing-Krieg hat alles erfasst,» erklärt
mir später ein ehemaliger Kollege, der heute
bei der ZEIT arbeitet: Rechts gegen
Links, Micheline versus Blocher, Gut gegen
Böse, Gucci gegen Rutschi. Diesmal gewinnt am
remystifizierten Rütli LINKS, nächstes Jahr wird
es womöglich wieder RECHTS sein. Hin und
her geht das, bis es einem schlecht wird, wie bei
Rollerball, anno 1974 mit James Caan.
Das Rütli sollte an diesem Tag eine Implosion
des Realen produzieren. Und so trifft es sich
gut, dass unsere Bundespräsidentin nur gerade
zwei Schritte entfernt von mir in Begleitung von
Trachtenträgern und Bodyguards einmarschiert.
Sie lächelt mir sogar zu, ich kann mich ganz kurz
mit ihrem breiten Mund beschäftigen, dieses
Lachen, so schön, dieser Hals, oh Micheline, da
und dort könnte man natürlich chirurgisch noch
ein bisschen nachhelfen, denke ich mir ganz
hollywoodmässig. Wie wahrhaftig sie erscheint, so
echt. Bewundernswert. Natürlich wird diese Sorte
Echtheit – wie immer – von der Richtigkeit der
Lüge bestimmt, die sich an ihrer Funktionalität
misst. Niemand weiss dies besser als politische
Profis – oder Hollywoodstars. Aber das ist eine
ganz andere Geschichte.
Showdown zurück
zum Glauben
Es ist ja bestimmt nicht erst seit dieser seltsamen
Verunglimpfung von Bundesrat Samuel Schmid
bekannt, dass solche politischen Events vom
Code der Medien bestimmt werden, und also das
Gesetz der asymmetrischen Kriegsführung gilt,
wie das in den USA schon seit Beginn des Fernsehzeitalters so läuft: Das Spiel mit der Symbolik,
der Illusionismus, die Pseudo-Betroffenheit, die
moralisierende Ironie, das Pop-Element. Wann
7
hört das auf ? Und dann: Der Knall! Ein Päng!
Das Comeback des Glaubens. Klingt rückblickend
alles wie eine Explosion auf einem Filmset. Wir
haben uns von der heiligen Wiese bereits entfernt,
gehen runter zum See, dieser wahnsinnig blaue
See, der an jenem glitzernden Schweizer Tag die
totale Blendung bedeutet. Päng! Einfach so hat
es von unter der Erde geknallt. Wie ein Abschied
von den Eltern mit 100 Gramm Sprengstoff.
Der Blick-Reporter meint später, das hätte auch
Menschen töten können. Mögliche Schlagzeilen:
«....aus den Höhlen gerissene Augen, abgetrennte
Leiber in Nidwaldner Traditionstracht....»
«Diese Weide – wie jede Wiese mit Symbolkraft,
ob vor dem Weissen Haus in Washington,
in Moskau, Paris oder New Dehli – ist die
virtuelle Gegenwart des Volkes im Zentrum
der politischen Macht», sagt abschliessend ein
Uni-Professor aus Zürich, der nichts vom Knall
mitbekommen hat, aber diesen grossen Tag für
die Frauen und die SP einfach geniessen möchte.
Wie ein Patriot für 15 Minuten halt. Er sitzt
neben mir auf dem Schiff und fragt: Wie geht es
Ihnen eigentlich, Herr Kummer? Was kommt als
nächstes? Vielleicht die Rückkehr des Politischen,
sage ich ein bisschen benebelt. Obwohl selbst
mir nicht klar ist, was das bedeutet. Das RütliSpektakel, der Suspense im Vorfeld, machte im
Kleinen deutlich, was auch der amerikanische
Wahlkampf 2007 wieder bestätigt: So wenig
es möglich ist, eine absolute Ebene des Realen
mehr auszumachen, ist es möglich, Illusionen zu
inszenieren.
Vielleicht war das Rütli-Bömbchen also ein
Attentat auf das Realitätsprinzip selbst, denke
ich jetzt im Fahrtwind Richtung Luzern. Denn
es lässt über ihr Objekt hinaus die Annahme
zu, die Ordnung, das Gesetz und die Politik
selbst könnten ebensogut nur Simulation sein.
Jetzt mal ganz ehrlich: Wie kann Sprengstoff in
unmittelbarer Nähe zur höchsten Schweizerin
unter einem heiligen Rasen unbemerkt deponiert
werden? Wahnsinn!
Und wenn man also dem guten toten Jean
Baudrillard doch noch glauben will, dann ist
eben eine Macht eben nicht in der Lage, die
Herausforderung der Simulation anzunehmen.
Die Simulation siegt immer. Das macht Hoffnung
auf unblutiges, grosses, politisches Spektakel für
die Zukunft. Und jetzt marschiert, Schwarze
Blöcke. Simuliert.17
Kopie / Original
Did you say Over?
Nothing is over until we decide it is
Der Mono-Mix im zeichen der authentiztät
1.
2.
Woher kommt gerade in Subkulturen, und
dabei ist es egal ob Hardcore, Antifolk oder
Hip-Hop, diese Begeisterung für das Greif bare,
für den «echten» Tonträger? Als Beweis, dass
das Kunstwerk in seiner organisierten Dauer
bestehen kann, dass es nur in seiner Reproduktion
wahrhaftig wird und gegen das Verschwinden
in der digitalen Welt besteht? Als Beweis dafür,
dass man einen «besseren» Geschmack hat als
Britney-Spears-Fans? Was können deren Fans
denn dafür, dass es die Alben zuerst als MP3Download gibt und nie als nummeriertes buntes
Vinyl mit mundgehäkeltem Cover? Zumal ein
Britney-Spears-Album häufig interessanter ist als
so mancher marginale Tape-Realease von einem
Konzertmitschnitt.18 All die Jahre haben sie mit
ihren Nebenprojekten Schallplatten in handgemachten Siebdruckcovern veröffentlicht, haben
die DIY-Fahne hochgehalten und befreundete
Labels unterstützt, doch nun müssen sie feststellen, dass da eine Generation nachgewachsen ist,
der Tonträger gar nichts mehr bedeuten.
Der Tonträger hält also materiell bestenfalls etwas
von der Flüchtigkeit des Moments fest, konserviert ein historisch unwiederbringliches Ereignis
und gibt dem Sammler das Gefühl, diese in der
Musik zum Ausdruck kommende Dringlichkeit
jederzeit abrufen zu können. Wer sammelt – am
besten Erstauflagen und noch lieber limitierte
Tonträger–, gibt sich dem trügerischen Glauben
hin, er könne die Vitalität des Augenblicks mit der
Sammlung für immer bewahren wie eine Fliege in
Bernstein. Natürlich ist das ein Paradox: Sammler
sammeln aus Angst vor dem Verschwinden, doch
das, was sie auf Flohmärkten oder eBay ergattern,
ist nichts weiter als der Nachhall von etwas Verschwundenem. Warum hat Jean Baudrillard, der
große Theoretiker des Verschwindens, eigentlich
nie über Plattensammler geschrieben? Auf nichts
trifft seine Simulakren-Theorie so gut zu wie auf
jene, die glauben, mittels Schallplatten das «echte»,
«reine», «nackte» Leben erheischen zu können, um
am Ende doch nur dessen geisterhaften Schatten in
ihren Händen zu halten. Ihr Auftreten hat so gar
nichts von der Vitalität und Präsenz jener Objekte
der Begierde, denen sie nachjagen. Es handelt
sich um tragische Gestalten, die ihr Leben ständig
vertagen, ganz so wie die Fehlfarben einmal
gesungen haben: «Ich kenne das Leben, ich bin im
Kino gewesen.» 6 Ganz andere Strategien, um das
Echtheits- und Authentizitätsversprechen von Pop
zu unterlaufen hatte Antifolk entwickelt. Quasi als
Antwort auf die Verheissung des möglichst Puren
und Reduzierten, war der Aufnahmeprozess
selbst zur Schau gestellt worden. Auf verrauschten
Homrerecording-Alben erzeugt die Anwesenheit
von Verkehrsgeräuschen, Telefonklingeln, Räuspern und Verspielern für den Hörer den Eindruck
grösstmöglicher Nähe. Gleichzeitig scheint in
dieser performativen Unfertigkeit und Fehlerhaftigkeit aber auch die Kritik an den klaren und
sauberen Produktionen durch.
Für einen kurzen Moment kommen Markus
Acher Selbstzweifel: Vielleicht ist es ja unfair, die
iPod-Kids einfach nur als stumpfe Konsumenten
abzutun. Ist es nicht ebenso konsumorientiert, am
Fetisch Schallplatte festzuhalten? «Wir denken ja
noch in Kategorien wie B-Seiten, völlig anachronistisch», sagt Acher und lacht.6 Von wegen iPodKids und digitale Distribution: Im Online-Archiv
der «New York Times» findet sich die älteste
Meldung zum Thema Musikpiraterie. Sie stammt
vom 13. Juni 1897, aus der Gründerzeit der Phonoindustrie. «Kanadische Piraten» verschickten
Raubpressungen von Schallplatten über die
Grenze und verkauften sie zu einem Zehntel des
Originalpreises. Zeitungen druckten Listen der
verfügbaren Stücke – eine Art frühe Pirate Bay.
50 Prozent Umsatzeinbussen beklagte die Industrie und forderte, dass die Post die Sendungen
filtere. Eine vergleichsweise milde Massnahme,
gemessen am Internet-Ausschluss, den sich heute
die Tonträgerindustrie für Filesharer wünscht. Die
Politik reagiere nicht hart genug auf Internetpiraterie, begründete Dieter Gorny, Geschäftsführer
des Bundesverbands der Musikindustrie, die
Absage der Branchenmesse Popkomm in Berlin
und sorgte allseits für Kopfschütteln.19
Zugleich erschien dieser Tage eine gross
angekündigte Beatles-Box, im Stereo- und
Mono-Mix. Der Stereo-Mix, angeblich den
neuen Hörgewohneiten angepasst (was natürlich
sofort zum Vorwurf des Lautheitswahns führte)
kann hier vernachläsigt werden, da er, anders als
der Mono-Mix, nicht verspricht authentisch zu
sein. Dagegen käme der Monomix den Originalaufnahmen angeblich am nächsten, und noch
dazu ist der limitiert! Der Mono-Mix ist echt!
Wie früher! Auratisch! Limitiert! Wenn das mal
kein Argument ist. Das führt gleich zur leidigen
Tonträgerdebatte. Denn anders als auf der HighEnd-Anlage ist es bei MP3s nun fast schon egal,
ob sie in Stereo oder Mono sind.18
Die Fehlerhaftigkeit als Beweis, dass auf Overdubs
etc. verzichtet wurde, tritt programmatisch in den
Vordergrund: Fehler is King, Fragilität zeugt von
Authentizität. In der scheinbaren Nähe, die zu
den Zuhörenden aufgebaut wird, und die in den
Wohnzimmerkonzerte noch einmal potenziert
wird, steckt aber nicht immer nur die Kritik
an den der unmöglichen Echheit, manchmal
dominiert auch das banale Bedürfnis nach dieser
Illusion von Nähe.18
3.
Natürlich ist es völlig legitim und musikalisch
oft auch gewinnbringend, wenn sich westliche
Pop-, Rock- und Jazzmusik so genannte Folklore
aneignet. Doch das, was in Weltmusik-Regalen
angeboten wird, hat weniger mit Bereicherung
als mit Angleichung zu tun. Es ist eine falsch
verstandene, nämlich kulturindustriell lancierte
Form der Assimilierung und damit oft Ausdruck
eines latenten Rassismus und Exotismus, der die
Klischees vom heissen «latin lover» oder primitivistischen Afro-Trommler fortschreibt. Dem
gegenüber ist die Archivierung von traditioneller
Musik erst einmal wertneutral. Das stellt die von
Radio France herausgegebene «Ocora»-Reihe
wie kein anderes Label auf hohem Niveau unter
Beweis. Ganz gleich, ob Musik aus Indien, Marokko, Spanien, Armenien, Chile oder Nigeria:
Die Aufnahmen von «Ocora» sind um
grösstmögliche Authentizität bemüht, ein Begriff,
der in diesem Fall ausnahmsweise einmal Sinn
macht. Das bedeutet: Keine CD aus dieser Reihe
schmeichelt westlichen Ohren. Im Gegenteil,
selbst und gerade Aufnahmen aus Europa, zum
Beispiel «Danemark – Chanteurs et ménétriers»
oder «Belgique – Ballades, danses et chansons de
Flandre et de Wallonie» klingen dermassen sperrig
und stellenweise sogar atonal, dass man sich
wundert, welch eigentümliche Musik sich sogar in
unseren Breitengraden entdecken lässt. 20
Um Vernetzung war es auch einmal Kimya
Dawson gegangen, der zentralen Songwriterin
bei den Moldy Peaches. Sie warb für die
Antifolk-Szene, weil deren Grassroots-Ansatz
keinerlei Ausschlusskriterien kannte, auch nicht
in Geschlechterfragen. Doch dann musste sie
miterleben, welch enormen Erfolg ihr ehemaliger
Kollege Adam Green als Solokünstler hatte, während ihre weiterhin auf LoFi-Ästhetik basierenden
Nummern gerade mal von einem kleinen Kreis
treuer Fans wahrgenommen wurden. Adam Green
kam auf die Titelblätter, Kimyas Platten schafften
es in den hinteren Rezensionsteil der Musikmagazine. An Adam Greens Erfolg nach der Trennung
der Moldy Peaches manifestierte sich, dass es
Männer im «Indie-Land» nach wie vor leichter
haben, erfolgreich zu werden – zumindest, wenn
sie sich gängigen Rollen unterwerfen. Als der
smarte, gutaussehende Indie-Schluffi Green damit
begann, Blödeltexte an Broadway-Melodien
zu koppeln, konnte er zum Brecher vieler
Frauen- und wahrscheinlich auch so mancher
Männerherzen werden, denn diese Musik stellte
nichts mehr in Frage, am wenigsten den eigenen
Status als Indie-Boy. 21
4.
Hier zeigt sich die Kehrseite einer von traditionellen Elementen durchdrungenen Musikkultur:
Das Fehlen des Traditionellen wird sofort als
Identitätsverlust kritisiert. Für europäische Ohren
klingen solche Argumente ziemlich absurd, ganz
so, als ob man eine deutsche Band ablehnen
müsste, sobald sie keine Jodler in ihre Songs
einbaut oder die schottischen Belle & Sebastian
nicht hören dürfte, weil in ihrer Musik kein
Dudelsack vorkommt. Vielleicht müsste man
dem entgegen halten, dass Pop- und Rockmusik
in Europa längst zu neuen Formen von Folklore
geworden sind, was nichts mit Verlust, sondern
lediglich mit Identitäts-Verschiebung zu tun
hat. 20 Dass beispielsweise eine explizit politisch
emanzipatorische Band wie die Lezzies den
Neonazi Vikerness zitiert, eine Schlüsselfigur der
rechten Black-Metal-Szene, mag auf den ersten
Blick irritieren. Doch auch hier geht es darum,
Kontexte im Sinne einer Selbstermächtigung zu
verdrehen (das, was auch die Rechten erfolgreich
betreiben) und für die eigene Intention nutzbar
zu machen. Zitat und Spiel mit Zeichen sind
allemal zentrale Elemente dieser herzerfrischend
überdrehten Band, die permanent den Mythos
von Authentizität dekonstruiert und die gängige
Gleichsetzung «authentisch = natürlich resp. Echt»
nicht zuletzt aus gendertechnischen Überlegungen
über Bord wirft.
Denn genauso wie Heterosexualität von vielen
immer noch als «natürlich» angesehen wird,
herrscht in vielen Rock-Köpfen das Klischee
vor, dass nur «erdige», «eigenständige», nicht auf
Zitaten auf bauende Musik «echt» im Sinne von
«natürlich» sein kann. Doch bei den Lezzies ist
so ziemlich alles anti-essentialistisch und optimistisch zugleich. So zitieren sie feministische Songs
der «Womyns Music» aus den 1970er-Jahren,
haben diese jedoch musikalisch auf die Bedürfnisse einer neuen Generation umgeschrieben,
deren Ansatz sich vielleicht am besten, wenngleich verkürzt, als offensive DIY-Punk-Geste
bezeichnen lässt. Selbstaneignung, Vernetzung
und Spass bilden ein Dreigespann, dem sich keine
und keiner entziehen kann, ganz gleich, welche
sexuellen Vorlieben sie oder er nun auch haben
mag. 21 Womöglich liegt es daran, dass traditionelle
Musik in den meisten europäischen Ländern nicht
mehr in einem aktiven Austausch mit anderen
Musikspielarten steht und aus dem Alltag nahezu
völlig verschwunden ist. Selbst das Wissen um sie
ist von Schlager, Chanson oder volkstümlicher
Musik absorbiert worden. In einem Land wie der
Türkei dagegen gibt es keinerlei Musikspielart
von HipHop bis Heavy Metal, von Punk bis
Dancefloor, die nicht von der traditionellen Musik
des eigenen Landes durchdrungen wäre.
Dies hat erst einmal nichts mit Chauvinismus zu
tun, sondern mit Eigenständigkeit. Eine türkische
Metal-Band weiss, dass niemand sie bräuchte,
wenn sie nur wie eine Kopie westlicher Vorbilder
klingen würde. Fatih Akins Dokumentarfilm
«Crossing The Bridge – The Sound Of Istanbul»
(2005), in dem Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten den unterschiedlichsten
Musikern in der türkischen Metropole nachspürt,
macht deutlich, dass dort jegliche Musik traditionelle Elemente enthält. Selbst die Gangsta Rapper
sind stolz auf ihren arabesken Sound, der nicht
einfach nur die amerikanischen Ghetto-Sounds
nachahmt. 20
GLOSSAR
Textnoten
1
Tim Stüttgen: «Arbeit und Leben im Zeitbild verschmelzend», Fabrikzeitung 241 (Fiction / Nonfiction)
18
Chris Wilpert: «Mainstream der Nebensächlichkeiten», Fabrikzeitung 255 (Pop am Ende?)
2
Gregor Huber: «Editorial», Fabrikzeitung 241 (Fiction / Nonfiction)
19
Kolja Reichert: «Die gute Tat der Piraten», Fabrikzeitung 255 (Pop am Ende?)
3
Katja Gretzinger: «Zur Autonomie des Designs», Fabrikzeitung 234 (Politik)
20
Martin Büsser: «Die Vielfalt der Traditionen», Fabrikzeitung 244 (Die Orient Ausgabe)
4
Martin Büsser: «Der unbekannte Rezensent», Fabrikzeitung 252 (Comment)
21
Martin Büsser: «Indie boys are neurotic», Fabrikzeitung 230 (The F-Word)
5
Marc Brupacher: «Das Ungeziefer vom Tages-Anzeiger», Fabrikzeitung 241 (Fiction / Nonfiction)
22
Christian Stiegler: «Ästhetische Darstellungen von Gewalt», Fabrikzeitung 248 (Gewalt & Medien)
6
Martin Büsser: «Plattensammler, eine aussterbende Gattung», Fabrikzeitung 242 (Hobbytopia)
23
Marco Giaquinto: «Der Moderne Mensch als Fiktion», Fabrikzeitung 241 (Fiction / Nonfiction)
7
Etrit Hasler: «So tun als ob», Fabrikzeitung 242 (Hobbytopia)
24
Evi Möchel: «Das Original ist die Kopie», Fabrikzeitung 256 (Kopie / Original)
8
Walter Benjamin, in: Fabrikzeitung 246 (Wissen & Bedenken)
9
Tim Stüttgen: «Körper als Prothese», Fabrikzeitung 242 (Hobbytopia)
titelverzeichnis
10
Anna K. Becker: «Modelleisenbahnbau: Skalierte Realität», Fabrikzeitung 242 (Hobbytopia)
:
The Matrix (USA 1999). Morpheus: «Welcome to the real world.»
11
Yvonne Kunz: «Der Homosapiens Sapiens Sapiens», Fabrikzeitung 242 (Hobbytopia)
f
DJ Shadow - What Does Your Soul Look Like Part 1 (1994). «It is happening again»
12
Hartmut Böhme, aus: «Fetischismus und Kultur», Fabrikzeitung 242 (Hobbytopia)
z
Fun Lovin' Criminals - Scooby Snacks (1996): «Everybody cool, this is a robbery»
13
Jean Baudrillard, aus: «Das Dicke», Fabrikzeitung 242 (Hobbytopia)
l
White Zombie - Thunder Kiss 65 (1992): «I never try anything, I just do it! … Wanna try me?»
14
Tim Stüttgen: «Nur harte Hunde?», Fabrikzeitung 245 (Die Macker-Nummer)
y
Struggling with mediated authenticity restaging leads to how images can be made to lie usefully
15
Etrit Hasler: «Essen als Marke», Fabrikzeitung 253 (Nahrung)
d
Fatboy Slim - Right Here, Right Now (1999): «Right Here, Right Now»
16
Martin Büsser: «Unser postmodernes Essen», Fabrikzeitung 253 (Nahrung)
Y Cypress Hill - Make A Move (1995): «The path of the righteous men»
17
Tom Kummer: «Die Rückkehr des Politischen», Fabrikzeitung 234 (Politik)
Kool Savas ft. FTS - Ihr müsst noch üben (2000): «Over? Did you say over? Nothing is over until we decide it is!»
8

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