Dr. Christoph Storck Warum Unterricht im Fach „Pädagogik“ in der
Transcrição
Dr. Christoph Storck Warum Unterricht im Fach „Pädagogik“ in der
Dr. Christoph Storck Warum Unterricht im Fach „Pädagogik“ in der Schule unverzichtbar ist I „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung!“ „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss...Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was Erziehung aus ihm macht....Die Erziehung ist eine Kunst, deren Ausübung durch viele Generationen vervollkommnet werden muß....Wenn man das aber reiflich überdenkt, so findet man, dass dieses sehr schwer sei. Daher ist die Erziehung das größte Problem, und das schwerste, was dem Menschen kann aufgegeben werden.“ Diese Sätze formulierte der Philosoph Kant in seiner Vorlesung über Pädagogik in den Jahren 1776-1787. Unmissverständlich und deutlich benannte Kant die hohe Bedeutung menschlicher Erziehung. Was Kant im 18. Jahrhundert aussprach, wird im 21. Jahrhundert offenbar häufig zu wenig bedacht. Ohne pädagogische Hilfestellung wäre der Mensch als Individuum und als Gattung nicht überlebensfähig; ohne sie wären zivilisatorische und kulturelle Fortschritte und deren Tradierung nicht möglich. Die Möglichkeit des Menschen, der jeweils nachwachsenden Generation die Fähigkeit zu vermitteln, Beeren zu sammeln, Tiere zu jagen, Verletzungen und Krankheiten zu bekämpfen, hat der menschlichen Gattung das Überleben auch unter widrigsten Umständen ermöglicht. Die Fähigkeit, Formen und Prinzipien menschlichen Zusammenlebens zu entwickeln und der nächsten Generation weiter zu vermitteln, hat erst die Möglichkeit einer Eindämmung des Kampfes aller gegen alle geschaffen. Die Fähigkeit, die eigenen Triebe und Bedürfnisse zu kontrollieren du zu kultivieren und besonders die Fähigkeit eines differenzierten, komplexen, abstrakten, hypothetischen, folgerichtigen Denkens haben den Menschen die großen zivilisatorischen und kulturellen Fortschritte ermöglicht, die die Menschheitsgeschichte auszeichnet. All diese Fähigkeiten erwachsen aber nicht naturwüchsig, sondern sind Resultat erzieherischer Prozesse. Wenn also der Mensch erst durch Erziehung zum Menschen wird, gebietet es die Verantwortung für die nachwachsende Generation, diese bestmöglich zu erziehen. Wie wenig gegenwärtig in der gesellschaftlichen Wirklichkeit die hohe Bedeutung von Erziehung faktisch gewürdigt wird, zeigt die Tatsache, dass bis heute eine besondere Qualifizierung für Erziehung offenbar vielfach nicht für notwendig gehalten wird. Der bedeutende Arzt und Pädagoge Janusz Korczak hat diese Realität schon im Jahre 1921 heftig kritisiert: „Man darf nichts ohne Vorbereitung, ohne Qualifikation, ohne Kontrolle, ohne Verantwortung tun – man kann ohne Qualifikation nicht einmal Schuhputzer sein; sogar ein Mittel zum Klinkenputzen muß analysiert werden, ob es keine Gifte enthält, keine ätzenden, schädlichen Eigenschaften hat. Aber Vater und Mutter kann jeder sein, wer immer nur möchte. Um eine Bude mit Sodawasser aufzumachen, muß man eine Genehmigung haben, eine Erlaubnis der Behörde....“ Korczaks Kritik hat im Jahre 2003 der Pädagoge und Bestsellerautor Albert Wunsch wieder aufgegriffen: „Der Hundeführerschein ist eingeführt. Im Umgang mit radioaktivem Material ist ein Strahlenpass erforderlich. Menschen in der Lebensmittelbranche benötigen ein Gesundheitszeugnis.....Nur im Umgang zwischen Kindern und Eltern leistet sich unsere Gesellschaft das Prinzip: ‚Ob bedarft oder unbedarft, jeder darf so lange herumwer- keln, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist....'‘ Ähnlich formulierte W. Szalai auf einer Tagung des Deutschsprachigen Kommutariernetzwerkes e.V. „Europa denken – jetzt erst recht!“ am 1.10.2001 in Berlin: „Wollen und können viele Eltern denn noch erziehen? Existiert eventuell gerade in den Familien der befürchtete Erziehungsnotstand? ... Brauchen wir eventuell eine Art von ‚Kinderführerschein‘? Bevor ich ein Auto fahren darf, muss ich durch Unterweisung Kompetenz erwerben und diese in einer Prüfung nachweisen. Kinder erziehen darf jeder, ob er das will oder nicht, ob er das kann oder nicht. . Brauchen die Eltern und die Familien nicht mehr Information, mehr Beratung durch Literatur, Schulungen, Gespräche? Und braucht es in den Oberklassen unserer Schulen nicht mehr soziales Lernen auch als Vorbereitung auf Familie und Erziehung?“ Jedenfalls stellt sich unterdessen immer dringlicher die Frage, ob eine Gesellschaft noch zulassen kann oder darf, dass die Frage nach der Qualifizierung der Erziehenden nach wie wenig ernsthaft reflektiert bzw. problematisiert wird. II Erziehungsnotstand in Deutschland? Seit Veröffentlichung der Resultate der großen Bildungsstudien „TIMMS“ und „PISA“ wird in Deutschland engagiert über „Bildung“ nachgedacht und gestritten. Nicht wenige Menschen erkennen in dem schlechten Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler im Vergleich mit Schülerinnen und Schülern anderer Staaten Anzeichen einer deutschen „Bildungskatastrophe“. Mehr und mehr aber häufen sich unterschiedliche Stimmen, welche in Deutschland nicht nur eine „Bildungskatastrophe“, sondern gleichermaßen eine „Erziehungskatastrophe“ ausmachen wollen. So etwa fällt der Hamburger Erziehungswissenschaftler Peter Struck ein vernichtendes Urteil über die erzieherische Wirklichkeit in deutschen Familien: „Etwa 15 Prozent der deutschen Eltern empfinden ihr Kind als Störenfried oder haben es längst resigniert aufgegeben. Sie wollten das Kind nie haben oder stellen fest, dass es nicht in ihren Lebenszusammenhang paßt ... Etwa 15 Prozent der deutschen Eltern verplanen ihr Kind schon früh. Sie wissen erzieherisch alles besser als die Lehrer, sie sorgen dafür, dass es schon einen Schwimmkurs besucht, bevor es laufen kann, daß es schon lesen, schreiben, rechnen kann, bevor es eingeschult wird ... Etwa 60 Prozent der deutschen Eltern sind erzieherisch hilflos. Sie lieben ihr Kind, möchten erzieherisch nicht versagen, machen aber das meiste zufällig entweder richtig oder falsch. Sie sind für Erziehungsratschläge offen ... und verschlingen Bücher und Ratgeberseiten in Zeitungen und Magazinen. Sie sind verunsichert, weil sie irgendwo gelesen haben, daß ein einmaliger Klaps auf den Po im Verlauf von 17 Jahren die Seele ihres Kindes zerstört haben könnte; sie erlauben heute, was sie morgen verbieten und übermorgen wieder erlauben ... Nur etwa 10 Prozent der deutschen Eltern machen erzieherisch das meiste richtig; sie treffen stets die mittlere Dosierung von Anforderungen und Entlastungen in bezug auf Bewegung, Spiel, Körperkontakt, Liebe und Zeit für das Kind, Ansprache, Zuhören, Taschengeld, Fernsehkonsum, Ernährung Sinnesentwicklung, Konfliktbewältigung, Pflichten im Haushalt; Konsum und Terminplanung.“ Struck prognostiziert eine dramatische Entwicklung bzw. dramatische Gefährdungen für Kinder und Jugendliche in der Zukunft, indem er darauf hinweist, was jetzt schon in den USA Realität sei: „Die kalifornische Kinderschutzgruppe Children Now hat ausgezählt, daß 25 Prozent der 15- bis 17jährigen Jugendlichen mit schweren Verletzungen geschlagen werden, daß 40 Prozent der Mädchen von ihrem Freund geschlagen werden und daß 43 Prozent der Jugendlichen gelegentlich Suizidabsichten haben.“ Von Not und Nöten der Kinder ist jedenfalls immer häufiger zu hören und zu lesen: „Kleine Egoisten in großer Not. Alarm der Wissenschaft: Immer mehr Kinder werden zu sozialen Analphabeten." warnte H. Meesmann in Publik Forum im Jahre 2000. Besondere Resonanz und hohe Auflagen haben in der jüngsten Vergangenheit Bücher gefunden, die direkt einen „Erziehungsnotstand“ oder eine „Erziehungskatastrophe“ in Deutschland ausrufen. Petra Gerster und Christian Nürnberger weisen in diesem Sinne in ihrem Buch „Der Erziehungsnotstand“ auf Beobachtungen über „beängstigende Berichte aus unseren Kindergärten und Schulen – Meldungen über sprachgestörte Kinder, ausgebrannte Lehrer, verhaltensauffällige Schüler, disziplinlose Schulklassen und gewalttätige Jugendliche“ – hin, um unmissverständlich zu erklären: „Viele Kinder werden heute nicht mehr erzogen. Viele Eltern sind unfähig, nicht willens oder – wegen Berufstätigkeit – nicht in der Lage, ihre Kinder zu erziehen. Und eine wachsende Zahl von Eltern scheint ihre Gleichgültigkeit und Nicht-Erziehung mit Liberalität und Toleranz zu verwechseln.“ Susanne Gaschke führt in ihrem Buch „Die Erziehungskatastrophe“ vor allem auf gesellschaftliche Widerstände gegen sinnvolle erzieherische Bemühungen zurück: „Wer seinen Kindern die Kindheit erhalten will, - und viele Menschen wollen das in einer feindlichen Umwelt immer noch -, der kämpft an vielen Fronten: gegen Zeitnot und Geldmangel, gegen das Unverständnis und die Rücksichtslosigkeit der Single-Gesellschaft, gegen die eigene Erziehungsverunsicherung und den Zeitgeist, der das Recht der Kinder auf Erziehung vergessen hat, gegen die kommerzielle Vereinnahmung der Kinder als Konsumentenzielgruppe, gegen den unglaublich lieblosen Ramsch, der auf dem Spielzeug- und Kinderbuchmarkt feilgeboten wird; gegen die Belagerung durch das Fernsehen und den Computer und nicht zuletzt auch gegen Gewalt, verbale wie körperliche, unter den Kindern und seitens der Erwachsenen.“ Albert Wunsch erkennt eine „Verwöhnungsfalle“ und sucht ebenfalls nach Wegen aus einem „Erziehungsnotstand“. Keineswegs beklagen allein Eltern oder professionelle Pädagoginnen oder Pädagogen einen Erziehungsnotstand in Deutschland. So proklamiert auch der Vorsitzende der Grundwertekommission der CDU in Deutschland, Christoph Böhr, einen „Erziehungsnotstand“, dem begegnet werden müsse. Die Friedrich-Ebert-Stiftung der SPD wiederum organisierte schon im Jahre 1998 einen großen Kongress zum Thema „Verantwortung für Erziehung“. Vertreter der Wirtschaft warnen wiederum explizit: „Wir haben auch einen Erziehungsnotstand! Dessen Beseitigung ist die Grundvoraussetzung für die Beseitigung des Bildungsnotstandes!“, formulierte im Januar 2002 der IHK-Präsident Bernd Hansmann. Die Überlegung Hansmanns, dass ohne „Beseitigung“ des „Erziehungsnotstandes“ die „Beseitigung des Bildungsnotstandes“ in Deutschland nicht möglich sein könne, wird auch von Pädagogen geteilt. Der Pädagoge und Lehrer Horst Hensel hat in seiner „Streitschrift für Erziehungspolitik“ offen ausgesprochen: „Es mangelt an elterlicher Erziehung. Das ist das Hauptproblem. Wenn sie fehlt, kann die Schule wenig ausrichten.“ (26) In NRW wurde unterdessen zu einem „Bündnis für Erziehung“ aufgerufen. Kritiker der Auffassung, es bestehe in Deutschland zunehmend eine Erziehungskatastrophe, verweisen zwar einerseits – nicht zu Unrecht – auf die Tatsache, dass Erziehung auch in der Vergangenheit vielfach sehr problematisch verlaufen sei, und sie erinnern an fragwürdige Formen autoritärer Erziehung oder auch an Defizite bei elterlicher Zuwendung oder Fürsorge. Aber auch diese Kritiker gestehen zu, „dass sich in der Erziehungsdebatte während der letzten Jahrzehnte zunehmend Verunsicherungen eingeschlichen haben“ und eine Situation entstanden sei, „die im Vergleich zu früher anstrengender und aufwändiger ist“. (H.Thiersch) Unbestreitbar ist jedenfalls eine massive erzieherische Verunsicherung bei vielen Menschen, die erzieherische Verantwortung tragen. Dazu zählt auch die Sorge, dass eine mangelhafte Erziehung gegenwärtige Kinder und Jugendliche zu wenig darauf vorbereitet, ihr Leben persönlich, sozial und beruflich in der Zukunft sinnvoll gestalten zu können. III Warum Erziehen im 21. Jahrhundert so schwierig geworden ist Erziehung war so lange unproblematisch, wie es als unstrittig galt, was der nachfolgenden Generation für deren Überleben zu vermitteln war. Die pädagogische Hilfestellung für die nachwachsende Generation wurde erst zum Problem, als mit der Auflösung in sich geschlossener Gesellschaften und der sie bestimmenden relativ homogenen Normensysteme verbindliche Maßstäbe für die Gestaltung des Lebens und damit auch für die Erziehung als Vorbereitung auf das jetzt viel offenere und freiere Leben fehlten. Damit stieg nicht nur die Verantwortung des Individuums für sein eigenes Leben, sondern auch die der Erzieher innerhalb von Erziehungsprozessen. Die erhöhten Anforderungen, vor die eine moderne Gesellschaft ihre Mitglieder stellt, und die stark gewachsene Bedeutung der Erziehung ergeben sich vor allem aus dem Wandel der Funktionen, die in einer Gesellschaft ausgeübt werden müssen, damit diese Bestand haben kann. So sind berufliche Anforderungen in der jüngeren Vergangenheit immer spezieller, immer voraussetzungshafter und immer unanschaulicher geworden. Weiter müssen junge Menschen für die zusätzlichen sozialen und gesellschaftlichen Funktionen (z.B. in der Rolle des politisch verantwortlichen Staatsbürgers) Qualifikationen erwerben, welche wiederum ohne kompetente Erziehung nicht gewonnen werden können. Menschen in der Gesellschaft der Gegenwart können sich nicht mehr voraussetzungslos an Autoritäten wie Familien, Kirchen oder Gewerkschaften orientieren oder fraglos Normen und Werte akzeptieren, sie müssen individuell ihren Lebensweg und Lebenssinn suchen und entdecken, wobei sie sich innerhalb einer Vielfalt von persönlichen, beruflichen, sozialen konsumtiven oder auch ideellen Optionen bewegen müssen, sie müssen Unsicherheiten, Ambivalenzen und Frustrationen aushalten lernen, sie müssen Unüberschaubarkeit ertragen und sich dennoch individuell, gesellschaftlich und sogar kosmopolitisch orientieren können, sie müssen rational denken wie handeln und sich zugleich auch affektiv und physisch auf sinnvolle Weise entfalten lernen. Zugleich werden in der demokratischen Gesellschaft fundamentale „Rechte“ nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder eingefordert. Immer mehr Erzieherinnen und Erzieher – insbesondere Eltern - kommen mit diesem Spagat zwischen einer Erziehung, die einerseits die „Rechte“ (auf Bedürfnisbefriedigung, auf Fürsorge, auf Orientierung an tatsächlich eigenen Interessen) ernstnehmen will, und andererseits einer Erziehung, welche eine optimale Vorbereitung der Kinder und Jugendlichen auf die Zukunft anstrebt, nicht zurecht. Nicht zuletzt erleben sich nicht wenige Erzieherinnen und Erzieher vor dem Hintergrund vieler und vielfältigster „geheimer“ wie offener „Miterzieher“ in der pluralen und besonders wertpluralen Gesellschaft immer wieder überfordert. Tatsächlich wird die Aufgabe der Erziehung vor dem Hintergrund massivster Beeinflussungen durch pädagogisch nicht legitimierte oder reflektierte „erzieherische“ Einflüsse weitreichend erschwert. Damit aber stellt sich die dringliche Frage, wie und wo überhaupt Menschen lernen können, kompetent nach den Aufgaben von Erziehung zu fragen, so dass sie selbst qualifiziert pädagogisch urteilen wie qualifiziert pädagogisch handeln lernen können. Die Tatsache, dass gegenwärtig ein breiter Markt für pädagogische Ratgeber entstanden ist, belegt die tiefe Unsicherheit vieler Menschen, die sich Erziehungsaufgaben gegenüber sehen. Die Titel oder auch Untertitel solcher Ratgeber sind häufig zunächst vielversprechend: „Kindern geben, was sie brauchen“; „Kinder fördern im Alltag“; „19 gute Regeln für Eltern“; „Was Kinder stark macht“; „Konsequente Eltern – glückliche Kinder“; „Was Kinder von uns brauchen“; „Starke Kinder brauchen starke Eltern“; „Wie man Kinder von Anfang an stark macht“, „Grenzen, Nähe, Respekt“; „5 Freiheiten, die Kinder stark machen“; „Was jedes Kind braucht, um gesund aufzuwachsen, gut zu lernen und glücklich zu sein; „Wege aus dem Erziehungsnotstand“; „Auch das Lernen kann man lernen“; „Kinder brauchen Werte“; „Erziehung ohne Zwang – mit Konsequenz und Liebe“, „Erziehung mit Herz und Verstand“; „Geschickte Hände, wacher Verstand. So fördere ich mein Kind“ und viele andere mehr. Die Vielzahl der Titel und besonders ihre Aussagen können die weitreichenden Sorgen sehr vieler erziehender Menschen unterstreichen. Sie fürchten, dass ihre Kinder nicht genügend „stark für das Leben“ werden könnten, sie fürchten, den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Möglichkeiten ihrer Kinder nicht angemessen gerecht zu werden, sie fürchten, dass ihre Kinder für die Zukunft nicht genügend lernen oder dass ihre Kinder zu wenig „Verantwortung“ lernen bzw. zu wenig noch „Werte“ für sich ausbilden. Selbst bekannte Erziehungwissenschaftler wie Klaus Hurrelmann (zusammen mit Gerlinde Unverzagt: „Kinder stark machen für das Leben. Herzenswärme, Freiräume, klare Regeln“); Peter Struck („Erziehung für das Leben. Kinder für die Zukunft stark machen“) oder auch Hartmut von Hentig („Ach die Werte. Ein öffentliches Bewußtsein von zwiespältigen Aufgaben. Über eine Erziehung für das 21. Jahrhundert“) glauben offenbar, dass unterdessen Erziehungsratschläge aus der Wissenschaft unverzichtbar geworden sind. In einem solchen Kontext überrascht dann nicht mehr, wenn sogar die evangelische Landesbischöfin Käßmann („Erziehen als Herausforderung“) erzieherische Ratschläge aus ihrer Sicht für sinnvoll hält. Hingegen weiß auch Peter Struck, dass das Lesen pädagogischer Ratgeber für viele erziehende Menschen ihre Ratlosigkeit am Ende noch erhöht: „Sie sind für Erziehungsratschläge offen ... und verschlingen Bücher und Ratgeberseiten in Zeitungen und Magazinen“, aber bleiben unsicher, welchen der vielen unterschiedlichen Ratschläge sie vertrauen können und welchen sie besser misstrauen sollten. Insofern helfen auch die vielen pädagogischen Ratgeber am Ende nur wenig, wenn Menschen für sich nicht nur Ideen, sondern Orientierungen und Entscheidungen für ihr eigenes pädagogisches Handeln suchen. Die Mannigfaltigkeit von erzieherischen Ratgebern spiegelt insofern nicht nur eine weitreichende erzieherische Unsicherheit in der Gesellschaft, sondern sie trägt noch zu ihr bei. Woher sollen Menschen wissen, welchen Ratschlägen aus welchem Ratgeber sie trauen können oder trauen sollen? IV Wozu ist die Schule da? Die allgemeinbildende Schule als Pflichtschule ist entstanden, nachdem unmöglich geworden war, im unmittelbaren gesellschaftlichen Alltag die Qualifikationen und Kompetenzen auszubilden, welche zur Bewältigung des beruflichen wie auch privaten Lebens unverzichtbar waren. Bis zum 18. Jahrhundert konnte noch die nachwachsende Generation durch Mitahmen und Nachahmen die Anforderungen des Erwachsenenlebens bewältigen lernen. Mit der Einführung der Schulpflicht in Preußen im 18. Jahrhundert begann eine Entwicklung, in welcher planmäßiger Unterricht in Schulen in zunehmendem Ausmaß unverzichtbar wurde. Schulischer Unterricht wird immer dann unverzichtbar, wenn Wissen, Einsichten, Qualifikationen und Kompetenzen nur noch erworben werden können, wenn sie in systematisch und gezielt organisierten und strukturierten Lehr- und Lernprozessen vermittelt und angeeignet werden. Die zunehmend komplexe, spezialisierte, technologische, mediale Welt verlangt zunehmend eine besondere Vorbereitung der nachwachsenden Generationen auf die Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens. Die Schule als „Schonraum“ schützt Kinder vor zu frühen Anforderungen und Erfahrungen, welche sie überfordern müssten. Allein in einem solchen Schonraum kann gewährleistet werden, dass Kinder und Jugendliche schrittweise und entwicklungsgemäß nach und nach mit verschiedensten Anforderungen, Aufgaben, Möglichkeiten oder auch Problemen der gesellschaftlichen Wirklichkeit vertraut gemacht werden. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wird immer wieder neu darum gerungen, welche Ziele die Schule primär verfolgen solle. Soll die Schule in erster Linie den Fortbestand einer bestehenden gesellschaftlichen Wirklichkeit verpflichtet sein, oder soll die Schule mehr im Interesse eines gesellschaftlichen „Fortschritts“ eingerichtet werden? Wenn hingegen die Schule im Sinne einer Fortschrittsidee organisiert werden sollte, wer dürfte wiederum bestimmen, was für „Fortschritt“ gehalten und was in der Schule entsprechend vermittelt werden müsste. In langen und kontroversen Prozessen schulischer und bildungspolitischer Entwicklungen konnte diese Frage bis heute nicht endgültig gelöst werden. Immerhin aber bildete sich die Einsicht heraus, dass in einer demokratischen Schule erstrebenswert sein müsste, die heranwachsende Generation so bald wie nur möglich an der Diskussion um gesellschaftlichen Fortschritt qualifiziert zu beteiligen. V Was müssen Schülerinnen und Schüler in der Schule lernen? Die unterdessen fortgeschrittene gesellschaftliche Entwicklung hat unvermeidbar die Ausweitung der Schulzeit sowie auch die Ausweitung der schulischen Aufgabenfelder nach sich gezogen. So müssen in Deutschland Schülerinnen und Schüler nicht nur mindestens 10 Jahre lang eine Schule kontinuierlich besuchen, sie müssen sich des Weiteren in dieser Zeit in verschiedensten Fächern unterrichten lassen. Die verschiedenen Unterrichtsfächer in der Schule sollen gewährleisten, dass Schülerinnen und Schüler in hinreichender Weise auf die Anforderungen der vielfältigen und komplexen gesellschaftlichen Wirklichkeit vorbereitet werden. Insofern muss immer wieder neu gefragt werden, welcher Unterricht in welchen Fächern notwendig ist, damit Schülerinnen und Schüler tatsächlich lernen können, die Aufgaben später zu bewältigen, die sich ihnen in ihrem weiteren Leben faktisch stellen. Die gegenwärtige Schule unterscheidet drei Aufgabenfelder, welchen wiederum bestimmte unterrichtliche Fächer zugeordnet werden. Neben dem naturwissenschaftlich-mathematischen bestehen des Weiteren das literarisch-ästhetische sowie das sog. gesellschaftswissenschaftliche Aufgabenfeld. In allen Schulen – unabhängig von Schulform und Schulort – in Deutschland finden diese drei Aufgabenfelder weitreichende Berücksichtigung. Die Fächer innerhalb der Aufgabenfelder gewinnen ihre besondere spezifische Bedeutung vor allem dadurch, dass sie sich nicht nur auf eine Bezugswissenschaft, sondern zugleich auch auf ein besonderes Praxisfeld des menschlichen Lebens beziehen lassen. So betrifft Religionslehre die religiöse Praxis, der Biologieunterricht die ökologische oder auch die medizinische „Praxis“, der Politikunterricht die politische Praxis. Andere unterrichtliche Fächer – wie z.B. Erdkunde, Sozialkunde bzw. Sozialwissenschaft - lassen sich wiederum schwieriger konkreten Praxen zuordnen, faktisch werden in ihnen verschiedenste Praxen zusammengefasst. So etwa finden im Fach „Sozialwissenschaften“ in der Oberstufe der weiterführenden Schule die ökonomische, die politische wie auch besondere soziale Einzelpraxen (z.B. von Institutionen, gesellschaflichen Schichten) besondere Berücksichtigung. Wenn die Aufgabe der Erziehung unbestreitbar in einer hoch komplexen und hoch individualisierten so schwierig wie noch niemals zuvor geworden ist, dann muss gefragt werden, ob nicht auch die Schule hinreichend gewährleisten müsste, dass Menschen auch erzieherische Kompetenzen, eine „pädagogische Bildung“ als Vorbereitung auf ihr späteres Leben ausbilden könnten. Faktisch findet „pädagogische Bildung“ bislang in der Schule insgesamt betrachtet nur marginal statt. Kann und darf aber eine Gesellschaft sich leisten, die nachwachsende Generation auf eine bedeutende Lebenspraxis nicht hinreichen vorzubereiten, selbst wenn diese Praxis sie später unbestreitbar vor immer schwierigeren und komplexeren Aufgaben stellen wird? Die Vernachlässigung der „pädagogischen Praxis“ innerhalb der schulischen Bildung bzw. des schulischen Unterrichts war sicherlich – in Anbetracht der Überlegungen Kants vor mehr als zweihundert Jahren – immer schon fragwürdig, vor dem Hintergrund der veränderten gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen ist sie unterdessen nicht mehr – nicht mehr pädagogisch und nicht mehr politisch – verantwortbar. VI Was ist „pädagogische Bildung“? Was ist überhaupt und wie entsteht „Bildung“? Wie aber entsteht „pädagogische Bildung“? „Eine allgemeine Bildung ist Bildung in dem Maße, indem sie der Verständigung unter den Menschen über ihre Welt dient“, hat der bekannte Pädagoge Hartmut von Hentig erklärt. Der Erziehungswissenschaftler H. Peukert hat über Hentigs Überlegung hinaus dargelegt, dass die Ansprüche an „Bildung“ im 21. Jahrhundert sich erweitern müssten, indem in Bildungsprozessen immer auch die Frage „nach notwendigen Handlungskompetenzen und der Identität von Individuen in einer dramatisch sich verändernden geschichtlichen Lage“ thematisiert werden müsse. Wenn aber unbestreitbar die Ausbildung von Handlungskompetenzen wie auch die individuelle Identitätsbildung in einer sich fortwährend dramatisch verändernden Welt stattfinden müssen, so muss die Problematik ernst genommen werden, dass ohne besondere Anleitung und Begleitung Menschen nur schwer lernen könnten, solche Lern- und Entwicklungsprozesse zu bestehen. Um so notwendiger aber ist dann, dass diejenigen, die besonders junge Menschen unterstützen wollen diese Lern- und Entwicklungsprozesse zu bewältigen, dieses kompetent und qualifiziert leisten können. Soll darüber hinaus im Rahmen einer Erziehung in einer demokratisch verfassten Gesellschaft angestrebt werden, dass junge Menschen nicht fortwährend als „Objekte“ pädagogischer Bemühungen betrachtet werden, welche nach von ihnen selbst unbegriffenen Maximen erzogen und gebildet werden sollen, so findet sich keine Alternative dazu, sie am Prozess ihrer eigenen Erziehung immer mehr bewusst und aktiv selbst teilnehmen zu lassen. Dann aber muss ihnen Wissen über Erziehung vermittelt werden. Soll dieses Wissen nicht nach willkürlichen Kriterien vermittelt werden, muss dieser Vermittlungsprozess auf fachwissenschaftlichem, also erziehungswissenschaftlichem Fundament stattfinden. Wo aber soll eine solche Wissensvermittlung stattfinden können, wenn sie nicht in der Schule mögliche gemacht wird? Erziehungswissenschaftliches Wissen ist umfangreich, wie auch die verschiedensten erzieherischen Praxen umfangreich sind. Ohne Zweifel ist nicht Aufgabe der Schule, wissenschaftliches Wissen in reduzierter Form schulisch abzubilden. Das gilt in besonderer Weise mit Blick auf „pädagogisches Wissen“. Pädagogisches Wissen betrifft die Lebenspraxis von Schülerinnen und Schüler unmittelbar oder mittelbar und kann somit niemals losgelöst von ihrer Lebenswelt betrachtet und behandelt werden. Pädagogisches Wissen ist zugleich komplexes Wissen, das Schülerinnen und Schüler sich nur nach und nach aneignen können, wobei sie nur schrittweise lernen können, solches Wissen konstruktiv auf ihre eigene Lebenspraxis zu beziehen. Aus diesem Grunde könnte es nicht ausreichen, nur zu versuchen, singuläres pädagogisches Wissen innerhalb von Fachunterricht in anderen Fächern zu vermitteln. Erziehung betrifft alle Menschen einer Gesellschaft – ob sie selbst Eltern sind oder nicht. Somit hat auch pädagogisches Wissen für alle Menschen einer Gesellschaft fundamentale Bedeutung. Pädagogisches Wissen müsste nicht nur Pädagogen innerhalb von konkreten erzieherischen Prozessen, sondern auch Politiker bei politischen Entscheidungen, Architekten beim Planen von Bauprojekten, Ökonomen bei ökonomischen Entscheidungen, Juristen bei Urteilsfindungen, Redakteure beim Gestalten und Entwickeln medialer Produkte und viele andere mehr beeinflussen. Bis heute ist pädagogisches Wissen kaum Bestandteil einer notwendigen Allgemeinbildung von Menschen, die doch „mündige Bürger“ sein wollen und sollen. Nur die wenigsten Menschen, nicht selten nicht einmal Lehrerinnen und Lehrer in Schulen wissen, - - - - - , wie sehr wir bewusst und unbewusst über Prozesse des klassischen und operanten Konditionierens täglich gesteuert, wenn nicht manipuliert werden. Sie wissen zumeist nicht einmal, was klassisches Konditionieren ist. Sie wissen von „Vorbildern“, aber sie wissen nicht, welche Faktoren Modelllernen erst wirksam machen könnten bzw. unwirksam bleiben lassen. Sie haben von Freud und der Psychoanalyse gehört, aber sie können nicht zwischen Ideen der Psychoanalyse Freuds und der Individualpsychologie Adlers oder der Archetypenlehre Jungs unterscheiden. Damit sind sie auch nur wenig in der Lage zu reflektieren, was (tiefen-)psychische Theorien leisten oder auch nicht leisten können. Sie kennen nicht unterschiedliche Aggressionstheorien und können somit auch nicht das komplexe Phänomen Aggressivität auf differenzierte Weise betrachten. Sie haben nie Kriterien kennengelernt, wie mit Blick auf Erziehung oder erzieherische Handlungen qualitativ Wertungen erfolgen könnten. So glauben sie häufig, wenn etwas erzieherisch einigermaßen problemlos oder konfliktlos funktioniere, sei es auch erzieherisch gut, oder sie reden sich ein, dass mancher „gute“ erzieherische Zweck viele – vielleicht nicht immer unproblematische - Mittel rechtfertigen könne. Sie wissen nicht, dass erzieherisches Handeln nicht nur nach Zielen, Mitteln und Bedingungen, sondern auch nach seiner technologischen Dimension und axiologischen Dimension differenziert werden kann und differenziert werden muss. Sie wissen wenig über Motivation, sie haben nie nach intrinsischer und extrinsischer Motivation unterscheiden gelernt, so wissen sie auch nicht, unter welchen Voraussetzungen ein Kind bzw. ein Jugendlicher unweigerlich unmotiviert bleiben muss. Sie wissen nichts vom kindlich egozentrischen Denken und den vielfältigen Prozessen, wie Kinder aus einem einseitig egozentrischen Denken hinauswachsen. (Es ist von dramatischer und fataler Bedeutung, dass selbst viele Lehrer nicht in der Lage sind, egozentrisches und egoistisches Denken sorgfältig auseinanderzuhalten.) Sie wissen wenig über Risikofaktoren für psychische Krankheiten bzw. darüber, wie solche Risikofaktoren auch pädagogisch minimiert werden könnten. Sie haben allenfalls sehr vordergründiges Wissen über die Folgen von Erziehungsstilen. Sie wissen nicht, dass Laissez-faire-Erziehung keineswegs mit antiautoritärer Erziehung identisch ist, sie können nicht zwischen autoritärer und autoritativer Erziehung unterscheiden oder sie machen sich nur wenig bewusst, dass der sozial-integrative Erziehungsstil keineswegs eine Gleichberechtigung von Erwachsenen und Kindern beinhaltet, sondern vielmehr eine besondere pädagogische Verantwortung postuliert. Sie machen sich häufig nicht bewusst, dass individualpädagogische und gruppenpädagogische Maßnahmen unterschiedlichen Bedingungen und Voraussetzungen Rechnung tragen müssen. Sie kennen nicht den Unterschied zwischen assimilierendem und akkomodierendem Lernen und begreifen so auch nicht, dass Lernanforderungen für Kinder und Jugendliche in massiver Weise unterschiedliche Herausforderungen darstellen. Sie können häufig nicht zwischen gesellschaftlicher oder politischer Dimension einerseits und pädagogischer Dimension andererseits unterscheiden. Sie wissen wenig über die Geschichte der Schule oder des Kindergartens und können so auch nicht kritisch die Funktion bzw. die Aufgaben dieser Institutionen einschätzen (was immer wieder zu fragwürdigen Erwartungen führen muss). Sie wissen nur wenig von menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten oder Entwicklungsstufen im Hinblick nicht nur auf Denken und Fühlen, sondern auch im Hinblick auf Moral und Religion. Sie haben sich nie umfassend mit der Geschichte der Familie oder der Kindheit auseinander gesetzt und können so nicht reflektieren, wodurch Kindheit oder Familien ihren be- sonderen (pädagogischen) Wert gewinnen und was sie – gerade in der Gegenwart – gefährdet. Pädagogisches Nichtwissen kann sich nicht selten fatal auswirken. „Opfer“ mangelhaften pädagogischen Wissens sind einmal Erziehende, die häufig Enttäuschungen erleben, weil sie falsche Hoffnungen entwickeln oder falschen Versprechungen Glauben schenken oder weil sie – entgegen ihren eigenen Absichten – Kindern und Jugendlichen letztlich auf fragwürdige Weise pädagogisch begegnen und so problematische Entwicklungen selbst mit begünstigen. „Opfer“ sind aber viel mehr die jungen Menschen, welchen qualifizierte Erziehung verweigert wird und welche so um Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten „betrogen“ werden. Damit aus pädagogischem Wissen pädagogische Bildung erwachsen kann, ist kontinuierliche unterrichtliche Begleitung bedeutsam. Wie literarische oder mathematische oder naturwissenschaftliche „Bildung“ nur nach und nach in unterrichtlichen Prozessen über Jahre wachsen, so kann auch „pädagogische Bildung“ nur schrittweise wachsen. Wenn unterrichtliche „Bildung“ über Pädagogik mehr beinhalten soll als nur eher willkürliche Weitergabe von Wissen wie in pädagogischen Ratgebern, dann muss „Pädagogik“ in einem eigenen Unterrichtsfach in der Schule systematisch und in besonderer didaktischer Verantwortung vermittelt werden. Nur dann kann gewährleistet werden, dass „pädagogische Bildung“ so weitreichend stattfinden kann, dass nachschulisch die Menschen tatsächlich selbst mündig und bewusst erzieherische Entscheidungen treffen und erzieherisch handeln können. Junge Menschen in der Schule haben ein Recht darauf, über erzieherische Prozesse und die beeinflussenden Faktoren von erzieherischen Prozessen umfassend aufgeklärt zu werden und auf dieser Basis differenziert, kritisch und selbstkritisch die Aufgaben von Erziehung in der Gegenwart reflektieren zu lernen. Dass dies je nach Schulform, nach Schwerpunkten innerhalb von Schulen oder auch nach individuellen Voraussetzungen und Interessen konkret auf unterschiedliche Weise realisiert werden kann und muss, ändert nichts daran, dass dieser Anspruch grundsätzlich nicht aufgegeben werden darf. VI Pädagogikunterricht muss in den Schulen Pflichtfach werden Das Unterrichtsfach Pädagogik besteht schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Hingegen wurde das Fach zunächst nur entweder als berufsvorbereitendes Fach für sozialpädagogische Berufe (Kindergärtnerin, Jugendleiter) oder als geschlechtsspezifisch ausgerichtetes Fach im Höheren Mädchenschulwesen angeboten. Immerhin aber begriffen bildungspolitisch Verantwortliche schon vor fast hundert Jahren, dass „pädagogische Bildung“ nicht mehr einfach ohne besondere (schulische) Anleitung vermittelt werden könnte. Nur zögerlich und mit unterschiedlichen Schwerpunkten in den verschiedenen Bundesländern wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit Gründung der Bundesrepublik Deutschland Pädagogikunterricht in der Schule erweitert. Unterdessen wird Pädagogik in den verschiedenen Bundesländern unter unterschiedlichem Namen in wiederum verschiedenen Klassen und Schulformen unterrichtet. In mehreren Ländern kann Pädagogik als Abiturfach gewählt werden. Bis heute ist indes nicht gelungen, einheitliche Erwartungen an „Pädagogikunterricht“ in Deutschland zu formulieren oder sogar bildungspolitisch durchzusetzen. Faktisch erfreut sich Pädagogikunterricht überall dort, wo das Fach angeboten wird, großer Beliebtheit und erfährt großen Zulauf. Auch in anderen Staaten Europas wie z.B. in Österreich oder der Schweiz existiert en Unterrichtsfach „Pädagogik“. Bedauerlicherweise wurde das Unterrichtsfach Pädagogik seitens seiner Bezugswissenschaft bisher wenig begleitet und unterstützt. Nur in Ausnahmefällen wird in erziehungswissenschaftlichen Hochschulen die Didaktik des Faches thematisiert und problematisiert. Auch diese Tatsache dürfte wesentlich mit dazu beigetragen haben, dass das Unterrichtsfach Päda- gogik trotz der Evidenz seiner hohen Bedeutung innerhalb einer schulischen Bildung sich bildungspolitisch nur begrenzt durchsetzen konnte. In diesem Sinne müssten dringend weitere Richtlinien und Lehrpläne, noch mehr aber konkrete didaktische Entwürfe für Unterricht in „Pädagogik“ für unterschiedliche Schulformen und unterschiedliche Jahrgangsstufen entwickelt werden. Nur auf dieser Basis ließe sich zeigen, welch hoher Gewinn für Schülerinnen und Schüler aus Pädagogikunterricht erwachsen könnte. Unterdessen sind konkrete Vorschläge z.B. für ein Kerncurriculum Erziehungswissenschaft ausgearbeitet worden.(„Kerncurriculum Erziehungswissenschaft. Vorschläge für ein Basiscurriculum Pädagogik Bakkalaureus und ein Curriculum Lehramtsmaster, erarbeitet von der Kommission für Lehrerbildung der Gesellschaft für Fachdidaktik Pädagogik, 2001"; Klaus Beyer, Planungshilfen für den Pädagogikunterricht. 45 Rahmenreihen, 2003) Auf dieser Basis ließen sich zweifellos konstruktive Ideen für konkrete Lehrpläne und auch unterrichtliche Reihen entwickeln. Vorschläge und Ideen für ein Kerncurriculum Pädagogik können zeigen, wie komplex und weitreichend das Feld oder die Felder der „Erziehungswissenschaft“ tatsächlich sind. Das bedeutet, dass erziehungswissenschaftlich fundiertes pädagogisches Wissen, soll es nicht beliebig reduziert werden, nur in einem eigenen schulischen Unterrichtsfach hinreichend qualifiziert vermittelt werden kann. Ziel müsste immer sein, junge Menschen solchermaßen zu „qualifizieren“, dass sie ein Bewusstsein qualitativer Merkmale oder Kriterien ausbilden lernen, die ihr erzieherisches Handeln als „pädagogisches“ Handeln begründen und legitimieren können. Das Auffinden bzw. die Reflexion solcher Merkmale und Kriterien ist besonders in Zeiten vielfältigen gesellschaftlichen Umbruchs eine zweifellos nicht leichte Aufgabe. Pädagogisches Theoriewissen – jeweils angemessen didaktisch strukturiert – kann mit dazu beitragen, dass junge Menschen tatsächlich selbst ein Bewusstsein qualitativer pädagogischer Kriterien ausbilden und auf der Basis eines solchen Bewusstseins dann auch handeln können. Sie würden so jedenfalls nicht mehr hilflos vor einer Fülle von Aussagen aus Entwicklungstheorien, psychologischen Theorien, Lerntheorien, Interaktionstheorien, Rollentheorien und weiteren Theorien stehen müssen, sondern hätten gelernt, theoretisches Wissen konstruktiv auf ihre eigene konkrete (erzieherische) Wirklichkeit zu beziehen und so ihre eigen Wirklichkeit besser zu verstehen und in ihr mehr handlungsfähig zu werden. Nicht zuletzt hätten sie sich schon mit vielen Fragen von erzieherischer Bedeutung auf vielfache Weise kritisch und selbstkritisch auseinander gesetzt, wie z.B.: Welche Folgen haben welche Strafen für betroffene Kinder und Jugendliche? Wie sind Wutanfälle von Kindern im Kleinkindalter zu betrachten? Wie sollte man erzieherisch sinnvoll reagieren? Wie können Kinder in Phasen der Demotivation vielleicht doch noch für bestimmte Aufgaben motiviert werden? Wie lassen sich Aggressionen von jungen Menschen in bestimmten Situationen erklären? Inwieweit sind Verbote von Erwachsenen für Reifeprozesse von Kindern notwendig? Welches sind unverzichtbare Voraussetzungen, wenn ein Kind „Mitmenschlichkeit“ lernen soll? Welche „Rechte“ kann ein Kind welchen Alters aufgrund seiner bisherigen Entwicklung schon oder noch nicht wahrnehmen? Fragen dieser Art sind konkret Fragen des alltäglichen Pädagogikunterrichts. Im Pädagogikunterricht lernen Jugendliche allerdings, dass solche Fragen keineswegs leicht, keineswegs in wenigen Sätzen und keineswegs endgültig beantwortet werden können. Sie erfahren aber ebenfalls, wie solche Fragen theoretisch wie praktisch – und mit welchen Folgen – zu beantworten versucht wurden und können so für sich Orientierungen finden, wie sie sich ggf. selbst entscheiden würden. Dass im konkreten Pädagogikunterricht Theoriewissen und praktische Erfahrungen immer wieder miteinander verknüpft werden, erklärt seine hohe Akzeptanz bei Schülerinnen und Schülern. Sie wissen, im Pädagogikunterricht wird tatsächlich Lebenswirklichkeit thematisiert und ernst genommen. Im Pädagogikunterricht wird ein bedeutendes und breites Handlungsfeld ihres gegenwärtigen wie zukünftigen Lebens einerseits weithin konkret berücksichtigt und andererseits zugleich auf einem Fundament theoretisch und fachwissenschaftlich fundierten Wissens und Nachdenkens kritisch reflektiert. Schülerinnen und Schüler erleben diesen Unterricht als gewinnbringend für sich selbst und ihre Zukunft. Insofern decken sich ihre eher subjektiven Erfahrungen mit eher objektiven Erfordernissen einer schulischen Bildung für eine Zukunft, welche niemand sicher prognostizieren kann, für welche Kinder und Jugendliche dennoch qualifiziert vorbereitet werden müssen. (Dr. Christoph Storck)