9. Symphoniekonzert Saison 2011|2012
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9. Symphoniekonzert Saison 2011|2012
9. Sy m phonie kon zer Saison t 2011 | 2 012 K ir ill P et ren k o Dir ig Bor is B ent erezov sk y K l av ier o r ts w e c h s e l . 9. Sy m phonie kon zer Saison t 2011 | 2 012 Besuchen Sie den Ort, an dem Automobilbau zu einer perfekten Komposition wird: die Gläserne Manufaktur von Volkswagen in Dresden. w w w.g l a e s e r n e m a n u fa k t u r . d e PA R T N E R D E R S TA AT S K A P E L L E D R E S D E N Christi Chef an Thie d ir ig Sir Coli Ehre leman n ent a b 201 2 /2 n Davis N d ir ig ent 013 s o 1 5 . 4 .1 2 11 U h r | m o 16 . 4 .1 2 2 0 U h r Se m peroper dr esden | d i 17. 4 .1 2 2 0 U h r 9. Symphoniekonzert Dir igent Kirill Petrenko K l av i e r Boris Berezovsky Programm S o n n t ag | 1 5 . 4 .1 2 | 11 U h r Sergej Rachmaninow (18 7 3 -19 4 3 ) Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 d-Moll op. 30 1. Allegro ma non tanto 2. Intermezzo. Adagio 3. Finale. Alla breve Pau s e Alexander Skrjabin (18 7 2 -19 1 5 ) Spätromantiker und Neutöner Symphonie Nr. 3 c-Moll op. 43 für großes Orchester »Le Divin Poème« 1. Lento. Divin, grandiose – »Luttes« (»Kämpfe«): Allegro. Mystérieux, tragique 2. »Voluptés« (»Wollust«): Lento, sublime 3. »Jeu divin« (»Göttliches Spiel«): Allegro. Avec une joie éclatante Sergej Rachmaninow und Alexander Skrjabin werden selten in einem Atemzug genannt: Der eine gilt als »letzter Romantiker« (der zeitweise in Dresden lebte), der andere als synästhetischer Visionär (der früh von Ernst von Schuch in Dresden gefördert wurde). Kirill Petrenko und Boris Bere zovsky wagen nun den Versuch einer umfassenden Annäherung, die – bei allen Unterschieden – womöglich auch erstaunliche Parallelen offenbart … Kost enlose Einfü hru ngen du rch den Konzert dr a m at u rgen j e w e i l s 4 5 M i n u t e n v o r B e g i n n i m Op e r n k e l l e r d e r S e m p e r o p e r 2 3 9. SYMPHONIEKONZERT Programm M o n t ag | 16 . 4 .1 2 | 2 0 U h r d i e n s t ag | 17. 4 .1 2 | 2 0 U h r Sergej Rachmaninow Alexander Skrjabin (18 7 3 -19 4 3 ) (18 7 2 -19 1 5 ) Konzert für Klavier und Orchester Nr. 4 g-Moll op. 40 (Revidierte Fassung von 1941) 1. Allegro vivace 2. Largo 3. Allegro vivace Konzert für Klavier und Orchester fis-Moll op. 20 1. Allegro 2. Andante 3. Allegro moderato Pau s e Pau s e Alexander Skrjabin (18 7 2 -19 1 5 ) Symphonie Nr. 3 c-Moll op. 43 für großes Orchester »Le Divin Poème« 1. Lento. Divin, grandiose – »Luttes« (»Kämpfe«): Allegro. Mystérieux, tragique 2. »Voluptés« (»Wollust«): Lento, sublime 3. »Jeu divin« (»Göttliches Spiel«): Allegro. Avec une joie éclatante Sergej Rachmaninow (18 7 3 -19 4 3 ) Konzert für Klavier und Orchester Nr. 4 g-Moll op. 40 (Revidierte Fassung von 1941) 1. Allegro vivace 2. Largo 3. Allegro vivace Alexander Skrjabin »Le Poème de l’Extase« op. 54 für großes Orchester (in einem Satz) 4 5 9. SYMPHONIEKONZERT Kirill Petrenko Dirigent K irill Petrenko wurde 1972 im sibirischen Omsk geboren und absolvierte sein Studium in seiner Heimatstadt sowie in Feld kirch und Wien. Nach einer ersten Position als Assistent und Kapellmeis ter an der Wiener Volksoper war er von 1999 bis 2002 General musikdirektor in Meiningen, wo er 2001 mit dem »Ring des Nibelungen« in der Inszenierung von Christine Mielitz international auf sich aufmerksam machte. An diesen Erfolg konnte er im Anschluss als GMD der Komischen Oper in Berlin (2002 bis 2007) anknüpfen. Prägende Produktionen dieser fünf Jahre waren u.a. »Die verkaufte Braut« (Inszenierung: Andreas Homo ki), »Don Giovanni« und »Così fan tutte« (Peter Konwitschny), »Die Entfüh rung aus dem Serail« (Calixto Bieito), »Jenůfa« (Willi Decker), »Der Rosen kavalier« und »Eugen Onegin« (Homoki) sowie »Das Land des Lächelns« (Konwitschny). Gleichzeitig erhielt er Einladungen zu den wichtigsten Opernhäusern weltweit, darunter die Mailänder Scala, die Staatsopern in Wien und Mün chen, das Royal Opera House Covent Garden London und die New Yorker MET. An der Semperoper Dresden dirigierte er Vorstellungen von Wagners »Die Walküre« und Schostakowitschs »Lady Macbeth von Mzensk«. Auch am Pult der großen Symphonieorchester ist Kirill Petrenko ein gern gesehener Gast. So dirigierte er u.a. die Berliner Philharmoniker, das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das Cleveland Orchestra sowie Konzerte bei den Bregenzer und den Salzburger Festspielen. Erst vor wenigen Wochen kehrte Petrenko mit Mussorgskis »Cho wantschina« an die Metropolitan Opera zurück und debütierte anschließend mit herausragendem Erfolg beim Chicago Symphony Orchestra. Nach einem Aufführungsabend im Jahr 2007 leitet er nun erstmals ein Symphoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle Dresden in der Semperoper. Am 1. September 2013 übernimmt Kirill Petrenko die Position des Generalmusikdirektors an der Bayerischen Staatsoper in München. 6 7 9. SYMPHONIEKONZERT Boris Berezovsky Klavier A ls »Künstler mit exzeptionellen Möglichkeiten, als einen Mu siker von blendender Virtuosität und formidabler Kraft«, be schrieb die Londoner Times den russischen Pianisten Boris Berezovsky nach seinem fulminanten Debüt in der Wigmore Hall im Jahr 1988. Nur zwei Jahre später sollte der Sieg beim Internationalen Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau diese Aussage ein drucksvoll bestätigen. Geboren 1969 in Moskau, studierte Berezovsky am Konservatorium seiner Heimatstadt bei Eliso Virsaladze und erhielt Privatunterricht bei Alexander Satz. Inzwischen hat Berezovsky mit zahlreichen internationalen Spitzenorchestern musiziert und viele wichtige Preise erhalten. Regelmäßig tritt er auch als Kammermusiker bei bedeutenden Festivals auf. Tourneen und Gastkonzerte führten ihn nach Nord- und Südamerika, Australien, Europa und Asien. Daneben hat er ein breites Repertoire auf CD eingespielt. So existie ren von ihm Aufnahmen u.a. mit Werken von Sergej Rachmaninow, Dmitri Schostakowitsch, Franz Liszt und Camille Saint-Saëns. Viele seiner Ein spielungen errangen internationale Auszeichnungen, darunter neben einem ECHO Klassik auch der BBC Music Magazine Award und der Diapason d’Or. Höhepunkte der vergangenen Spielzeiten waren u.a. sein umjubelter Auftritt bei den Salzburger Festspielen im Sommer 2009 und eine EuropaTournee mit dem Orchestra dell‘Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter Antonio Pappano im Jahr 2011. Im Januar 2012 gab er sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern. Mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden musizierte Boris Bere zovsky erstmals im Mai 2007, als er bei einem Gastkonzert in Ferrara kurz fristig für Martha Argerich einsprang. Mit den jetzigen Konzerten gibt er sein Debüt in der Semperoper. 8 9 9. SYMPHONIEKONZERT Die Unruhen im zaristischen Russland waren der Grund, weshalb viele russische Intellektuelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Westeuropa emigrierten. Sergej Rachmaninow, der einem alten moldawischen Adels geschlecht entstammte, trat 1906 von seinem Posten als Kapellmeister des Moskauer Bolschoi-Theaters zurück und ließ sich im Oktober 1906 mit seiner Familie für drei Jahre in Dresden nieder. Hier lebte er in der Nähe des Großen Gartens (Sidonienstr. 6) bis Sommer 1909 in selbstgewählter Abgeschiedenheit. Rachmaninow, der zeitlebens an Depressionen litt, hoffte in Dresden auch auf gesundheitliche Erholung und auf Überwindung einer tiefen Schaffenskrise. Dies sollte ihm gelingen: Die Jahre in Dresden gehö ren zu den kompositorisch ertragreichsten seines Lebens; hier entstanden die zweite Symphonie, die erste Klaviersonate, die Symphonische Dichtung »Die Toteninsel«, außerdem das unvollendete Opernprojekt »Monna Vanna«. In Dresden begann er außerdem mit der Komposition seines dritten Klavier konzertes, das er im Sommer 1909 – nach seiner Rückkehr nach Russland – auf dem Landgut Iwanowka ausarbeitete und fertigstellte. Sergej Rachmaninow – »Die Stadt selbst gefällt mir sehr« K o n z e r t m i t R a c h m a n i n o w, 2 . D e z e m b e r 1 9 1 0 . G e m ä l de vo n Robe r t S t e r l (1910 ) Das Ölgemälde entstand unter dem Eindruck des Konzertes, das Rachmaninow im Dezember 1910 mit der Dresdner Hofkapelle in der Semperoper gab. Zwei Russen in Dresden Sergej Rachmaninow und Alexander Skrjabin haben dem internationalen Musikleben ihrer Zeit als Pianisten und Komponisten wichtige Impulse verliehen. Auch in Dresden haben beide ihre Spuren hinterlassen, wo sie schon früh in den Konzerten der damaligen »Königl. musikalischen Kapelle« präsent waren. Rachmaninow lebte überdies einige Jahre in Dresden, wohin er später auch familiäre Beziehungen unterhielt – und Skrjabin beabsichtigte zumindest zeitweise eine Übersiedlung in die Kunst- und Musikstadt an der Elbe. 10 11 Rachmaninow hat die Jahre in Dresden offensichtlich sehr genossen. »Keine einzige Wohnung gefiel mir so sehr wie diese«, schrieb er kurz nach dem Umzug an einen Moskauer Freund. »Wir leben hier still und bescheiden«, heißt es ein paar Tage später. »Wir sehen keinen und kennen niemanden. Und auch selbst lassen wir uns nirgends sehen und wollen auch niemanden kennenlernen … Die Stadt selbst gefällt mir sehr: sehr sauber, sympathisch und viel Grün in den Gärten. Wer es braucht, findet großartige Geschäfte, und ihre Vitrinen sind verführerisch und raffiniert angerichtet. Besonders ergötzlich sind hier die Wurstgeschäfte.« Trotz der Abgeschiedenheit nahm Rachmaninow auch am kulturellen Leben der Stadt Anteil und besuchte 1906 – wenige Monate nach der Uraufführung – auch eine »Salome«-Vor stellung in der Semperoper. »Ich habe ›Salome‹ von Strauss gehört und bin völlig in Begeisterung geraten. Vor allem vom Orchester, aber natürlich ge fiel mir auch viel an der Musik selbst … Nachdem ich ›Salome‹ ganz gehört hatte und noch im Theater saß, stellte ich mir plötzlich vor, dass hier jetzt etwa meine Oper gespielt werden würde, was mir irgendwie Unbehagen und Pein bereitete. Es war ein Gefühl, als ob ich nackt vor das Publikum treten würde. Strauss versteht es schon sehr, sich herauszuputzen.« Obwohl Rachmaninow auch Kontakte zum damaligen Generalmusik direktor Ernst von Schuch unterhielt, trat er während seiner Dresdner Jahre nie mit der Hofkapelle auf. Erst am 2. Dezember 1910 – mehr als ein Jahr nach seinem Weggang – stellte er sich dem Dresdner Publikum erstmals als 9. SYMPHONIEKONZERT Pianist vor: Unter der Leitung von Hermann Kutzschbach spielte er in der Semperoper das inzwischen in den USA uraufgeführte dritte Klavierkon zert. »Orchester und Klavier gingen prachtvoll zusammen«, hieß es dazu in der Dresdner Presse. Der Erfolg sollte sich bei seinem zweiten Auftreten mit der Hofkapelle im März 1912 wiederholen (Rachmaninow spielte hierbei das zweite Klavierkonzert) – aber keine der Rezensionen ging mit einem Wort auf seinen mehrjährigen Aufenthalt in der Elbmetropole ein: Rachmaninow war es wahrlich gelungen, in Dresden incognito zu bleiben. Der Abschied aus Dresden war ihm indes nicht leicht gefallen. Im März 1909 hatte er an den Komponisten Sergej Tanejew geschrieben: »Wie schön ist es hier in Dresden, Sergej Iwanowitsch! Und wenn Sie wüssten, wie traurig ich bin, dass ich hier den letzten Winter verbringe! … aber ich habe für Dresden einen Vertrag geschlossen: diesmal nicht mit einem Agenten, sondern mit meiner Frau, der ich versprach, nicht länger als drei Jahre im Ausland zu verbringen. Und diese Jahre sind schon vorüber …« Es sollte allerdings kein Abschied für immer sein: In den 1920er Jahren kehrte Rachmaninow regelmäßig nach Dresden zurück, wo sich seine Schwiegereltern (die Eltern seiner Frau und Cousine Natalja Alexandrowna Satina) 1921 dauerhaft niedergelassen hatten. So verbrachte er die Sommer monate der Jahre 1922 bis 1928 regelmäßig in der Villa »Fliederhof« in Dres den-Blasewitz (Emser Allee 5, heute Goetheallee 26 – das Haus wurde 1978 bei einem Brand zerstört). 1924 heiratete in Dresden Rachmaninows älteste Tochter, und zwei Jahre später wurde Rachmaninow hier auch noch einmal kompositorisch tätig: Im Sommer 1926 stellte er an der Elbe die erste Fassung seines vierten Klavierkonzertes fertig, das er bis 1941 noch einmal revidierte. 1928 und 1929 machte Rachmaninow in Dresden zu zwei gefeierten Klavier abenden Station – dann sollte er nach der hereinbrechenden Weltwirtschafts krise mit all ihren Folgen die Stadt nicht mehr wiedersehen … 12 Alexander Skrjabin – »Ich möchte so sein« Da n k sagu ng R ac h m a n i nows ( u n d se c h s w e i t e r e r U n t e r z e ic h n e r ) Die Beziehungen von Rachmaninows Landsmann Alexander Skrjabin zu Dresden sind weniger umfangreich – allerdings umfassender als gemeinhin angenommen. Skrjabin beabsichtigte nämlich – ein paar Jahre vor Rachma ninow – ebenfalls, sich in der sächsischen Residenzstadt niederzulassen. 1895 war er zum ersten Mal in Dresden und besuchte hier die Gemälde galerie. Bei dieser Gelegenheit komponierte er sein Prélude op. 11 Nr. 14, das, im 15/8-Takt stehend, zu seinen eigenartigsten Klavierkompositionen gehört. Acht Jahre später, 1903, dachte er konkret über eine Umsiedlung nach Dresden nach. So berichtete er im November des Jahres seiner Frau über die diesbezüglichen Aktivitäten seines Leipziger Verlegers: »Beljajew billigt meine Absicht, nach Dresden überzusiedeln, völlig und hat bereits de r S e m p e rop e r (15. M a i 19 0 8) 13 a n e r n s t vo n s c h u c h n a c h e i n e r » M e i s t e r s i n g e r « -Vo r s t e l l u n g i n »Die Unterzeichneten haben von der heutigen Meistersinger-Aufführung einen tiefen Eindruck davongetragen, und fühlen sich gezwungen, Ihnen, hochverehrter Meister, auf diesem Wege, für den einzigartigen Genuss, der doch vor allem auf Ihre Leitung der Aufführung zurückzuführen ist, ihren aufrichtigen Dank auszusprechen. 15. Mai 1908 S. Rachmaninow, Nicolai Struve, Vera v. Struve, Dr. O. v Riesemann, Willy Reuß, H. Wilsar, Olga Behy« Quelle: SLUB / Referat Handschriften / Mscr.Dresd.App.2702,S.69(1) 9. SYMPHONIEKONZERT A l e x a n d e r Sk r j a b i n . S i g n i e r t e P o s t k a r t e m i t P o r t r ä t v o n R o b e r t S t e r l ( 17. F e b r u a r 19 1 2 ) Schäffer angewiesen, eine Anzeige aufzugeben, dass eine 6-ZimmerWohnung in dem und dem Stadtteil gesucht wird (er kennt Dresden gut). Auch hat er angeordnet, ausführliche Informationen einzuholen, wie viel das Leben in Dresden kostet. Da er weiß (ich habe es ihm gesagt), dass ich außer ihm (Belaieff) keinerlei Einnahmequellen haben werde, will er offen bar meinen Unterhalt übernehmen. Er ist überhaupt ein Engel.« Obwohl die Umzugspläne also schon weit gediehen waren, ist es letztlich doch nicht dazu gekommen (Skrjabin ließ sich 1904 in der Schweiz nieder). Wie inte 14 15 ressant wäre es gewesen, wenn sich Skrjabin und Rachmaninow – beide incognito – in Dresden wiedergetroffen hätten! Im Februar 1911, nur wenige Wochen nach Rachmaninows erstem Auftreten in Dresden, gab Skrjabin einen Klavierabend im Dresdner Künst lerhaus, der vermutlich durch den Maler Robert Sterl vermittelt wurde. Skrjabin hatte den bedeutenden Dresdner Impressionisten 1910 auf einer Konzertreise entlang der Wolga kennengelernt, an der auch Rachmaninow und der Dirigent Serge Koussewitzky beteiligt waren (Rachmaninow stand seit seiner Dresdner Zeit in freundschaftlichem Kontakt mit Sterl, der ihn mehrfach porträtierte). Sterl zeichnete Skrjabin nun auch bei der Begegnung in Dresden, und der Komponist war von dem Porträt so angetan, dass er es – mit seiner Signatur versehen – im Russischen Musikverlag als Postkarte veröffentlichen ließ. Sterl »hat so viel hineingelegt«, schwärmte er von dem Porträt. »Es entstand ein ideales Wesen mit einem weichen Gesichtsoval und sehr kompliziertem Ausdruck der Augen. Ich möchte so sein.« Durch Sterl kam Skrjabin bei diesem Aufenthalt möglicherweise auch in Kontakt mit Ge neralmusikdirektor Ernst von Schuch, der sich – allem Neuen gegenüber sehr aufgeschlossen – von Skrjabins Musik begeistert zeigte. Bereits im Januar 1912 setzte Schuch mit der dritten Symphonie »Le Divin Poème« erstmals ein Werk Skrjabins auf das Programm eines Dresdner Symphoniekonzertes. Die Aufführung erregte großes Aufsehen und wurde auch in der Presse ausführlich besprochen. Dabei gingen die Meinungen über das neuartige Werk auseinander. So konstatierte Eugen Thari im Dresdner An zeiger: »In allem und jedem ist Scriabine in seiner dritten Sinfonie von an deren überholt: in der berauschenden Sinnenglut und der Farbenpracht von Strauß, in dem harmonischen Rüstzeug von Reger, in dem weiten Wurf der musikalischen Gedanken von Bruckner, in der Intensität der Leidenschaft von Wagner. Trotzdem kann man sich des klangvollen, durch und durch melodischen Werkes ehrlich freuen, sofern man es als reines Musikstück und nicht als philosophische Predigt in Tönen aufnimmt.« Der Kritiker der Dresdner Nachrichten kam dagegen zu folgendem Schluss: »Ein wertvolles Werk, dessen ganze Bedeutung aber unmöglich nach ein- oder zweima ligem Hören erfaßt werden kann; die wohldurchdachte Schöpfung eines geistvollen Musikers von ausgezeichneter Durchbildung und ungewöhnlich reicher Begabung. Scriabine, der uns bisher nur als Klavierlyriker bekannt war, steht mit seiner C-Moll-Sinfonie auch in der vordersten Reihe zeitgenös sischer Sinfoniker.« Und über die musikalische Ausführung heißt es: »Die Aufführung des schwierigen Werkes durch Schuch und die Königl. Kapelle war so hervorragend, so vollendet, daß die Kritik nur mit Begeisterung davon reden kann. Schuch ging in der Schöpfung auf. Seine Interpretation war ein Meisterwerk, wie wir es in diesem Höhengrade selbst von ihm nicht allzuoft erlebt haben. Diese Elastizität des Geistes, diese hinreißende Ju 9. SYMPHONIEKONZERT gendlichkeit, dieses Feuer, mit dem der herrliche Mann das Werk zum Siege führte! Ihm gehörte der Preis des Abends. Ihm und seiner trefflichen Künst lerschar, die sich gestern wieder ein neues Blatt in ihren Ruhmeskranz geflochten hat.« R e s i de n Kon zer z i m t »Zeit i n haus Dor t mu s el nd R ac h m a n i n ow | Sk r ja bi n « »Zeitinsel Rachmaninow | Skrjabin« Umso erstaunlicher ist es, dass Skrjabins dritte Symphonie nach dieser Lo beshymne eine halbe Ewigkeit lang nicht in den Programmen der heutigen Sächsischen Staatskapelle Dresden auftauchte. Erst 1994 (!) dirigierte der damalige Chefdirigent Giuseppe Sinopoli das Werk erneut in der Semper oper. Dazwischen kam es immerhin zu vereinzelten Aufführungen von Skrja bins »Le Poème de l’Extase« (1920, 1923 und 1978), der zweiten Symphonie (1972) und des Klavierkonzertes (1990). Die Aufführung des Konzertes mit dem Solisten Lazar Berman und dem Dirigenten Wassili Sinaiski stand unter besonderen Vorzeichen: Sie fiel mit dem »Tag der Deutschen Einheit« zusam men (3. Oktober 1990) und wurde zwei Tage später im Berliner Schauspiel haus wiederholt. Die Werke Rachmaninows dagegen wurden von der Staatskapelle – wie andernorts auch – intensiver gepflegt. Diese Pflege setzte allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein, angeführt von den Erstaufführungen der zweiten Symphonie (1955) und der Symphonischen Tänze (1962) unter der Leitung von Kyrill Kondraschin. Seitdem tauchte der Name Rachmaninow vielfach in den Programmen der Staatskapelle auf, ab den 1990er Jahren auch regelmäßig in Ballettproduktionen der Semperoper, in deren Rahmen u.a. choreografierte Versionen der Tondichtung »Die Toteninsel« oder des dritten Klavierkonzertes auf die Bühne gelangten. Zum 50. Todestag Rach maninows spielte die Staatskapelle im Ballettabend »Hommage à Rachma ninow« 1993 außerdem die Deutsche Erstaufführung des Operneinakters »Der geizige Ritter«. Die bislang letzte Konzertaufführung des dritten Klavierkonzertes fand 1997 unter Semyon Bychkov mit dem Solisten Yefim Bronfman statt. Das teilweise in Dresden entstandene vierte Klavierkonzert ist in den jetzigen Konzerten erstmals in der Semperoper zu hören. Die mit diesen Konzerten beabsichtigte Doppelwürdigung der Kom ponisten Rachmaninow und Skrjabin dürfte, obwohl beide biografisch mit der Stadt verbunden sind, in Dresden bislang einmalig sein. Umso schöner, dass das Projekt anschließend im Rahmen der »Zeitinsel Rachmaninow | Skrjabin« auch im Konzerthaus Dortmund zu erleben sein wird und dort ebenfalls von der beziehungsreichen Dresdner Musikgeschichte künden wird. T o b i a s N i e d e r s c h l a g 16 17 Kirill P B or i s et r en ko Di r i B er e z o ge vsk y K n t l av Do nner st a g Sergej K la v ie | 1 9.5 .2 0 1 R ach m r kon z e ier 2 | 20 Uhr an i no w r t N r. 3 d-M ol A lexan l op. 3 der Sk 0 Sy mph r jabi n o n ie N r. 3 c » L e D iv Mol l o i n Po è p. 4 3 me « Fr eit ag | 2 0 .5 A lexan .2 0 1 2 | 2 0 U h r der Sk K la v ie r jabi n r kon z e r t f i sMol l o Sergej p. 20 R ach m K la v ie a n i now r kon z e r t N r. 4 g-M A lexan ol l op. d 40 e r Sk r ja » L e Po b i ème d n el ’E x t a s www .ko n z erth a us- d e « op. 54 o r tmu n d .d e 9. SYMPHONIEKONZERT Alexander Skrjabin * 2 5. De z e m ber 1871 (6. Ja n ua r 187 2) i n Mosk au † 1 4 . Ap r i l 1 9 1 5 ( 2 7 . Ap r i l 1 9 1 5 ) i n M o s k a u Symphonie Nr. 3 c-Moll op. 43 für großes Orchester »Le Divin Poème« 1. L ento. Divin, grandiose – »Luttes« (»Kämpfe«): Allegro. Mystérieux, tragique 2. »Voluptés« (»Wollust«): Lento, sublime 3. »Jeu divin« (»Göttliches Spiel«): Allegro. Avec une joie éclatante e n tsta n de n Besetz u ng zwischen 1902 und 1904 in Moskau und in der Schweiz 3 Flöten (3. auch Piccolo), 3 Oboen, Englischhorn, 3 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte, Kontrafagott, 8 Hörner, 5 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug (1 Spieler), 2 Harfen, Streicher u r au f g e f ü h r t am 29. Mai 1905 in Paris (Dirigent: Arthur Nikisch) V e r l ag Schott Music GmbH, Mainz Dau e r ca. 45 Minuten Konzert für Klavier und Orchester fis-Moll op. 20 2. Andante »Le Poème de l’Extase« op. 54 für großes Orchester 3. Allegro moderato (in einem Satz) 1. Allegro e n tsta n de n Besetz u ng e n tsta n de n Besetz u ng zwischen Oktober 1896 und Mai 1897 in Moskau Klavier solo; 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Streicher zwischen 1905 und 1908 in der Schweiz; vollendet im Januar 1908 in Lausanne am 10. Dezember 1908 in New York (Dirigent: Modest Altschuler) 3 Flöten, Piccoloflöte, 3 Oboen, Englischhorn, 3 Klarinetten, Bassklarinette, 3 Fagotte, Kontra fagott, 8 Hörner, 5 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlag zeug (6 Spieler), 2 Harfen, Celesta, Orgel, Streicher V e r l ag V e r l ag Dau e r C. F. Peters, Frankfurt/Leipzig Schott Music GmbH, Mainz ca. 22 Minuten u r au f g e f ü h r t am 11. Oktober 1897 in Odessa (Solist: Alexander Skrjabin, Dirigent: Wassili Safonow) 18 19 u r au f g e f ü h r t Dau e r ca. 28 Minuten 9. SYMPHONIEKONZERT Sergej Rachmaninow * 2 0 . M ä r z 1 8 7 3 ( 1 . Ap r i l 1 8 7 3 ) i n S e m j o n o w, G o u v e r n e m e n t N o w g o r o d † 2 8 . M ä r z 1 9 4 3 i n B e v e r ly H i l l s Wertsteigerung + Musikfreude pur ein Leben lang Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 d-Moll op. 30 1. Allegro ma non tanto 2. Intermezzo. Adagio 3. Finale. Alla breve e n tsta n de n Besetz u ng 1909 in Dresden und Iwanowka Klavier solo; 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug (2 Spieler), Streicher u r au f g e f ü h r t am 28. November 1909 in New York (Solist: Sergej Rachmaninow, New York Symphony Orchestra, Dirigent: Walter Damrosch) V e r l ag Dau e r ca. 40 Minuten Boosey & Hawkes / Bote & Bock, Berlin Konzert für Klavier und Orchester Nr. 4 g-Moll op. 40 1. Allegro vivace 2. Largo 3. Allegro vivace e n tsta n de n Besetz u ng 1926 in New York und Dresden; 1941 revidiert, diese Fassung 1944 posthum von Robert Russell Bennett vollendet und ediert Klavier solo; 2 Flöten, Piccoloflöte, 2 Oboen, Englischhorn, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug (5 Spieler), Streicher u r au f g e f ü h r t Comeniusstr. 99 - 01309 Dresden Tel.: 0351-268 95 15 - Fax: 0351-268 95 16 Flügel - Klaviere - Digitalpianos [email protected] - www.piano-gaebler.de am 18. März 1927 in Philadelphia (Solist: Sergej Rachmaninow, Philadelphia Orchestra, Dirigent: Leopold Stokowski) Dau e r ca. 25 Minuten V e r l ag Boosey & Hawkes / Bote & Bock, Berlin 9. SYMPHONIEKONZERT K l av i e r k o n z e r t m i t A l e x a n d e r Sk r j a b i n u n t e r L e i t u n g v o n S e rg e Ko u s s e w i t z k y. G e m ä l d e vo n Ro b e r t S t e r l (1910 ) Die zwei Wege Alexander Skrjabin und Sergej Rachmaninow scheinen Welten bewohnt zu haben, die sich feindlich umkreisten, deren Sphären sich gar nicht berührten. Generationen von Musikhistorikern leuchtete Skrjabin als ein Ahn der »Neuen Musik« und überglänze Rachmaninow, der als sentimentaler Komponist der Massen und – schlimmer noch! – rückwärtsgewandt im trüben Schatten blieb. Dieses von Ideologie durchdrungene Bild überdeckt zwei überaus faszinierende und tragische Lebensgeschichten. Eigentlich begannen sie ihren Weg wie Zwillinge, geboren auf demselben Planeten. Aber kulturhistorische Gravitationskräfte drängten sie auf ausein anderstrebende Bahnen. In die Zukunft führten sie beide, wohin auch sonst; den etwas fragwürdigen Begriff des »Fortschritts« sollte man bei ihrer Nacherzählung einmal vergessen. 22 23 Beide gingen aus einem völlig homogenen Milieu hervor, einer hauchdün nen kulturtragenden Schicht: dem russischen Adel. Fast alle, deren Namen wir kennen, waren adelig, seien es Autoren oder Komponisten. Allenfalls Tschechow und Tschaikowsky zählten zur verschwindend kleinen Klasse der Bürgerlichen. Manche, wie die Dostojewskis oder Mussorgskis, hatten ihren Wohlstand weitgehend verloren, Familien wie die Strawinskys oder Prokofjews aber waren begütert im Wortsinn. Die Familien unserer beiden Komponisten konnten auf den Großteil ihrer nahezu bäuerlich lebenden Standesgenossen herabblicken in genealogischem Dünkel. Ein Verwandter Rachmaninows fand die Ahnen seines Geschlechts bei den mittelalter lichen Königen Moldawiens; dem alten Adel gehörten auch die Skrjabins an, der Vater vertrat das Zarenreich als Diplomat. Manche dieser Familien erstarrten in konservativem Standesdenken, aber die Lebensmuster waren ins Gleiten geraten. Auch ein Fürst konnte sich als Untergangsprophet oder radikaler Reformer geben. Musische Interessen waren weit verbreitet. Die Kulturelite dieser aristokratisch-bürgerlichem »Intelligenzia« im späten Zarenreich atmete die dünne Luft völliger Entrücktheit von der harten Wirklichkeit der fast 100 Millionen Russen. Die zur Blüte gelangten Künste schufen eine ganz eigene Vision ihres Landes und glorifizerten eine bäuerliche Welt, wie es sie kaum mehr gab. Noch Tolstois Verwandlung in einen Bauern oder der soziale Realismus eines Repin oder Tschechow sind überglänzt von diesem chimärischen Ideal ländlicher Ursprünglichkeit. Die Bauern aber lebten gar nicht mehr inmitten ihrer von den Städtern angebe teten – und weitgehend selbst entworfenen – »Volkskunst«, sie kauften die Massenware der Industrie oder wanderten gleich in die Städte, fortgetrieben von brutal unterdrückten Bauernaufständen. Man würde das Leben des Großgrundbesitzers Rachmaninow missverstehen, sähe man es harmonisch eingebettet in ein unversehrtes ländliches Idyll, das seine Musik in unseren Köpfen erzeugen mag. All das ist sehnsüchtige Illusionskunst einer müden Gesellschaft am Vorabend ihres Untergangs. 1872 kam Alexander Skrjabin zur Welt, 1873 Rachmaninow, und schon 1885 kreuzten sich ihre Wege bei Nikolaj Swerjew. Das war der Klavier pädagoge der Moskauer Eliten. In der klösterlichen Strenge seines privaten Internats sorgte er für pianistische Fundamente aus Granit, und diese Orien tierung auf das Klavier, die beide zu ausgesprochenen Pianisten-Komponisten machen sollte, war etwas Neues in der russischen Musikkultur. Die Generation der Mussorgski und Borodin griff nach den monumentalen Formen und gro ßen Apparaten – die Beschwörung der mächtigen Russlandvision verlangte nach entsprechendem Klang. Das Klavier spielte nur eine Nebenrolle. Beiden gelang der Eintritt ins Moskauer Konservatorium mühelos. Auch dort war ein neuer Geist eingezogen. Hatte Mussorgski auf der Suche nach seinen Ursprüngen Bach noch als »Komponiermaschine« verspotten 9. SYMPHONIEKONZERT Stil« etablieren könnte. Kräfte, die ihre Wege auch überschatten sollten. Bedenklich dunkel gefärbt war die Gefühlswelt ihrer Musik von den ersten Takten an. Wer das Russland dieser morschen Jahre betrachtet, wird die seelische Labilität überfeinerter Künstlerseelen kaum der modischen »Neu rasthenie« zuschreiben wollen oder einer genussvoll kultivierten Fin-desiècle-Stimmung. Kunst hatte sich einer echten Endzeit zu stellen, und die Verächter Rachmaninows haben leider nie zugegeben, dass sein Frühwerk diese Endzeit in erregenderer Weise reflektierte als jenes Skrjabins, der sich in Chopins Salons zurückträumte. Das Scheitern seiner ausgesprochen kühnen ersten Symphonie verschüttete diese Perspektive für immer. Ein ausgeprägter Zug seines Temperamentes übernahm allmählich die Herr schaft. Je brüchiger Rachmaninows Welt wurde, desto mehr schien er sich in den heimatlichen Boden einwurzeln zu wollen und seiner Musik einen russisch-volkstümlichen Geist einzuhauchen. Dass er sein Leben lang eine große Befriedigung beim Pflanzen von Bäumen fand, passt schön in dieses Bild. Sein Element ist die Erde. Skrjabin, der Luft- und Feuergeist, reagierte ganz anders auf den drohenden Zusammenbruch des Zarenreichs. »Weg vom Zentrum, ewig weg vom Zentrum, mit stürmischem Streben«, schrieb er 1905. Die Chronologie der Kompositionen dieser kleinen Werkschau führt uns zunächst auf seinen Weg. Weg vom Zentrum – Skrjabin »Klüger als Chopin?« – Das Klavierkonzert fis-Moll op. 20 (1896) genialer exzentr ik er mit messianischem Eifer: A l e x a n d e r Sk r j a b i n ( u m 1 9 1 2 ) können, erwarb die russische Schule mit Männern wie ihrem strengen Kontrapunktlehrer Tanejew eine höhere Balance zwischen – durchaus ar tifizieller – Urwüchsigkeit und abendländischer Satzkunst. Rachmaninow verließ das Konservatorium mit der »großen«, der aufsässigere Skrjabin nur mit der »kleinen« Goldmedaille. Mit perfekter Spiel- und Kompositions technik wurden sie in eine Kultur geworfen, die dem Neuen, Unbekannten entgegenströmte. Der vertraute Boden schwankte, Kunst und Leben der »Zwei« waren Kräften ausgesetzt, denen sich ihre Musik nicht entziehen konnte in die schöne ästhetische Autonomie, in der man einen »klassischen 24 25 Skrjabin war 24, als er sein einziges Klavierkonzert schrieb. Komponiert hatte er schon Préludes, Etüden, Nocturnes, Walzer, Mazurken und Im promptus – diese Girlande Chopin nachfolgender Gattungen verrät, in wes sen Spuren der junge Ästhet wandelte, der als Jüngling angeblich nicht ohne eine Ausgabe Chopinscher Musik unter dem Kopfkissen einschlafen konnte. »Ein dünner Chopin-Aufguss«, urteilte der spätere Freund und Deuter Leo nid Sabanejew über das Frühwerk. Seine Erinnerungen, erst vor einigen Jahren ins Deutsche übertragen, zeichnen übrigens ein so fesselndes Bild des exzentrischen Komponisten, dass man sie kaum mehr aus der Hand legt. Ganz so kritisch gehen wir heute nicht mehr mit der chopintrun kenen Musik des jungen Skrjabin um. Ihre Wurzeln nähren sich, ohne den Umweg über Wagner zu gehen wie die meisten Zeitgenossen, an den visio nären harmonischen und kontrapunktischen Kühnheiten seines Vorbildes. 9. SYMPHONIEKONZERT »Er ist klüger als Chopin«, orakelte sein Lehrer Safonow, stolz darauf, wie mächtig Chopin den harmonischen Genius seines Schülers anregte, der schon in seinen frühen Stücken Gewebe entwarf, in denen sich noch die flüchtigsten Stimmungen und Farbwerte verfingen. Mit den Jahren bedeutete ihm aber nicht einmal mehr Chopin et was, Bach, Mozart und Beethoven ohnehin nicht. Alle waren bloße Vorstu fen zu – ihm. Von ihm ist indes noch fast gar nichts in diesem Klavierkonzert, keine Spur der Ich-Vergottung, Ekstase und Welterlösung. In späteren Jahren pflegte er ein etwas paradoxes Verhältnis zu seinem Klavierkonzert – er spielte es, weil die Veranstalter es hören wollten, aber mit Murren: »Es passt mir nicht, mit einem Jugendwerk aufzutreten«. So musste er um seiner Selbstachtung willen das Werk als eine Art »Vorstu fe« zu den späteren harmonischen Experimenten erklären und betonte seine komplexe Struktur – er sprach gern von »Prinzip«. Der Anfang sei aus sche matisch absteigenden Terzketten gebaut, E-D-Cis, D-Cis-H, und so weiter, eine Struktur, die auch die weiteren Themen und Sätze organisiere. Es ist aber gar nicht dieses Prinzip, das den Hörer sofort für das Stück einnimmt, sondern die lyrische, versonnen sich hineintastende Bewegung seines Solo beginns, der nicht virtuos auftrumpft, sondern sich ganz dem Geist seines pianistisch delikaten Schöpfers anpasste. Der muss diesen Beginn unnach ahmlich gestaltet haben: »Skrjabin berührte die Tasten, als küsse er sie, und seine virtuose Pedalführung umhüllte die Klänge mit einer geheimnisvollen Resonanzschicht«, erinnerte sich Sabanejew, einmal etwas gnädiger. Das Finale kommt dem Stil des vertrauten Virtuosenkonzertes am ehesten entgegen. Die über die Tastatur geworfene Girlande des Themas gehört noch zum Zierrat des 19. Jahrhunderts. Wenn er später ein mysti sches Klavierstück »Guirlandes« nannte, dachte er an den Tanz elementarer Teilchen in einer aller Tradition entrückten Sphäre. Der Weg dorthin war noch weit. Das Konzert stellte Skrjabin vor ein Problem, das ihn sein Leben lang verfolgen sollte. So vollendet er den Pianisten in die Hand schreiben konnte, er tat sich schwer, orchestral zu denken. Er suchte Rat bei RimskiKorsakow, der seinem Kollegen Ljadow wenig freundliches über Skrjabins Künste mitteilte: »Lieber Anatoli! Sehen sie diese Sudelei durch; ich habe es getan. Vieles verstehe ich nicht, und überhaupt geht es über meine Kräfte. Ich bin nicht in der Lage, mich mit diesem Schwachsinn abzugeben. Der Au tor sollte dieses Werk lieber für zwei Klaviere herausbringen, dann könnte es ihm irgendwer instrumentieren.« Das war hart, aber etwas Wahres war daran. Eigentlich übersetzte Skrjabin bis zum Schluss die Texturen des ge liebten Klaviers in immer gewaltigere Partituren, ohne die Herrschaft über den Orchesterapparat ganz zu gewinnen. 26 27 Progr a m m z e t t e l de r Dr esdn e r E r stau f f ü h ru ng von »L e D i v i n P oè m e « u n t e r e r n s t vo n s c h uc h ( 2 6 . Ja n ua r 191 2) »Ich bin!« – Symphonie Nr. 3 c-Moll op. 43 »Le Divin Poème« (1902-04) Um 1900 begann Skrjabin »mit stürmischem Streben« alle Konventionen abzustreifen. Von nun bedeutet seine Musik etwas, selbst das kleinste Pré lude. Alles hat verborgenen, programmatischen Sinn, und das Verborgene drängte zur Sprache, schon der Titel Poem verrät es. Für Skrjabin aber konnte es nur ein Programm geben – die Schilderung der Entfaltung seines schöpferischen Bewusstseins. Dieser Prozess empfing einen mächtigen Anschub durch seine zweite Frau Tatjana de Schloezer, die den Kompo nisten vergötterte und ihm in geistige Bereiche folgte, die seiner ersten, pro 9. SYMPHONIEKONZERT saischeren Gattin Vera nicht gefielen. Auf Tatjana auch geht ein von ihrem Gatten autorisiertes Programm der Symphonie zurück: »Der erste Satz des Poème divin, ›Luttes‹, schildert den Kampf zwi schen dem durch eine personifizierte Gottheit versklavten Menschen und dem freien Menschen, der die Gottheit in sich trägt. Dieser bleibt siegreich, aber sein Wissen ist noch zu schwach, die eigene Göttlichkeit zu verkünden. Er stürzt sich in die Wonnen der sinnlichen Welt. Das ist der Inhalt des zweiten Satzes, ›Voluptés‹. Da erwächst ihm vom Grunde seine Seins erhabene Kraft, die ihm hilft, seine Schwäche zu überwinden, und im letzten Satz ›Jeu divin‹ gibt sich der seiner Fesseln ledige Geist der Freude des freien Daseins hin.« Der Mensch, der die Gottheit in sich trägt, ist natürlich kein anderer als der Komponist, der hier eine Art theologisch-mystisch gefärbtes Heldenleben in drei Akten erzählt. Doch das verborgene Programm durchbricht die musika lische Oberfläche dieser Symphonie nicht – ohne das zitierte Textfragment würden die Hörer nicht einmal ein Programm ahnen. Am ehesten weisen eigenartige Vortragsanweisungen wie »monstrueux, terrifiant« oder das prä gende »divin« (»göttlich«) auf ein unterschwelliges Geschehen, das ein Ka pellmeister nicht mehr unmittelbar in Orchesterklang verwandeln kann. Dieser Klang blieb ein schwieriges Thema. Immer noch überträgt er Klaviertexturen in einen immer gewaltigeren Apparat: hier sind es acht Hörner, fünf Trompeten, drei Posaunen und Tuba allein im Blech. Sein wie meist gnadenloser Freund Sabanejew beklagte, dass einem statt angestreb ter Grandiosität oft nur »klebrige Klangmasse« entgegentöne. Der ausgedehnte erste Satz, die »Kämpfe«, beginnen mit einem mot toartigen Vorhang, der das zweigliedrige »göttliche« Thema vorstellt. Das an Liszts Dante-Symphonie erinnernde Posaunenmotiv mündet in einen dis sonanten Akkord, aus dem eine Fanfare der Trompeten aufschießt. »Dieses Thema scheint zu sagen: Ich bin.« Die Charakterisierung prägte sein Schwa ger Boris de Schloezer. Skrjabins Empfänglichkeit für die Einflüsterungen seines ergebenen »kleinen Kreises« war erheblich, auch diese Formel gefiel ihm derart, dass er sie im späteren »Poème de l’Extase« in der gleichen thematischen Funktion einsetzte. Wann immer man also das markante Uni sono der Posaunen oder den Trompetenstoß hört, hat sich Skrjabin in seine Partitur einkomponiert. Wer diesem über allem schwebenden Motto, Thema und Leitmotiv folgt, dem öffnet sich das ausgedehnte Werk eigentümlich leicht, auch wenn die drei Sätze ineinander verwachsen sind. Den Übergang zu den »Wollüsten« markiert sein recht entschiedener Fortissimo-Auftritt. In diesem zweiten Satz sinken die etwas erschöpfteren Trompetensignale in einen ziemlich wagnerischen Klang – die »limpide« überschriebene Stelle zitiert Wagners Waldvöglein nahezu wörtlich. Das Finale »fliegt« dann der Apotheose des regenerierten Themas geradezu entgegen. Im wirklichen Leben traf die Selbstvergottung auf Hindernisse. 28 29 Während der Arbeit an dieser Symphonie hatte sich der Komponist an den Ufern des Genfer Sees niedergelassen. Seine Überspanntheit steigerte sich, auch durch übermäßigen Alkoholgenuss, bis zum messianischen Wahn. So schloss sich Skrjabin den Fischern an und wollte vor ihnen über den See schreiten. Seine »Jünger« retteten den zweiten Christus. Die einmal auf dem Klavier vorgetragene Symphonie war ihnen aber nur »Lärm«. Man lache nicht. Es zog ihn fort aus einer Welt, in der sein schwär merischer Sinn ständig zu zerbrechen drohte an den Geldsorgen, Bettelbrie fen, dem ganzen Handwerk des Lebens, das ihn überforderte. Immerhin, in einem weiteren in der Schweiz komponieren Werk erreichte er eine deutlich weitere Flugbahn. »Und es hallte das Weltall« – »Le Poème de l’Extase« op. 54 (1904-07) Das »Poème de l’Extase« gründet auf einer eigenen Dichtung Skrjabins. Über mehr als 360 Verse erzählt er – noch einmal – vom Kampf eines ver gotteten Ichs mit den dunklen Mächten der Verneinung. »Poème orgiaque« sollten Gedicht und Musikstück ursprünglich heißen, ein dem Verfasser bald etwas heikler, allzu erotischer Titel. Der Text ist schwach, das Wort entzog sich dem Poeten des Kla vierklangs. Vor allem lähmt eine bleierne, geradezu verzweifelte Wieder holungssucht den ersehnten Gedankenflug. Doch sobald der Komponist »übernimmt«, scheinen sich die am Boden in ihren engen Kreisen festge pflockten Themen der Dichtung zu lösen und aus ihrer Bahn auszubrechen. »Anderes! Neues!«, ruft der Poet, und der Musiker löst es ein. Harmonisch hat er sich von den spätwagnerischen Klängen der dritten Symphonie völlig gelöst. Dies ist etwas »Neues«. Mag auch eine von den Analytikern mühsam ausgegrabene Sonatenform Spuren der kreisenden Gestalt der Dichtung aufgenommen haben, mag Skrjabin auch die musikalischen Motive nach jenen der Dichtung benannt haben, erlebt man diese Musik, als beschreite man eine riesige Treppe, auf jedem Absatz weitergetrieben ins gleißende Licht. Der Tagebuchsatz »Weg vom Zentrum, ewig weg vom Zentrum, mit stürmischem Streben«, hier wird er Klang. Aus den parfümierten Nebeln des Beginns schälen sich sinnliche Themen der Flöte und der Klarinette heraus, das »Thema der Sehnsucht«, »zwei symmetrische Seufzer, die der Melodie des Schmachtens, dem Durst nach Leben Nachdruck geben« – so Skrjabins Worte, und das »Traumthema« (»Dort im Lichte seines Träumens formt sich eine Zauberwelt«). Energie geladenere Motive durchbrechen diese schwüle Dämmerung, zunächst ein schnarrendes Rumoren im Blech: »Drohende Rhythmen düsterer Ahnungen dringen rauh in die Zauberwelt ein«. Und dann betritt der »Held« mit sei 9. SYMPHONIEKONZERT nem Trompetenthema die musikalische Bühne, »Avec une noble et douce majesté«, wie die Partitur schreibt. Dieses »Thema der Selbstbehauptung«, ein weiteres komponiertes Selbstbildnis, drängt sich als unangefochtenes Hauptthema vor. Mit jeder Wiederkehr scheint es strahlender und ungreif barer über dem Wimmeln thematischer Wandlungen zu schweben, als sei es auf ein höheres Energieniveau gesprungen. In Wellen steigert sich die Ton dichtung einem C-Dur-Hochplateau entgegen, auf dem sich das »Thema der Selbstbehauptung« in riesenhafter Vergrößerung aufpflanzt. »Und es hallte das Weltall vom freudigen Rufe: Ich bin!«, endet das Gedicht. Es fiel dem übersteigerten Ich nicht leicht, aus diesen Höhen ins ba nale Leben herabzusteigen. »Er allein erwartete, dass nach der Aufführung des Poème irgendjemand hier und jetzt in Extase ersticken würde. Aber in Wirklichkeit gingen wir alle, Skrjabin eingeschlossen, in ein Restaurant, wo wir gut und mit Vergnügen aßen«, erinnerte sich sein Förderer Serge Kussewitzky. Dass dieses unerhörte Orchesterwerk letztlich nicht mehr sein würde als ein mitreißendes Repertoirestück, quälte den Komponisten: »Schrecklich, nichts als ein Komponist von Sonaten und Symphonien zu bleiben«, schrieb er gegen Ende seines Lebens. Ein maßloses Projekt sollte den Ausweg erzwingen. »Das Mysterium – oder der Tod«. Über Jahre quäl te er sich mit diesem synästhetischen Kunstwerk. »Begründet aus meiner Stellung im Weltall, die der Gipfel der allumfassenden Erkenntnis ist« – so formulierte er es in seinen »Prometheischen Phantasien«, werde er »die letzte Ekstase« ausrufen, die »Nacht Brahmas«. In einem in Indien eigens erbauten Tempel sollte das Gesamtkunstwerk der Welterlösung erklingen. Es war von diabolischer Komik, dass ausgerechnet ein Furunkel unter dem mit der Sorgfalt eines Dandys gepflegten Schnurrbart dem Erlösungswerk ein frühes Ende bereiten sollte. Dem genialen Exzentriker blieb es erspart, an seinem Größenwahn zu zerbrechen. Kein Weg zurück – Rachmaninow Vielleicht hatte erst die Lebenskatastrophe, das Scheitern seiner revolutio nären ersten Symphonie, Rachmaninow auf den Weg gelenkt, auf den ihn sein Temperament zog. Den modernistischen Experimenten seines Kollegen Skrjabin, mit dem er ein äußerlich freundliches Verhältnis pflegte, stand er befremdet gegenüber. Er war nach einer Art Psychotherapie aus der Schaf fenslähmung aufgetaucht, ohne die Selbstzweifel ganz zu überwinden. Erst einmal würde er nichts mehr wagen. Rachmaninow hatte sich arrangiert mit der Musikwelt, bekleidete Ämter und gefiel dem Publikum. 30 31 D a s E h e pa a r R a c h m a n i n o w i n D r e s d e n ( 1 9 0 7 ) Mit Lust fügte er sich in das Kreisen des erdgebundenen Jahreslaufs, fuhr mit einem großen Wagen über die schlammigen Wege des Gouvernements Tambow, ritt die Pferde ein und half seinem Schwiegervater bei der Rettung des überschuldeten Guts Iwanowka – ganz altrussischer Aristokrat. Dieser entlegene Ort war sein heiliger Boden. »Anstelle des grenzenlosen Meeres gab es endlose Weizen- und Roggenfelder, die sich bis zum Horizont er streckten«, erinnerte sich der exilierte Rachmaninow wehmütig. 9. SYMPHONIEKONZERT S i g n i e r t e K a r t e m i t R a c h m a n i n o w- P o r t r ä t v o n R o b e r t S t e r l ( 19 0 9 ) u n d d e m B e g i n n d e s d r i t t e n K l av i e r k o n z e r t e s i n R a c h m a n i n o w s H a ndschr ift Der komponierende Gutsherr – Das Klavierkonzert Nr. 3 d-Moll op. 30 (1909) Es gibt ein berühmtes Foto, auf dem wir Rachmaninow auf einer Holzbank vor einem weißlackierten Tisch sitzen sehn. Dahinter ahnt man einen halbver wilderten Garten mit Stockrosen. Es ist Spätsommer 1909, der Gutsherr auf Iwanowka korrigiert in diesem Tschechow-Tableau sein neues Klavierkonzert. Die schlichte Melodie, mit der es beginnt, scheint diesem Idyll zu entströmen wie ein Volkslied, herübergeweht in den Park. Ein Musikwissenschaftler wollte seine Herkunft aus einem altrussischen liturgischen Gesang nachwei sen. »Es schrieb sich einfach von selbst!«, antwortete Rachmaninow, ein we nig ungehalten über diese Suche nach dem Traditions-Mutterboden, in dem seine Erfindungen wurzeln sollten. Ungehalten, warum die Hörer nicht ver standen, dass dieses musikalische Tableau ländlicher Melancholie ein Kraft akt seiner Imagination war. Denn da war längst nichts mehr, das ihm hätte zuwehen können, der Einklang mit der bäuerlichen, urrussischen Umgebung war eine Illusion. Auch in diesem entlegenen Winkel ging Rachmaninows Welt ihrer völligen Auslöschung entgegen. Schon bei den Bauernunruhen 1905 wurden 3000 (!) Gutshäuser eingeäschert. Iwanowka entging dem Infer no. Der Komponist aber wusste, dass dieses späte Idyll längst dem Untergang geweiht war, und dieses Bewusstsein durchdrang den Stil seiner Musik. Der erste Satz dieses oft in etwas anbiedernder Vertraulichkeit »Rach 3« genannten, durch den Film »Shine« zu fragwürdiger Berühmtheit gelangten Werkes öffnet dem Solisten, während er sein kontrapunktisches Filigranwerk häkelt, einen Horizont lyrischer Weite, der weder Konflikte 32 33 noch jene berüchtigten Schwierigkeiten ankündigt, die ihm den Ruf eines unspielbaren »Konzerts für Elefanten« eintrugen. Es ist die Durchführung und die anhängende Solokadenz, die mit geradezu brutalen Energien in die pastorale Klanglandschaft einbricht. Zwei Versionen schrieb der Komponist, die den Zusammenhang nahezu sprengende längere, äußerst vertrackte Variante hört man heute öfter. Sie mündet in eine Kaskade dröhnender Akkorde, in denen man das geradezu deformierte volksliedhafte Thema wiedererkennt. Von dieser Erschütterung erholt sich der Satz nicht mehr, in verdämmernden Arpeggien rieselt er seinem Ende entgegen. Seine Themen aber werden weiterleben in den folgenden beiden Sät zen, eingeknüpft in eine immer dichtere Textur, die sich mit Erinnerungen und Geschichte aufzuladen scheint. Eine Verdichtung hört man den vier Va riationen des langsamen Satzes auch an, die ein dunkles, geradezu verzwei feltes Thema in ein immer komplexeres kontrapunktisches Gewebe hüllen. Man bemerkt allerdings kaum, wie häufig dabei Fäden aus dem ersten Satz eingewoben sind; in irgendeiner Stimme versteckt sich das Thema immer, selbst in den sehr freien solistischen Überleitungen. Nur der Partiturleser wird das ganze Maß der Mutationsfähigkeit der Themenzitate in ihrem unter irdischen Fluss durch die Weiten des Konzertes wahrnehmen. Rachmaninows subtile thematische Arbeit ist allerdings nicht den Mandarinen der Analyse zugedacht – auch wenn es ihm Genugtuung gewesen sein dürfte, ihnen hier ein vollendetes Exempel seiner Satzkunst vorzulegen. Sie hat eine erzähle rische Funktion. Das Werk verharrt nicht in dem retrospektiven Idyll, das der Anfang verspricht, es scheint vielmehr dessen flüchtige Natur zum verbor genen Thema zu machen, und so »erleiden« seine Themen eine dramatische Intensivierung, die einem auf den letzten Seiten des Konzertes den Atem raubt. Die innere Spannung zieht fast unerträglich an, das Orchester schweigt, und in die Stille dröhnt das erregte Hämmern des Solisten, unter dessen Händen nichts anderes zersplittert als das Thema, mit dem alles begonnen hatte. Die »russische Weise« ist ihrer gewalttätigen und zugleich ekstatischen Zertrümmerung zugeführt worden. Bildet man sich zu viel ein, in dieser un terschwelligen Erzählung eine ahnungsvolle Reflexion zu hören? Noch acht Jahre waren Rachmaninow geschenkt, sich als Gutsherr alten Stils um die Aussaat zu kümmern und zaghafte technische Erneuerungen anzubringen in den unendlichen Weiten dieses Meeres aus Kornähren. Der Entwurzelte – Das Klavierkonzert Nr. 4 g-Moll op. 40 (1926-41) 1915 starb Skrjabin. Er sollte nicht mehr erleben, was die Zukunft bringen würde. Rachmaninow aber war verurteilt, die Kulturdämmerung zu durch leiden. Dass seine Bauern 1917 tatsächlich versuchten, sein Herrenhaus in 9. SYMPHONIEKONZERT Brand zu setzen, erschütterte ihn, auch wenn er es längst geahnt hatte. Die Zeit der müden Tschechow-Figuren auf ihren Landsitzen war abgelaufen. Er kehrte nie wieder zurück. Dieser Verlust war die Wunde, die sich niemals schließen sollte. Noch einmal musste sich Rachmaninow neu erfinden. Komponierend konnte er sich und seiner Familie den angemessenen hocharistokratischen Lebensstil nicht erhalten. Aber als Klavierspieler gelang es ihm. Er wurde eine Sensation, reiste in einem eigenen Eisenbahnwagen durch die USA, und doch fraß die Wunde. Er versuchte sein Russland überallhin mitzunehmen. Sein Haus in der Schweiz, auch die späteren Residenzen in Amerika waren nostal gische Beschwörungen der Gutsherrlichkeit. Nur russisches Personal bedien te, servierte russische Speisen, und auch unter seinen Gästen zog Rachmani now seine exilierten Landsleute vor, mit denen er das Schicksal des vollstän digen Verlustes teilte. Die unendlichen 27 Jahre, die ihm noch blieben, waren zwanghaft retrospektiv. Es ist nicht allein das Heimweh an einen Ort, es war das vielfach verstärkte Heimweh nach einer ganzen Lebenswelt, die ausgetilgt war in einer Totalität, die neu war in der Geschichte. Musste diese Perspektive nicht zwangsläufig ihre Spuren in der Musik hinterlassen? Nur sechs Werke schrieb Rachmaninow in diesen langen Jahren, und das Publikum folgte der Kritik und Musikliteratur willig in dem Urteil, diese Musik zeuge vom Versiegen der Inspiration und sei doch aus der Zeit gefallen auf ihrer Suche nach der verlorenen Welt. Irgendwann aber musste wohl auch der ganze gegen Rachmaninow gerichtet Hass musikalischer Fortschrittsideologen verstummen, und man begann sich zu wundern, dass sich auch der melancholische Gutsherr im Exil auf die Suche nach seiner »Zukunftsmusik« gemacht hatte. Fäden verbinden das vierte Konzert mit Iwanowka. Dort Skizziertes nahm Rachmaninow mit in die Fremde, wo es über Jahre liegenblieb. Zwei fel und quälende Umarbeitungen prägen die Entstehungsgeschichte dieses Werkes, als sei es entworfen, der zerbrochene Spiegel eines zerbrochenen Lebens zu werden, schwankend zwischen fast destruktiver Melancholie und einer bis heute unterschätzten Kraft, sich auf seinem kompositorischen Weg zu entwickeln. 1926 schrieb er, verunsichert von der Länge des Entwurfs, dem Widmungsträger Nikolaj Medtner: »Wie der ›Ring‹ wird mein Konzert an mehreren Abenden hintereinander aufgeführt werden müssen.« Nach der Uraufführung im März 1927 in Philadelphia musste er lesen, das Werk sei »Supersalonmusik«, schwülstig und geschmacklos, und die Reihe schmerz hafter Operationen begann. Rachmaninow schnitt ganze 110 Takte hinaus. Aber dem coupierten Werk war immer noch kein Erfolg gegönnt. Entmutigt legte er das Stück zur Seite, um es erst 1941 zu revidieren, wobei allein das Finale weitere 78 (!) Takte verlor. Mit der Bevorzugung dieser letzten Fas 34 35 S c h i c k s a l d e s vo l l s t ä n d i g e n v e r l u s t e s : R a c h m a n i n o w i n D r e s d e n ( u m 19 2 5 ) . f o t o vo n U r s u l a R i c h t e r sung bestätigt man Rachmaninow in seinen fast autodestruktiven Eingrif fen – auch seine zweite Sonate zerhackte er geradezu in seiner Kürzungs wut –, und doch stehen, so seltsam das klingt, diese Eingriffe dem neuen, radikalisierten Geist seines Komponierens gar nicht entgegen, denn der Komponist trennte sich fast nur von ruhigen, versonnenen Episoden. War das dritte Konzert ein organisches Gewebe sich wandelnder Themen, stellt sein Nachfolger die Brüche und Stimmungswechsel geradezu heraus. Diese Musik bricht schon in den allerersten Takten im wahrsten Sinne mit den Er wartungen, die sein Vorgänger geweckt hatte. Sang sich das dritte Konzert sanft in seine Volksliedweise ein, stampft der Solist hier mit massigen Ak korden los, die das trügerische wiegende D-Dur des Orchesters entschieden abstreifen, der Grundtonart g-Moll entgegen. Ein derart geballter Klavier 9. SYMPHONIEKONZERT satz war bisher für die Höhepunkte aufgespart. In einer beispiellos aufge türmten Durchführung verdichtet er ihn tatsächlich noch weiter. Ihr in meh reren Steigerungswellen erreichter Gipfel überragt in seiner hypertrophen Vollgriffigkeit die Höhepunkte der vorangegangenen Konzerte weit. In einer ausschwingenden Glocken gleichenden Bewegung scheint der Satz seinem Ende entgegenzudämmern, doch jenes Behagen an zelebrierter Entkräf tung, das sich der frühere Rachmaninow gestattete, wischt er spätestens mit dem viel kritisierten Schockeffekt des Schlusses brüsk hinweg. Für knappe sechs Takte springt er in den Dreiertakt und endet mit synkopischen Schlä gen, die sein Arbeiten mit hart zusammenstoßenden und knappen Themen regelrecht symbolisieren. Das Finale reizt die scharfen Kontrastwirkungen noch weiter aus. Das beängstigend schwierige, dornige Thema des Soloparts wird vom Or chester mit einer beim späten Rachmaninow erwachten Lust am Konzertie ren aufgenommen, die den eher symphonisch verflochtenen früheren Kon zerten weitgehend fehlte. Im zweiten Themenfeld streiten sich Orchester und Solist, bis letzterer regelrecht niedergestreckt und zum Schweigen gebracht wird und dem Orchester für elf Takte das Feld überlässt. In matten Terzen erhebt sich das Piano, um in unerhörtem rhythmischen Sog der Wiederauf erstehung des Kopfsatzthemas entgegenzustürzen. Die grellen, geradezu vergifteten Harmonien dieses Schlusses färben sein G-Dur in zweifelhaftes, apokalyptisches Licht. Der Musikwissenschaftler Max Harrison spricht vom hässlichen Entlein, das sich nach Jahrzehnten der Missachtung endlich als schöner Schwan zu erkennen gegeben habe – als schwarzer, finde ich. Das Vierte ist das dunkelste seiner Klavierkonzerte geworden, aber auch das hintergrün digste. Ein unheimlicher Hauch geht durch seine bitteren, manchmal trüben Harmonien. Wie man diesen Aufbruch in die Moderne salonhaft oder ana chronistisch finden konnte, bleibt ein Rätsel. Der Pessimismus, die tiefe Melancholie Rachmaninows und der ekstatische Messianismus Skrjabins – sie teilten sich, auch wenn sie sich noch so fremd gegenüberstehen, eine eschatologische Perspektive: das Bewusstsein um das Leben in einer Spätzeit. Das Weltende würde kommen. Es ist von bitterer Ironie, dass Skrjabin, der in seinem späten, selbst von seinen Freunden belächelten Wahn glaubte, diesen Weltenbrand er zeugen zu können, das zweifelhafte Privileg der Zeitzeugenschaft abtreten musste an den in seiner Erde so liebend verwurzelten Rachmaninow, der das Unheil geahnt, aber wahrlich nicht ersehnt hatte. Beider Werk aber spie gelt auf singuläre Weise eine Endzeit. M a t t h i a s K o r n e m a n n 36 37 etzen Sie Akzente... ...mit original Merchandise aus der Staatskapelle Dresden Edition Exklusiv: Herrenkrawatte der Kapellmitglieder Alle Produkte im Shop der Semperoper oder online erhältlich. staatskapelle.semperoper-erleben.de shop.semperoper-erleben.de Tel.: 0351 320 736 16 9. Symphoniekonzert 2011 | 2012 Orchesterbesetzung 1. Violinen Flöten Trompeten Hermann Menninghaus* Sabine Kittel Tobias Willner 1. Konz e rt m e i st e r Solo Solo Solo Michael Eckoldt Jörg Faßmann Federico Kasik Christian Uhlig Volker Dietzsch Johanna Mittag Jörg Kettmann Susanne Branny Birgit Jahn Martina Groth Roland Knauth Anselm Telle Sae Shimabara Renate Hecker Lenka Matejáková** Andreas Schreiber Anya Muminovich Michael Horwath Uwe Jahn Ulrich Milatz Ralf Dietze Susanne Neuhaus Juliane Böcking Milan Líkař Elke Bär* Floria Kapitza* Cordula Bräuer Maurizio Simeoli* Dóra Varga** Peter Lohse Siegfried Schneider Volker Stegmann Sven Barnkoth 2. Violinen Violoncelli Christopher Franzius* Konz e rt m e i st e r Friedwart Christian Dittmann Solo Heinz-Dieter Richter Simon Kalbhenn Konz e rt m e i st e r Solo Frank Other Annette Thiem Stephan Drechsel Jens Metzner Ulrike Scobel Olaf-Torsten Spies Alexander Ernst Mechthild von Ryssel Emanuel Held Holger Grohs Kay Mitzscherling Martin Fraustadt Paige Kearl Martin Jungnickel Bernward Gruner Jörg Hassenrück Jakob Andert Anke Heyn Matthias Wilde Henriette Neubert* * als Gast * * Ak a d e m i s t 38 Bratschen Roland Straumer 39 Kontrabässe Andreas Wylezol Solo Petr Popelka Helmut Branny Christoph Bechstein Fred Weiche Reimond Püschel Johannes Nalepa Yamato Moritake Oboen Céline Moinet Solo Andreas Lorenz Sibylle Schreiber Michael Goldammer Klarinetten Wolfram Große Solo Egbert Esterl Jan Seifert Christian Dollfuß Fagotte Joachim Hans Solo Hannes Schirlitz Joachim Huschke Andreas Börtitz Hörner Jochen Ubbelohde Solo Robert Langbein Posaunen Uwe Voigt Solo Guido Ulfig Lars Zobel Tuba Jens-Peter Erbe Solo Pauken Thomas Käppler Solo Schlagzeug Christian Langer Frank Behsing Jürgen May Stefan Seidl Conrad Süß* Simon Lauer* Harfen Solo Vicky Müller Andreas Langosch Harald Heim Manfred Riedl Miklós Takács Eberhard Kaiser Klaus Gayer Solo Astrid von Brück Solo Celesta / Orgel Jobst Schneiderat 9. SYMPHONIEKONZERT Vorschau 10. Symphoniekonzert S o n n t ag 6 . 5 .1 2 11 U h r M o n t ag 7. 5 .1 2 2 0 U h r D i e n s t ag 8 . 5 .1 2 2 0 U h r Se m peroper dr esden Sir Colin Davis Dirigent Nikolaj Znaider Violine Jonathan Biss Klavier Kostenlose Einführungen jeweils 45 Minuten vor Beginn im Opernkeller der Semperoper I mpress u m Sächsische Staatsoper Dresden Intendantin Dr. Ulrike Hessler Spielzeit 2011|2012 Herausgegeben von der Intendanz © April 2012 R edak t ion 6. Mai 2012: Wolfgang Amadeus Mozart »Serenata notturna« D-Dur KV 239 Violinkonzert D-Dur KV 218 Symphonie g-Moll KV 550 Janine Schütz G es t alt u ng u nd L ay o u t B ildnac h weise Kirill Petrenko: Matthias Creutziger; Boris Berezovsky: David Crookes / Warner Classics; Gemälde und Zeichnungen Robert Sterl (außer S. 22): Robert-Sterl-Haus, Naundorf; Danksagung Rachmaninow, Foto Ursula Richter: SLUB / Deutsche Fotothek; Ölgemälde Sterl S. 22: Galerie Neue Meister / Staatliche Kunstsammlungen Dresden; alle übrigen Abbildungen: Archiv der Sächsischen Staats oper Dresden Te x t nac h weise Die Texte von Dr. Matthias Kornemann und Tobias Niederschlag sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. Urheber, die nicht ermittelt oder erreicht werden konnten, werden wegen nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. schech.net Strategie. Kommunikation. Design. D r u ck Union Druckerei Dresden GmbH Private Bild- und Tonaufnahmen sind aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet. A nzeigen v er t rieb Keck & Krellmann Werbeagentur GmbH i.A. der Moderne Zeiten Medien GmbH Telefon: 0351/25 00 670 e-Mail: [email protected] www.kulturwerbung-dresden.de 11 u h r s e mp e r op e r 7. und 8. Mai 2012: Wolfgang Amadeus Mozart »Serenata notturna« D-Dur KV 239 Klavierkonzert d-Moll KV 466 Symphonie g-Moll KV 550 Tobias Niederschlag M i t arbei t 10. Jun i 2012 Ben ef i Bu n d zkonz ert espr äs de i den t s en C h r i st T h iele i a n ma n n Di r ig ent A nton B r u S ymp c k ner hon i e Nr. 8 cM oll WA B 1 0 8 Im A n s c h lu s s an d Jo a c h as Kon i m Ga z e r t la uc k u n F r e is ta den B d der a te s S u ndes M i n is ach se p r ä s id E m p fa te r p r ä n , S ta ent ng ei n s id e n t n is la w . des T i l l ic h , z u ei Der B n e m enef i z e rl ö s k z u r Un om mt te r s t ü » W e l lc t z u ng ome «, ju n g e ei nem r Fa m T ick e P r o je k i l ie n , ts zu. t Sch i n k e lw ac h e Telef am Th o n (0 e at e 3 51 ) 4 b e st e r pl a 9 117 0 llu n tz 5 g@se mp e r op e r .d e www. staat skapelle-dresden.de PA R T N E R D E R S TA AT S K A P E L L E D R E S D E N 40 4 MF